Bruck an der Mur beherbergt ein Werk des Sohnes der Stadt, der über seine Geburt hinaus mit dem Gemeinwesen ja nicht so viel zu tun hat. Auch das Werk ist nicht eben prominent platziert, man muss es suchen unter dem Gewirr an Straßenbrücken, das dem Ortsbild ziemlich zusetzt. Erwin Wurms Landschaftsmaler wirft sich überlebensgroß am Eingang eines Werkhofs in die Brust, der sogenannten Straßenmeisterei, und er steht dort ein wenig wie vom Himmel gefallen. Tatsächlich gehört der düstere Geselle, eine Betonskulptur mit Resten eher dunkel gehaltener Bemalung, eigentlich ganz woandershin, er sollte eine Art Kunst im öffentlichen Raum sein, wie sie in den 1980ern, als Wurm ihn schuf, gerade sehr en vogue war. Sie sollte ortsspezifisch sein, sich mit der Lokalität unverbrüchlich verbinden. Jetzt ist sie das Gegenteil, eine Drop Sculpture. Immerhin hat man einen gläsernen Pavillon um sie herum gebaut, zum Schutz vor Wind und Wetter und den womöglichen Willensbekundungen des Volkes.
Landschaftsmaler, 1984. Beton, H 360 cm. Erwin Wurms erster Versuch einer Kunst im öffentlichen Raum. Das Foto entstand am Produktionsort im Garten des elterlichen Hauses. Heute steht die Skulptur vor der Straßenmeisterei in seiner Geburtsstadt Bruck an der Mur.
Im Jahr 1983 hatte Wurm einen Wettbewerb gewonnen. Auf dem Schanzsattel, einer auf knapp 1.200 Metern liegenden Passhöhe in der Nähe von Kapfenberg, sollte eine Arbeit von ihm aufgestellt werden. Der junge Bildhauer machte sich, vom Vater assistiert, im Anwesen Rinneggerstraße an die Vollendung. Der Transportunternehmer Simon Klasnic, Ehemann der späteren steirischen Regierungschefin Waltraud Klasnic, die legendär darauf bestand, als „Frau Landeshauptmann“ angesprochen zu werden, stellte das Stück in die Landschaft, wo es nun stand, wie abgeholt, aber nicht bestellt. Es war das vorhersehbare Problem des gerade neu ins Programm aufgenommenen Prinzips öffentliche Skulptur: Sofort setzten die reviermarkierenden Instinkte ein, und die Leute vor Ort beschwerten sich über diesen Fremdkörper. Heute, da Benjamins „taktile Rezeption“ greift, also eine Wahrnehmung durch Gewöhnung, sind die Empörungen längst einwattiert. Damals aber war das alles buchstäblich aufregend. Erwin Wurms Tante sammelte auf ihre Art genüsslich all die ablehnenden Artikel in den Heimatblättern und überreichte sie dem Künstler. Eine noch eher freundliche Titulierung der Gestalt war King Kong, und man muss zugeben, dass die Assoziation nicht ganz falsch ist. Natürlich kann Wurm heute darüber lachen, das Objekt wurde jedenfalls relegiert und fiel beim Rücktransport schließlich vom Laster. Das war in Bruck, und so hatte die Figur mithilfe der Schwerkraft ihr natürliches Ambiente gefunden. Wurm weigerte sich, die Restaurierung zu übernehmen, größere Schäden sieht man dem Werk nicht an. Da steht es nun, als würde es telefonieren in seiner gläsernen Zelle, eine Allegorie der Malerei und der Umstände, die sich daraus ergeben, wenn die Kunstbegriffe doch arg differieren. Für Erwin Wurm war es allemal eine wichtige, eine lebensentscheidende Erfahrung. Schließlich bedeutete der Auftrag für ihn, das Jahr an der Schule hinter sich zu bringen und den Job als Restaurator aufzugeben. Fortan war er freischaffend. Freischaffender Künstler.
Es gab eine Art Mentor für Wurms Werdegang, die Personalunion aller Umtriebigkeiten in Sachen junger Kunst in der Steiermark. Wilfried Skreiner, geboren 1927 in Graz, gestorben ebendort 1994, war Professor für Kunstgeschichte in Graz und Leiter der Neuen Galerie am steirischen Landesmuseum Joanneum, er war der Inbegriff des Prinzips Jury und rettendes Ufer für alle, die sich wissenschaftlich, in Diplom- oder gar Doktorarbeiten, mit der Gegenwart befassen wollten. Skreiner war eine Macht, zog in den diversen Grazer Institutionen die Fäden und war durchaus dafür verantwortlich, dass viele der damaligen Exponenten des aktuellen Österreich aus seinem Bundesland kamen. Natürlich ließ sich der große Protektor die Namen seiner Protegierten auf der Zunge zergehen: Erwin Bohatsch, Herbert Brandl, Alfred Klinkan, Alois Mosbacher, Hubert Schmalix, alle in den 1950ern geboren, alle aus der Steiermark, und alle in erster Linie Maler. Dann gab es noch einen Vertreter des Bereichs Skulptur und Farbe. Der sagt heute über Skreiner: Er war Feuer und Flamme, hat Verteidigungsschriften verfasst, Ausstellungen gemacht, Kataloge gedruckt, Ankäufe betrieben: großartig. 1981 hatte Wurm seine erste Solo Exhibition, wie er sie auf seiner Website listet, im Grazer Forum Stadtpark, das Jahr darauf eine an der Neuen Galerie Graz. Skreiner war extrem kurzsichtig, bei Gemälden schien er die Oberfläche schier zu touchieren, wenn er sie sich besah. Dieses Handicap kompensierte er mit Weitsicht. So etwas gab es in Wien nicht.
Er hatte seine blinden Flecken. Johanna Kandl etwa, die Wiener Künstlerin, die Mitte der 1980er eine Ateliergemeinschaft unter anderem mit Wurm hatte, erinnert sich auf ihre Art: „Wilfried Skreiner, der damals für die österreichische Malerei sehr wichtig war, war extrem frauenfeindlich und sehr auf das ‚Urwüchsige‘ aus. Künstler sollten womöglich steirische Waldbauernbuben sein. Städter und Frauen waren sowieso unmöglich.“ (Idealzone, 231) Tatsächlich führte damals, als es losging mit der neuen, dann kunstweltbewegenden Generation, eine Truppe von Männern aus der Provinz das Regiment, in Graz saß Skreiner, in Linz Peter Baum und in Salzburg Otto Breicha. Natürlich waren sie einander in altgedienter Rivalität verbunden. Als das deutsche Magazin „Kunstforum international“ das Eiland auslotete, das sich da künstlerisch ergeben hatte, im Frühjahr 1987 unter dem Titel „Insel Austria“, durfte sich Skreiner artikulieren, und selbstverständlich beanspruchte er die Vorreiterschaft: „In der Neuen Galerie … in Graz werden die jungen Künstler durch Malerwochen und Ausstellungen ermuntert, oft lange bevor sie von den anderen erkannt werden. Peter Baum in Linz zieht drei bis fünf Jahre später nach. Otto Breicha spielt Salzburger Albertina, weil sein Herz die Avantgarde der 50er und 60er Jahre umschließt.“ Ganz souverän rangierte da einer nach den notorischen „Regeln der Kunst“. Und noch 1987 konnte man in diesem Umfeld so tun, als gehöre Wien überhaupt nicht zu den Playern.
