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Eine weiße Flagge

Rotenburg an der Fulda, Frühjahr 1945

Die Stimme zu hören, die ihm sagte: »Am Ende findest du dein Ziel«, hatte für Mitka den sonst so eintönigen Verlauf der Zeit unterbrochen. Er hatte die Stimme gehört, die zu ihm und nur zu ihm sprach. Dieses außergewöhnliche Erlebnis sollte ihn unauslöschlich prägen, doch es änderte nichts an seinem Alltag. Als Mitkas Zeit bei den Dörrs sich zu Monaten und dann zu Jahren dehnte, legte sich ein Gleichschritt über die Tage. Er schuftete sich durch die Jahreszeiten, fütterte die Tiere, säuberte die Ställe, räumte Heu und Stroh ein und erledigte verschiedene Aufgaben, die ihm von den Dörrs übertragen wurden. Es waren Routinearbeiten, die ihm mit zunehmendem Alter nur noch die Befriedigung verschafften, etwas geleistet zu haben.

Etwas zu essen zu bekommen, war eine ständige Sorge. Mitka ernährte sich hauptsächlich von dem, was die Tiere fraßen, aber wenn es möglich war, stahl er auch Brot, Eier oder gepökeltes Fleisch. Im Winter gewöhnte er sich an die Kälte, die er nie ganz abschütteln konnte. Im Sommer trug er keine Schuhe und mit den Schwielen, die sich an seinen Füßen bildeten, konnte er problemlos über Kopfsteinpflaster und Felder laufen. Er freute sich über warme Tage, die ihm eine kleine Extravaganz bescherten. Er konnte sich zur Fulda schleichen, um im seichten Wasser zu waten, zu baden und den Schmutz aus seinen Kleidern zu spülen.

Obwohl er nicht wirklich eingesperrt war, lebte Mitka jeden Tag in den Grenzen, die ihm gesetzt waren. Eine Entbehrung übertraf alle anderen, obwohl sie ihm damals keinen Kummer bereitete. Seit er das Kinderheim in Bila Zerkwa verlassen hatte, war er keinen einzigen Tag zur Schule gegangen oder hatte irgendeine Art von Unterricht erhalten. In Rotenburg sah er Kinder zur Schule gehen und zurückkommen, und er fragte sich, was wohl dort geschah. Er sehnte sich danach, das auch zu erleben. Er hatte keine Ahnung, dass man in der Schule lesen und schreiben lernt. Diese Möglichkeit wurde ihm verwehrt. Er war schließlich ein Judenjunge – nicht ganz menschlich, eher ein sprechender Maulesel auf zwei Beinen, der außerordentlich nützlich für die Arbeit war.

Eine Gnade in all dem war sein Akkordeon. Unbewusst hatte Mitka sich in der Musik eine ungeahnte Quelle von Lebenskraft erschlossen. Dass er den bleiernen Rhythmus eines Militärmarsches in eine lebhafte Tanzmelodie verwandelte, verriet auf poetische Weise, dass er trotz seiner Lebensumstände ein heiteres Gemüt besaß. Dieses Gemüt und die Fähigkeit, die er entwickelt hatte, einfach im Augenblick zu leben und weder nach vorne noch nach hinten zu schauen, ermöglichten es ihm, die Situation zu bewältigen.

In einigen Fällen war »bewältigen« eine Untertreibung, denn immer wieder entkam Mitka dem Tod. Überraschenderweise ist er weder erfroren noch verhungert. Immer wieder erholte er sich von Krankheiten und unbehandelten Verletzungen. Wie durch ein Wunder – und entgegen aller Wahrscheinlichkeit – blieb er am Leben.

Abgeschottet von der Außenwelt in der Badegasse 14 im hessischen Rotenburg an der Fulda konnte und wollte Mitka den Krieg nicht begreifen, obwohl er ihn täglich in vielen Kleinigkeiten sah, spürte, hörte und roch.

»Einmal habe ich die Flugzeuge gesehen. Als die Kanonen zu schießen begannen, sah es aus wie ein schwarzer Pfannkuchen am Himmel. Sie schossen ein Flugzeug ab. Es war genau dort, wo ich mit meinem Güllewagen hinfahre.«

Mitka sah zu, wie der abgeschossene britische Flieger mit dem Fallschirm zu Boden ging und gefangen genommen wurde. Die Dramatik des Ereignisses weckte in ihm ein flüchtiges Interesse, mehr nicht. Für Mitka, wie für Millionen andere, war der anormale Zustand des Krieges normal geworden.

