Die etwa 150 Kilometer lange Fahrt von Rotenburg nach Hanau mit einem kurzen Zwischenstopp im Lager und Büro der IRO in Fulda versetzte Mitka in einen Zustand von Schock und Fassungslosigkeit. So plötzlich, abrupt und unvorhergesehen von amerikanischen GIs mitgenommen zu werden, löste alte Ängste aus. Anfangs beherrschte ihn die Angst, er würde zurück ins Lager Pfaffenwald gebracht. »Ich dachte, sie würden mich zurückbringen. Das dachte ich schon, als ich das erste Mal im Rathaus war, und so war es auch jetzt wieder. Ich dachte immer, wenn ich böse bin, bringen sie mich zurück. Inzwischen kannte ich nicht einmal mehr den Namen ›Pfaffenwald‹. Es war nur noch das Lager. Ich hatte Angst, schreckliche Angst.«
Der Junge hatte auch noch mit anderen Ängsten zu kämpfen. Als Mitka in einem Militärjeep aus dem Rotenburger Rathaus abtransportiert wurde, ließ er ein Leben hinter sich, das man nach zivilisatorischen Maßstäben nur als unmenschlich bezeichnen konnte; aber es war doch ein Leben gewesen, in dem er sich gut zurechtgefunden hatte. Fast neun Jahre lang, seit seiner Flucht aus dem Kinderheim in Bila Zerkwa, war er Opfer eines der größten Übel der Menschheit geworden. Doch Mitkas größter Schmerz wurde nicht von den Schrecken der nationalsozialistischen Grausamkeiten verursacht. Was ihn zutiefst quälte, war sein fundamentales Alleinsein.
So unwürdig, grausam und entmenschlichend sein »Zuhause« bei den Dörrs auch gewesen war, es bot ihm eine gewisse Stabilität: einen Ort, an den er gehörte, einen vorhersehbaren Tagesrhythmus und ein Leben am Rande einer Familie. Er konnte sich kein anderes Leben vorstellen als das, das er kannte. Die UNRRA-Vertreter hatten anscheinend akzeptiert, dass Oma und Opa Dörr seine Pflegeeltern waren, und in gewisser Weise waren sie das auch tatsächlich. Jetzt war dieses Leben für ihn vorbei. Und seine Abreise war ohne Vorwarnung, ohne seine Zustimmung und ohne die Möglichkeit, sich zu verabschieden, erfolgt.
Am Samstag, den 26. Februar 1949, kam Mitka in Hanau an.83 Hier sollte er drei Wochen lang bleiben. Das 30 Kilometer östlich von Frankfurt gelegene Hanau war während des Krieges durch alliierte Bombenangriffe fast vollständig zerstört worden. Ab April 1945, als der Flugplatz von Hanau an die amerikanischen Streitkräfte fiel, operierten verschiedene militärische und humanitäre Hilfsorganisationen der USA von der Stadt aus. In dieser IRO-Einrichtung für Displaced Persons begann für den vorpubertären Mitka eine zweijährige Zeit, die in vielerlei Hinsicht chaotischer und unruhiger war als seine Zeit in Rotenburg. Es sollte jedoch auch eine Zeit dramatischen und ermutigenden Wachstums werden.
An die wenigen Wochen, die Mitka in Hanau verbrachte, hat er gute Erinnerungen. »Ich bekam das eine und andere geschenkt, Sachen wie Kleidung – ein Hemd, Socken, Dinge, die ich nicht kannte.« Zu den ungewohnten Dingen gehörte auch seine erste Unterwäsche. Mitka lacht, als er davon erzählt: »Sie gaben mir Unterwäsche. Ich wusste nicht, was das ist.« Und zum ersten Mal in seinem Leben hatte er »richtige« Schuhe, Schuhe, »wie die anderen Leute sie hatten«.
