STUDIUM DER KUNST

Wikipedia, das Allroundgenie unter den Bescheidwissenden, listet unter dem Lemma „Mozarteum“ gut 75 Namen auf, die als „bekannte Studenten (Auswahl)“ firmieren. Alle haben sie ihr Auskommen im Schauspiel oder in der Musikbranche gefunden, in den darstellenden Künsten also, für deren Ausbildung das Haus 1841 gegründet worden war. Es gibt eine, eine einzige Ausnahme in der Aufstellung von Wikipedia, und sie lautet: „Erwin Wurm, Bildhauer“, dahinter die Daten seiner Inskription: „1977–1979“. In der englischsprachigen Ausgabe der Website fehlt Wurms Name. Am Mozarteum Kunst in ihrer bildenden Variante zu studieren scheint nicht eben zu Karrieren zu führen. Auch bei Wurm stand, am Anfang jedenfalls, nichts anderes als Frustration. Es ist die Geschichte, die er in den vielerlei Statements und Interviews, zu denen er aufgerufen wird, vielleicht am häufigsten zum Besten gibt. In der Kinderbuchversion von Élise Mougin-Wurm liest sie sich so: „Zu seinem großen Entsetzen wird er aber in der Malklasse abgelehnt, und soll in die Klasse für BILDHAUEREI!!! Dabei wollte Erwin doch unbedingt Malerei studieren und Bilder malen, auf Papier und Leinwände. Er hat nun wirklich keine Lust, aus schwerfälligen Materialien schwerfällige Formen herzustellen. Für ihn sind Skulpturen unförmige Steintrümmer, auf denen gerne Tauben sitzen. Von Menschen mit Riesenhänden geschaffen, in Ateliers, die immerzu schmutzig sind.“ Damit ist das Problem gültig formuliert – in der Version für Erwachsene, wie Wurm sie selber erzählt, betrieben die Vögel, die auf den Denkmälern sitzen, auch noch das einschlägige Geschäft.

Nun war Bildhauerei seit den 1960ern durchaus ein Phänomen geworden, das zu mehr taugte als zur Ornithologie. Längst hatte der alte Gegensatz von Plastik, die etwas hinzufügt, Ton oder Gips, und Skulptur, bei der man etwas wegnimmt, Holz oder Stein, ausgedient. Die Objekte sogen ihre Umgebung auf und ließen sich mit der Umgebung verschmelzen, und all die Dinge, die Kunst waren, aber sich nicht damit begnügten, an die Wand geheftet zu werden, firmierten unter dem Skulpturenbegriff. Nach und nach wuchs Wurms Arbeit in diese Gemengelage hinein. Veränderung insgesamt wurde für ihn skulptural: Mit der Verschiebung von Volumen verschieben sich Inhalte. Der wichtigste Modus ist das Erscheinen und es unterliegt der Zeit: kurzlebig, zeitadäquat sind zentrale Kriterien. Alltäglichkeit ist immer schon dreidimensional: Ich habe jeden Tag vor mir ein bildhauerisches Experiment durch Zu- oder Abnahme von Volumen. Die Prozesse, die das Bildhauerische durchexerziert, sind Ergebnis der Prozesse, die das Denken durchführt: Bis in die 60er-Jahre wurde vielfach Michelangelos Meinung vertreten: Eine Skulptur muss einen Berg hinunterrollen können, ohne dabei zerstört zu werden. Sie muss dauerhaft sein. Schnelllebigkeit und Kurzlebigkeit sind prägnante Eigenschaften, die ich mit in meine Arbeit einflechten wollte. Also habe ich beschlossen, Arbeiten zu machen, die einen Beginn, aber auch ein definitives Ende haben. Das Kunstwerk ist auf eine bestimmte Dauer reduziert. (Parnass 2016) Doch so weit ist es 1977 noch nicht. Der Adept findet sich jedenfalls wieder in der Bildhauerklasse von Ruedi Arnold. Dessen Zugang zu dem Metier, das er da betrieb, war, so erinnert sich Wurm, sehr klassisch.

Das Klassische bestand zunächst darin, dass Arnold, geboren 1945 in Luzern, Steinmetz war. Zusätzlich hatte er bei Fritz Wotruba, Österreichs Vorzeigeartisten in Sachen Nachkriegsmoderne, in Wien studiert, und war dann, da wird das Thema schon unklassischer, Lehrbeauftragter bei Oswald Oberhuber, auf den hier noch vielfältig zurückzukommen ist. Seit 1976 war Arnold Professor für Bildhauerei am Mozarteum, 2013 wurde er emeritiert. Im Jahr darauf ist er verstorben. Sein Unterricht in der Klasse bestand allemal nicht im Behauen von Stein. Man musste zum Beispiel eine Zwiebel modellieren, nicht sie umsetzen in das Surrogat eines typischen Materials für Bildhauerei, sondern mit dem Gemüse selber hantieren und die Schichten freilegen, die die Häute bilden – ein Verfahren, das bei Wurm durchaus reflektiert wird, wenn er etwa bei den Skins der jüngeren Zeit eine Figur aus ihrer Hautoberfläche aufbaut. Auch hatte man bei Arnold Gegenstände anzuordnen und etwa auf einem Tisch zu drapieren, sodass es aussah, als seien sie hier zufällig zu liegen gekommen – eine gelinde Paradoxie, so praktikabel wie die Aufforderung „sei spontan“, aber jedenfalls Anlass, über die Unmöglichkeit arrangierter Absichtslosigkeit nachzudenken. Oder man sollte den Himmel über Salzburg gestalten, jene Luftigkeit, wie sie sich zwischen den festen Größen Mönchs- und Kapuzinerberg auftut. Das Material blieb bei Arnold sekundär. Was er aufgab, waren tricky Themen, die aber gut waren. Auf seine Art praktizierte er den „offenen Skulpturenbegriff“, der im Schwange war.