In diesen Jahren hatten einige von Mitkas Aufgaben etwas Makabres an sich, dessen er sich damals nicht bewusst war. Er erinnert sich zum Beispiel an einen regelmäßigen Botengang in eine benachbarte Stadt. Er spannte Schimmel vor einen Wagen, um die gut sechs Kilometer von Rotenburg nach Bebra zu fahren. Am Zielort, einem Lagerhaus, belud er den Wagen mit Kleidung, Fotoapparaten, Brillen, Papier, anderem Krimskrams und … Schädeln und Gebeinen. Dann fuhr er zurück zum Haus, wo er die Artikel sortierte. Nachdem er sie nach Art sortiert hatte, legte er sie in eine Ballenpresse und zog den Kettenmechanismus an beiden Enden der Maschine an, um die Stapel in Würfel zu pressen. Für ihn war das eine Arbeit wie jede andere, die keine besondere Bedeutung hatte. Erst Jahre später erfuhr er, dass diese Gegenstände aus den Lagern stammten und dass sie für Menschenleben standen, die bei der »Endlösung« ausgelöscht wurden.

Als Mitka berichtet, wie er mit den Besitztümern der Toten umging und dass er ihre Gebeine transportiert hat, scheint die Kadenz seiner Sätze, der Tonfall seiner Stimme, von Erstaunen zu Trauer und schließlich zu Scham zu wechseln. Er wiederholt eine Aussage, die ihm dabei zu helfen scheint, seiner Zeit bei den Dörrs einen Sinn zu geben. »Ich wusste nicht, was da vor sich ging. Und sie hatten den perfekten Kerl für diesen Job – mich.«

Ein weiteres markantes Zeichen des Krieges, auf das Mitka stieß, waren die Flakgeschütze – die von den Deutschen nach dem Versailler Vertrag von 1919 entwickelte Flugabwehrartillerie.49

»Rund um Gustavs Feld, wo ich den Dung ausbrachte, gab es diese Geschütze in Schützengräben«, sagt Mitka. »Und in der Nähe gab es eine Scheune, in der geheizt wurde und in der der Weizen gedroschen wurde. Und ich habe mit dem Ding gespielt. Und ich habe versucht, dieses große Geschoss aufzuheben. Es muss fast einen Meter lang gewesen sein. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich das Ding abgefeuert, aber man brauchte zwei oder drei Leute, um es zu bedienen.« Er erinnert sich an »zehn oder zwölf, vielleicht auch mehr« Flakgeschütze, die auf dem Hof aufgestellt waren, an heftige Explosionen und dass er gesehen hat, wie Flugzeuge aus ihren Formationen ausbrachen, wenn die Artilleriegeschütze in den Himmel feuerten.

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1939 hatten die Nazis die Jakob-Grimm-Schule Rotenburg, eine 1924 gegründete Mädchenschule, beschlagnahmt und sie in das Kriegsgefangenenlager Oflag IX A/Z verwandelt. Dieses Gefängnis war ein Außenlager des Oflag IX A/H in Spangenberg. Im Rotenburger Kriegsgefangenenlager waren vor allem britische Commonwealth-Offiziere untergebracht, aber im Laufe des Krieges wurden auch polnische und amerikanische Offiziere dort inhaftiert. Aufgrund der Nähe des Lagers zur Stadt kam Mitka oft dort vorbei und beobachtete die Gefangenen bei ihren Runden auf dem Hof. Im Gegensatz zu den Konzentrationslagern herrschten in den Kriegsgefangenenlagern einigermaßen humane Bedingungen. Die Gefangenen erhielten angemessene Verpflegung, täglich kalte und einmal wöchentlich warme Duschen und hatten die Möglichkeit, Theaterstücke und Musikrevuen aufzuführen. Mitka erinnert sich, dass er in der Stadt Gerüchte über die dort untergebrachten Gefangenen hörte. Einmal, so erinnert er sich, hörte er, dass Gefangene geflohen waren. »Das habe ich gehört – 40 Häftlinge sind aus der Jakob-Grimm-Schule geflohen. Das ist die Zahl, die ich gehört habe. Und sie sagten der Hitlerjugend, sie sollten schießen, um zu töten. Das sind die Worte, die sie benutzt haben.« 50