Viele neue Erfahrungen in Hanau versetzten Mitka in Erstaunen. Sein Gesicht erhellt sich, als es aus ihm heraussprudelt: »Oh ja, die hatten Duschen, die hatten Toiletten mit Wasserspülung. So etwas hatte ich noch nie gesehen.« Hier bekam er auch etwas geschenkt, das für ihn zu einer Art Talisman werden sollte. Ein amerikanischer Soldat schenkte ihm eine kleine goldene Anstecknadel der US-Armee. Diese Anstecknadel repräsentierte für Mitka die eine Realität, die ihn vor allem euphorisch machte: »In Hanau wurde mir etwas gesagt – nämlich, dass ich frei sei –, und wie verrückt fing ich an zu schreien und herumzuspringen: ›Ich bin frei! Ich bin frei!‹ Wenn ein Mann im weißen Kittel da gewesen wäre, hätten sie mich gleich mitgenommen. Ich schrie immer nur: ›Ich bin frei!‹«
Hanau war für Mitka und andere in einer ähnlichen Situation nur eine Zwischenstation. Am 18. März 1949 wurden Mitka und vier andere »unbegleitete Kinder und Jugendliche« in das 450 Kilometer entfernte IRO-Kinderdorf in Bad Aibling gebracht. Die fünf Jungen waren zwischen 12 und 17 Jahre alt. Nur von einem Kind stand kein Geburtsdatum in der Liste – Mitka. Sein Alter wurde mit 15 Jahren angegeben, seine Nationalität mit russisch.84 Einer dieser fünf Jungen, Jean »Johnny« Daussy, und Mitka schlossen während ihres Kurzaufenthalts in Hanau eine Freundschaft. Diese Freundschaft sollte sich bis nach Bad Aibling fortsetzen und eine wichtige Rolle in Mitkas Zeit dort spielen.
Als Mitka an jenem Freitag im März im Kinderdorf ankam, betrat er das Gelände eines ehemaligen deutschen Militärflugplatzes, der 1936 von den Nazis am Rande der südbayerischen Stadt Bad Aibling errichtet worden war. Bis zum Ende des Krieges waren in den Garnisonsgebäuden die Kampftruppen der Nazis untergebracht gewesen. Anfang Mai 1945 rückten amerikanische Truppen in Bad Aibling ein und übernahmen den Fliegerhorst ohne Widerstand der verbliebenen Deutschen. In den folgenden 15 Monaten nutzten die US-Streitkräfte das weitläufige Gelände als Kriegsgefangenenlager, durch das Zehntausende deutscher Kriegsgefangener geschleust wurden. Für die Unterbringung dieser Gefangenen wurden einfache Holzbaracken gebaut. Von September 1946 bis Ende 1948 wurde das Lager zur Unterbringung von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen genutzt, von denen vor und nach dem Kriegsende 4,5 Millionen in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands ankamen.85
Irgendwann im Herbst 1948 beschloss die IRO, die bereits die Verwaltung des Lagers übernommen hatte, mehrere Lager für heimatlose Kinder hier zusammenzulegen. Am 22. November 1948 wurde das Internationale IRO DP-Kinderlager Bad Aibling offiziell eröffnet.86 Vier Monate später sollte Mitka hier ankommen und versuchen, sein neues Leben zu verstehen. Wie für Mitka selbst verlangte es auch der Verwaltung und dem Personal eine Menge ab, für ihre ehrgeizigen Ziele für die jungen Schützlinge ein geeignetes Umfeld zu schaffen.