„Erwin würde immer noch gerne malen“, beschreibt Élise Mougin-Wurm den „Bildhauer, der keine Skulpturen machen wollte“: „Daher stellt er sich eine ganz einfache Frage: Wäre es möglich, Skulpturen und Malerei gleichzeitig zu machen? Schließlich hat man im alten Ägypten und Griechenland und im Mittelalter die Skulpturen ja auch bemalt.“ Genau, eigentlich waren sie in jeder Epoche immer wieder bemalt – Fachausdruck: gefasst –, außer vielleicht in den Jahren um 1800, die man nicht von ungefähr mit dem Pejorativum „Gipsklassizismus“ bedenkt. Das Prinzip Skulptur und Farbe hat seine wiederkehrende Konjunktur, und in dem Moment, da Erwin Wurm seine Karriere auf den Weg brachte, war es wieder speziell im Fokus. Das „Kunstforum international“ widmet im Frühjahr 1983 gleich zwei seiner Bände dem Thema. Ein erster verfolgt die Avantgarde, Futurismus oder Konstruktivismus, und deren Nachfolgebestrebungen, Informel oder Pop-Art, wie sie dem Dreidimensionalen mit Zweidimensionalem begegnen. Der zweite, erschienen im Juni 1983, zeigt die aktuellen Umsetzungen. Auf einer Doppelseite wird Erwin Wurm präsentiert, eingerahmt von zweien seiner Wiener Freunde und Kollegen, Hans Kupelwieser und Oswald Oberhuber. Holzskulpturen Wurms sind zu sehen, mit Farbe traktiert, die die hybride Gemengelage zweier Gattungen zur Geltung bringt. Die Farben greifen ins Arsenal des Komplementärkontrastes, bei Atlant ist es Rot-Grün, bei Mädchen mit Welle Blau-Gelb, jene beiden Inszenierungen von Anziehung und Abstoßung gleichzeitig, wie sie speziell in den Bildwelten Vincent van Goghs immer wieder beflissen vorgeführt werden. Auch Élise Mougin-Wurms oben zitierte Sätze sind mit einer Arbeit illustriert: Badende, ihrerseits von 1982. Alle diese Beispiele entstammen dem Atelier in der Knöllgasse, mit dem Holzreservoir der Schreinerei im Erdgeschoss und dem Willen, wild und seltsam zu Werke zu gehen, im Programm.
Im Archiv des Künstlers gibt es ein Foto, das entstanden ist, während er ein Buch durchblätterte. Sichtlich ist das Bändchen unter die Malerarbeit geraten, Schlieren roter Farbe haben sich niedergeschlagen, doch vor allem zu sehen ist eine Schwarz-Weiß-Aufnahme. Sie zeigt Marcel Duchamps Klassiker vom „Akt, eine Treppe herabsteigend“, der tatsächlich, als er 1912 in New York gezeigt wurde, für einen Skandal taugte, bloß, weil der Titel eine Nackte versprach. Das Gemälde besteht vor allem aus Formzersplitterung, die Bewegung auf der Stiege wird dabei facettiert, der Ablauf unterteilt in einzelne Abschnitte, die sich zueinander addieren und versuchen, die Zeit in den Raum zu übersetzen. Es ist ein Bild aus dem Geist der sogenannten Chronofotografie, der paradoxe Versuch, dem statischen Medium Bild einen kinematografischen Effekt zu verschreiben. Dieser Akt ist darüber hinaus die Inkunabel von Duchamps Weltruhm. Wer wollte sich nicht auf ihn berufen?
Wurms frühe Experimente mit Skulptur und Farbe rufen Duchamp immer wieder auf. Die einzelnen Bretter liefern ihrerseits Einzelaspekte, sind flach und ausschnitthaft und lassen sich zusammensetzen zu einem Gebilde, das Plastizität annimmt und die Ganzheit einer Gestalt. Was sich dabei der Morphologie verdankt, also den vor Augen stehenden Formen, und was der Wahrnehmung, der Rezeptionsleistung des Publikums, ist nicht zu entscheiden. So wild und seltsam es daherkommen mag, so ist es genauso Ergebnis von Konzentration. Ganz konsequent also, dass Badende ebenso wie Atlant (zusammen mit drei weiteren Skulpturen) an einer Gruppenschau teilnahmen, die Wurm als ursächlich für seinen Durchbruch ansieht, nicht bei Skreiner und nicht in Österreich. Bella Figura hieß die Präsentation in mediterraner Anmutung, kuratiert von Karl-Egon Vester für das Wilhelm-Lehmbruck-Museum im rheinischen Duisburg. Diverse nachmalige Champions sind mit von der Partie, Georg Baselitz etwa, Jörg Immendorff oder Markus Lüpertz aus der Truppe des Kölner Galeristen Michael Werner, Außenseiter wie Franz Hitzler oder Antonius Höckelmann und als einzige weibliche Position jene von Rosemarie Trockel, die ihrerseits längst ein Weltstar ist.
1985, in einem Übergangsjahr, in dem das Holz als Ausgangsmaterial mehr und mehr infrage gestellt wird, entsteht Der Kopf der Hygeia. Das kolossale Antlitz von zwei Metern Höhe kombiniert Holz mit Blech, Balken mit Tonnen, und setzt heftige Farbakzente in Blau und Grün. Eine Aufhängevorrichtung weist darauf hin, dass diese Trophäe frei im Raum platziert gehört, als Gerätschaft zur Abwendung des Bösen, als Heilmittel, denn in der Mythologie der Alten diente Hygeia der Gesundheit – als hätte von einem Monumentaldenkmal nur der Kopf überdauert, und der wird jetzt musealisiert. Das Werk hat Bazon Brock gekauft, gleich aus dem Atelier heraus, das mittlerweile in der Zirkusgasse im zweiten Bezirk lag. Bazon Brock sagte „es ist reif“ – er meinte die Arbeit – und ein wenig meinte er vielleicht auch seine eigene professorale Leistung als Ausbilder dieses Talents. Im Jahr 2006 hat Brock das Stück weiterverkauft, an das Karlsruher Zentrum für Kunst und Medien, das ZKM, dem Peter Weibel als Direktor vorstand. Eine Zeit lang, bis 2014, hing es in dessen Foyer von der Decke, zur Begrüßung beim Entree, ein Apotropaion, ein Gegenbild zu bösen oder böse gemeinten Blicken.
Tom Wolfe, der New Yorker Kommentator des gehobenen Lifestyles und Miterfinder des New Journalism, befasste sich im Jahr 1975 mit dem Kunstbetrieb. „The Painted Word / Das gemalte Wort“ war seine Innendarstellung der Szene betitelt, es war nicht weniger als eine Abrechnung. Es zeige sich, so schrieb Wolfe, dass die Kunstwelt, wie er sie umriss, „aus 750 Kulturbeflissenen in Rom, 500 in Mailand, 1750 in Paris, 1250 in London, 2000 in Berlin, München und Düsseldorf, 3000 in New York und vielleicht noch einem weiteren, über den Rest der Welt verstreuten Tausend besteht. Das ist die Kunstwelt, so runde 10000 Seelen, nicht mehr als ein Dorf, rekrutiert aus der besseren Gesellschaft von acht Städten.“ (Wolfe, 25/26) Zweierlei wiederum zeigen diese Zeilen. Erstens, die Kunst mag es gern kuschelig, idyllisch, dörflich, und am liebsten wohnt man in der Tat in Greenwich Village. Zweitens, Wien kommt nicht vor in Wolfes Liste. Doch stammt sie auch aus Mitte der 1970er. Zehn Jahre später hätte die Stadt zwingend unter die Kunstkapitalen gezählt werden müssen. Wien hatte angesetzt zum Take-off. Und mit Wien das Land, über dem die Stadt als wasserköpfige Kapitale residiert.