Aus den Aufzeichnungen von Oflag IX A/Z geht zwar hervor, dass Häftlinge geflohen sind, aber von einer so großen Gruppe ist nirgends die Rede.51 Es gibt auch keine Aufzeichnungen darüber, dass die Hitlerjugend bei irgendwelchen Festnahmen eine Rolle gespielt hätte. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass das, was Mitka hörte, entweder von alarmierten Bürgern oder von stolzen jungen Mitgliedern der Hitlerjugend stammte, der obligatorischen Jugendorganisation der Nazis für alle arischen Jungen zwischen 13 und 18 Jahren.52 Es scheint durchaus plausibel, dass die Geschichte von HJ-Jungen stammte, die sich – wahrscheinlich mit einer gewissen Übertreibung – mit ihrer wichtigen Rolle bei der Verfolgung feindlicher Gefangener brüsteten. Wie dem auch sei, sie hat den jungen Mitka beeindruckt. Als er von dem Vorfall erzählt, wiederholt er: »Sie sagten ihnen, sie sollten schießen, um zu töten.« Was mit den Gefangenen geschah – ob ihnen die Flucht gelang oder ob sie erschossen oder wieder gefangen genommen wurden –, weiß Mitka nicht.

Was Mitka von der örtlichen Jugend über Häftlingsausbrüche hörte, stammte mit Sicherheit von Willi Deist, einem Nachbarn und dem einzigen Kind, mit dem Mitka während seiner siebenjährigen Versklavung näher zu tun hatte. Willi wohnte ganz in der Nähe der Badegasse 14 und war Mitglied der Hitlerjugend. Mitka hatte keine Ahnung, was es bedeutete, Mitglied der Gruppe zu sein. Er mochte nur ihre Uniformen. Um Willi und seine Freunde zu beeindrucken, hob Mitka einmal den Arm zu einem »Heil Hitler!«. Im Rückblick ist ihm das peinlich, aber er versteht auch, warum er es tat. Er war einsam und sehnte sich nach Freunden.

Mitkas Eifer erwies sich als Problem, als er sich eines Nachmittags in eine Gruppe von Jungen wagte. »Die Hitlerjungen unterhielten sich und ich stellte mich zu ihnen. Und ich sagte: ›Was ist so besonders an Hitler?‹« Es war eine ehrliche Frage, aber die anderen glaubten, er würde sich über den Führer lustig machen.

»Vielleicht hat ihnen nicht gefallen, wie ich es gesagt habe. Sie haben mich niedergeschlagen und getreten und mich einen Scheißkopf genannt. Willi war auch dabei.«

Nach der Schlägerei, so Mitka, habe man ihn zum Rathaus geführt, wo er in eine Zelle gesteckt wurde. Auch wenn es schwer vorstellbar ist, dass Kinder oder Jugendliche die örtlichen Behörden dazu überreden, einen Jungen wegen eines solchen Vergehens einzusperren, lehrt uns die Geschichte, dass scheinbar kleine Akte der Illoyalität, wie etwa nicht den Nazigruß zu zeigen, in Nazideutschland normale Bürger ins Gefängnis bringen konnten.53 Wenn schon die Verweigerung des Grußes strafbar war, ist es nicht unvernünftig, anzunehmen, dass Mitkas Frage nach dem Führer tatsächlich seine Inhaftierung nach sich zog. So erlebte Mitka nicht nur eine Demütigung durch die anderen Jungen, sondern fand sich auch im Gefängnis wieder. »Sie gaben mir Brot und Wasser«, erinnert er sich. Schlimmer als die Schmerzen durch die Schläge war für Mitka der Gedanke, dass er in den Pfaffenwald zurückgeschickt werden würde. »Oh, ich hatte Angst – so viel Angst.« Der Aufenthalt im Gefängnis kam ihm wie eine Ewigkeit vor; heute glaubt er, dass es nur ein paar Tage waren. Es war Gustav Dörr, der ins Rathaus kam und seine Freilassung veranlasste. Ironischerweise hatte der Sklavenhalter ihn wieder einmal gerettet.

