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Die Lager

Birkenau, Buchenwald, Dachau und Pfaffenwald, Herbst 1941 – Winter 1942

Es war im Herbst 1941. Mitka war in etlichen Viehwaggons vom Ufer des Dnjepr in Kiew nach Birkenau gelangt, über eine Entfernung von knapp tausend Kilometern. Wie Millionen von Juden, Gefangenen und anderen Deportierten wurde er in einen Zug verladen, ohne zu wissen, was mit ihm geschehen würde oder wohin die Fahrt ging.

Vieh- und Güterwaggons hatten einen praktischen Vorteil für den Transport von Gefangenen. Da diese Waggons leicht verschließbar und fensterlos waren, wurden für den Transport menschlicher Fracht weniger Soldaten benötigt. Und die Waggons konnten eine große Anzahl von Menschen aufnehmen. Die offiziellen SS-Vorschriften sahen 50 Deportierte pro Waggon vor; es war jedoch nicht ungewöhnlich, dass 100, manchmal sogar bis zu 150 Personen in einen Waggon gepackt wurden.9 Nahrung und Wasser gab es nicht, ebenso wenig eine Toilette. Manchmal war der Boden mit Branntkalk bestreut, ein anderes Mal wurde ein Eimer als Latrine an Bord geworfen. Mitka sagt über den Geruch von Urin und Exkrementen: »Wir kannten es nicht anders. Also gewöhnte man sich daran.«

Die oberste Priorität der NS-Kriegsmaschinerie war der Transport von Truppen und Rüstungsgütern. Daher wurden die Holocaustzüge regelmäßig auf Ausweichgleise verfrachtet, wo sie oft tage-, manchmal wochenlang warteten, bevor sie weiterfahren durften. Während der Wartezeit wurden die »Passagiere« in den Viehwaggons ohne Belüftung, ohne Nahrung oder Wasser sich selbst überlassen und waren extremer Kälte oder Hitze ausgesetzt. Es war nicht ungewöhnlich, dass die Wachen beim Öffnen der Türen feststellten, dass alle Insassen tot waren.10

Aber nicht alle starben in den Zügen. Manchmal, wie im Fall von Mitka, gab es in den Waggons eine Mischung aus Leichen und Menschen, die sich an das Leben klammerten und sich eng aneinanderdrängten. In Interviews spricht Mitka oft darüber, dass Züge in ihm immer noch die Assoziation von Leichen wachrufen – »so viele Leichen«. Seine Stimme wird leise, als er sagt: »Und es war mir gleichgültig.«

Immer wieder kommt Mitka auf den Gedanken zurück, dass der Tod ihn nicht berührt hat. »Menschen sind gestorben«, sagt er nachdenklich, »aber ich erinnere mich nicht an Gefühle, wenn es geschah – keine Gefühle.« Die Vorstellung, dass er die Endgültigkeit des Todes nicht begriffen hat, scheint ihn zu irritieren und zu beschämen. Auch wenn er selbst diese Schlussfolgerung nicht zieht, ist es schwer, sich des Eindrucks zu erwehren, dass das Trauma, das Mitka bei seinem Versuch zu überleben erlitten hat, und sein junges Alter ihn davor bewahrt haben, den Tod, der ihn umgab, zu verstehen.

Seine Fahrt von Kiew in sein erstes Lager beschreibt Mitka als Abfolge von immer neuen Viehwaggons, von »ständigem Umsteigen«. Im letzten Waggon vor der Ankunft im Lager hörte er, dass ihr Ziel Birkenau sei. »Ja, Birkenau«, sagt er. »Ich wüsste nicht, dass ich jemals ›Auschwitz‹ gehört hätte.« Viel später, als Erwachsener, hat er erfahren, dass Birkenau eines von vielen Nebenlagern des Auschwitz-Komplexes war.

