Am Montag, den 14. 12. 1942, verließ Mitka Kalinski das »Geburts- und Sterbelager«, das Lager Pfaffenwald. Er war, wenn nicht der einzige, so doch einer der wenigen Überlebenden dieses Ortes des Todes. Wer in den Pfaffenwald kam, war dazu verdammt, dort zu sterben. Mitkas Todesurteil wurde aufgeschoben, aber wozu?
An diesem Montag ereigneten sich für den Jungen zwei wichtige Meilensteine. Erstens erhielt er einen Namen: Martin. Unter diesem Namen sollte er bis 1949 bekannt sein. Zweitens wurde ihm ein Geburtsdatum zugewiesen – der 14. Dezember 1932.24 Damit war er per Diktat genau zehn Jahre alt, nach damaligem deutschen Recht das Mindestalter für die Heranziehung zu Arbeitsdiensten. Zwei Fiktionen – ein Name und ein Geburtsdatum – bestimmten nun die Identität des Jungen.
Für Mitka war es ein Morgen wie jeder andere, bis ihn die jiddisch sprechende Frau zur Seite zog, sein Haar mit ihrer Spucke glättete und ihm sagte, er solle brav sein. Kurz darauf wurde er von zwei Männern abgeholt, die ihn durch den Lagerausgang aus dem Lager Pfaffenwald herausführten. Sie gingen, während Mitka ihnen folgte, zum Bahnhof von Asbach, demselben Bahnhof, an dem er einige Monate zuvor angekommen war.
Der Mann, der offensichtlich das Sagen hatte, ein Deutscher namens Gustav Dörr, ging voran, gefolgt von Eduard Gruschka, einem polnischen Kriegsgefangenen, der von Dörr als Hilfsarbeiter und Übersetzer beansprucht worden war. Gruschka, der Polnisch sprach, verständigte sich mit Mitka, da der Junge nur ein paar Brocken Deutsch verstand, die er in den Lagern aufgeschnappt hatte. Sie stiegen in den Zug und fuhren nach Rotenburg an der Fulda, eine kurze Fahrt von etwa 25 Kilometern. Auf dem Bahnhof in Rotenburg verließ Gruschka die Gruppe und Mitka ging mit Dörr über eine Brücke über die Fulda, dann durch das Stadtzentrum zu einem großen Haus in der Badegasse 14.
Ohne dass Mitka es wusste, war er von Gustav Dörr als Kinderarbeiter rekrutiert worden. Er kam in ein Haus auf Dörrs kleinen Bauernhof. In diesem Haus lebten Gustavs Eltern, Christian Georg Dörr und seine Frau, Gustavs Schwester Anna Dörr-Krause und ihr Lebensgefährte, Herr Holke, sowie Annas Tochter Rosemarie. (Das Haus von Gustav, seiner Frau Lisa und seiner Tochter Anni war nicht weit vom Bauernhaus entfernt.)
Als Mitka in seiner neuen Unterkunft ankam, war es schon spät am Tag, und er hatte Hunger – was für ihn nicht ungewöhnlich war. Als Allererstes, erinnert er sich, wurde er von Anna abgeschrubbt, und zwar so fest, dass es »wehtat« und Abschürfungen auf seiner Haut hinterließ. Jahre später bemerkte Gustav einmal, Mitka sei bei seiner Ankunft »verdreckt« gewesen. Mitka hält es für wahrscheinlich, dass er sich seit der Entlausungsdusche, die er bei seiner Ankunft in Dachau erhalten hatte, nicht mehr gewaschen hatte. »Sein Kopf wurde kahl geschoren und man nannte ihn ›Stoppelrusse‹, wie die anderen Fremdarbeiter.« 25 Man steckte ihn wieder in die schmutzigen Lumpen, die er getragen hatte, und er blieb barfuß. Da er nie Unterwäsche getragen hatte, trug er auch jetzt keine. Tatsächlich hatte er keine Ahnung, was das war.
Der jetzt offiziell Zehnjährige, der in Wirklichkeit wahrscheinlich ein sechs- oder siebenjähriges Kind war, wurde ohne Essen und Wasser für die Nacht in ein Zimmer gesperrt.
Wie zu Beginn im Kinderheim in Bila Zerkwa, bei seiner Flucht durch die Wälder und Felder, beim Herauskriechen unter Leichen in Kiew oder der Fahrt in Viehwaggons in die Lager, sah sich Mitka auch jetzt mit Orten, Menschen und Erfahrungen konfrontiert, die für ihn völlig neu waren.