Als Mitka im März 1949 kam, war er einer von 389 Bewohnern. Insgesamt durchliefen 2 300 Kinder das Kinderdorf. Zwar verbesserten sich während der drei Jahre, die das Lager bestand, die Umstände allmählich, aber es gab doch bis zur Schließung des Lagers immer wieder Probleme. Die IRO als federführende Organisation arbeitete mit anderen zusammen, darunter das American Friends Service Committee (AFSC), eine Quäker-Organisation, die Organization for Rehabilitation through Training (ORT), die Jewish Relief Unit (JRU) und der amerikanische CVJM. Jede dieser Organisationen verantwortete bestimmte Maßnahmen in den Bereichen Bildung, Berufsausbildung, medizinische Versorgung, Freizeitgestaltung, Unterkunft und Ernährung. Im Handumdrehen wurde eine autarke Gemeinschaft aufgebaut, die Krankenschwestern, Versorgungsoffiziere, Sachbearbeiter, Schreibkräfte, Boten, Hausmeister, Elektriker, Schlosser, Tischler, Friseure, Näherinnen, Schuhmacher, Schneider, Küchenhilfen, Bäcker, Köche, Polizisten und vor allem Lehrer beschäftigte. Diese Menge an Personal rekrutierte das Lager vor allem unter den erwachsenen Flüchtlingen. Dadurch erhielten diese eine Beschäftigung und das Lager verfügte über ein großes Angebot an qualifizierten Arbeitskräften. Allerdings verließen diese Personen das Lager immer relativ schnell, da sie umgesiedelt oder repatriiert, also in ihr eigenes Land zurückgeführt wurden.87
Dass der Betrieb des Kinderdorfs chaotisch und schlecht abgestimmt war, überrascht nicht. Die Ressourcen waren knapp und die Bedingungen waren alles andere als ideal. Eine Mitarbeiterin beschrieb ihre ersten Eindrücke von der Umgebung mit diesen Worten:
Bis heute sind alle Einzelheiten unserer Ankunft in B.A. ein großer schwarzer Fleck, eine chaotische Collage aus Eisentoren, Stacheldrahtzäunen, graubraunen Kasernengebäuden ohne Heizung – in den meisten Fällen ohne Sanitäranlagen, mit kaputten Fensterscheiben, ohne Strom. Mit Erwachsenen, die die Hände ringen, Kindern, die sich weinend oder mit erschrocken aufgerissenen Augen aneinanderklammern, Babys, die blau sind vor Kälte.88
Im Kinderdorf in Bad Aibling waren Kinder vom Säuglings- bis ins Teenageralter untergebracht. Ihr Gesundheitszustand war häufig durch Mangelernährung und Krankheiten beeinträchtigt. Die meisten hatten in ihrem jungen Leben bereits schwere Traumata erlebt. Daraus ergaben sich Verhaltensprobleme. Vor allem die älteren Kinder stellten die Mitarbeiter vor enorme Herausforderungen, da sie oft unangemessenes und sogar kriminelles Verhalten an den Tag legten. Hinzu kamen die ständigen politischen Rangeleien zwischen Staaten und Hilfsorganisationen, die es zu bewältigen galt.89
Mit seinen Toren und Wachen, den überfüllten und oft unzureichenden Schlafräumen, dem schlechten und knappen Essen und Streitereien unter den Bewohnern erinnerte das Kinderdorf in mancher Hinsicht an die Lager, in denen Mitka zuvor gewesen war. In seiner Naivität verstand er zunächst nicht, was an diesem Lager anders war. Aber er lernte schnell. Das Kinderdorf war in aller Eile eingerichtet worden und auf seine enorme Aufgabe beklagenswert schlecht vorbereitet, aber es besaß etwas, das den Mangel an materiellen Ressourcen wettmachte. Die Führung des Lagers – und zwar jeder Einzelne davon – handelte aus tiefem Mitgefühl für die hilflosen, vertriebenen Kinder. Kein vernünftiger Beobachter hätte darauf gewettet, dass es diesen Idealisten gelingen würde, für wertlos erachtetes Leben wie das von Mitka – ein Abfallprodukt des untergegangenen Nazireiches – wiederaufzubauen und zu heilen. Aber sie haben es geschafft – natürlich nicht in jedem Fall, aber doch in einem Ausmaß, das vielen Kindern die Chance auf ein glückliches und produktives Leben bot.
Kathleen Regan war die erste Person, die Mitka im Aufnahmegebäude in Empfang nahm. Hier wurden alle Kinder, die ins Lager kamen, für ein bis zwei Wochen isoliert, um die Ausbreitung von Krankheiten zu verhindern. Kathleen war Mitglied des AFSC, einer Quäker-Organisation, die 1917 gegründet worden war, um Kriegsdienstverweigerern aus Gewissensgründen eine Alternative zum Militärdienst zu bieten. Seit ihrer Gründung war die Organisation an humanitären Einsätzen rund um den Globus beteiligt. Nun standen fünf Mitglieder des Teams im Dienste der Kinder in Bad Aibling.