Marshall McLuhan, amerikanischer Vorzeigedenker, wenn es um irgendwas mit Medien geht, prägte 1963 das Wort vom Global Village. Insgesamt, so kann man das Diktum weiterdenken, haben Signaturen der Zeit solche des Ortes abgelöst. Einem Kunstwerk sieht man weniger an, dass es in New York oder Paris entstanden ist, als dass es aus den späten 1960ern oder den frühen 1980ern stammt. Da mochten Gilbert & George aus Großbritannien oder ein Gerhard Richter aus Deutschland kommen – sie hingen nicht mehr an der Nabelschnur ihres Herkunftslandes. In Österreich hingen sie mindestens zwanzig Jahre länger daran. Das österreichische Idiom war der Expressionismus, und auf seine, gern einmal in Beschwerden getränkte, Art fühlte man sich wohl im Diskurs in der Enge. Das Netzwerk eines internationalen Kunstbetriebs jedenfalls, es legte sich nicht über Österreich. Durch eine eigenwillige Logik, die um 1980 um sich griff, ließ sich dann sehr vieles nachholen. Der internationale Kunstbetrieb hatte begonnen, das Nationale wiederzuentdecken. In Italien formierte sich die „Transavanguardia“, die nach dem Plan ihres Mentors Achille Bonito Oliva das kollektive Gedächtnis der Italianità freilegte; in Köln zeigte Paul Maenz seine berühmten „interessanten Bilder aus Deutschland“; in New York spielte eine Galerie wie Metro Pictures ganz die US-amerikanische Karte. Was Österreich nie überwunden hatte, wurde andernorts zum Trend. Nun klinkte sich das Land ein in das aktuelle Geschehen. Dieses Touchieren einer Internationalität, die mit einem Mal auf derlei hierzulande Vertrautes wie Gestigkeit und Nabelschau, auf Wildheit und Seltsamkeit setzte, gab der österreichischen Kunstentwicklung die Überzeugung, dabei zu sein. Mittendrin zu sein.
Noch heute, da die Global Art ganz andere Prioritäten setzt, denken manche, die dabei waren, mit nostalgischer Verklärung an ein Heft der Hamburger Kunstzeitschrift „art“. Das Blatt, nicht unbedingt ein Organ der Theorie, aber weit verbreitet und als beliebte Auslegeware etwa in zahnmedizinischen Ordinationen so etwas wie ein Multiplikator, konnte als Sprachrohr gelten. Zumindest mit dem, was im Februar 1986 groß auf dem Cover stand: „Das Kunst-Wunder von Wien“. Es war nicht allein auf die Gegenwartskunst konzentriert, was auf den gut hundert Seiten hochglanzfarbig angepriesen wurde. Wien war sexy geworden gerade auch durch das, was es ohnedies im Übermaß besaß, Vergangenheit: Speziell die Dekaden um 1900 erlebten einen Boom, der weniger eine Wiedergeburt von Secession, Gesamtkunstwerk und Klimt-Schiele-Kokoschka markierte als eine vollkommene Neufassung. Nie zuvor stand diese Zeit derart im Fokus, als sie aktuell war, nicht und im Lauf der folgenden Jahrzehnte noch weniger. Die Postmoderne in ihrer orthodoxen Version, mit ihrem Faible für das Ornament, ihrer Vorliebe für Geschichte und auch ihrem Tunnelblick auf die Katastrophe hatte Wien befördert: Karl Kraus’ „Versuchsstation für den Weltuntergang“, wahlweise auch als „Experiment Weltuntergang“ apostrophiert, passte perfekt zum Fluidum, noch perfekter vielleicht Hermann Brochs „Fröhliche Apokalypse“, da es noch einen Schuss Hedonismus beimengte. 1985 veranstaltete das Wien Museum „Traum und Wirklichkeit. Wien 1870–1930“: Ausgestattet von Hans Hollein, einem der Chefdesigner dieser Postmoderne, gaben sich mehr als 600.000 Interessierte ihr Stelldichein – die Obsession aller Museumsleute in Wien bis heute. Der Mozart-Kult tat das Übrige: Man müsste Amadeus-Kult sagen, denn es war der 1984er-Film von Miloš Forman und es war vor allem Falcos Lied von 1985, die über des Komponisten zweiten, von Mozart nur scherzhaft verwendeten, Vornamen einen Hype schufen.
Und dann die Gegenwartskunst. „art 2/1986“ legte das Spektrum allen Augen vor. Doppelseitig etwa Schmalix und Mosbacher, auf einer Seite Brigitte Kowanz, in Briefmarkengröße Erwin Wurm, alle begleitet von Texten, die Ruth Händler verfasst hatte, eigentlich Korrespondentin des Magazins für Stuttgart. Wer in welchem Format auftauchte, blieb natürlich unproblematisiert: Die Abbildung oberhalb derjenigen von Wurm zeigt Wakolbinger, und der bekommt es auch nicht stattlicher; Franz West dagegen, rechts nebenan, hat die doppelte Größe. Doch wer wollte da schon in Konkurrenzgefühle ausbrechen. Es schließen sich die Arrivierten an, die „von der Avantgarde zur Akademie“ wechselten – die Informellen, die Phantastischen Realisten und die sozialistischen Realisten, denen noch einmal ein Heimspiel gestattet ist (auch Maria Lassnig ist dabei). Aufgeführt sind sodann diejenigen, die Funktionen tragen, die Museumsmenschen, die Betriebsbeflissenen, und natürlich darf ein Kaffeehaus- und Restaurantführer auch nicht fehlen. Da geht es eher konventionell zu: Dasjenige Lokal jedenfalls, an das man sich durch die Bank als obligatorisch erinnert, wenn man dabei gewesen ist, kommt nicht vor. Dabei hatte es nicht einmal Bänke: die „Bar“ in der Sonnenfelsgasse.
Wen wundert’s: art. Das Kunstmagazin, Nr. 2, Februar 1986.
„Vorher ist man ins Kaffeehaus gegangen und an einem Tisch gesessen oder beim Heurigen an einem Tisch. Immer war Tisch-Kommunikation, doch auf einmal wurde das wesentliche Element die Bar. Die konnte so lang sein wie auch immer, sie war immer voll.“ (Idealzone, 181) Es war ein Quantensprung in der Abendunterhaltung, denn die Elixiere der Szene, die an den Stammtischen verabreicht wurden und von vornherein zu Cliquenbildung führten, nahm man nun im Stehen. „Ich sitze an einem Tisch, vis-à-vis von meinem Partner, mit dem rede ich. Wenn sich jemand dazu setzt, bin ich irritiert. Klassisches Heurigen- oder Kaffeehaussyndrom … Und jetzt kam Bewegung in diese junge Gesellschaft. Die hat sich bewegt, die ist gestanden. Das heißt, wenn ich jemanden nicht wollte, konnte ich mich also einfach zwei Meter weiter bewegen, und die Geschichte hat sich gehabt. Und so haben auch die Lokale ausgesehen.“ (Idealzone, 199) Und so nannten sie sich dann auch: Sie bestanden aus einer Bar, und das sollte per Slogan kenntlich werden. Die Zersplitterung in Zirkel, die dann gern auf einen Begriff mit „Wiener Schule“ gebracht wurden, sei es im Malen, im Dichten, im Komponieren, im Philosophieren, war überwunden. Was sich jetzt ergab, war eine Szene, eine Interessengemeinschaft größeren, in seinen Dimensionen gleichwohl überschaubaren Umfangs. Aus dem neuen Raumgefühl resultierte ein Zeitgeist.
In der Originalversion um einiges kleiner als in der Abbildung hier: der Beitrag zu Erwin Wurm auf S. 43 der Kunstzeitschrift art zum „Kunst-Wunder von Wien”.