Die Stadt Rotenburg an der Fulda liegt an einer engen Stelle des Fuldatals in Hessen. Ihre Ursprünge gehen zurück auf die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts. Die Altstadt, in der Mitka nun leben sollte, schmiegt sich an das linke Ufer der Fulda. Die engen Kopfsteinpflastergassen sind von den typischen Fachwerkhäusern gesäumt. In der Nähe des Stadtzentrums erhebt sich eine Kirche aus rotem Stein.
Schon seit den Anfängen lebten in dem damals malerischen Dorf auch Juden.26 Zwischen 1731 und 1880 wuchs die jüdische Bevölkerung von 133 auf 390 Personen (12 Prozent der Bevölkerung Rotenburgs). Ihre Mitglieder errichteten 1738 eine Synagoge; 1924 wurde eine größere Synagoge gebaut und geweiht. Die kleine jüdische Bevölkerung wusste aus eigener Erfahrung, dass die Stadt nicht umsonst im Ruf eines virulenten und zuweilen gewalttätigen Antisemitismus stand. Ann Beaglehole beschreibt in ihrem Buch A Small Price to Pay: Refugees from Hitler in New Zealand, 1936–1946, einen Vorfall, der sich in den 1930er-Jahren in Rotenburg ereignete:
Ester Einhorn ist in einer kleinen Stadt, Rotenburg (Fulda), geboren und aufgewachsen. Es waren Kleinstädte wie diese, in denen »viel von der Grausamkeit und die Vertreibung der Juden zuerst geschah«. Als Ester Einhorns Vater zusammengeschlagen wurde, beschloss die Familie, nach Berlin zu ziehen. Während die Möbel der Familie in einen Transporter gepackt wurden, schnappte sich der Käufer des Hauses einen Tisch aus dem Transporter und sagte: »Der bleibt für mich hier.« Am Tag zuvor hatte dieser Mann versucht, Esters Vater eine Treppe hinunterzustoßen.27
Wegen der Zunahme solcher Vorfälle nach der Machtübernahme durch die Nazis zogen die meisten jüdischen Bewohner der Stadt es vor, Rotenburg zu verlassen. Die wenigen, die blieben, zahlten Jahre später einen hohen Preis.
Ein Bürger der Stadt, der im Mittelpunkt der antisemitischen Aktivitäten Rotenburgs stand, war Gustav Dörr. Wie sein Vater verdiente Gustav seinen Lebensunterhalt in Rotenburg und Umgebung als Trödler. Während des Krieges waren die Konzentrationslager eine Fundgrube für Waren, die Dörr und andere verkauften. Oft erwarb er Kleidung, Schuhe und andere persönliche Gegenstände, die Juden und anderen Zwangsarbeitern in den Lagern abgenommen worden waren. Um weitere Einkünfte zu erzielen, vermietete er einige Zimmer in seinem Haus in der Badegasse 14, verkaufte Produkte seines Bauernhofs wie Milch, Eier, Schweinefleisch, Rindfleisch, Gemüse und Getreide und vermietete seine Pferde und Wagen als »Spediteur« für lokale Lieferungen. Er beschäftigte sich auch mit dem Schlachten und der Tierpräparation.
Im Zuge seiner zahlreichen Aktivitäten kümmerte sich Gustav oft um Angelegenheiten an seiner Adresse in der Badegasse 14, obwohl er auf seinem Hof außerhalb des Stadtzentrums lebte. Dort hatte er bis zu 26 französische, polnische und russische Zwangsarbeiter, die er mit dem Segen des damals geltenden deutschen Rechts für sich arbeiten ließ.
Gustav war rundlich und breitschultrig, von stattlicher Statur, auf der der Kopf dennoch übergroß erschien, wie Fotos zeigen. Wenn er den Mund geöffnet hatte, bildeten seine Lippen eine Art rechteckiges Loch, das eine selbstgewisse Unerbittlichkeit vermittelte.
Gustav Dörr war aktives Mitglied der Sturmabteilung (SA), des paramilitärischen Flügels der NSDAP. »1921 von Hitler in München aus verschiedenen zwielichtigen Elementen, die sich der jungen Nazibewegung angeschlossen hatten, gegründet«, waren die »Braunhemden«, wie sie allgemein genannt wurden, besonders skrupellos. Die Rolle und der Einfluss der SA wurden nach 1934 stark eingeschränkt, als Himmler und seine Schutzstaffel (SS) an Macht gewannen. SA-Mitglieder agierten jedoch weiterhin außerhalb der Kontrolle des offiziellen Regierungsapparats. Militärisch organisiert und von Offiziersveteranen des Ersten Weltkriegs angeführt, gab es SA-Mitglieder in praktisch jeder Stadt in Deutschland. Die SA war in keinen Apparat eingebunden, niemandem rechenschaftspflichtig und die Mitglieder untereinander äußerst loyal. Sie hatte ihre eigene Mission, die mit der nationalsozialistischen Ideologie perfekt übereinstimmte. Dazu gehörte vor allem der Hass auf die Juden.28
Um den Mann zu verstehen, der sich Mitka als Sklaven angeeignet hatte, muss man auf die Ereignisse zurückblicken, die sich am 7. November 1938 zutrugen.