Jahre später gab Kathleen in einer Nachrichtensendung ihre Eindrücke von Mitka folgendermaßen wieder:
Mitka hatte etwas Besonderes an sich. Er war einer von denen, die man nie vergisst. Er war sehr schüchtern und ziemlich verwirrt von allem, was für ihn so neu war. Wir gaben ihm einige Dinge, als er ankam, und er hatte keine Ahnung, was er damit anfangen sollte. Ich werde nie vergessen, wie wir ihm zum ersten Mal Zahnpasta gaben. Er dachte, es seien Süßigkeiten, und er presste sich den Inhalt in den Mund. Ich glaube, er hat die ganze Tube aufgegessen. Wir wussten nicht, was er alles durchgemacht hatte – aber wir konnten ahnen, dass es ziemlich schrecklich gewesen war. Er brauchte dringend Aufmerksamkeit und Zuneigung. Ich hoffe, dass er beides von uns bekommen hat.90
Unter den Dingen, die Mitka von den Mitarbeitern im Kinderdorf bekam, war etwas von unschätzbarem Wert: die Rückgewinnung seines Namens – Mitka. Bis zu diesem Zeitpunkt war in den Dokumenten immer irgendeine Form des Namens »Demitro Kalinski« verzeichnet gewesen; die früheste bekannte Aufzeichnung stammt aus dem Jahr 1946 von einer Untersuchung der UNRRA. Danach erscheint sein Vorname in vielen Varianten in den Dokumenten: Dymitro, Demtri, Demetri, Dimitro, Dimitris, Dimitri, Dmitry, Mitke, Mitro, Mitheka und Mitka. Sein Nachname wurde einheitlich als Kalinsky oder Kalinski geschrieben. Vielleicht ist bei der Aufzeichnung seines Namens ein Schreib- oder Druckfehler unterlaufen. Eine andere Möglichkeit ist die, dass diese Varianten die unterschiedlichen Nationalitäten der Verfasser der Formulare oder Berichte widerspiegeln – oder vielleicht unterschiedliche Annahmen über Mitkas Herkunftsland. Dmytro ist ukrainisch; Dmitriy, Dima und Mitya sind russisch, Dymitr und Demetriusz sind polnisch und Demetrius, Dmitriy und Dima sind Varianten, die häufig von Juden verwendet wurden. Die UNRRA und das IRO vermuteten, dass Mitka ukrainischer Herkunft war, da seine frühesten Erinnerungen aus Bila Zerkwa stammten. Die Ukraine könnte sein Herkunftsland gewesen sein, aber Polen oder Russland kommen ebenso infrage.
In der Zwischenzeit hatte Mitka gedacht, sein Name sei Martin. Doch ab 1946 und während seiner gesamten Zeit im Kinderdorf kannten ihn die Helfer als Demitro Kalinski und nannten ihn auch so. Für diesen Namen gab es eine Quelle, aber welche? Gab es Aufzeichnungen, die die UNRRA veranlasst hatten, ihn so zu nennen? Die Herkunft war ein Rätsel.
Jahrzehnte später deutete Gustav Dörr an, dass er Aufzeichnungen über den Jungen besessen habe. Wenn er jemals solche Aufzeichnungen besessen hat, sind sie mit ihm gestorben. Es ist wahrscheinlich, dass er Mitkas richtigen Namen kannte, als er ihn aus dem Lager Pfaffenwald holte. Gustav Dörr hat vieles getan, um Mitkas Identität auszulöschen, und Mitka ist der Meinung, dass es ein zentraler Bestandteil dieser Bemühungen und einer der grausamsten von Gustavs vielen Angriffen auf die Menschlichkeit des Jungen war, ihm seinen Namen zu stehlen.
Einige Zeit nach seinem Einzug ins Kinderdorf hörte Mitka etwas Unvergessliches, etwas seltsam Vertrautes. Jemand rief ihn bei einem Namen, den er wiedererkannte. Er lauschte mit einem leisen Wissen, dass er ihn in seiner Vergangenheit schon einmal gehört hatte. In diesem Augenblick wusste er, dass dies sein Name war. Jemand im Kinderdorf nannte ihn Mitka.