Die „Bar“, es galt so etwas wie „Term follows function“, wurde betrieben von Kathrin Messner, Kunstbuchhändlerin, und Josef Ortner, der später ein immaterielles Ausstellungshaus gründete, das „Museum in Progress“, in dem Gegenwartsprojekte mit neuen Medien öffentlicher Präsentation – Plakate, Fassaden, Zeitungsseiten – abgestimmt werden sollten. Auch die Leute, die in der „Bar“ bedienten, kennt man aus Wiens Kunstbetrieb, Evelyne Egerer, Künstlerin, oder Amer Abbas, Galerist. Und die Leute, die hier verkehrten, kennt man auch. Wakolbinger meint, jeden Tag dort gewesen zu sein. Und auch Erwin Wurm frequentierte den Laden, Bazon Brocks Erinnerung zum Trotz: „Erwin Wurm war nicht gerade der Typ des standfesten nächtlichen Saufbruders.“ Immerhin brach man von der Bar zu einem Autorennen auf, über die Ringstraße, über die Stränge. Am Steuer des einen Autos saß Wurm, am anderen Brigitte Kowanz.
„Eine ebenso charmante wie scharfzüngige Damenriege“: Vielleicht würde man die Wortwahl heute nicht mehr so treffen wie das „art“-Heft im Februar 1986, doch was damit gemeint ist, hat unverdrossen Bestand. In doppelseitigem Breitformat werden fünf Galeristinnen vorgestellt, die einen gehörigen Anteil am Wiener Kunstwunder beanspruchen. Die drei in der Mitte haben auch ihren Anteil am Wurm’schen Kunstwunder. Der Tresen des „Cafés Alt-Wien“, an dem sie stehen, passt sie perfekt ins Panorama ein, von links nach rechts sind es Heike Curtze, Rosemarie Schwarzwälder, Ursula Krinzinger, Grita Insam und Silvia Steinek (als das Foto im Szene-Rückblick „Idealzone Wien“, auf den ich auch gern zurückgreife, wieder publiziert wurde, haben sie unerklärlicherweise Silvia Steinek weggeschnitten). Die drei in der Mitte: Im selben „art“-Heft schaltet die Galerie Insam eine Anzeige, die auf ihre aktuell laufende Ausstellung zu „Aspekten österreichischer Skulptur“ hinweist und – man kann mittlerweile sagen: selbstverständlich – auch den Namen Wurm listet – unter insgesamt mehr als zwei Dutzend (darunter Wakolbinger, der bis 1997 der Galerie angehören wird). Wichtiger für Wurm sind die anderen beiden, sie sind zentral für den Beginn seiner Karriere: Bei Rosemarie Schwarzwälder, deren Tätigkeit unter dem Namen nächst St. Stephan in die Annalen eingegangen ist, und bei Ursula Krinzinger hat er seine ersten Ausstellungen in Galerien. In Galerien, wenn man darunter kommerziell orientierte, den Begriff Kunsthandel positiv meinende, ein Publikum, das sammelt und kauft, ansprechende Orte versteht. Bei Nächst St. Stephan in Wien und bei Krinzinger in Innsbruck hat Wurm ziemlich gleichzeitig im Jahr 1983 seine Debüts.
1982 bereits hatte es bei Nächst St. Stephan eine Gruppenausstellung gegeben, für die als Kurator Achille Bonito Oliva engagiert worden war. Er ist die treibende Kraft der italienischen Variante der jungen, wilden und seltsamen Positionen, die er unter dem Label – keine theatralische Sendung ohne Titel – „Transavanguardia“ herausbrachte. Die Veranstaltung in Wien hieß einfach Neue Skulptur, natürlich hatte Bonito Oliva einen seiner Künstler, Mimmo Paladino, mitgebracht – 1980 hatte er unter dem für die Mythomanie der jungen Italiener sehr passenden Titel „Die enthauptete Hand“ seine Truppe in einer Zeichnungsausstellung bereits präsentiert. Zwei Jahre später mischte er ein Potpourri aus allerlei Jungem und nicht mehr ganz so Jungem: Oberhuber, der seine fünfzig hinter sich hatte, war etwa dabei, aber er war auch so etwas wie der Spiritus Rector der Galerie, die er von 1973 bis 1978 angeführt hatte, bis die Leitung an seine damalige Lebensgefährtin Rosemarie Schwarzwälder überging. Wurm jedenfalls war mit von der Partie, und seine Teilnahme verdankte er einer gewissen Chuzpe. Der Künstler hatte sich bei der Galeristin gemeldet und um einen Besuch im Atelier in der Knöllgasse gebeten. Rosemarie Schwarzwälder kam vorbei zum vereinbarten Termin, wer indes nicht anwesend war, hieß Wurm. Sie kam dann tatsächlich ein zweites Mal. „Neue Skulptur“ sollte in dieser Zeit auch als Terminus lanciert werden – mit deutlich geringerem Erfolg als das gleichzeitige „Junge Wilde“ oder die diversen Wortbildungen mit „neu“ wie „Nouveau Réalisme“ in den 1960ern oder bald, als nächste große Nummer, „Neo-Geo“.
Im Szene-Lokal „Alt Wien“ lassen sich (von links) die Galeristinnen Heike Curtze, Rosemarie Schwarzwälder, Ursula Krinzinger, Grita Insam und Silvia Steinek für das „Kunst-Wunder“ der Zeitschrift art fotografieren. Wien, 1986.
Die Galeristinnen arbeiteten – „heute ist das undenkbar“, rekapituliert Ursula Krinzinger – eng zusammen. 1978, noch unter den Auspizien des Wiener Aktionismus und seiner gewissen Fixierung auf katholische Transsubstantiationsformeln, hatten Insam-Krinzinger-Schwarzwälder ein „Performance-Festival“ auf die Beine gestellt, das die ortsansässigen Auftritte mit den internationalen Bestrebungen verbinden sollte. Natürlich war das keine genuine Galerientätigkeit, aber wer sollte es, wie man an solchen Stellen gerne mit spitzer Zunge Richtung Museen sagt, sonst machen. Der Erfolg sprach für sich, und die Berichterstattung über die aktuellen Tendenzen sollte sich nun auf die tägliche Arbeit niederschlagen. Man entwickelte das Konzept der „Informationsgalerie“. Rosemarie Schwarzwälder fasst dieses Konzept in ihrem Memorandum „Klares Programm“ von 1995 sehr deutlich so zusammen: „Wir, Grita Insam, Ursula Krinzinger und ich, nannten unsere Galerien nun ‚Informationsgalerien‘ und legitimierten im offiziellen Sprachgebrauch unsere Öffentlichkeitsarbeit in Sachen Kunst, um den Subventionstopf der zuständigen Bundesministerien und Kulturämter anzuzapfen. Für das 1978 von uns dreien organisierte Performance-Festival konnte ich als Sponsor Mobil Oil auftun. In der Zeit der Nachwehen der Ölkrise war es inhaltlich, vom moralischen Standpunkt aus gesehen, eine zwiespältige Sache. Der ‚edle‘ Ruf, zwar eine kapitalschwache, aber integre Galerie zu führen, hätte in Mißkredit geraten können.“ (Schwarzwälder, 17) So versuchte sich das Trio in der Quadratur des Kreises und brachte die öffentliche Hand in Geberlaune. Schließlich leistete man in der Tat bedeutende Vermittlungsarbeit. Das half zum Überleben, bis dann, mit der neuen, zeitlosen Rückkehr zu den Griffigkeiten von Malerei und Skulptur in den frühen 1980ern, die Kunst selber auf Vermittelbarkeit setzte und auch die schiere Prätention, Werke zu zeigen, um sie zu verkaufen, leichter fiel.
Ursula Krinzinger testet die Atmosphäre in den Räumen auf der Seilerstätte 16, die sie bald mit ihrer Galerie beziehen wird, 1986. Das Foto machte der Künstler Rudi Molacek.