Auschwitz-Birkenau befand sich in der Nähe der deutsch-polnischen Grenze auf einem Gelände, das laut dem Historiker Nikolaus Wachsmann während des Ersten Weltkriegs »als provisorische Siedlung für Saisonarbeiter« 11 diente. Später, bevor es in ein riesiges Konzentrationslager umgewandelt wurde, wurde es vor allem, aber nicht ausschließlich, als Lager für polnische Gefangene genutzt.

Als Mitka im Lager ankam, betrat er eine Welt, in der ausgehungerte Häftlinge physisch und psychisch misshandelt wurden. In Auschwitz und den Nebenlagern Birkenau und Monowitz wurden sie gezwungen, Offiziershäuser, Baracken für Häftlinge und Gebäude zur Lagerung von Ausrüstung sowie Gaskammern und Krematorien für ihre eigene Hinrichtung zu bauen.

Er bedauere es, sagt Mitka, dass er sich nicht an mehr Details über seine Zeit in diesem Lager erinnern kann. Dann kommt er auf einen starken Eindruck zu sprechen: »Die einzigen Erinnerungen, die ich habe, sind die an den Hunger. Wenn man hungrig ist, vergisst man alles andere. Ich erinnere mich nur an den Hunger. Ich hätte mich auf eine Leiche setzen und eine Mahlzeit essen können – denn Leichen bedeuteten mir in jenen Jahren nichts. Überhaupt nichts.«

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Die nächste und einzige andere Geschichte, die er aus seiner Zeit in Birkenau erzählt, betrifft die Arbeit in einer Ziegelei. Er beschreibt, wie Tonblöcke auf einem Förderband herunterkamen.

»Ich hatte dieses Gerät mit vier Drähten in der Hand. Stellt euch das vor – ein Gerät mit vier Drähten, das Ziegelsteine schneiden soll.« Er formt ein Quadrat mit seinen Händen, um den Rahmen zu zeigen, den er in der Hand hielt, und fährt fort: »Es war ein Ding zum Schneiden von Ziegeln, und sie gaben mir diese Aufgabe, aber ich konnte es nicht. Ich war zu klein dafür.« Also beschreibt er die Arbeit, die er verrichten konnte. »Sie stellten mich also an eine runde Grube. Stell dir diese runde Grube vor. Diese Ziegel kamen aus einer Grube. Und aus dieser runden Grube ragt ein Schaft, so ungefähr.« Wieder demonstriert er mit Gesten, indem er seine linke Hand auf den rechten Ellbogen legt und mit dem rechten Unterarm einen Hebel zeigt. »Und hier drüben steht ein Pferd.«

Dass es in Auschwitz-Birkenau eine Tongrube gab, ist eines der wenigen Details aus Mitkas Erinnerungen, für die es keine äußere Bestätigung gibt. Mitka konnte diese Erinnerung bisher nicht verifizieren, und das beunruhigt ihn. Es gibt Bilder von Lehmgruben und Ziegelbrennereien in anderen Lagern als Auschwitz-Birkenau, insbesondere in Sachsenhausen und Buchenwald.12 Es gibt eindeutige Beweise für eine Maurerschule in Auschwitz I in Baracke 7, in der »relativ gesunde junge Männer darin geschult wurden, Ziegel herzustellen und zu vermauern«.13 Als Mitka in Birkenau ankam, war das Lager gerade im Aufbau begriffen und es bestand Bedarf an Baumaterial. Vielleicht gab es dort eine solche Grube. Zweifelsohne gab es in Auschwitz Steinbrüche. Ausgehend von den Beschreibungen der Entwässerungsprojekte ist es mehr als wahrscheinlich, dass es in Auschwitz auch Lehm gab, den die Häftlinge vermutlich von Hand ausgraben mussten.14 Es ist aber auch möglich, dass Mitka während seiner Zeit in Buchenwald oder Dachau in der Ziegelproduktion eingesetzt wurde.