Wer sich an die 1980er erinnern kann, hat sie nicht erlebt. Falco, dem Sängerknaben aus Wien, wird das Bonmot zugeschrieben, eine Kürzest-Chronologie seines Wirkens und ein Leitfaden für alle, die schnell genug hinkommen wollten in dieses rasende Jahrzehnt. Der angehende Künstler, der nicht nach Wien, sondern nach Salzburg gegangen war, wo das Museale jedenfalls expliziter gehandhabt wurde, beschäftigte sich einstweilen mit der Vergangenheit – professionell, zum Geldverdienen. Er arbeitete als Restaurator. Schließlich wollte er dem Vater nicht mehr auf der Tasche liegen und sich insgesamt emanzipieren von Verfügungen, die deutlich nicht die seinen waren. Er war 23, sein Leben wollte er selbst bestreiten. Zum Job kam er über die obligatorischen Bemühungen, die einer unternimmt, wenn er in die fremde Stadt geht. Da gab es einen Freund in Graz, dessen Nachbarin einen Sohn in Salzburg hatte, dessen Freund wiederum in einer Zweier-WG auf der stadtauswärtigen Seite des Siegmundstors wohnte, in der wiederum der Neuling unterkam, und der Mitbewohner arbeitete in einer Werkstatt, bei der ein Job angeboten wurde. Wie es eben so geht. Fehlen noch die Namen: Der Mitbewohner und Kollege hieß Roland Huber, der Arbeitgeber war der renommierte Salzburger, 1931 in Südtirol geborene Restaurator Josef Ghezzi. Mit dessen Sohn hat Wurm bisweilen heute noch zu tun, Ulrich Ghezzi arbeitet als Fotograf unter anderem für Wurms Galerie Thaddaeus Ropac.

Der angehende Bildhauer legte Hand an Stücke einer Bildhauerei aus dem 18. Jahrhundert, die plastisch waren, indem sie aus Gips waren. Man war tätig in den beiden Salzburger Kirchen Sankt Kajetan und Sankt Markus, die dem Geschmack des späten Barocks entsprechend überzogen waren von stuckierten Reliefs, die sich zum Teil in Ornamentik verloren, aber auch Bildhaftes darboten. Engel flogen vom Gewölbe, und so galt es, die Beinchen, die bisweilen vorstanden aus dem Überzug und an denen der Zahn der Zeit genagt hatte, zu erneuern. Eine gute Arbeit, nur viel zu langsam. Für seine Salzburger Jahre hatte der Student immerhin sein Auskommen. Er setzte die Arbeit nach seinem Umzug nach Wien übrigens fort. Mit Roland Huber gründete er eine eigene Firma, er professionalisierte sich und arbeitete bis 1982 in vielfältiger Situation an der Rettung des Überkommenen: etwa in Deutsch-Altenburg in der Villa von Hans Ernst Weidinger, Chef des Firmenkonsortiums Hollitzer, Kunstmäzen und als studierter Theaterwissenschaftler Spezialist für den Mozart-Librettisten Lorenzo Da Ponte; oder für den Antiquar und Kunsthändler Rudolf Minichbauer und dessen Galerie in der Wiener Walfischgasse; oder auf Schloss Sierndorf bei Korneuburg für das hochadelige Geschlecht der Colloredo. Meistens galt es Stuckdecken zu sichern, denen die Last der Jahrhunderte und der Schwerkraft zusetzte. Was sie damals wieder in Fasson gebracht hätten, insistiert der Künstler, hätte bis heute Bestand.

In der splendiden Ateliersituation, die Erwin Wurm seit mehr als einem Jahrzehnt im niederösterreichischen Limberg vorfindet, gehört zur Geräumigkeit ein Büro, das auch Bibliothek ist. Auf ganzer Länge des Raumes ist ein Regal aufgestellt, und auf etwa sechs Metern Länge in sechs Regalbrettern übereinander ist alles bereitgehalten, was sich im Lauf der Karriere an Publikationen angesammelt hat, Belegexemplare, Broschüren, Bibliophiles. Ganz unten ganz links altert ein aufrichtig bescheidenes Blättchen vor sich hin: Es ist nicht weniger als die Inkunabel der Wurmiana, der erste gedruckte Beleg seines Schaffens. Rosita Frak Fett heißt es in absoluter Unverständlichkeit auf der Vorderseite, und die Ikonografie wird auch im Folgenden nicht übersichtlicher. Die Titelheldin bezieht sich anscheinend auf Federico García Lorcas Theatertext „Donna Rosita bleibt ledig“, der 1935 in Barcelona uraufgeführt wurde, bevor der Autor von der Falange erschossen wurde. Zu den weiteren Teilen des Titels ist in der Broschüre nur die folgende, ein wenig untergriffige Assoziation zu lesen: Frak Fett – fuxfut. Am deutlichsten wird es bei den Daten: Es war eine Performance, die Erwin Wurm hier zelebrierte, der Tag ist der 26. Juni 1979 und der Ort die Salzburger Galerie Armstorfer. Ansonsten scheint die Veranstaltung ein hybrides Stück Aktionskunst dargestellt zu haben, ein Hermann Nitsch im Kleinformat mit christlicher Symbolik und Tunnelblick auf den Unterleib. Der Künstler erinnert sich eher wenig daran, was ihm einfällt, lädt nicht ein, dabei gewesen zu sein: Ich habe einen Fisch an die Wand genagelt, der angefangen hat zu stinken.

Von speziellem Charme dagegen ist ein Frühwerk, das er im Duett aufführte. Einer seiner Kommilitonen in der Arnold-Klasse war Karl-Heinz Ströhle, 1957 in Vorarlberg geboren, 2016 bei einer Wanderung im Gebirge verstorben. Ströhle hätte mit auf die Wikipedia-Liste der Mozarteum-Bekanntheiten gehört, mit seinen feinen Lineamenten und geometrisch strukturierten Gefügen zwischen Malerei, Zeichnung und bisweilen Bildhauerei war er eine präsente Figur in den österreichischen frühen 2000ern. In buchstäblich enger, in körperlicher Zusammenarbeit entstand 1979 eine Folge von Fotografien, in der die beiden ihre Antwort auf Gilbert & George gaben – Englands „Living Sculptures“, die den Bildhauerbegriff seit den späten 1960ern auf die Inszenierung ihrer selbst ausgeweitet hatten, wie sie perfekt in edlen Anzügen stecken und derart gentlemenlike ausstaffiert der fotografischen Dokumentation ihrer Auftritte entgegensehen. So nun auch Ströhle & Wurm: Auch sie proper hergerichtet, der Kollege mit Fliege vulgo „Mascherl“, Wurm mit Krawatte, auch sie bereit zur Inszenierung fürs Lichtbild. Was sie zelebrieren, sind Künstlerrollen: Man sieht sie nebeneinanderstehend und mit den Händen gestikulierend, und es handelt sich, so ist eigenhändig hinzugefügt, dabei um Kunst der Rhetorik; oder sie zeigen sich, mit erhobenen Armen, Spielkarten fallen lassend, als Zauberkünstler; Gesangskunst wird noch vorgeführt, als Künstler der Manege geben sie sich, oder gleich insgesamt als Künstler, und was das sein könnte, kleiden sie in ihr Attribut – einen Pinsel. Die Bildhauer, die sie werden sollen, lassen ihre Domäne außen vor und zeigen andere Künste, Künste im Plural, denn sie verbinden den Kunstmit einem Metierbegriff, der Rede, der Akrobatik, der Malerei. Aber es gibt auch, mit der im Titel angedeuteten Schlagseite, Die Kunst nach rechts zu stehen (sie stehen auf ihrem rechten Bein und haben also eine Schlagseite nach – von ihnen aus gesehen – rechts) in der Serie – das wiederum könnte schon mit meiner Arbeit jetzt zu tun haben. Beim nostalgischen Blick bleibt ohnedies vor allem die Jugendlichkeit hängen, die Mischung aus Unschuld und Bereitschaft, die Welt aufzurollen – das, um Friedrich Schiller zu bemühen, „Naive“, das noch völlig unverdorben ist vom „Sentimentalischen“.