Das Gefühl, das Mitka empfand, bestätigte ihm, was sein Verstand nicht vermochte: dass er doch eine durchgängige Identität besaß. Er hatte auf andere Namen gehört und reagiert, aber dieser Name bestätigte ihn als Individuum. Ein einziges Wort – Mitka – gab ihm sich selbst zurück. Das war etwas, das ihm niemand nehmen konnte. Mehr als 60 Jahre später erinnert er sich noch an diesen einmaligen Vorfall im Kinderdorf, bei dem ihn jemand Mitka nannte. Aber das war genug. In einem einzigen, unauslöschlichen Moment wurde er zu einer Person. Er hatte einen Namen, der zu ihm gehörte.91
Dieser Name 92 bestätigte, dass sein Leben nicht bei den Dörrs begonnen hatte. Mitka hatte eine Vergangenheit. Er kannte sie nicht, aber er wusste, dass er eine Geschichte hatte, eine Historie. Die Bedeutung dieser Entdeckung fasst er viele Jahre später in die einfachen Worte: »1949 ging Martin und Mitka kam zum Vorschein.«
Die Formulierung »Mitka kam zum Vorschein« spiegelt auch weitere Schritte, die Mitka in dieser Zeit ging. Er hatte sich auf die unsichere Reise begeben, herauszufinden, wer er war. Wie wohl alle Teenager stolperte er dabei oft unbeholfen vorwärts. Die Entdeckung und Entwicklung seiner Persönlichkeit, seiner Identität, würde beim Verlassen des Kinderdorfs noch nicht abgeschlossen sein. Doch er hatte die Weichen dafür gestellt, sich eines Tages selbstbewusst mit den Worten vorstellen zu können: »Mein Name ist Mitka.« 93
Für die Zeit von Mitkas Aufenthalt in Bad Aibling dokumentieren Berichte, Memoranden und Briefe sein Leben wie nie zuvor. Zum Beispiel vermerkt ein »Meldeformular für die Umsiedlung von Kindern ohne Angehörige« vom 12. Mai 1949, dass er 51 Kilogramm wog und 155 Zentimeter groß war, als er im Lager ankam. Auf diesem Formular, wie auch auf allen anderen, die ihn betreffen, sind die meisten Fragen zu seiner Familie entweder unbeantwortet oder mit dem Vermerk »unbekannt« versehen. Eine Randnotiz ergänzt: »Er erinnert sich an nichts, was seine Identität betrifft.« 94
Ein Bericht von Dr. Margaret Hasselmann 95, der leitenden Ärztin des Lagers, enthält weitere Einzelheiten über Mitkas körperlichen Zustand und stellt fest:
DER JUNGE, KALINSKI, DIMITRO,
GEBOREN AM 14. 12. 32, UKRAINISCHER HERKUNFT, KAM
AM 18. MÄRZ 49 IN EINEM SEHR VERWAHRLOSTEN
UND UNTERERNÄHRTEN ZUSTAND HIER AN.96
Obwohl in den offiziellen Dokumenten der 14. Dezember 1932 als Mitkas Geburtsdatum vermerkt ist, erkannten die Mitarbeiter des Kinderdorfs rasch, dass dieses Datum eine Fiktion war und dass »keinerlei Dokumente vorhanden waren, um sein Alter zu belegen« 97. Alle, die im Kinderdorf direkten Kontakt mit Mitka hatten, gaben jedoch zu Protokoll, dass das Kind, das sie sahen und hörten, mindestens drei, vielleicht sogar fünf Jahre jünger war, als die Dokumente besagten, die es bei sich hatte. Ihrer Meinung nach war er nicht 16 Jahre alt, sondern wurde wahrscheinlich irgendwann zwischen 1935 und 1937 geboren. Vielleicht noch bezeichnender ist, dass er sich wie ein Kind verhielt, das deutlich jünger als 12 oder 13 Jahre alt war. Natalie Kent, eine andere Quäkerin, die im Kinderdorf arbeitete, sagte Jahre nach ihrer Zeit dort: »Ich vermute, er war 12 oder 13, als er ankam … keine Gesichtsbehaarung, er war noch nicht im Stimmbruch … Und sein Verhalten entsprach dem eines viel jüngeren Kindes, als für das ich ihn hielt.«
Und Lukie Wijsmuller, eine Sozialarbeiterin im Lager, erinnert sich: »Mir fiel ein, dass er Zwangsarbeiter gewesen war … und vielleicht missbraucht wurde – er war vielleicht etwas älter als 12.«