Ob in Birkenau oder einem anderen Lager, Mitka erinnert sich an eine Grube, die wie eine riesige Rührschüssel aussah. Sie war mit Ton gefüllt. In der Mitte befand sich ein Schaufelrad, das gedreht werden konnte. An der Spitze des Schaufelschafts befand sich ein Holzbalken, der mit einem Pferdegeschirr verbunden war. Das Pferd schob den Balken in der Grube umher, um den Ton zu mischen.

Da der sechs- oder siebenjährige Mitka nicht über die Kraft verfügte, mit dem Drahtgerät Ziegel aus dem Lehm zu stechen, wurde ihm eine Aufgabe zugewiesen, die dem wissbegierigen kleinen Jungen eine gewisse Freude bereitete. »Ich musste mich auf den Balken neben dem Pferd setzen, während dieses im Kreis lief und seine Runden drehte, um den Lehm zu mischen.«

Nach dieser sehr konkreten Erinnerung kommt Mitkas Erzählung ins Stocken, er unterbricht sich, setzt neu an, unterbricht sich wieder. Er fragt sich, ob die Ziegelsteine, an deren Herstellung er beteiligt war, zum Bau von Gaskammern verwendet worden sein könnten, in denen die »Endlösung« durchgeführt wurde. Und er glaubt, dass es so war, und versucht, seiner Schuld Ausdruck zu verleihen. Mit abgewandtem Blick fragt er in fast flehendem Tonfall: »Könnten diese Hände beim Bau der Öfen geholfen haben? Aber ich wusste es nicht.«

Der Moment geht vorüber, ohne dass jemand einen Kommentar abgibt.

Mitka weiß nicht, wie lange er in Birkenau war. Er weiß nur, dass er »nach Tagen und Tagen« wieder in einen Waggon gesteckt wurde, der ihn nach Buchenwald brachte, etwa 640 Kilometer westlich von Auschwitz. Warum er verlegt wurde, weiß er nicht.

Wie seine anderen Fahrten in Viehwaggons war auch der Zug nach Buchenwald voll mit Erwachsenen. Kinder kommen in Mitkas Erinnerungen aus dieser Zeit nicht vor. Wieder kannte er niemanden und spürte ständigen Hunger. Als der Zug anhielt und Mitka und die anderen ins Lager getrieben wurden, hielt der Fotoapparat in seinem kindlichen Gemüt ein Bild mit perfekter Schärfe fest. Dieses Bild sollte ihn nie mehr loslassen. Damals hatte er jedoch keinen Bezugsrahmen für das, was er sah.

»Als ich nach Buchenwald kam, hängten sie die Leute so an einem Baumstamm auf. Sie wurden dort aufgehängt, bis sie starben. Ich sah Hunderte, vielleicht Tausende von toten Menschen, aber ich wusste nicht, was das bedeutete.«

Mitka berichtet weiter von Männern und Frauen, deren Hände auf dem Rücken gefesselt waren, die dann »vielleicht drei Meter hoch aufgehängt« an einem Nagel in einem Baumstamm gehängt wurden.

Das Erhängen, an das sich Mitka erinnert, war eine der typischen Folterungen von Oberscharführer Martin Sommer, einem sadistischen Lagerbeamten in Buchenwald zwischen 1938 und 1943, der als »Henker von Buchenwald« bekannt wurde.15 Diese besondere Form der Folter entlockte den Häftlingen, die sie erdulden mussten, qualvolle Schreie, was dazu führte, dass dieser Teil des Lagers »der singende Wald« genannt wurde. Sommer agierte mit voller Unterstützung des Kommandanten Karl-Otto Koch des »inoffiziellen Henkers des Lagers«.16 Der Historiker Nikolaus Wachsmann stellt fest, dass Sommers »Kaltblütigkeit selbst unter den SS-Leuten auffiel«, und beschreibt ihn so:

Sommer war ein Mann von außergewöhnlicher Grausamkeit. Er verhängte die offiziellen Strafen wie Auspeitschen und beteiligte sich an anderen Gräueltaten, indem er Häftlinge verhungern ließ, sie erwürgte, sexuell missbrauchte und ihnen den Schädel einschlug; an manchen Tagen, so gab er später zu, hat er im Bunker mehr als zweitausend Schläge ausgeteilt.17

Weder an Sommer noch an Koch oder überhaupt an einen der Täter, deren Verbrechen er miterlebt hat, kann Mitka sich erinnern. Deutlich bewusst sind ihm jedoch die Folterungen und der Sadismus, die Buchenwald prägten. Zu dieser Zeit trug Mitka auch »für eine kurze Zeit« einen gelben Stern. Dann sagt er etwas Seltsames: »Ich habe nie jemandem gesagt, dass ich Jude bin. Das war mir ja selbst nicht einmal bewusst.« Später fand er einen Weg, den Stern zu entfernen, da er bemerkte, dass Häftlinge, die den Stern trugen, mit besonderem Hass und Brutalität behandelt wurden.

Von Buchenwald aus wurde Mitka mit einem anderen Zug nach Dachau transportiert. Beim Eintritt in das Lager durch »ein von Bäumen gesäumtes großes Bogentor« sah er die Inschrift darüber, die zum Symbol für die Konzentrationslager der Nazis geworden ist. Der aus Metall gefertigte Spruch mit drei Wörtern, der über den Toren vieler Konzentrationslager hing, lautete:

ARBEIT MACHT FREI.

Dieser ebenso schlichte wie berüchtigte Slogan war Teil einer ausgeklügelten NS-Propagandamaßnahme, mit der die Lager, wie Heinrich Himmler es ausdrückte, als »streng, aber gerecht« und als »eine tatsächliche Kontrollmaßnahme« dargestellt werden sollten – ein perverses Versprechen, das Leben und Freiheit als gerechten Ausgleich für die harte Arbeit der Häftlinge in Aussicht stellte.18

Historiker wie Wachsmann, Otto Friedrich und andere, die sich mit den Lagern befasst haben, argumentieren, dass einige Nazis wahrscheinlich an diese »mystische Erklärung glaubten, dass die Selbstaufopferung in Form von endloser Arbeit an sich eine Art geistiger Freiheit bringt«.19 Die meisten jedoch, einschließlich der SS-Lageroffiziere, erkannten die Ironie des Satzes. In Sachsenhausen, einem Lager in Oranienburg, trieben die Wachen die grausame Ironie auf die Spitze, wenn sie die Häftlinge zum Krematorium führten und erklärten: »Es gibt einen Weg in die Freiheit, aber nur durch diesen Schornstein!« 20 Gewiss, die meisten Häftlinge, zumindest diejenigen, die lange genug lebten, um selbst zu erfahren, wie das Leben in den Lagern war, erkannten die monströse Farce des Slogans »Arbeit macht frei«.

Für den Jungen Mitka, der Jiddisch, Russisch und Polnisch verstand, aber nicht lesen konnte, hatten diese Worte keine Bedeutung. Er weiß aber noch, dass »jemand in meiner eigenen Sprache« – er glaubt, es war entweder Polnisch oder Jiddisch – »mir sagte, was auf dem Schild stand«.

Die Inschrift prägte sich ihm ein. Wenn er als Erwachsener ein Foto des Schildes wiedersah, schlug der Moment des Wiedererkennens ein wie ein Blitzschlag. Es kam alles zurück, und von einem Augenblick zum anderen stand er noch einmal im Eingangstor von Dachau.

Als der Zug anhielt und alle – Lebende und Tote – ausgeladen wurden, wurden die Frauen von den Männern getrennt. Mitka musste sich in die Reihe der Frauen stellen. Ob ihm gesagt wurde, er solle sich ausziehen, weiß er nicht mehr, aber dass er und alle Frauen nackt vor den Wachen standen. »Ist das zu glauben?«

Es ist eine Frage, die er in unseren Gesprächen oft wiederholt. Wenn er sie stellt, ändert sich sein Tonfall. Seine Hände wandern von den Oberschenkeln nach oben und sinken mit einem Schlag auf die Knie zurück. »Ist das zu glauben?«, sagt er, als ob er über jemand anderen sprechen würde.