Ströhle und Wurm zelebrieren die Künste: Tanzkunst (links), von links oben nach rechts unten: Die Kunst der Akrobatik, Redekunst, Die Kunst, das Flötenspiel zu lernen, Als Künstler der Manege, Kunst der Akrobatik, Denken ist auch eine Kunst. Fotografien, 1979.

Der entscheidende Tag in Salzburg ist der 8. Juni 1979. Es gibt einen Vortrag an der Universität Salzburg mit dem Titel „Avantgarde und Tradition“. Es ist ein „Demonstrations-Vortrag“, wie der Redner es nennt, denn bei ihm hat Reden, ganz wie Ströhle & Wurm es andeuten, etwas mit Kunst zu tun. Jeder Vortrag, so hat es schon die antike Ars Oratoria festgelegt, hat als zentralen Bestandteil die Actio, das Agieren, die Performance, und der Auftretende versprach in diesem Sinne, in die Vollen zu gehen. Er hatte sich eine eigene Kunstform dafür geschaffen und die Anthologie seiner diesbezüglichen Texte „Ästhetik als Vermittlung“ betitelt. Auftritt Jürgen Brock, der aller Welt als Bazon bekannt war, griechisch für Schwätzer, denn sein Oberstudiendirektor hatte ihn einst so genannt, und auch hier greift der alte Kunstmechanismus, dass aus einem Pejorativum ein Prädikat wird. Bazon Brock also, und er redete über eines seiner Lieblingsthemen: „dass Avantgarde nur das ist, was uns veranlasst, Traditionen neu aufzubauen“. Dass Avantgarde, die Vorhut, eng mit der Nachhut zusammenarbeitet, und dass sie ohne einen Pool an Althergebrachtem, den sie dann trockenzulegen sucht, nicht existiert; dass die Avantgardisten, wie der Soziologe und strenge Kunstbetriebsbegleiter Niklas Luhmann es wunderbar auf den Punkt gebracht hat, arbeiten „wie Ruderer, die nur sehen, woher sie kommen, und das Ziel ihrer Fahrt im Rücken haben“. (Luhmann, 199) Diese allgemeine Überzeugung von der nachholenden Rechtfertigung des Neuen wird Brock auch speziell am Beispiel Erwin Wurm durchexerzieren: „Erst seit Wurm seine Position behauptet, vermögen wir mit ihr zu rechnen. Sie konnte historisch früher gar nicht gewählt werden, weil die hinter dieser Position liegenden Fragen nicht gestellt werden konnten. Man weiß immer erst im Nachhinein, was alles möglich ist.“ Diese Sätze stammen aus dem Jahr 1985, formuliert in Wurms Katalog zu seiner Einzelausstellung in der Berliner Galerie Zellermayer. Damals war Wurm schon drei Jahre nicht mehr Schüler von Brock. 1979 war er es geworden. Brocks Salzburger Auftritt hatte ihn, und seinen Mitnovizen Ströhle, veranlasst, in die Klasse zu wechseln, der Brock als Professor vorstand, eine Klasse für Gestaltungslehre an der Hochschule für angewandte Kunst am Wiener Stubenring. Seit 1999 ist sie Universität und ihre Adresse ist heute Oskar-Kokoschka-Platz. Wie auch immer: Das Kapitel Salzburg wurde geschlossen. Anzumerken ist noch, dass sowohl Arnolds als auch Brocks Klasse der Kunsterziehung gewidmet waren: Die Lehrer-Thematik war noch nicht ausgestanden.

Es war eine besondere Fügung, dass in ebendem Jahr 1979, als Wurm an die Angewandte kam, dort ein neuer Rektor installiert wurde, eine Figur, die unisono als entscheidend betrachtet wird für den Take-off Wiens in den 1980ern. Oswald Oberhuber, Jahrgang 1931, Südtiroler mit Betonung auf Tiroler, war seit 1973 Professor am Haus, er leitete seit dem Tod ihres Gründers Monsignore Otto Mauer die Galerie nächst St. Stephan und machte mit seiner Idee der permanenten Veränderung Handschrift zu einer Sache von Auswechselbarkeit. Ein Kunst-Chamäleon, wie sich gut alliterieren ließ, das perfekt hineinwuchs in die Zeitgeistigkeit des damaligen Anything Goes und das diese Art einer hybriden Postmoderne im Gegenzug erst mit hervorbrachte. Oberhuber war schlechterdings Pluralist, und seine Prämisse, als er dem Architekten Johannes Spalt als Rektor nachfolgte, war Geltenlassen. Bis 1987 wird er in einer ersten Periode amtieren, es folgt ihm Wilhelm Holzbauer nach, wiederum Architekt, den Oberhuber für eine zweite Spanne 1991 bis 1995 nochmals beerbte. Oberhubers Credo sollte sich niederschlagen in der Berufungspolitik seines Hauses. Das Prinzip Meisterklasse mit der genialischen, fast ausschließlich männlichen, qua Persönlichkeit alle Widersprüche aufsaugenden und qua Prominenz selten anwesenden Führungsfigur war infrage gestellt. Oberhuber sagt selbst im Jahr 1987: „Dahinter steht die grundlegende Idee des fluktuierenden Professors oder der, der nur auf Zeit bestellt wird. Das ist ja die einzige Hoffnung, um in einer Zeit, in der sich sehr vieles sehr schnell ändert, Leute herzubekommen, die in bestimmten Zeitabständen sehr vieles bringen.“ (Kunstforum international / Insel Austria) Gastprofessuren, Vertretungsprofessuren, Professuren auf Zeit sollten die Permanenz der Permanenz aufweichen.