Während Mitka weiterschuftete, türmte sich Tag auf Tag und Jahre vergingen. Nichts unterschied die Schinderei des Sonntags von der am Montag. Nur an den Jahreszeiten und dem wechselnden Wetter erkannte er, dass die Zeit verging. Die unerbittliche körperliche Arbeit ließ nie nach und als Mitka heranwuchs, kamen neue Aufgaben zu seinem Arbeitspensum hinzu. Die Erwartungen an ihn stiegen, sodass er oft mit Gustavs erwachsenen Zwangsarbeitern zusammenarbeitete.

Ab und zu konnte Mitka etwas außerhalb der Alltagsroutine tun. Gewöhnlich dann, wenn eine Fahrt weg von Haus und Hof anstand. Einmal begleiteten er und der polnische Arbeiter Eduard Gruschka Gustav Dörr nach Kassel, wo das Haus von Gustavs Onkel bei einem Bombenangriff zerstört worden war. Die drei waren nach Kassel gefahren, um Möbel aus dem zerbombten Haus zu bergen. Mit Gustavs voll beladenem Lastwagen fuhren sie zurück nach Rotenburg. Das Geräusch der um sie herum explodierenden Bomben weckte in Mitka Erinnerungen daran, wie er im Kinderheim in Bila Zerkwa in seinem Bett lag.

In einem anderen Fall war Mitka mit Tante Anna und Oma nach Kassel gefahren, aus einem Grund, an den er sich nicht erinnern kann. Was ihm im Gedächtnis geblieben ist, sind die plötzlich in schneller Folge aufheulenden Luftschutzsirenen. In jenen Jahren war das für alle ein vertrautes Geräusch. Bombenangriffe auf Bebra und Kassel kamen häufig vor, und auch wenn Mitka sich nicht an direkte Angriffe auf Rotenburg erinnern kann, so doch an häufige Warnungen davor. Er wusste, dass er Schutz suchen musste. Als an diesem Tag die Sirenen ertönten, hielt Tante Anna den Lastwagen an. Die drei stiegen aus und suchten eilig nach einer sicheren Deckung. Anna wollte in ein nahe gelegenes Gebäude laufen. Mitka war damit nicht einverstanden und bestand darauf, dass die Frauen mit ihm unter ein Gerüst unter den nahe gelegenen Bahngleisen gingen.

»Ich habe mit ihnen gestritten und eine Ohrfeige bekommen. Weil ich gestritten habe, blieb keine Zeit, zum Gebäude zu rennen.«

Sie rannten unter das Gerüst und sahen zu, wie das Gebäude, in das Anna hatte fliehen wollen, zusammenbrach. Es hatte einen direkten Bombentreffer abbekommen. Mitkas hartnäckiges und – selbst für ihn – unerklärliches Gespür, dass sie unter dem Gerüst Schutz suchen mussten, hatte ihnen das Leben gerettet. »Ich habe sie gerettet und alles, was ich dafür bekommen habe, war eine Ohrfeige«, sagt er niedergeschlagen.

Mitka vermutet, dass Rotenburg wegen der in der Jakob-Grimm-Schule inhaftierten britischen Flieger von der Bombardierung durch die Alliierten verschont wurde. »Junge, sogar da hat Gott auf mich aufgepasst – in einer Stadt zu sein, die nicht bombardiert wurde –, weil sie ihre eigenen Leute nicht bombardieren wollten.«

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1945 waren etwas mehr als drei Jahre vergangen, seit Mitka in Birkenau zum ersten Mal versklavt worden war. Die Alliierten befanden sich in der Endphase ihrer Bemühungen, Deutschland und seine Nazikriegsmaschinerie in die Knie zu zwingen. Die Russen marschierten von Osten her auf Berlin zu, die britischen und amerikanischen Streitkräfte kamen von Süden und Westen her. Die deutschen Soldaten flüchteten und wurden aus allen verbliebenen Verteidigungsstellungen gedrängt.54

Obwohl er nicht verstand, was passierte, nahm Mitka die Veränderungen wahr, die in Rotenburg vor sich gingen. Er erinnert sich, dass die Lebensmittel knapp wurden und dass Truppen und Panzer die Straßen füllten. Die Dörrs »müssen gewusst haben, was kommen würde. Ich wusste es nicht, aber sie wussten es.«

Als Mitka von den Tagen um das Kriegsende herum erzählt, fügt er seiner Geschichte ein neues Detail hinzu. Zum ersten Mal ordnet Mitka seinen Erinnerungen ein Datum zu.