1984 hatte sich bei Nächst St. Stephan eine wegweisende Änderung ergeben, und „Klares Programm“ ist das Manifest dazu. Helmut Federle, der Schweizer Maler und Exponent eines strengen, asketischen Blicks auf das künstlerisch Mögliche, war in die Galerie und in das Leben seiner Leiterin eingetreten: „Die Praxis des Aufzeigens von sich permanent verändernden Erscheinungen auf der Kunstszene ging für mich zu Ende.“ (Schwarzwälder, 31) Es war eine „Stunde null“, das Programm hieß nun Klarheit. Entsprechend beginnt ihre Schrift die Chronologie der Galeriearbeit mit dem Jahr 1984 und einer Gruppenschau „Zeichen, Fluten, Signale“, an der Federle teilnahm. Am Ende des Jahres kommt noch ein Nachzügler: „9.11.–8.12. Erwin Wurm, Neue Plastiken“. Doch die Zusammenarbeit war zu Ende: Wenn einer nicht mehr will, dann will er nicht mehr. Da ziehe ich mich zurück, bin zwar gekränkt, zeige es aber nicht und gehe.
Ursula Krinzinger hatte 1971 in ihrer Heimatstadt Bregenz mit einer eigenen Galerie begonnen. Im Jahr darauf ging sie nach Innsbruck, wo sie ihre Räume bis 1993 im Areal einer früheren Schlosserei behielt, einem Domizil im Erdgeschoss mit einer Wohnung für Artists in Residence darüber. Vom Westen Österreichs her hatte man, wie sie betont, weniger die Hauptstadt im Auge als die „Achse München–Mailand“. Gleichwohl, im Gefolge zunehmender Aufmerksamkeit für ihre Arbeit und diejenige von Galerien generell, „habe ich mir eingebildet, dass eine Galerie in Wien das Richtige sei“. (Gespräch mit Ursula Krinzinger, 31.5.2023) Die Zusammenarbeit mit ihren Wiener Kolleginnen war ohnedies lange etabliert, und so sieht man im „art“-Heft Februar 1986 eine ganzseitige Anzeige, die eine Eröffnung ankündigt: „April/Mai 1986, Seilerstätte 16, 1010 Wien“. Darunter ein Schwarz-Weiß-Foto, von Rudi Molacek aufgenommen, es zeigt ein Interieur, großbürgerlich, mit Flügeltür, Stuckdecke und ausladenden Fenstern, allerdings ein wenig heruntergekommen und sichtlich auf Renovierung wartend. Doch sie wird kommen, die Renovierung, und die Auftraggeberin dafür ist auch auf dem Foto: Ursula Krinzinger, im Mantel, offenbar ist es kalt, doch die Fenster sind offen und die Neuwienerin lässt die Nase von der Luft umspielen. Der frische Wind, der hier einzieht, ist förmlich zu sehen. Zwanzig Jahre war das Palais, der sogenannte Residenzhof, ab 1895 von den in k. u. k. Zeiten vielbeschäftigten Architekten Helmer & Fellner erbaut, leer gestanden. Viel war zu tun, und „es war Wahnsinn, dass ich mich das traute“. Es stand dafür, und bis heute logiert die Galerie im Mezzanin des historistischen Gebäudes vis-à-vis dem Etablissement Ronacher.
Aug um Aug heißt die Eröffnungsausstellung, und Erwin Wurm ist natürlich dabei. Viele sind dabei, einige auch, die bisher den Spagat zwischen Nächst St. Stephan in Wien und Krinzinger in Innsbruck praktiziert hatten und nun fix in der Seilerstätte gelandet sind, Schmalix etwa oder Siegfried Anzinger, der Oberösterreicher unter den steirischen Pionieren der wilden und seltsamen Malerei. Und eben Wurm. Er zeigt, ausgerollt im Hauptraum der Galerie, Holzskulpturen, in hellem Rot gefasst, Landschaft betitelt, die die Kantigkeit ihres Ausgangsmaterials, Bretter, in einen Körper überführen: Sie bieten sich dar in Kugelform. An der Wand begleiten sie Gemälde von Bohatsch, Anzinger und Mosbacher. Für die kommenden zwei Jahre, bis 1988, wird ihm die Galerie ein monatliches Fixum überweisen, 30.000 Schilling, so erinnern sich Galeristin und Künstler im Gleichklang. Eine Apanage, ein Vertrauensbeweis, ein doppeltes Netz in der Freischaffendheit, Garantie für ungestörtes, jedenfalls finanziell nicht belangtes Arbeiten. Natürlich ist Erwin Wurm im Rückblick sehr dankbar. Derlei, sagt Ursula Krinzinger, gibt es längst nicht mehr: „Heute herrschen andere Loyalitäten.“ Es war eine Gratifikation: „Ich war immer sehr begeistert von dem, was er machte.“ Bis 2007 ist er Künstler der Galerie.
Im „Kunstforum international“, Nummer 85 vom Herbst 1986, sind gleich drei ganze Seiten für eine Rezension der Eröffnungsschau reserviert. Es schreibt Helmut Draxler, zusammen mit Robert Fleck und Markus Brüderlin Teil des Wiener Kritiker-Triumvirats, das den Aufstieg der Szene schier allein begleitet: „Auch wenn sich in letzter Zeit einiges getan hat, hat die Wiener Galerienszene solche Belebung bitter nötig. Interessant deswegen, weil Krinzinger bis vor kurzem, in enger Zusammenarbeit mit der Galerie nächst St. Stephan, so etwas wie eine landesweite Monopolstellung in Sachen jüngste Avantgarden zukam. Eine solche ist nun, endlich, nicht mehr zu halten; St. Stephan macht konsequent neukonstruktiv, und da sind noch andere, und das alles verspricht Reibung und Aufwind.“ (Kunstforum, Bd. 85, 1986) Die Vernissagen-Rede hält Helmut Zilk, auch so ein Name, der fällt, wenn es um Wiens Boom geht. Er war schon Bürgermeister der Stadt Wien zu dieser Zeit, doch seine einschlägigen Jahre sind zwischen 1979 und 1983 jene als Kulturstadtrat. Damals wurden die Festwochen gegründet, man wollte nun auch ein Festival haben. Insgesamt war Zilks Ziel das – ein wenig im Wildwuchs verbleibende – Initiieren. Das Atelier in der Knöllgasse hatte zur Eröffnung ebenfalls Zilk als Gast gesehen. Er war, erinnert sich Manfred Wakolbinger, sogar als Erster gekommen.
Auf „Reibung und Aufwind“ hatte sich Helmut Draxler in seiner Besprechung gefreut, und da hat er nicht vergeblich gehofft. „Dort, wo die österreichische Kunst eben passiert: in der Wiener Innenstadt“, hatte Draxler die neue Galerie situiert und hinzugefügt, dass gleich gegenüber, im Ronacher, „gerade die Operette und ein Wachsfigurenkabinett Auferstehung“ feierten. Das war schon ein wenig zweideutig, und zwischen den Zeilen stand, dass es im Wiener ersten Bezirk noch eine Galerie gab, die sich sehr eindeutig im Fokus auf das tonangebende Trio positioniert hatte. Der Grazer Peter Pakesch hatte 1981 in der Ballgasse, eng, mittelalterlich, überhaupt nicht splendid, eröffnet, auch er machte Furore mit Vertretern des gestischen Überschwangs, Herbert Brandl, Otto Zitko, auch holte er Franz West mit ins Boot, und bald kooperierte er mit deutschen Kollegen, allen voran Max Hetzler in Köln. Es brandete aus Hetzlers Stall ein notorisches Duo an, Martin Kippenberger und Albert Oehlen, die an einem einschlägig legendär gewordenen Wochenende im Spätherbst 1984 allerlei Bubenstreiche spielten und es als künstlerische Manifestationen deklarieren konnten: Es ging bevorzugt um Wettbewerb, um ein Fiaker-Wettrennen mit den Passagieren Kippenberger respektive Oehlen zum Beispiel und um ein Wetttrinken mit Kombattanten aus Deutschland respektive Österreich. „Insel Austria“, das Special des „Kunstforums international“ von Frühjahr 1987, herausgegeben von Markus Brüderlin, bietet eine von Didi Sattmann und Wolfgang Woessner besorgte Fotostrecke mit Innenansichten des vor allem abendlich-nächtlichen Betriebs. Erwin Wurm ist zweimal im Vernissagen-Habitus zu sehen, doch ist das nichts im Vergleich zur Präsenz besonders von Kippenberger auf diesen Aufnahmen und bei diesen Ereignissen, von denen sie berichten. Mit Pakesch und seiner Entourage hatte das Elixier des Betriebs, die Konkurrenz, jedenfalls herrliche Auffrischung bekommen. Erwin Wurm blieb diesbezüglich auf seiner Seite der Hemisphäre.