Aufgrund des ihm zugeschriebenen Geburtsdatums wurde Mitka häufig mit älteren Kindern zusammengelegt und vom Aufnahmegebäude in einen Schlafsaal mit Jungen im Teenageralter verlegt. Diese Gruppe älterer Jugendlicher stellte die Mitarbeiter vor besondere Herausforderungen. Natalie erinnert sich, dass viele dieser Jungen »schwierig waren, weil sie schon so lange heimatlos gewesen waren«. Die Baracke, in der diese Jugendlichen untergebracht waren und in die Mitka nun einzog, wurden auch »das Gangsterhaus« genannt – und das nur halb im Scherz. Die Lagerleitung beklagte, dass es zu lange dauerte, Bildungs- und Freizeitangebote zu schaffen, sodass die älteren Jungen und Mädchen häufig längere Zeit sich selbst überlassen waren. Man befürchtete, dass sexuelle Promiskuität, Alkohol, Herumlungern und körperliche Auseinandersetzungen mit dem Personal eine ohnehin fragile Kontrolle über die Jugendlichen bedrohen könnten. Die selbst ernannten Anführer der Lagerjugendlichen waren sehr geschickt darin, ihre mageren Rationen gegen viele andere Dinge einzutauschen, insbesondere gegen Zigaretten und Alkohol. Sie hatten schnell einen Schwarzmarkt organisiert und tauschten ihre Waren oft mit erwachsenen DPs, die im Kinderdorf Bad Aibling arbeiteten.98
Als Mitka im Kinderdorf ankam, war eine Art Rebellion im Gange, die von jugendlichen Bewohnern angeführt wurde. Die Saat der Rebellion war aus der nahezu unmöglichen Aufgabe erwachsen, die Lagerleitung und Personal von Anfang an zu bewältigen hatten. Unterbringung, Nahrungsmittelbeschaffung und -zubereitung, Sicherheit, medizinische Versorgung, Transport, Wäscherei, sanitäre Einrichtungen, Bildung, Freizeitgestaltung, Einstellung von Personal und Dienstleistern, Einrichtung des Lagers, Erstellung von Protokollen und Kommunikationssystemen – all dies und mehr überforderte die bescheidene, aber unermüdliche und idealistische Leitung.
Der kritische Punkt war erreicht, als Kinobesuch und Tanzveranstaltungen gestrichen wurden. Viele der älteren Jugendlichen stürmten die Verwaltungsbüros, lösten Sirenen aus, sperrten sich in Räumen ein, kaperten Fahrzeuge aus dem Fuhrpark und fuhren aus dem Lager nach Bad Aibling, wo einige verhaftet wurden.
Mitka erinnert sich gut an die Ereignisse, die kurz nach seiner Ankunft im Lager stattfanden. »Es gab einen Streik. Ich wusste nicht, was ein Streik war. Es gab Krawalle und Schlägereien, und da war diese große Betongrube, in der einige Kinder ein Feuer gelegt hatten … Die Nazis hatten einige Dinge versteckt, bevor sie gingen, und ich fand ein paar Kugeln. Ich weiß nicht, warum, aber ich warf sie ins Feuer. Und es machte poing, poing, poing überall.« Das Feuerwerk, das Mitka so ausgelöst hat und das die Lagerleitung sicherlich beunruhigt hat, verblasste letztlich zu nicht mehr als einer amüsanten Erinnerung an den Unsinn, den ein Neuankömmling im Lager eben so anstellen konnte. Mitka weiß nichts davon, dass er gemaßregelt worden wäre, und er ist sich auch nicht sicher, ob seine Beteiligung an dem Tumult überhaupt zur Kenntnis genommen wurde. »Ich weiß noch, dass da ein Junge mit einem Maschinengewehr war. Er fand ein Maschinengewehr, das die Nazis zurückgelassen hatten. Und dieser Junge kletterte auf ein Gebäude. Alle Aufmerksamkeit und Sorge galt ihm. Ich glaube nicht, dass sie mich da überhaupt bemerkt haben.«
Die stellvertretende Verwalterin und Programmdirektorin des Lagers Nora Ryan und einige Quäker-Mitarbeiter konnten die Situation beruhigen, indem sie sich die Forderungen der älteren Kinder anhörten und einige Änderungen vornahmen, um auf ihre Beschwerden einzugehen.99 Für Mitka war das Ereignis ein Augenöffner. Er wusste nicht, was vor sich ging, aber er begriff, dass die Jugendlichen ein gewisses Maß an Macht hatten, dass sie Kontrolle und Einfluss hatten, dass ihre Stimme etwas bedeutete. Er verstand nicht, was das alles bedeutete, aber er wusste, dass sich sein Leben veränderte und dass er vielleicht ein gewisses Mitspracherecht hatte, in welche Richtung es gehen würde.