An jenem Montagabend und bis in die frühen Morgenstunden des Dienstags brach das Unheil über die Juden in Rotenburg und im nahe gelegenen Bebra herein. SA-Sturmtruppen, Mitglieder der Nazipartei und Bürger der Stadt begannen damit, die Fenster aller jüdischen Häuser mit Steinen zu bewerfen. Und das war noch nicht alles. Sie drangen in die Wohnungen ein, durchwühlten die Zimmer, zerschlugen Möbel, zerstörten Porzellan und alles, was sie nicht selbst mitnehmen wollten. Der Mob zerstörte alles, was in Sichtweite war – »keine einzige Glasscheibe und kein einziges Fensterkreuz blieb übrig« – und das alles in Anwesenheit von Müttern, Vätern, Kindern und Großeltern. Brände wurden gelegt, während Feuerwehrleute und Polizei durch ihr untätiges Zusehen die Zerstörung stillschweigend unterstützten. Besonders schmerzlich für die alteingesessenen jüdischen Gemeinden dieser beiden Städte war, dass ihre Synagogen geschändet und zerstört wurden.29
Ein damit scheinbar überhaupt nicht in Zusammenhang stehendes Ereignis in Frankreich, das sich ebenfalls am 7. November ereignete, sollte eine wichtige Rolle in dem sich entfaltenden Drama spielen. In Paris versuchte der in Polen geborene Jude Herschel Grynszpan, den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath zu ermorden. Als vom Rath am Mittwoch, dem 9. November, seinen Verletzungen erlag, nutzte der nationalsozialistische Propagandaminister Joseph Goebbels das Attentat, um die Lunte am Pulverfass des deutschen Antisemitismus anzuzünden. In einer Hetzrede lobte er ausdrücklich die Ereignisse, die sich zwei Tage zuvor in Rotenburg und Bebra ereignet hatten. Seine Worte lösten eine Druckwelle von Gewalt und Zerstörung gegen Juden in ganz Deutschland aus. So wurde der 9. November 1938 als Kristallnacht berüchtigt – die Nacht der zerbrochenen Scheiben.30 Was Goebbels geplant hatte, wurde von der Nazipartei und dem deutschen Staat in Perfektion umgesetzt.
Am nächsten Tag sahen die Deutschen, dass die Bürgersteige der Innenstadt mit Trümmern übersät waren; man zwang die Juden, die Trümmer zu beseitigen. Jüdische Geschäfte, Häuser und Synagogen waren zerstört worden. Nicht so offensichtlich war der Diebstahl ihres persönlichen und religiösen Besitzes. Zwar waren die Juden schon seit Jahren Übergriffen ausgesetzt gewesen, aber dies war ein entscheidender Wendepunkt für die deutschen Juden. Ihre Heimat war für sie nicht länger ein sicherer Ort.31
Vieles von dem, was über die Praktiken der Nazis bekannt ist, wurde durch Tagebücher, Briefe und persönliche Berichte von Juden enthüllt. Ein solcher Brief beschreibt das Böse, das am 7. November 1938 in Rotenburg geschah – dem Tag, an dem diese kleine deutsche Stadt zur Vorlage für die Kristallnacht wurde.
Henrietta (Henny) Rothschild und ihr Mann Manheld, ihr kleiner Sohn Joseph und die weitere Familie lebten in Rotenburg, als ihr Haus zerstört und ihr persönliches Eigentum demoliert oder gestohlen wurde. Fast ein Jahr später schrieb Henrietta, inzwischen im Exil, einen Brief an ihre Verwandten, in dem sie die Gräueltaten beschrieb, die am 7. November begannen. Aus den Zeilen spricht noch immer ihre tiefe Verletzung. Einer der wenigen Täter, die Rothschild namentlich nennt, ist Gustav Dörr.