So gesehen war Bazon Brock, Jahrgang 1936, die ideale Besetzung, als er, allerdings schon vor Oberhubers Amtsantritt, 1977 nach Wien kam. Wie Brock selbst es rekonstruiert, war seine Berufung Ergebnis einer ganz speziellen kulturpolitischen Konstellation, die weit über die Angewandte hinausreichte. Da war zum einen der Disput um Joseph Beuys, in dessen Umfeld Brock bevorzugt agierte und sein Lehrkonzept auf den Meister hin vermittelbar machte: Wenn für Beuys alles das Potenzial zu Kunst hat, hat für Brock vor allem das Darüber-Reden das Potenzial zu Kunst. 1972 war Beuys in aufsehenerregendem Prozedere von seiner Professur an der Kunstakademie Düsseldorf entfernt worden, fristlos entlassen vom damaligen nordrhein-westfälischen Wissenschaftsminister und nachmaligen deutschen Bundespräsidenten Johannes Rau – zur aufgeregten Zeit nach 1968 und zu seiner vitalistischen Vorstellung von Kunst hatte es sehr gut gepasst, dass Beuys alle in seine Klasse aufnahm, die das nur wollten, mit dem Ergebnis, dass von den ca. 1.000 Studierenden in Düsseldorf ein Viertel bei Beuys untergekommen war. Da war zum anderen, und Brock legt darauf Wert, um gleichzeitig geheimnisvoll hinzuzufügen: „ich will darin nicht rumrühren“, der deutsche Radikalenerlass, 1972 ausgerechnet von der Regierung Willy Brandt erwirkt: Er machte denjenigen, die sich in den vor allem linksradikal motivierten Unruhen nach 1968 hervorgetan hatten, eine spätere Verbeamtung unmöglich und schloss viele, die unterrichten wollten und eine Professur anstrebten, von Positionen aus. Die Regierung im Nachbarland unter Bruno Kreisky habe in Reaktion darauf, erinnert sich Brock, einigen der Ausgeschlossenen angeboten, nach Österreich zu kommen, „wie 1933“, um es dramatisch zu sagen. Die Wissenschaftsministerin Hertha Firnberg hat Brock jedenfalls unter Vertrag genommen. Brock bezog ein Domizil auf der Seilerstätte – „wenn ich geblieben wäre, wäre ich heute stolzer Besitzer einer großbürgerlichen Wohnung in Wien“. (Hier und im Folgenden nach dem Gespräch mit Bazon Brock, 24.3.2023) Er blieb aber nicht, ab 1981 war er wieder bevorzugt in Deutschland, Johannes Rau, der jetzt Ministerpräsident war, hatte ihn eingeladen, an der neuen, sogenannten Reformuniversität Wuppertal ein Institut für Ästhetik und Vermittlung aufzubauen. Im September 1979 hatte er außerdem geheiratet, die renommierte Kultursoziologin Karla Fohrbeck.

„Damals habe ich mich eigentlich überschätzt. Ich habe nicht geglaubt, dass man so viel mehr können muss, um Wiener zu sein, als man können muss, um irgendeine Professur zu übernehmen“: ein wunderbarer Satz von Brock, in dem das golden verwienerte Herz ganz vehement pocht. Und natürlich konnte Brock nach Herzenslust mitmischen. Etwa in dieser Invektive gegen das mittlerweile geheiligte Erbe des Wiener Aktionismus, vor allem Otto Mühls, die auch eine Eloge ist auf den damaligen Rektor der Angewandten: „Oberhuber war sehr viel stärker … in der Lage zu verstehen, warum mir Mühls Mannen als matte Gestalten erschienen – und matt ist noch ein Euphemismus. … Es war mir … nur noch peinlich, immer wieder mit ansehen zu müssen, wie lächerlich, studentenulkig und armselig die aktionistischen Exkrementierungen waren.“ Und einmal in Rage, bemüht Brock in seiner 2006 publizierten Hommage an Oberhuber auch noch den Nazi-Vergleich, so richtig gründlich, mit der SS und ihrem Gruppenführer, dem Oberösterreicher Ernst Kaltenbrunner: „So ähnlich müssen die Kameradschaftsabende der Kaltenbrunner-Truppe ausgesehen haben – und Oberhuber wusste das von Anfang an. Er hat sich deshalb stets der erpressten Kameraderie von Ulknudeln entzogen und durfte dann eben nicht mehr in den Ruhmestafeln der harten Männer Wiens erwähnt werden.“ (Zitiert nach Schule Oberhuber, 172)

So ist man schon mittendrin im Hauen und Stechen, denn natürlich war der Erfolg der Angewandten ein perfektes Biotop für das Elixier des Kunstbetriebs. Pierre Bourdieu, der vielleicht einflussreichste Denker der Regeln, auf die sich dieser ganz besondere Betrieb – Bourdieu nennt ihn nach der französischen Nomenklatur „Feld“ („champ ésthetique“) – eingelassen hat, beschreibt dieses Gebräu so: „Dass die Geschichte des Feldes die Geschichte des Kampfes um das Monopol auf Durchsetzung legitimer Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien ist: diese Aussage ist noch unzureichend; es ist vielmehr der Kampf selbst, der die Geschichte des Feldes ausmacht; durch den Kampf tritt es in die Zeit ein. Das Altern der Autoren, Werke oder Schulen ist etwas ganz anderes als ein mechanisches Abgleiten in die Vergangenheit: es wird erzeugt im Kampf zwischen denjenigen, die Epoche gemacht haben und ums Überdauern kämpfen, und denjenigen, die ihrerseits nur Epoche machen können, wenn sie diejenigen aufs Altenteil schicken, die Interesse daran haben, die Zeit anzuhalten, den gegenwärtigen Zustand zu verewigen; zwischen den Herrschenden, die mit der Kontinuität, der Identität, der Reproduktion im Bunde stehen, und den Beherrschten, den Neuankömmlingen, denen es um Diskontinuität, Bruch, Differenz, Revolution geht.“ (Bourdieu, 253) „Der Kampf selbst“: Martialisch lässt Bourdieu es klingen, und gern darf man auf der Zunge haben, was die ferne Referenz seines Denkens so formuliert: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ Bereits im ersten Satz ihres ersten Kapitels gibt das im Jahr 1848 verlautbarte Manifest der Kommunistischen Partei zu verstehen, was es für den Motor von Veränderung hält. Die Marx- und Engelszungen, sie sangen keineswegs lieblich. Und dann trafen sie auch noch auf Wien. Und auf Wien traf wiederum der Newcomer Erwin Wurm.