Irgendwann im Mai 1949 kam Mitka in ein Krankenhaus. Dort wurde eine Blinddarmentzündung diagnostiziert. Der Blinddarmoperation folgte eine mindestens einwöchige Erholungsphase. Rückblickend bezweifelt Mitka, dass er die Operation wirklich brauchte. »Ich war irgendwie in eine Krankenschwester verknallt und ich glaube, ich habe ein bisschen Theater gespielt. Ich wollte ins Krankenhaus. Ich weiß nicht, ob ich wirklich mit einer Operation gerechnet habe. Aber jedenfalls konnte ich sie in der Zeit, die ich da war, sehen.«
Im Krankenhaus lernte Mitka Wasyl Palijczjuk aus der Tschechoslowakei kennen, einen älteren Teenager, der im Bett neben ihm lag. Als zwei AFSC-Mitarbeiter – Natalie und ihr Mann Oakie – ihn im Krankenhaus besuchten, fragte er, ob für Wasyl vielleicht ein Platz im Kinderdorf frei wäre. Tatsächlich kam Wasyl ins Kinderdorf und es begann eine lebenslange Freundschaft zwischen den beiden.
Wasyl war einer von etlichen Freunden, die in Mitkas Welt eine wichtige Rolle zu spielen begannen. Innerhalb von kaum drei Monaten hatte sich Mitkas Lebensumfeld dramatisch verändert: Aus einem Leben mit engen Grenzen und nur wenigen direkten Bezugspersonen kam er in ein Umfeld, in dem ständig neue fremde Menschen auftauchten. Schüchtern und passiv, wie er war, schwamm er anfangs einfach mit dem Strom. Er schloss sich Jean Daussy an, dem französischen Teenager, den er in Hanau kennengelernt hatte. Johnny, wie er genannt wurde, war älter als Mitka, und er war eines der »Problemkinder«, die »rauchten, tranken und fluchten wie ein GI und versuchten, ihre Wohltäter im Guten wie im Bösen zu imitieren« 100. Erfinderisch, gewitzt und durch ihre Lebensumstände abgehärtet, störten diese Jugendlichen das Lagerleben. Oftmals verhinderten sie die Bemühungen, eine stabile, familienähnliche Struktur für die Kinder zu schaffen. Sie brachen die Regeln des Dorfes, setzten ihre Schwarzmarktgeschäfte fort und unternahmen unerlaubte Ausflüge nach Bad Aibling, wo es immer wieder zu Verhaftungen kam. Sie schwänzten die Schule und fanden immer wieder Wege, sich Ärger einzuhandeln, sodass die Direktorin Nora Ryan später sagte, diese Jungen seien »nicht nur schwierig, sondern unmöglich zu handhaben« 101.
Die Freundschaft mit Johnny gab Mitka Halt; andererseits beeinflussten Johnny und andere Problemkinder ihn »unglücklich, da das Problemkind [Johnny Daussy] einen eindeutig negativen Einfluss auf Kalinski hatte und ihn immer wieder in Schwierigkeiten brachte« 102.
Bis in die Sommermonate hinein versuchten Mitkas Hauseltern, insbesondere Kathleen Regan, Lukie Wijsmuller und andere Quäker im Lager, so gut sie konnten, für Mitka die Sicherheit einer familienähnlichen Struktur zu schaffen. Sie erkannten, wie verletzlich seine Seele war. Beobachtungen wie die folgenden belegen dies: »Er ist auffallend gehemmt, überempfindlich und emotional verwirrt«, und wenn »er verletzt wird oder jemand etwas Besonderes für ihn tut, läuft er weg … und weint und verschwindet für eine Weile« 103.
Dass Mitka keinerlei Schulbildung besaß, weckte den Ehrgeiz der Mitarbeiter. Sie wollten ihm Lesen und Schreiben beibringen und versuchten in seinem ersten Sommer dort, ihn dafür zu gewinnen. In einer Aktennotiz findet sich der Vermerk: »Es ist ihm sehr peinlich, wenn während der Schulzeit Schreibspiele gemacht werden …« Weiter heißt es, Unterricht sei zwar verbindlich, »aber er schwänzt die meiste Zeit«. Man versuchte es mit Nachhilfestunden in Lesen und Schreiben, doch diese fanden nur unregelmäßig statt, und »Kalinski verlor das Interesse«. Irgendwann wurde er einer Gruppe mit fünf- und sechsjährigen Kindern zugeteilt, die ebenfalls noch nicht lesen und schreiben konnten. Aber Mitka war es peinlich, mit so kleinen Kindern zusammen zu sein, und er weigerte sich, weiter daran teilzunehmen. Der Versuch, ihm Lesen und Schreiben beizubringen, war gescheitert.