»Es war der Donnerstag vor Karfreitag 1945.«

Gründonnerstag hatte für den Jungen keine religiöse Bedeutung. Für die Bürger Rotenburgs, die normalerweise die christliche Karwoche feierten, war es 1945 anders. Die angebliche Unbesiegbarkeit des gepriesenen Dritten Reiches hatte sich in Luft aufgelöst, und »selbst die überzeugtesten Nazigläubigen mussten einsehen, dass der Krieg verloren war« 55. Hitlers Kriegsmaschinerie war auf Rückzüge und Verteidigungsstellungen reduziert. Nazis auf der Flucht waren vor den Toren Rotenburgs angekommen.

Die Dritte Armee von General George S. Patton pflügte durch deutsche Länder und nahm eine Stadt nach der anderen ein. Rotenburg an der Fulda war nur eine weitere Station auf Pattons Marsch von Frankfurt auf das strategische Ziel Kassel, einer Stadt mit bedeutenden Munitionsfabriken und eine Hochburg von Nazipersonal.56 Mitka verstand nicht, warum in Rotenburg das reine Chaos ausbrach. Er verstand aber, dass sich etwas geändert hatte. Er hatte gehört, dass der Feind – die amerikanischen Soldaten, die von den Deutschen als »Amis« bezeichnet wurden – kommen würde. Das Wort »Ami« machte Mitka Angst.

Aber es gab noch unmittelbarere Ängste. An jenem Gründonnerstag, den 29. März 1945, kam ein Nazisoldat ins Haus und wurde in die Küche geführt.

Mitka erinnert sich daran, wie er im Korridor in der Nähe der Küche stand. Es war derselbe Platz, an dem er eine Stimme gehört hatte, die ihm unvergessliche, Mut machende Worte gesagt hatte, als er am Tiefpunkt war.

»Ich sah, wie er seinen Mantel auszog. Er setzte sich, nahm seinen Revolver aus dem Holster und legte ihn auf den Tresen. Er sah mich, als er zur Küchentür ging. Ich drückte mich da herum und schlich durchs Haus, wie ich es oft tat. Ich wollte wissen, was vor sich geht, und ich hatte gelernt, zuzuhören und zu beobachten.« Mitka lacht mit einem Hauch von Selbstgefälligkeit, als er so von sich erzählt.

Als er sich an den Nazisoldaten erinnert, bleibt er bei dem Bild von »langen schwarzen Stiefeln« hängen. »Er hatte die Beine übereinandergeschlagen und seine Pistole lag auf dem Tresen. Und er saß so da und schlug die Beine auseinander.« Mitka ahmt die Bewegung des Soldaten übertrieben nach.

Dann wird seine Stimme etwas lauter und er spricht schneller. »Ich schnappte mir seine Pistole und rannte den Flur hinunter zu dieser feststehenden Leiter.«

Mitka wusste, dass der SS-Soldat und die Dörrs hinter ihm her waren. Am Fuß der Leiter griff er mit einer Hand hoch und hielt sich an einer Sprosse fest. In der anderen Hand hielt er die Pistole.

»Es war schwer, ziemlich schwer.« Auch hier ahmt Mitka die Bewegung des Kletterns nach, indem er mit einem Arm nach oben greift, während der andere an der Seite herunterhängt. »Das war schwer, mit einer Hand zu klettern. Ich bin ihnen entwischt und bin einfach da hoch gestürmt. Schließlich kamen sie unten an die Leiter. Und ich konnte ihre Stimmen hören.«

Auf dem dritten Dachboden hörte Mitka, der mit klopfendem Herzen mucksmäuschenstill lauschte, wie der verblüffte Soldat unten erklärte: »Er kann unmöglich so schnell da hoch gekommen sein. Er kann nicht da oben sein.«

Was hat Mitka dazu veranlasst, nach der Pistole zu greifen und zu flüchten? Heute ist selbst er sich nicht mehr sicher. »Fragt mich nicht, was oder wer mich dazu gebracht hat, nach der Waffe zu greifen.« Er weiß nur, dass er sich irgendwie dazu gedrängt fühlte.