Vermittelt über Graz, dieses Mal von einem seiner Lehrer an der Pädagogischen Hochschule am Hasnerplatz, bekommt der mittlerweile 25-Jährige eine Wohnung in einem Gemeindebau an der Oberen Augartenstraße, Studio, 34 Quadratmeter, ganz oben. Er ist ja auch Unternehmer, Mitinhaber einer Werkstatt für Restaurierung. Er ist ausgebildeter Lehrer, lässt diese Tätigkeit aber ruhen. Und er ist Student, immerhin am damals aussichtsreichsten Haus seines Faches. Die Klasse Brock: Etliche Namen sind zu memorieren, die es zu etwas gebracht haben in der Kunst – Hans Kupelwieser, Gerwald Rockenschaub, Manfred Wakolbinger, Heinrich Dunst, Markus Brüderlin. Dazu Ströhle, der Kommilitone aus Salzburg. Genau diese Namen nennt auch Manfred Wakolbinger. Ein bunter Haufen, verschieden vor allem auch in ihren Lebensaltern, die eine Spanne von Jahrgang 1948 (Kupelwieser) bis Jahrgang 1958 (Brüderlin) umfassen. Ein bunter Haufen: Gab es keine Studentinnen? Wakolbinger nennt seine Frau Anna Heindl, die allerdings nur ab und zu vorbeikam – sie hatte die Goldschmiedeklasse absolviert. Und Bazon Brock erinnert sich, auf Nachfrage meinerseits, an Brigitte Kowanz, die wiederum bei den Kollegen Herbert Tasquil und Oberhuber zu Hause war. Also vor allem Männer. „Denkerei“ nannte Bazon Brock später seine Intelligenz-Agentur in Berlin, in der man ihn und diverse Kombattanten bei jener Tätigkeit verfolgen konnte, der er ein öffentliches Auftreten bieten wollte. Eine „Denkerei“ war es auch, so erinnert sich Wakolbinger, was in der Klasse stattfand. Es habe Testfragen gegeben, ob man was verstanden habe. Die Antworten gab meistens Heinrich Dunst. (Gespräch mit Manfred Wakolbinger, 20.12.2022) Aber es war „irgendwie schon begeisternd“. Und die Veranstaltungen fanden, für Verhältnisse einer Akademie, sehr regelmäßig statt: „Drei Vormittage hintereinander, sicher einmal im Monat.“ Es gab auch Präsentationen, jemand zeigte eigene Arbeiten vor dem Publikum der Mitstudierenden, dann wurde darüber geredet, sicherlich mit Brock als dem Meistbietenden. Im Unterschied zu weniger aufs Denkerische angelegten Situationen wurden die Arbeiten nicht vor Ort produziert, sondern zu Hause, im Atelier, das sich indes dann auswärts befand. Brocks Credo galt ohnedies dem Medialen.

2020 ist ein voluminöser Band erschienen, ein sechs Kilo umfassender Foliant, der auf seinem Cover die einschlägige Kurzformel aufbietet: „Er lebte, liebte, lehrte und starb“ – und die durchaus unumgängliche Anschlussfrage stellt: „Was hat er sich dabei gedacht?“ Das dicke Ding stellt Brocks „Theoreme“ zusammen, die Prämissen seines Unterrichtens, die chronologisch an vielen Beispielen Revue passieren. Die Rückseite des Umschlags zeigt Brock in beflissen beuysianischer Positur, und auch die Tafel in seinem Rücken ist beschrieben, als stamme sie vom Meister. Das Foto ist entstanden in seiner Klasse an der Angewandten: „Wie ich in der Klasse an der Tafel stehe und ihnen klar mache, was die europäische Qualifizierung an dem ist, was wir Öffentlichkeit nennen, also in der Sphäre des Mediums. Öffentlichkeit ist der früheste Name für Medium. Etwas öffentlich zu zeigen, hieß, es medial umzusetzen.“ Das zum Programm zu machen war Inhalt der Lehre. Brocks Pose auf dem Foto ist nun die des heiligen Andreas auf seinem Kreuz in X-Form. „Das war das Beispiel: ‚Bin ich als Europäer geeignet, dann müsste ich ja bereit sein, mich kreuzigen zu lassen.‘ Da wird vor der Tafel eingeübt, was man machen müsste, um seine Kreuzigungsfähigkeit zu zeigen.“ Derlei Verwegenheiten sind für Brock ja typisch, und anders als bei Beuys, der mit der christlichen Passion durchaus kokettiert hat, bleiben sie bei Brock theoretisch. Und sie bleiben didaktisch: „Da hat sich der Wurm auch sehr bewährt. Er war also ein sehr guter Europäer. Er war bereit, sich kreuzigen zu lassen.“

„Was hat er sich dabei gedacht?“: Bazon Brock war von 1977 bis 1980 Professor an der Universität für angewandte Kunst in Wien.

Nach dem Vorbild von Beuys übte man nun weitere Rollen ein, und nicht nur das Kruzifix ist alteuropäisch: „der Künstler als Medium, als Schamane, als Budenzauberer, als Wanderzirkusdirektor. Das war insofern fruchtbar, als die Studenten selber es ausprobierten, welche Haltung sie einnehmen konnten. Wer eignete sich mehr für einen Zirkusdirektor? Das war Herr Brüderlin, deswegen ist er letztlich Kurator geworden und Museumsdirektor. Heinrich Dunst ist in die Prophetenrolle gestiegen.“ Und Erwin Wurm? „Er hatte so etwas wie den Mozart’schen Don Juan. Es war nicht sein Ruf, er hat das sehr gut gehütet, aber es war deutlich in der Art, wie er agierte. Die Don-Juan-Geschichte ist ja sehr vielgestaltig.“ Jedenfalls hat sie etwas, sie hat sehr viel, sie hat schier insgesamt mit Rollen zu tun. Mit Ströhle hatte Wurm, noch in Salzburg, derlei schon einmal geübt. Nun hat ihn die Geschichte wieder. Künstler zu sein ist in Brocks Anleitung die Verfügung darüber, wie man das in Theatralik umsetzt: „Erstellen, Repräsentieren, Anspruch-Erheben. Wurm war sehr zurückhaltend. Er wollte den Typus des geheimnisvoll verschlossenen Künstlers übernehmen.“