Grand Prix der Fiaker in der Prater-Hauptallee: Martin Kippenberger und Albert Oehlen veranstalten ein Wettrennen. Kippenberger gewinnt, sonst wäre er auch beleidigt gewesen. Wien, 14. Dezember 1984. Das Foto stammt von Didi Sattmann.
Eben zur Zeit der Gruppenschau bei Krinzinger geht Erwin Wurm auf seine erste Ausstellungstournee. Bis Sommer 1987 absolviert er fünf Stationen, Bremen, Graz, Aarau, Genf und schließlich Baden bei Wien. Die Neue Galerie in Graz ist die Organisatorin, sie sorgt für den Katalog, und für den Text sorgt deren Leiter Wilfried Skreiner. Es ist eine Schau im Duett, sein Kompagnon ist Alois Mosbacher. Das Vorwort des steirischen Kulturpolitikers Kurt Jungwirth versucht auch gleich, die beiden nicht nur auf eine gemeinsame Herkunft, sondern auch noch auf „den selben Monat desselben Jahres“ als Geburtsdatum zu verpflichten, was zwar nicht richtig ist (Erwins Monat ist der Juli, nicht der Juni), aber dem Traum von der Homogenität, wie er seinerzeit noch deutlich sein Wesen trieb, Ausdruck verleiht. Wie auch immer. Die beiden, die sich hier künstlerisch treffen, der eine mit Gemälden, der andere mit Skulpturen jeweils aus der jüngsten Produktion, haben in der Tat vielerlei gemeinsam: vor allem den Ort, an dem ihre Arbeiten – bei Wurm sind es wiederum farbig gefasste Objekte, wahlweise auf der Basis von Holz, Blech oder Beton – entstanden sind.
Anlässlich der Ausstellung do it von Hans Ulrich Obrist (Zweiter von rechts) im Reykjavik Art Museum, Island, 1996.
RIVA haben sie ihre Schau betitelt. Das Autorenfoto, das sie nebeneinander zeigt, erklärt, was das bedeutet. Sie haben ein Schild neben sich, man sieht eine Art Logo, ein großes R von einem Oval umfasst, gerahmt von den Worten „Riva“ und „Wien“. Darunter, gleichfalls in Versalien, „Stadtbüro“. Riva ist eine Firma für Produkte der Körperpflege, für Seifen und Parfüms, ursprünglich beheimatet in Atzgersdorf bei Wien, zwischenzeitlich mit einer Produktionsstätte am Wiener Handelskai Nummer 388, ziemlich stadtauswärts, dort, wo heute die Tangente das Donauufer schneidet. Hier nun hatte der Künstler zwischen 1985 und 1987 sein Atelier. Es ist ziemlich kompliziert, all die Orte einzusammeln, die er in seinen ersten Jahren der Professionalität in Beschlag nahm. Es gibt Wohnadressen an der Oberen Augartenstraße im zweiten, in der Weihburggasse im ersten, bei den Eltern einer zwischenzeitlichen Freundin im 14. und eine in der Zirkusgasse wiederum im zweiten Bezirk, einige Häuser weiter von derjenigen, die Wurm heute innehat – diese frühere Wohnung wird anschließend von Helmut Draxler und seiner Familie übernommen. Zum Teil arbeitet er auch dort, denn Ateliers pflegen von der Jahreszeit sehr abhängig zu sein. Für den Moment also Riva. Auch hier entwickelt sich, als gehörte es zu Wurms speziellem Händchen für Immobilien, ein mythischer Ort.
Man war zu siebt. Es gibt ein Foto, das sie zeigt, entstanden zum Abschiedsfest 1987, als alles wieder vorbei war, und es scheint heute, als trügen sie diese Aufnahme im Septett im Herzen. Das Riva-Areal bestand aus zwei Gebäuden: einem alten Ziegelbau, wenn man hereinkam, links – hier arbeiteten Thomas Stimm, der das Gelände aufgetan hatte, und Hubert Schmalix. Gegenüber ein größerer jüngerer, aus Beton errichteter Trakt – im Erdgeschoss waren Wurm und Wakolbinger zugange, darüber arbeiteten die zwei Künstlerinnen der Ateliergemeinschaft, Johanna Kandl und Eva Schlegel; ganz oben residierte Alois Mosbacher, dessen Räume „sehr groß“ waren, wie er sich erinnert. Es habe in manchen Monaten ziemlich gestunken dort, und in anderen drang im Gegenzug die Saison durch die Ritzen. Ich habe auch im Winter dort gearbeitet. Mit Schianzug, zum Teil ist das Bier gefroren. Das Bild, das Wurm und Mosbacher im RIVA-Katalog vorstellt, wirft ein Schlaglicht darauf, beide stehen sie sehr steif da, es war wohl weniger Schüchternheit als Jahreszeit, in ihren dicken Mänteln, mit Handschuhen und bei Wurm einem Mützchen. Doch es war eine Zeit des Umbruchs, und es war offenbar eine Situation jener Neighbourhood, jener nach außen abgeschirmten Dörflichkeit, die gut für die Stimulation war. Und für die Identitätsbildung: Das Foto der sieben strahlt Souveränität aus, Coolness und ein augenscheinliches Einverständnis. Alle sind sie gut in ihren Dreißigern (Stimm, der Älteste, geht auf die vierzig zu), keine Absolute Beginners, bis auf Eva Schlegel, die Juniorpartnerin, die Mitte zwanzig war und erst ein Jahr später, nach ihrem Abschluss bei Oberhuber, zu ihnen stieß. Mittags, das ist eine fixe Erinnerung, ging man gemeinsam zum Essen – eine Gepflogenheit, die sich Erwin Wurm bis heute nicht nehmen lässt: Ich bin ein Maurer. Der braucht eine Mittagspause. Noch eine Erinnerung halten sie fest, Eva Schlegel, Manfred Wakolbinger, Alois Mosbacher unisono: Hans Ulrich Obrist, der kuratorische Jetsetter mit einem ihm speziell nachgesagten Faible für Wien, sei bei Riva aufgetaucht, er wollte zu Mosbacher. Er war noch sehr jung, Jahrgang 1968, und seine Eltern begleiteten ihn – wartend vor der Tür. Ein mythischer Ort.
Dann sind da die Auszeichnungen – für einen Newcomer unabdingbar, Brückenschläge über die Verkäufe, erste Anerkennungen, plötzlich versiegend ab Mitte dreißig und wiederkehrend, sozusagen auf höherem Niveau, wenn diejenigen, die ehren, mehr davon haben als die Geehrten. Es geht los 1984 mit dem Otto-Mauer-Preis, dessen Namen eigentlich noch ein „Monsignore“ vorgesetzt gehört. Mauer, der Gründer der Galerie nächst St. Stephan, Mann jener Kirche, die dem Ausstellungsort unmittelbar benachbart war, stand für eine ganz seltene Offenheit einer Gegenwartskunst gegenüber, die sich wiederum dem Spirituellen, Immateriellen und Transzendenten sehr offen zeigte. 1981 war der Preis in Erinnerung an den Monsignore inauguriert worden. Nach Klinkan, Gottfried Mairwöger und Bohatsch ist Erwin Wurm der vierte Preisträger. 100.000 Schilling und ein Bekanntheitsschub gingen auf sein Konto.