Er wurde zusammen mit den Frauen zu einem Gebäude geführt, wo er »über eine Treppe in einen großen Raum hinabstieg«. Er sah Duschköpfe, die von der Decke herabhingen, und Rohre. Mitka spekuliert: »Dieses Spray – ich glaube, es war zum Entlausen. Sie besprühten uns mit etwas, das brannte, und das tat sehr weh.«

Irgendwann verkroch er sich in eine Ecke, weil es ihm peinlich war, so entblößt und verletzlich »unter so vielen nackten Frauen« zu sein. Seine Wangen röten sich, als er die Demütigung wieder erlebt.

Den größten Teil des Jahres 1942 hatte Mitka in drei Konzentrationslagern verbracht. Irgendwann im September wurde er aus unbekannten Gründen erneut verlegt. Wie bei den vorangegangenen Transporten wurden die ausgehungerten, durstigen, verdreckten Häftlinge wie Sardinen in Waggons gepackt und verfrachtet. Diesmal war das Ziel das Lager Pfaffenwald.

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Der Halt im Lager Pfaffenwald war anders als die bisherigen. Als der Zug zum Stillstand kam, traten Mitka und die anderen auf den Bahnsteig des Bahnhofs einer Stadt. Er erinnert sich an ein Schild am Bahnhof. Er konnte es nicht lesen, aber er hörte, wie andere um ihn herum es lasen: Asbach.

»Alle raus aus dem Waggon«, sagt Mitka über die Ankunft, und sein Tonfall zeigt, dass es ein Befehl ist, den er gehört hat.

»Losmarschieren.« Gemeinsam gingen alle Häftlinge »in den Wald« zum Lager, eine Strecke von gut drei Kilometern. Jenseits des Waldes ragte eine große Brücke empor – eine Autobahnbrücke, die Zwangsarbeiter aus Pfaffenwald gebaut hatten. Für das Kind Mitka war der Anblick der Brücke, die den Wald überragte, »eine Erinnerung, die man nicht vergisst«.

Sie näherten sich dem Eingangsgebäude und Mitka sah Stacheldrahtzäune, Wachtürme und Soldaten. An einem Punkt des Weges trat eine Frau zu Mitka und schirmte seine Augen ab. Sie wollte nicht, dass Mitka die Leichen sah, die sich vor ihnen auftürmten. Sie war zu spät dran. Der Anblick hatte für Mitka keine besondere Bedeutung. Auch wenn die jiddisch sprechende Frau ihn nicht vor der grausigen Szene hatte bewahren können, so hatte ihr Akt der Freundlichkeit doch eine große Wirkung auf Mitka. Er hat sie nie vergessen. Einen Moment lang fühlte er sich nicht allein.

Der 1938 als Reichsautobahnlager (RAB) gegründete Pfaffenwald war ein Zwangsarbeitslager, das speziell für den Bau der Asbachtalbrücke an der Autobahn, der heutigen A4, zwischen Kirchheim und Bad Hersfeld errichtet wurde. Im Herbst 1942, als Mitka in das Lager kam, war die Brücke fertiggestellt und das Lager wurde umfunktioniert. Es beherbergte nicht mehr die vielen Arbeiter, die zum Brückenbau gezwungen worden waren. Bei Kriegsbeginn wurden die Brückenarbeiter entfernt und durch eine Reihe tschechischer, französischer, polnischer und russischer Gefangener und anderer Zwangsarbeiter ersetzt. In der Regel waren diese Häftlinge aufgrund von Krankheiten oder körperlichen Einschränkungen nicht in der Lage, die erwartete Leistung zu erbringen. Pfaffenwald eröffnete eine Art Krankenstation, um Tuberkulosekranke zu isolieren und Föten schwangerer Häftlinge abzutreiben. Bis zum Ende des Krieges wurde es als Fremdarbeiter- und Abtreibungslager weitergeführt. Diejenigen, die nicht im Lager Pfaffenwald starben, wurden zur Ermordung in die nahe gelegene Euthanasieanstalt Hadamar transportiert und dort ermordet.21