Gegen 3 Uhr kam Lotte und erzählte uns, Gustav Dörr sei bei Tante Lina gewesen und habe sie erpressen wollen – jetzt sei er bei Vicktor. Zu Tante Lina kam er, als sie gerade essen wollten, und verlangte ihren Schmuck & Geld; sie wiesen ihn natürlich ab & da warf er den Tisch mitsamt Geschirr & Essen um.32
Einige Seiten weiter in dem langen Brief beschreibt Henrietta die Kristallnacht in Rotenburg. »In der Nacht hörten sie – wie auch wir –, wie Möbel in Stücke gehackt und Porzellan und alle möglichen anderen Dinge auf die Straße geworfen wurden.« Dann belastet sie Gustav Dörr erneut:
Was während dieser Aktion gestohlen wurde, könnt Ihr Euch vorstellen, da haben sich viele & manche die Taschen vollgestopft, da waren viele der angeblich anständigen Bürger! nicht zu fromm sich an jüdischem Hab & Gut zu bereichern. Als sie fertig & betrunken von dem waren, was sie an Wein etc. in den Kellern vorgefunden hatten, fuhr Gustav Dörr per Pferdewagen durch die Stadt mit einem Sargeneskittel [Leichentuch] bekleidet, einem Zylinder auf & einem großen Chumesch [Buchausgabe des Pentateuch, der fünf Bücher Mose] in der Hand, das Gaudium könnt Ihr Euch vorstellen.33
Dieser Brief wurde erstmals in dem Artikel »Anblicke, die einem nie wieder in Vergessenheit kommen werden« von Heinrich Nuhn veröffentlicht. Nuhn stellt fest, dass andere Rothschilds Bericht über Gustav Dörrs Handlungen bestätigten, darunter ein lutherischer Pfarrer:
Nach dem Krieg machte Dekan Hammann von der Lutherischen Kirchengemeinde Rotenburg-Neustadt einen Eintrag in den Kirchenbüchern, in dem er feststellte: »Zwei rabiate Rotenburger Nazis, die noch immer unbehelligt in Rotenburg herumlaufen, schämten sich nicht, nach der Zerstörung wie in einem Triumphzug unter Mitführung geweihter Geräte aus der Synagoge auf einer Pferdekutsche durch die Stadt zu fahren, der eine wie ein König auf seinem Thron, der andere als Kutscher mit einer dicken Zigarre im Gesicht. Jedes Mal, wenn sie an einer Judenwohnung vorbeikamen, rief der ›König‹, sich der Gotteslästerung scheinbar nicht bewusst, […] ›Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid.‹« 34
Es gibt auch eine Aussage eines SA-Führers dazu. Horst Mainz, SA-Obertruppführer im November 1938 und Hauptangeklagter im Landgerichtsprozess gegen die Täter von 1938, sagte in seiner gerichtlichen Vernehmung:
»Ich habe Gustav Dörr in seiner Kutsche mit Zylinder und Leichentuch herumfahren sehen. Ich habe ihn getadelt, dass das … unwürdig sei. Ich erhielt die Antwort, an einem Feiertag … sollten auch diese Dinge erlaubt sein.« 35
Dass die Kristallnacht in Rotenburg im Vergleich zu anderen deutschen Städten besonders gewalttätig war, geht aus den Worten von Henriette Rothschild im weiteren Verlauf des Briefes hervor. Da Gustav Dörr ein Anstifter und ein Haupttäter war, geben ihre Worte einen Einblick in seinen Charakter.
»Es ist überall in diesen Tagen viel geschehen, aber was sich in Rotenburg alles ereignete, war der Gipfel aller Geschehnisse, ich kann Euch nur sagen, dass überallhin, wo man kam, man als Rotenburger Jude mit besonderem Rachmones [jiddisch für ›Mitleid‹, ›Mitgefühl‹, ›Barmherzigkeit‹] aufgenommen wurde.« 36
Weitere Informationen aus anderen Quellen ergänzen und verfestigen das Kristallnacht-Porträt dieses Gustav Dörr. Obwohl er nur einer von vielen war, die die Juden in Rotenburg ins Unheil stürzten, war er doch, wie es scheint, eine Macht, ja »der schlimmste Nazi in Rotenburg«.37
Im Volksmund trug Gustav den Beinamen »der Eiserne Gustav«.38 Aber dieser Titel scheint das Wesen von Gustav Dörr nicht annähernd zu beschreiben. Seine Rolle bei den Ereignissen vor und nach der Kristallnacht, die für die Geschichte dokumentiert ist, definiert ihn als einen Mann eines besonderen Typus. Das gespenstische Bild des Gustav Dörr, der die Juden mit den ihnen geraubten heiligen Gegenständen verhöhnt, gibt uns einen Vorgeschmack auf den Mann, dem Mitka nun ausgeliefert war.