Ein „Mozart’scher“ Typus: Ich erzähle Brock, dass mein Muster an geglückter Biografie, wie ich ihm auch in diesem Buch nachstrebe, eine Idee von Scheitern beinhaltet. Wolfgang Hildesheimers Auseinandersetzung mit Mozart, 1977 als „biographischer Essay“ publiziert, arbeitet sich daran ab, dass die Figur des Komponisten hinter seinen Kompositionen eigenartig ungreifbar bleibt, buchstäblich nichtssagend, es fehlt eine Vorstellung, was dieses gnadenlose Künstlertum im Persönlichen bedeutet. Brock greift die Problematik sofort auf und setzt an zu einer Art Parallelanalyse: Erwin Wurm als Mozart. „Wie kann man arbeiten, wenn dahinter nichts ist? Klar: Wenn es nicht hinten ist, muss es vorne sein. Also muss man die Ziele nach vorne legen. Und das hat er mit großer Bewunderung gemacht. Er hat ununterbrochen solche Zielmarkierung vor sich aufgebaut und ständig nach vorne gearbeitet. Nie von hinten, von Ideen besessen, sondern von vorne, Aufgabenstellungen. Das wurde in der Klasse trainiert. Keine Legitimationen durch Herkunft. Adel war sowieso verboten.“ Brock könnte stundenlang in Rhetorik schwelgen. Ich habe mich am Anfang gefürchtet vor Bazon Brock, der ja eine ungeheure Redebegabung war. Als Österreicher, der da herumstottert, trifft man auf einen Deutschen, der druckreif redet – schwer beeindruckend. Als ich Erwin Wurm das oben Zitierte vorlege, meint er allerdings: Herrlich – alles erfunden. Se non è vero è ben trovato. Jedenfalls musste das alles einmal gesagt werden.

Die Scharmützel Oberhuber/Brock versus Aktionisten waren die gewissermaßen avancierte Variante jenes Dauerstreits, wie er die Nachkriegsmoderne seit Jahrzehnten in Atem gehalten hatte. In Schlagworten nennt er sich Figuration versus Abstraktion. Tatsächlich schwelte dieser Brennpunkt an der Akademie der bildenden Künste immer noch vor sich hin, am Schillerplatz, wie man das Haus nannte, das Pendant zur Angewandten, altehrwürdig und in diesen Ehren ein wenig abgestanden. Das Kollegium an durchweg männlichen Professoren, das sich im Lauf der Zeit hier angesammelt hatte, bestand zum einen aus Vertretern des Informel mit Namen wie Wolfgang Hollegha oder Josef Mikl (oder ab 1981 auch Arnulf Rainer) und zum anderen aus Exponenten einer der notorischen Wiener Schulen, in diesem Fall des sogenannten Phantastischen Realismus, der mit seinen Szenarien zwischen Genesis und geheimer Offenbarung in der Tradition des Surrealismus stand. Sie teilten sich die Klassen auf und vor allem die Hegemonie. „Die Kunstspaltung der 1960er hatte sich perpetuiert. Ich habe nie eine Minute Kunstdiskurs in einer Kollegiumssitzung gehört. Vor lauter Befangenheit den Positionen der Konkurrenten gegenüber hat man aus dem Blick verloren, dass keine mehr aktuell war.“ Das sagt Edelbert Köb, Vorarlberger des Jahrgangs 1942, der so etwas wie Brocks Visavis an der Akademie am Schillerplatz war: Professor für Kunsterziehung auch er, aber genauso ein Multifunktionär, ab 1983 Präsident der Wiener Secession, Museumsdirektor und von der Ausbildung her bildender Künstler. Das mit dem eigenen Künstlertum hat Köb aufgegeben, als Hans Kupelwieser auf ihn zukam, ein Mitbewerber um einen Auftrag für eine Arbeit im öffentlichen Raum: „Du bist Akademieprofessor, Museumsdirektor und jetzt auch noch Konkurrent von uns Künstlern.“ Anders als Brock, der vehement der Theorie verpflichtet war, legte Köb seine Lehre auf die Praxis an: „Zentrale Fächer waren Architektur und Umweltgestaltung, Produktgestaltung, Konsumentenerziehung.“ (Hier und im Folgenden Gespräch mit Edelbert Köb, 3.3.2023) Erwin Wurm ließ es sich nicht nehmen, auch bei Veranstaltungen von Köb dabei zu sein.

Er war also Wanderer zwischen den Welten – als einer der wenigen, denn die Entfernung zwischen den Häusern war ideologisch deutlich weiter als der Kilometer, der sie im Stadtraum auseinanderhält. Man wird das auch an der Zäsur erkennen, die während Wiens erstaunlicher Kunstkarriere in den 1980ern die kurz nach 1950 Geborenen von den kurz vor 1960 Geborenen trennt: Die kaum fünf Jahre Älteren kommen vom Schillerplatz, die entsprechend Jüngeren von der Angewandten. Wurms hybrider Geist hat die Grenze überschritten und die Lücke geschlossen. Mit seinem Jahrgang 1954 ist er ohnedies in der Mitte. Köb erinnert sich an keinen weiteren Studierenden, der es hielt wie Wurm. Der zweite Name, den er parat hat, ist der von Hubert Scheibl, aber er, der genuine Maler mit entsprechender Reputation, Jahrgang 1952, kam sowieso von der Akademie. „Die Erfolgreichen“, sagt Köb, „laufen dir ständig über den Weg. Diejenigen, die du schlecht beraten hast, siehst du ja nicht mehr.“

Als ich mit meinen ersten Arbeiten in den späten 70ern / frühen 80ern begann, war das die Zeit von Minimal Art, Conceptual Art, Pop-Art, Soz-Realismus und so weiter. Ich habe damals studiert. Irgendwo habe ich gelesen: Wenn du erfolgreich sein willst, musst du die „Ideen der Väter vergessen. Also dachte ich – Okay, ich werde keine Minimal Art und keine Conceptual Art machen. Ich versuche, etwas anderes zu tun. Und ich fand Holzbretter und nagelte sie zusammen, als wären es klassische Skulpturen – sehr wild, sehr seltsam – und malte sie an (Arterritory 2015, Übersetzung R. M.): Das wäre die Kurzformel für das Programm, das der angehende Künstler sich auferlegte. Es war noch während des Studiums ausgearbeitet, doch das Motiv ist letztlich zeitlos. „Die neuen Schöpfer der Kultur in der Stadt Sigmund Freuds definierten sich somit wiederholt in Begriffen einer Art kollektiver Ödipusrevolte. Die Jungen erhoben sich jedoch nicht so sehr gegen ihre Väter wie gegen die Autorität der väterlichen Kultur, die ihr Erbe war. Was sie bekämpften, war das System der Werte des klassischen herrschenden Liberalismus, in dem sie aufgewachsen waren“ (Schorske, XVII): Das schreibt Carl E. Schorske den Jungen Wilden der Zeit um die vorige Jahrhundertwende auf den Leib, den Aufmüpfigen, Abtrünnigen, Avantgardistischen, denen das Etikett „Wien um 1900“ zu Weltruhm verholfen hat – und Schorskes Buch „Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle“, im amerikanischen Original 1980, auf Deutsch 1982 erschienen, hat zu diesem Hype nicht wenig beigetragen. Eine „Ödipusrevolte“ benennt es Schorske mit der Begrifflichkeit Freuds. Erwin Wurm schlägt in die gleiche Kerbe: Was ihn leitete, sagt er, war Vatermord. Man kann auch Bourdieus oben angeführte Worte wiederholen: Auf der einen Seite gibt es die Altvorderen, die mit der Kontinuität, der Identität, der Reproduktion im Bunde stehen; auf der anderen die „Neuankömmlinge, denen es um Diskontinuität, Bruch, Differenz, Revolution geht“.