Im Lager Pfaffenwald hat Mitka Dinge gesehen, die er noch nie jemandem erzählen konnte. »Ach, die Dinge, die ich im Pfaffenwald herausgefunden habe. Wenn ich euch davon erzähle, bin ich immer noch dort. Ich weiß nicht, warum, aber ich bin immer noch dort. Und glaubt mir, es macht mir Angst.«

Wir haken nach, aber er sagt, dass er vielleicht eines Tages in der Lage sein wird, zu berichten, was passiert ist. Im Moment ist es einfach zu schwierig. Wenn er es jemals tut, dann nur im Beisein seiner Frau, sagt er. Er hat es seit 75 Jahren niemandem erzählt.

Aus seinen etwa drei Monaten in Pfaffenwald teilt Mitka vor allem Erinnerungsschnipsel mit. Manchmal ist das, was er behalten hat, mit einer konkreten Erfahrung verbunden, aber oft sind es Momentaufnahmen. Selbst diese Bruchstücke, wie der Anblick der Asbachtalbrücke, stimmen mit den bekannten Aufzeichnungen über die Ereignisse im Pfaffenwald überein.

Im Lager angekommen, wurden Mitka und die anderen in einem großen Gebäude untergebracht. »Dort, wo ich schlief, gab es ein Dach – es war aber nur halb vorhanden.« Von seinem Teil des Bodens aus blickte er durch die Dachsparren in den Himmel.

Er erinnert sich an andere Gebäude – Schlafsäle, einen Speisesaal, eine Küche, ein Bürogebäude und Wachtürme. Einen Ort, die Latrine, beschreibt er als einen langen Graben mit einem über dem Graben hängenden Brett. Die Menschen zu sehen, wie sie versuchen, sich auf dem Brett zu halten, alle in einer Reihe, ohne Privatsphäre – das hat Mitka gestört. Er sagte, er habe sich daran gewöhnt, aber es sei ihm immer peinlich gewesen.

Im Pfaffenwald musste Mitka etwas trinken, das ihn »sehr, sehr krank« machte und ihm »ständige Kopfschmerzen« bereitete. Dann »steckten sie mir einen Schlauch in die Nase und pumpten mir etwas in die Nase«. Er erinnert sich, dass er »lange Zeit nackt und in der Kälte draußen eingesperrt war«, und dann »haben sie mir etwas auf den Rücken gelegt – heiße Gläser – wie Feuer«.

Jahre später erfuhr er von Hadamar, wo sich auch ein staatliches Krankenhaus befand, und er zieht den Schluss, er müsse wohl, als man ihn anderen »Experimenten« unterzog, »in Hadamar gewesen sein«. Er sei in einem Krankenhaus gewesen, das ihn nicht an Pfaffenwald erinnert, meint er.

Während seiner Zeit in Pfaffenwald wurde Mitka Zeuge von Morden und anderen schrecklichen Ereignissen, die ohne entsprechende Aufzeichnungen kaum glaubhaft wären. In einem Fall beschreibt er eine Prozedur, die man an Frauen durchführte.