Neun Preisverleihungen sollte es dauern, bis eine Künstlerin zum Zuge kam. Brigitte Kowanz, geboren 1957, 2022 bereits verstorben, ist eine stete Begleiterin von Wurms Werk und Wirkung. Ob es ein Rennen um die Ringstraße ist; ob es ein Foto ist, das im Erinnerungsband zur „Idealzone Wien“ den Text über die Kunstszene illustriert und wie zufällig sie beide zeigt; ob es um die Logik geht, dass Wurm, als er in den 1990ern ein neues Atelier in der Taborstraße bezieht, jenes nimmt, das vorher Brigitte Kowanz genutzt hat; oder ob es die Entscheidung der Kommissärin Christa Steinle ist, die beiden zum nationalen Defilee im österreichischen Pavillon der Biennale di Venezia 2017 einzuladen: Man ist sich nahe. Das gilt auch für den ersten großen Tanz auf internationaler Bühne, den sie wiederum gemeinsam bestreiten. Auftritt Kowanz und Wurm auf der Biennale von São Paulo 1987. Verantwortlich für die Auswahl ist Peter Baum, Direktor der Galerie der Stadt Linz, ein Player aus der Provinz, der sich keineswegs scheut, auf Wien zurückzugreifen. Brigitte Kowanz, die bis 1984 in Kollaboration mit Franz Graf tätig war und erst im Begriff ist, die Lichtarbeiten, für die sie dann bekannt werden wird, zu entwickeln, zeigt Gemälde. Wurm stellt sich mit Blecharbeiten vor, Kombinationen von Eimern, die interessante Titel tragen wie Die europäische Frage oder Der Krieg der 50er mit den 60ern. São Paulo verkörpert das zweitälteste Zentrum des Prinzips Biennale, seit den 1950ern findet sie statt, ausgebreitet in einer wunderbar weitläufigen Architektur, die die Auswahl in einem einzigen langgezogenen transparenten Gebäudeblock vorstellt, erdacht von Brasiliens Vorzeige-Modernisten Oscar Niemeyer. Alle Länder unter einem Dach: Da heißt es, die Aufmerksamkeiten zu dosieren und zu fokussieren.
Noch einen Ausgriff ins Internationale bietet das Jahr 1987, und es scheint, dass der Künstler ihn eher weniger genoss. Er ist Stipendiat des „Berliner Künstlerprogramms des DAAD“, des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, mit der Einladung, ein Jahr in Berlin zu verbringen, damals noch eingezwängt in die letzten Ausläufer des Kalten Kriegs, die berühmte Frontstadt. Wurms Erinnerung ist sehr bündig: Meine damalige Zeit in Berlin war schrecklich. (Parnass 2016) Dabei war es ein Jahrgang mit durchaus großen Kalibern, allen voran Jim Jarmusch, dem Filmemacher, der gerade zu der Zeit mit „Stranger Than Paradise“ oder „Down By Law“ sehr präsent war. Doch der DAAD verteilt die mit einem Stipendium Versehenen ziemlich weit im Stadtraum. Und für Wurm war es unter anderem auch die Zeit, in der ich das Konzept meiner künstlerischen Arbeit radikal verändert habe. Ich wollte anders an die Sachen herangehen. Wir werden darauf zurückkommen.
Die Szene braucht jemanden, der sie in Szene setzt. In Wien verrichtete dieses Amt in schier missionarischer Zuverlässigkeit Didi Sattmann, Chronist, Fotograf, Hagiograf, denn im Rückblick werden aus seinen Aufnahmen bevorzugt in Schwarz-Weiß schon einmal Legenden. Da gibt es diese Folge, die einen Mann mit dem Hammer zeigt, er hat das Werkzeug geschultert, denn es ist ein Gerät nicht zum Nägel Einschlagen, sondern zum Zertrümmern. Es ist ein schöner Mann, zweifellos, die Sanftheit seines Antlitzes passt nicht zur Martialität des Objekts. Er macht nicht den Eindruck, dass er mit dem Hammer gerade zugange war, er hat einen Wintermantel an, und im Hintergrund sieht es so aus, als befände er sich in einer der weißen Zellen des Kunstbetriebs. Didi Sattmann fotografiert Erwin Wurm, es muss um 1986 gewesen sein, zu Riva-Zeiten, als eben der Mantel in Benutzung war, der auch im Katalog-Foto auftaucht. „Kann eine Skulptur flach sein?“, fragt das Kinderbuch zum „Bildhauer, der keine Skulpturen machen wollte“: „Um das zu überprüfen, hämmert Erwin sehr laut auf Metallobjekte wie Gießkannen oder Kübel.“ Illustriert werden die Sätze mit einer Abbildung von Erwin Wurms Kraftwerk, einer auf 3,8 Millimeter dünne Ungreifbarkeit geklopften Gießkanne, deren Silhouette nun tatsächlich einer Industrieanlage ähnelt. Sattmanns Foto zeigt also einen Künstler auf dem Weg zur Arbeit – oder ist sie bereits getan? Der Hammer ist jedenfalls ein Attribut, Charakteristikum eines buchstäblichen Bildhauers, der zuschlägt, um sein Werk zu verrichten, ein Künstleraccessoire, das allemal ungewöhnlicher ist als Meißel oder Pinsel. Und Sattmann ist der Porträtist dazu.
Didi Sattmann machte auch die Aufnahmen, die eine rechtschaffene Runde von Künstlerinnen und Künstlern beim Debattieren zeigen. Sie sitzen sommerlich um einen Gartentisch, von Getränken umgeben, und stellen sich ganz postmoderne Fragen zum „Ende des linearen Denkens“. Andrea Schurian moderiert, man kennt sie als Autorin im österreichischen Rundfunk und vielbeschäftigte Feuilletonistin. Weiterhin zugegen sind Siegfried Anzinger und Marie-Luise Lebschik, ihrerseits Malerin und Ehefrau von Anzinger, Mario Terzic, Objektemacher und ab 1991 Professor an der Angewandten, Brigitte Kowanz mit ihrer „schönen Setterhündin Gloria“ und Erwin Wurm. Veranstaltet ist das Treffen vom österreichischen Kunstmagazin „Parnass“, das als Sonderheft Nummer 5/1988 eine Ausgabe zum Thema „Werte. Zum Stellenwert der Künste“ herausbringt. „Ende des linearen Denkens“ ist natürlich eine anspruchsvolle Denkaufgabe. Sie gemahnt, auch wenn das nirgends erwähnt ist, an den französischen Strukturalismus, namentlich an Jean-François Lyotard, der seinerzeit in aller Munde war mit seiner Prognose, dass die „großen Erzählungen“ vorbei wären – keine Fortschrittsgläubigkeit, keine marxistischen Hoffnungen, keine Utopien mehr. Stattdessen die Refugien in den jeweiligen Befindlichkeiten, in der Andersheit, in der Differenz – mittlerweile weiß man zur Genüge, was damals gemeint war.