Erwin Wurm lässt sich auch einen Namen entlocken, dem speziell sein patrizidales Verlangen galt: Richard Serra, der amerikanische Minimalist, dessen Arbeiten sich allerdings mehr und mehr ins Maximale entwickelt hatten. Mein Gott, war der gut, als er anfing, plastische Phänomene aus der Antike aufzugreifen und nach Stabilität und Harmonie abzuklopfen. Kennen Sie diese Bleirolle, die von einer Stahlplatte gehalten wird? Wahnsinn, oder? Aber dann wurden seine Sachen immer gigantischer, bis man sich irgendwann ganz mickrig gefühlt hat. Wenn einer mit Macht und Größe beeindrucken will, ist er mir suspekt. (SZ-Magazin 2016) Serra arbeitet abstrakt, materialsichtig, Souveränität ausstrahlend. All das sollte gekontert werden. Die Strategie hieß sehr wild, sehr seltsam.

Behilflich bei seinen Schritten in die Selbstständigkeit war Erwin Wurm das angestammte Areal für künstlerischen Eigensinn, das Atelier. Es lag in der Knöllgasse 55 im zehnten Bezirk, er hatte es gleich zu Anfang des Wiener Teils seines Studiums bezogen, und im Erdgeschoss war eine Schreinerei gelegen, in der Holz genug abfiel, um damit künstlerische Statements zu setzen. Die Knöllgasse ist in der Zwischenzeit ein schier mythischer Ort geworden, Ausgangspunkt für diverse Karrieren. Es begann damit, dass „der Erwin auf einmal bei uns in der Wohnung gestanden ist. Er ist mit einem Besuch mitgekommen.“ Die Wohnung im achten Bezirk gehört Anna Heindl und Manfred Wakolbinger, es muss noch im Jahr 1979 gewesen sein (alle, mit denen man redet, fügen ein „Es ist lange her“ hinzu, denn die Genauigkeit lässt nach, auch wenn die Erinnerung lebendig ist), und aus der spontanen Situation ist eine bis heute andauernde Freundschaft geworden. Beide kamen ja vom Goldschmieden. Anna Heindl war eine der letzten Studentinnen von Franz Hagenauer an der Angewandten gewesen, dem Doyen aus der Wiener Dynastie der Metallbildhauer, Manfred Wakolbinger war letztlich Autodidakt. Er tauchte bisweilen in der Klasse Brock auf, zu der nun auch Erwin stoßen würde, und insistierte, „dass man Künstler ist, wenn man Schmuckkünstler ist“. (Gespräch mit Manfred Wakolbinger, 20.12.2022) Ebenfalls an der Angewandten hat Verena Formanek studiert, Produktgestaltung/Metall bei Carl Auböck, sie gründete im Jahr 1982 zusammen mit Veronika Schwarzinger die Galerie V & V, die auf zeitgenössischen Schmuck spezialisiert ist, und wendet sich noch in den 1980ern am Museum für angewandte Kunst der kuratorischen Arbeit zu. Es wird beschlossen, in diesem Quartett – Formanek, Heindl, Wakolbinger, Wurm – eine Ateliergemeinschaft zu gründen. Zur Vorarbeit gehörte ein gründlicher Umbau des Stockwerks.

Erwin Wurm und Pipin Henzl, sein erster Sammler, im Atelier in der Knöllgasse in Wien, 1979.

Knöllgasse 55: Es war ein einziger großer Raum, eine Art Loft, den man zu viert bespielte, assistiert von einer Kammer unter der Treppe, die als Fotolabor diente. Erwin, erinnert sich Verena Formanek, habe am meisten Platz gebraucht, dafür war Manfred sehr präsent, weil er gerade mit Saxofon-Lernen beschäftigt war und den Rest der Partie mit Free Jazz beschallte. Unter solchen Umständen macht sich dann ein Œuvre auf den Weg. Im Geschoss über ihnen arbeiteten übrigens Birgit Jürgenssen und ihr damaliger Mann Bernd Klinger. Der Name Jürgenssen steht heute prominent für eine Exponentin österreichischer Kunst, die feministisches Engagement mit einer speziellen Fähigkeit zu leichter, nonchalanter, spielerischer, selbstironischer Artikulation verband. Geboren 1949, ist Birgit Jürgenssen 2003 allzu früh verstorben. Sie hatte an der Akademie studiert und dort spezielle Erfahrungen gemacht. Wir waren befreundet, eine Erinnerung von ihr sei als Reminiszenz zitiert: „Die Bemerkung, dass Frauen nicht malen können und Künstlerinnen sich am besten über mediale Techniken und Auftritte artikulieren sollten, stammt von Arnulf Rainer. Ich war seine Assistentin, als er in seiner Akademieklasse ein Jahr lang den Versuch praktizierte, eine räumliche Trennung von männlichen und weiblichen Studenten durchzuführen. Natürlich gab es große Proteste, aber mit dem Ergebnis, dass die Studentinnen, sozusagen auf sich selbst zurückgeworfen, ein stärkeres Selbstbewusstsein und radikalere Arbeiten entwickelten.“ (Kunstforum, Bd. 164, 2003) Mit diesen Sätzen hat Birgit Jürgenssen eine Selbstbeschreibung impliziert.