Heute glaubt er, dass der Nazi gekommen war, um ihn zu töten – dass er den Dörrs lästig wurde, eine Belastung, und dass eine schnelle Hinrichtung geplant war, die im Chaos des Kriegsendes wahrscheinlich unbemerkt geblieben wäre. »Der SS-Mann kam in Uniform, und er kam, um mich zu beseitigen, denn die Amerikaner waren im Kommen.« In Anbetracht der Erfahrungen, die Mitka gemacht hat, ergibt seine Logik Sinn, unabhängig davon, ob seine Vermutung zutreffend ist oder nicht.

Diesmal versteckte sich Mitka auf dem Dachboden und wurde nicht entdeckt.

»Ich wartete, bis die Luft rein war. Der Nazioffizier ging und ich weiß nicht, was dann passierte. Irgendwann kam ich runter.«

Als Mitka die Leiter hinunterstieg, rechnete er damit, mindestens Prügel zu beziehen. Sie kamen nicht. Er verließ das Haus und lief viele Straßen weiter in Richtung des Höhenzugs Höberück im Südwesten. Dort vergrub er die Waffe. Als er an diesem Nachmittag in die Badegasse 14 zurückkehrte, schien zu seiner Überraschung vergessen worden zu sein, dass er so verwegen gewesen war, einem SS-Offizier seine Waffe zu stehlen und sich davonzumachen.

Mitka stand vor dem Haus und sah einen Lastwagen mit Gefangenen vorbeifahren. Einer der Häftling zeigte auf ihn und rief: »›Bleib da!‹ Sie sagten mir, ich solle bei der Familie bleiben. Es ist jetzt ein Durcheinander und niemand weiß, was zum Teufel sie tun. Gustav war nicht da. Aber später fand ich es heraus. Ich habe gehört, dass er abgehauen ist.57

Am nächsten Tag – dem Karfreitag – nahmen sie mich mit. Anna sagte, ich solle mitfahren.« Mit erstauntem Gesichtsausdruck fügt er hinzu: »Auf Fahrrädern!«

Gustav und Opa hatten unter anderem auch Fahrräder und Fahrradteile in ihrer Trödelsammlung. Mitka hatte gelernt, alte Fahrräder zu reparieren und aus den geborgenen Teilen »neue« Fahrräder zu bauen. Das hatte ebenfalls zu seinen Aufgaben gehört.

»Martin, nimm das Fahrrad!«, bellte Anna. Vor ihm stand ein Fahrrad in Erwachsenengröße und das war ein Problem. Der Sitz war zu hoch. Um die Sache noch komplizierter zu machen, war Mitka kein geübter Fahrer. »Und da war eine große Stange und ich steckte einfach die Füße darunter durch. Ich war zu klein, um auf dem Sitz zu sitzen und die Pedale zu erreichen. ›Komm mit‹, sagte Anna, und das tat ich.«

Schräg unter den Rahmen des Fahrrads gequetscht trat Mitka stehend in die Pedale. Er folgte Anna und fuhr stadteinwärts durch die enge Brückengasse, die zur Fulda hin abfiel. Mitkas Fahrrad nahm an Geschwindigkeit zu und raste geradewegs auf eine Menschengruppe zu. Die Leute warteten darauf, die Brücke überqueren zu können, die noch mit lauter Panzern verstopft war, die Rotenburg verlassen wollten. Mitka trat heftig in den Rücktritt, um zu bremsen, denn er hatte keine Ahnung, dass das britische Fahrrad Handbremsen hatte.

»Überall waren Panzer und ich fuhr das Fahrrad halb im Liegen, weil ich nicht auf dem Sitz sitzen und die Pedale erreichen konnte. Ich musste eine Entscheidung treffen: Sollte ich gegen einen Panzer fahren? Das würde mich wahrscheinlich auf der Stelle umbringen. Oder fahre ich lieber in einen Typen auf einem Fahrrad?«

Hier beginnt Mitka zu lachen. »Ich bin also in das Fahrrad gefahren, und die Flügelmutter hat den Reifen getroffen und es hat pshhhhhh gemacht. Ich habe den Reifen von dem Typen zum Platzen gebracht. Er hatte auf der Stelle einen Platten.«

Die Kolonne aus Panzern und Soldaten auf dem Rückzug rollte weiter über den Fluss, ohne sich um den Sturz eines Jungen mit seinem Fahrrad zu kümmern.