Daran arbeitet sich die Runde nun ab, auch wenn die „Wallungen“, wie es im Vorspann heißt, „eher durch Sonnenbestrahlung als durch hitzige Streitgespräche ausgelöst wurden“. (Parnass, Sonderheft 5, 1988) Man kennt sich eben, doch hindert das nicht, auf vier Doppelseiten die Unterhaltung zu dokumentieren. Erwins Part ist die des demonstrativ Unbeteiligten. Ein Geht-mich-nichts-an zieht sich durch seine Formulierungen, man könnte es die klassische Ästhetik der Indifferenz nennen, eine „Désinvolture“, wie Gustave Flaubert sie im 19. Jahrhundert bestimmt hat. In den Worten Wurms liest es sich so: Das Gewäsch, was Kunst ist, ist völlig uninteressant. Für viele Künstler ist das eine Ausrede, wenn sie keinen Erfolg haben. Oder: Ganz egoistisch macht man in erster Linie etwas für sich. Ich will gute Plastiken machen, aber ich will keine Gesellschaft verändern, oder etwa vergleichbar Hochtrabendes. Meine Arbeit kommt mehr aus der Lust, etwas auszuprobieren. Linearität, Entwicklung, Sich-Einklinken in ein eventuelles Projekt der Moderne stehen hier nicht auf dem Tapet. Was Wurm sagt, ist ein Plädoyer, sein Ding zu machen. Das heißt in seinem Fall: gute Plastiken, und damit ist die Künstlerrolle genug umrissen. Im Gespräch, wie es zum Abdruck gekommen ist, hat er dann auch das letzte Wort: Im Grunde finde ich den Gedanken, vom Staat Geld zu kriegen, höchst unangenehm.
Zum Ende (von links): Johanna Kandl, Hubert Schmalix, Manfred Wakolbinger, Thomas Stimm, Eva Schlegel, Erwin Wurm, Alois Mosbacher. Das Foto zierte die Einladungskarte „Zum letzten Fest, am 15.8.1986, ab 14:00 Uhr, am Handelskai“.
Zum Beginn (von links): Hubert Schmalix, Franz West, Eva Schlegel, Erwin Wurm, Brigitte Kowanz, Manfred Wakolbinger und Leopold Kogler bei der Hochzeit von Erwin und Élise am 21. August 2010.
Der sommerliche Garten, in dem die Runde sich getroffen hatte, liegt in der Eiswerkstraße im 22. Bezirk, mit Blick zum einen auf die UNO-City, mit unmittelbarer Nähe zum anderen zur Alten Donau und zum Strandbad Gänsehäufel. Das Gebäude war, der Straßenname gibt es zu verstehen, ein ehemaliges Eislager: Den Winter über wurden am nahen Wasser Eisblöcke geschlagen und hier verwahrt, bis in den April blieben sie im dicken Gemäuer mit engen, schießschartenförmigen Öffnungen unversehrt. In Zeiten der Kühltechnik war dann eine Gärtnerei eingezogen, und von ihr konnte Wurm das Gelände übernehmen, für 300.000 Schilling. Das war seinerzeit sehr viel, und so hatte der Künstler in Gestalt des Kollegen Mosbacher einen Mitstreiter. Am Ende der Riva-Jahre wurde es erworben. Zwei, drei Jahre später verkaufte Mosbacher seinen Anteil an Lois Weinberger, Österreichs Vorzeigekünstler in Sachen Ökologie, zu dessen Schaffen das Areal mit weitläufiger Grünanlage bestens passte. Als Weinberger einzog, sagt Mosbacher, hätten sich die Nachbarn über den Distelgarten aufgeregt. Als er wieder ging, regten sich die Nachbarn auf, dass Erwin den Distelgarten beseitigte. Wurm übernimmt das Anwesen dann allein, die Eiswerkstraße wird Schauplatz zweier Jahrzehnte in seinem Leben werden, hier gründet er seine erste Familie. Zunächst aber dient es noch als Atelier, es wird zweigeteilt, Wurm arbeitet vorne zur Straße hin, der jeweilige Kollege entsprechend rückseitig.
Die Zeitschrift „Parnass“ ist eine treue Begleiterin von Wurms Werk. So ist der Künstler auch der erste Gast bei einem „neuen Projekt“, das im Herbst 1988 lanciert wird: „Ein Künstler hat jeweils die Möglichkeit“, so beschreibt es Herausgeberin Charlotte Kreuzmayr, „sechs Seiten zu gestalten, wobei ihm freisteht, wie er Teile seiner Arbeit publiziert, die nicht für Ausstellungen oder Katalog gemacht sind, sondern eben speziell für eine Zeitschrift … Wir beginnen mit Erwin Wurm.“ Der entscheidet sich bei seinem Insert, Fotos farblich zu bearbeiten und sie jeweils auf eine Druckseite zu setzen. Das letzte, sechste Foto in der Reihe liefert einen Reflex auf die neue Wohn- und Arbeitssituation: In strengem Weitwinkel, sodass sich die Ecke des Hauses als spitzer Keil darbietet, von dem aus die Wände nach hinten fliehen, steht die Eiswerkstraße 9 vor Augen, hoch aufgetürmt und akzentuiert in blassem Blau. Verfremdet in dieser Aufnahme ist, was ohnedies befremdet, da das Gebäude mit den Schlitzen seiner Fensteröffnungen sich burgartig auftürmt. Als wäre das Haus Schauplatz einer Gothic Novel, einer Geistergeschichte mit ziemlich grellem Suspense, steht es da, nicht ganz geheuer, ein Solitär, der womöglich ein letztes Mal auf eine Ästhetik des wild und seltsam setzt.
My Home is My Castle: Eiswerk, 1990. Collage aus zwei C-Prints.
Im Juni 1988 bestückt Erwin Wurm eine Ausstellung in der Düsseldorfer Galerie von Kiki Maier-Hahn. Die Eröffnung hat geringe Resonanz, denn gerade ist in Deutschland Fußball-Europameisterschaft, und da haben die Leute etwas anderes zu tun. Anwesend bei der Vernissage war indes eine junge Künstlerin aus Mülheim an der Ruhr, Jahrgang 1960, die vor zwei Jahren mit ihrem Studium an der École supérieure des arts décoratifs de Strasbourg fertig geworden war und nun eine Karriere ins Auge fasste. Was passierte, schildert Dorothee Golz selber: „Ich kannte Erwins Arbeiten aufgrund einer kurz vorher erschienenen Ausgabe des Kunstforums ‚Insel Austria‘. Ich dachte, dass er ein lustiger Typ sein muss. Vielleicht wegen des Namens, aber auch aufgrund der Wahl der Titel für seine Skulpturen. Ich habe ihn mir vergnügt und etwas rundlich vorgestellt. Der Überraschungseffekt war groß, als ich ihn das erste Mal erblickte, er hatte sich in die hinterste Ecke des Galeriebüros zurückgezogen und Kiki wollte mich ihm vorstellen. Sie deutete auf einen schlanken Mann mit feinen Gesichtszügen und strenger Brille. Ich habe Kiki gefragt, wo denn dieser Erwin Wurm sei, und sie meinte, da, wo sie hinzeige. Ich dachte, dass das nicht sein kann, und meinte noch ‚Ich seh ihn nicht‘. Dieser Überraschungseffekt hat möglicherweise dazu geführt, dass ich mich schockverliebt habe.“ (Brief von Dorothee Golz, 4.6.2023) Dann ist es wohl sehr schnell gegangen, Wurm hatte eine weitere Ausstellung im Salzburger Kunstverein und lud die neue Bekanntschaft dorthin ein: „Am dritten Tag, an dem wir uns gesehen haben, hat er mich gefragt, ob ich ihn heiraten möchte“, schildert die baldige Ehefrau. (Gespräch mit Dorothee Golz, 2.3.2023) Denn, und sie weiß es noch sehr genau: „Ich habe mich Ja sagen hören.“ Geheiratet wurde in Dorothees Heimat, die Feier fand im Kloster Saarn in Mülheim statt, das als Begegnungsstätte gerade neu eröffnet worden war.
Im Herbst 1989 kam Dorothee ins Chaos der Eiswerkstraße: „Zu dem Zeitpunkt, als ich nach Wien gekommen bin, war gerade die mittlere Etage zu einem großen Wohnraum mit integrierter Küche ausgebaut. Statt Fenster gab es nur kleine Luken, die mit Dämmwolle zugestopft waren.“ Immerhin war „in der Mitte schon ein Badezimmer“. Folgende Information ist noch von Belang: „Kurz nach der Hochzeit wurde ich schwanger.“