»Ich werde versuchen, es zu demonstrieren.« Mitka ballt ein imaginäres Messer und hebt es an sein Brustbein, dann führt er es abwärts bis zum Boden seines Bauches. »Sie schneiden den Bauch auf und werfen dann etwas gegen die Wand.«

Der Siebenjährige erkannte nicht, dass die Frauen, die er gesehen und vor Schmerzen schreien gehört hatte, schwanger waren. Bis etwa 1981 dachte er, dass er so etwas wie »Welpen« gesehen hatte, die den Frauen aus dem Bauch genommen und zum Sterben an die Wand geworfen wurden. Erst als seine Frau Adrienne ihm erklärte, dass es sich bei dem, was er gesehen hatte, um Föten handelte, wurde ihm klar, dass im Pfaffenwald auf diese Weise abgetrieben wurde. Er glaubt auch, dass die Schnitte mit nichts anderem als »Taschenmessern« vorgenommen wurden, was auch von anderen bestätigt wird 22.

»Und dann versuchen sie, sie mit etwas wie Klebstoff wieder zusammenzufügen, anstatt sie zu vernähen … aber sie sind trotzdem gestorben.«

Paradoxerweise stammen Mitkas etwas positivere Erinnerungen an alle seine Lagererfahrungen ebenfalls aus Pfaffenwald. Mit einem Lächeln auf den Lippen erzählt er, wie er als kleiner Junge unbemerkt unter dem Stacheldrahtzaun, der das Lager umgab, hindurchkriechen konnte. »Da war ein Baum, der war sehr hoch, und die Bucheckern fielen runter. Und ihr wisst ja, was für eine Jahreszeit das ist, wenn die Nüsse fallen. Ich war der Einzige, der unter den Baum kriechen konnte. Und ich habe die Bucheckern an die Leute verteilt. Wir waren am Verhungern und wir waren so froh, die Bucheckern zu bekommen.«

Als er anfing, die Bucheckern zu sammeln, waren sie noch grün und nicht reif. Wie auch immer, die Nüsse ergänzten die Ernährung, die aus einer dünnen »gelben Suppe, vielleicht war es eine Rübensuppe« bestand.

Mitka hatte während seines Aufenthalts im Lager eine Arbeit, die ihm gefiel. Er arbeitete zusammen mit zwei Mädchen. »Wir stapelten Brot, das ein Bäcker zweimal in der Woche brachte. Alle drei Tage bekam ich ein Stück davon.«

Gelegentlich ließ der Bäcker Mitka auf seinem Wagen mitfahren, um das Brot im Lager zu verteilen. »Das habe ich nie vergessen.«

Mitka schlief »mit wohl Hunderten anderen« in einem Raum. Nachts versuchte er, so gut es ging, warm zu bleiben. Eines Nachts, gegen Ende seiner Zeit im Pfaffenwald, wickelte er sein Bein um das Bein der Frau, die neben ihm lag. »Ich musste aufstehen, um mich zu erleichtern. Als ich zurückkam, bewegte sie sich nicht, und sie war kalt.« Er begriff, dass sie tot war.

Mitka erzählt von einer Frau, die sich ein wenig um ihn kümmerte und Jiddisch sprach. Sie sprach auch mit den Wachen, vielleicht als Dolmetscherin. Er glaubt, dass sie wusste, dass man ihn aus dem Lager holen würde. Eines Tages zog sie ihn zur Seite, spuckte auf ihre Hände, strich ihm das Haar glatt und sagte auf Jiddisch: »Sei gut, sei gut.«

Mitka muss lachen. »Meine Haare – stellt euch vor! Ich hatte in jenen Jahren Haare.«

Für den jungen Mitka sollte an diesem Tag ein neues Kapitel in seinem Leben beginnen. Ein Mann kam ins Lager, wählte ihn aus und nahm ihn mit in eine Stadt namens Rotenburg an der Fulda.23

»Und wenn dieser Nazi mich 1942 nicht da rausgeholt hätte, wäre ich in Hadamar umgebracht worden. Dieser Nazi hat es nicht getan, um mein Leben zu retten. Er wusste, dass ich Jude war. Er tat es, weil er einen kleinen Jungen brauchte.«

Gegen jede Wahrscheinlichkeit hatte der verwaiste, inzwischen siebenjährige Mitka vier Konzentrationslager der Nazis überlebt. Frei war er jedoch nicht.