»Es waren die Deutschen, die harten Jungs, die da weggelaufen sind.«

Anna gab einen Befehl: »Komm mit.« Mitka kroch unter dem Fahrrad hervor und legte es an den Straßenrand.

Sie gingen zu Fuß weiter in Richtung Südosten nach Lispenhausen, einem kleinen Ort auf halbem Weg zwischen Rotenburg und Bebra. Dort, an den Bahngleisen, sah Mitka vor sich eine Gruppe von Menschen, Schulter an Schulter aufgereiht.

»Da habe ich die Schüsse der SS gesehen.«

Er kann sich nicht daran erinnern, die Menschen erkannt zu haben, auf die geschossen wurde, aber er merkt an: »Ich war oben und schaute nach unten.« Dann fährt er fort: »Ich wusste nicht, was ›jüdisch‹ ist. Ich weiß nur, dass man einen Stern trägt, und am nächsten Tag ist man nicht mehr da. Vielleicht waren es Juden, aber es könnten auch die Gefangenen gewesen sein, die ich am Vortag gesehen hatte. Die Deutschen haben also geschossen. Anna zwang mich zuzusehen, wie sie hingerichtet wurden. Das war das Schlimmste. Ich werde es nie vergessen. Die Soldaten haben einfach alle erschossen.«

Mitka war der Tod nicht fremd, aber was dann geschah, schockierte selbst seine betäubten Sinne.

»Ein SS-Mann ist über die Leichen gelaufen. Er ging hin und erschoss jeden Einzelnen noch einmal. Sie waren schon tot, aber er hat sie erschossen. Wie das Blut aus den Köpfen kam, also, das vergisst du nicht. Ich hatte Angst.«

Die Soldaten warfen die Leichen auf einen Lastwagen. Anna, mit Mitka im Schlepptau, drehte um und ging zurück nach Rotenburg. Sie überquerten die Brücke und machten sich auf den Weg zur Badegasse 14. Kurz darauf hörte Mitka wie alle anderen in der Stadt auch die Explosion.

»Ich weiß noch, wie die Brücke in die Luft flog – das Geräusch konnte man überall hören. Und ich kann euch fast die genaue Zeit sagen. Es war etwa halb zwei am Nachmittag.«

Vor ihrem Rückzug hatten deutsche Soldaten die Fulda-Brücke mit Sprengstoff vermint und nun gesprengt.

»Ich wette, ich war der letzte Mensch, der diese Brücke überquert hat, bevor sie in die Luft flog.« Ein klaffendes Loch war alles, was übrig blieb, abgesehen von den intakten Stahlkonstruktionen an beiden Enden.58 Die sich mit Panzern und Artillerie nach Osten zurückziehenden Nazitruppen zerstörten die Brücke wahrscheinlich in Befolgung von Hitlers »Nero-Befehl« vom 19. März, um dem Feind nichts zu hinterlassen, aber auch, um die verfolgenden amerikanischen Truppen aufzuhalten.

In der Badegasse 14 erfuhr Mitka, dass sie zu einem Ferienhaus gehen würden, das Gustav in den »Bergen« unweit des Höberück im Bau hatte. Sie machten sich zu Fuß auf den Weg und kamen noch vor Einbruch der Dunkelheit an. Gustav tauchte nicht auf.

In dieser Nacht vom Karfreitag schlief Mitka schließlich irgendwann ein. Der Samstag verlief für ihn unauffällig; er hat keine Erinnerung an den Tag.

Am Ostersonntag wachte Mitka durch Mörserfeuer auf. Irgendwann an diesem Morgen kehrte die Familie Dörr nach Rotenburg zurück, mit Ausnahme von Gustav. Mitka, der nicht wusste, was vor sich ging, wanderte allein zurück nach Rotenburg. Auf seinem Weg fiel ihm ein Anblick besonders auf, denn so etwas hatte er noch nie gesehen hatte und wusste daher nicht, was er davon halten sollte.

»Ein alter Mann lief auf die Stadt zu und schwenkte eine weiße Fahne.«