Eigentlich kaufte er Schmuck, und deswegen war er ins Atelier gekommen. Er verließ es wieder mit zwölf Zeichnungen von Erwin Wurm. Pipin Henzl, Jahrgang 1940, Steuerberater, ist Wurms erster Sammler. Er ist mehr als das, denn der Kollektionär ist auch Kommissionär. Henzl hat Arbeiten in Auftrag gegeben, und einige davon zieren nach wie vor seine Wohnungen. In der Küche seines Wochenendhauses in Niederösterreich ist etwa eine Gipsarbeit zu bewundern, wild und seltsam mit breiten Schlieren heftiger Farbe. Das vollplastische Stück zeigt ein Paar, es ist liegend dargestellt, ihre Oberkörper sind aufgerichtet nach Art jener etruskischen Terrakotten, die Urnen genannt werden, aber vor allem Porträts sind. Auch Henzls Sammlerstück rankt sich um den Totenkult, denn es ist ein Entwurf zu einem Familiengrab, das sich allerdings nicht realisieren ließ – Henzl ist seiner Idee treu geblieben und hat einen Künstler beauftragt, allerdings den Bildhauer und Professor an der Linzer Kunstuniversität Erwin Reiter. Dass Wurms Werk, in dem deutlich sein Broterwerb als Stuckateur durchscheint, Entwurf geblieben ist, hat dem engen Verhältnis von Künstler und Sammler keinen Abbruch getan. Einige Holzreliefs gehören Henzls Sammlung an, die als Bildnisse firmieren, jeweils Kopf betitelt und durchaus grobe Konstruktionen, gebaut meistens als plastische Umformulierungen von Zeichnungen, die ad personam entstanden sind. Auch sie sind gefasst, also bemalt, und es gibt eine Art Farbsymbolik dafür: „blau für Freizeit, rot für sexuell, dunkel für Büro“. (Gespräch mit Pipin Henzl, 1.6.2023) In den gesamten 1980ern ist Henzl seinem Künstler verpflichtet geblieben und hat immer wieder etwas erworben: „Wenn ich das Geld gehabt hätte, hätte ich alle gekauft. Sie waren fantastisch.“ Der Kontakt blieb noch über Jahrzehnte bestehen. Henzls Steuerbüro „Agitas“ wird nach 2000 ein Ausstellungsformat zur Verfügung stellen, das für die Klasse, die Wurm dann an der Angewandten leitet, gedacht ist – mit Wettbewerb, Preissumme von 5.000 Euro und entsprechender Präsentation.

Schönheitengalerie: Erwin Wurm und die Sala dei Cavalli im Palazzo del Te in Mantua, um 1988.

Erwin mit seiner Arbeit Badende (1982) im Atelier in der Knöllgasse, 1982.

Blaue Büste, 1982, Holz und Dispersion.

Dann ist er fertig, der Student. Was heißt fertig, denn das ist man nie. Sein Lehrer, der zur Prüfung aus Wuppertal „extra angereist“ ist, attestiert ihm aber doch in außerordentlich kräftigen Worten eine Art von Vollendung. Jedenfalls retrospektiv, denn die Sätze stammen aus der Gegenwart. Es bescheinigt also Bazon Brock: „Die entsprechenden Beliebigkeiten des Talents, die Verführbarkeit, alles, was sich so anbietet von Seiten der gesellschaftlichen Anerkennungsmaschinerie, inklusive Bereitschaft, sich bestechen zu lassen, dem Kunstmarkt zu genügen – er konnte dem widerstehen, widerstehen im Sinn von bloßer willfähriger Unterwerfung.“ Dann zählt er Wurms Tugenden auf: „Charakterfestigkeit, Unirritierbarkeit, Durchhaltevermögen“, und erworben hat er sie sich „durch seine spirituelle Heimat“. Vielleicht im Sinn einer solchen Spiritualität hat Wurm seinen alten Lehrer in eine spezielle Apotheose verfrachtet, die Brock in seinem Sammelband „Theoreme“ auch stolz zur Abbildung bringt (auf Seite 251). EW trägt Bazon steht auf einer Zeichnung von 2011, dann kommen Pünktchen und dann steht noch dabei: beide levitieren. In der Tat sieht man die beiden auf dem Blatt in unbestimmter Lage, Wurm steht hinten, er hält Brock vor sich umfangen, und die in der Zeichnung mit angelegten, comichaften Striche signalisieren, dass sie nach oben schweben, in die Höhen der Geistigkeit oder der reinen Lehre – eine Levitation eben, wie sie einem nur ein Künstler angedeihen lassen kann.

Er hat nun die Befähigung zum Gymnasiallehrer. Und er wird sie tatsächlich auch in Anspruch nehmen, seine Qualifikation, denn er macht sein Probejahr am Bundesrealgymnasium Waltergasse im vierten Bezirk in Wien. Die Schule hat einen sehr prominenten Lehrer, auf gut Österreichisch Professor, der damals allerdings schon frühpensioniert worden war, Ernst Jandl, das Sprachgenie zwischen Laut und Luise, wie sein legendärer Band mit experimenteller Lyrik aus dem Jahr 1966 betitelt ist. Die Schule hat noch einen prominenten Lehrer, und der frönte im Schuljahr 1982/83 unverdrossen seiner als durchaus zwiespältig empfundenen Tätigkeit. In Werkerziehung und bildnerischer Erziehung, also genau in Wurms Fächern, amtierte Stefan Weber, Mastermind von „Drahdiwaberl“, einer Anarcho-Combo zwischen Garagenrock und Orgien-Mysterien-Theater. Die Band war berühmt geworden durch ihren Bassisten, der sich mit Weber auch die Vocals teilte, und in ebendieser Zeit den Absprung plante: Er war als Falco im Begriff, über die Wiener Verhältnisse hinauszuwachsen. Stefan Weber war Wurms Tutor an der Schule, und der Neuling kann nur das Beste über ihn sagen. Über das Phänomen Falco hingegen haben wir nie geredet. „Ganz Wien“ war das Lied, das Falco in der Pause der „Drahdiwaberl“-Auftritte ganz für sich allein hatte, eine Hymne auf die Stadt mit Strophen wie dieser: „Seine Venen sind offen / Und es riecht nach Formalin / Das alles macht eam kan Kummer / Weil er ist in Wien.“ Doch man konnte der Stadt statt mit Exzess auch mit Contenance begegnen.

In die Höhen der Geistigkeit und der reinen Lehre: Erwin Wurm trägt Bazon … beide levitieren, 2011. Bleistift und Kugelschreiber auf Papier, 21 × 29,7 cm.

Der Mann mit dem Hammer: Erwin Wurm 1986 in einer Aufnahme von Didi Sattmann, dem Chronisten der Wiener Kunstszene.