Wie schon in Rotenburg fesselten Filme Mitkas Aufmerksamkeit mehr als alles andere. Und er sah viele Filme. Trotz der Versuche des Personals, ihn zu disziplinieren, fand er Wege, die Regeln zu umgehen – und dann ging er ins Kino. Doch das hatte auch etwas Gutes. Amerikanische Filme wurden für ihn zu einem besonderen Lehrmaterial; durch sie lernte er ein paar Worte, die er in stockendem, stark akzentuiertem Englisch nachsprach.
Im Laufe des Sommers schloss sich Mitka immer mehr an Johnny Daussy an. Einerseits tat er dies aus Freundschaft. Andererseits benutzte er Johnny als Krücke. »Daussy war viel herumgekommen und hatte alle möglichen Kniffe gelernt, wie man sich im Leben durchschlagen kann«, schrieb Lukie Wijsmuller.104 Die Freundschaft zwischen den Jungen war für die Mitarbeiter ein Grund zur Sorge; sie sahen darin ein Vorzeichen für Schwierigkeiten.
Am Sonntag, den 18. September 1949, wurden ihre Befürchtungen wahr. »Demitro soll in der Nacht zuvor an einem Diebstahl im Lagerhaus der Quäker beteiligt gewesen sein.« Am darauffolgenden Donnerstag, dem 22. September, wurde Mitka aufgefordert, »unter Aufsicht der Lagerpolizei zu arbeiten, was er verweigerte«. Seine Weigerung brachte Mitka eine Nacht in einer Zelle des Lagergefängnisses zusammen mit Johnny ein.
Am nächsten Tag, einem Freitag, erschien Mitka vor dem Jugendgericht, in dem ältere Kinder mitentschieden, wenn Disziplinarmaßnahmen gegen Altersgenossen verhängt wurden. Bei der Vernehmung gab Mitka zu, dass er mit Johnny und einem anderen Jungen im Quäker-Magazin gewesen war. In einem Bericht von Lukie Wijsmuller über den Vorfall heißt es: »Der Junge handelte nicht aus Groll, sondern erweckte eher den Eindruck, dass er sich wichtig fühlte, weil er zu den Jugendlichen gehörte, die diesen Aufruhr im Lager verursacht hatten.« Die Strafe für Mitka und Johnny lautete zwei Monate Erziehungsanstalt und sechs Monate Bewährung. Daraufhin wurden sie ins Lagergefängnis zurückgebracht, das aber umgehend als »ungeeignet für die Inhaftierung von Jugendlichen« eingestuft wurde. Dies führte dazu, dass beide Jungen Hausarrest erhielten und anschließend »der Aufsicht eines älteren Jungen unterstellt wurden«.
In ihrem Bericht schreibt Lukie Wijsmuller weiter über Mitka: »Er sagt, es sei nicht seine Schuld, dass er in das Magazin eingebrochen ist, sondern dass Johnny gedroht habe, ihn zu schlagen, wenn er nicht mitkäme.« Man glaubte Mitka und wollte eine andere Lösung für sein Verhalten finden als eine Bestrafung. Als Mitka gefragt wurde, welche andere Lösung er selbst sehen könne, sagte er, er würde gern wieder in das Aufnahmehaus und in die Betreuung durch Kathleen Regan zurückziehen. Diesem Wunsch wurde stattgegeben, unter anderem auch, um Zeit zu gewinnen und herauszufinden, wie man diesem schwer geschädigten Kind besser helfen konnte.
Am 29. September zog Mitka zurück in das Aufnahmehaus und in die Obhut von Kathleen Regan. Lukie Wijsmuller besuchte Mitka dort am Samstag, den 1. Oktober. Seine erste Frage an sie war, ob er dauerhaft dort bleiben könne. »D. sagt selbst, dass er von sich aus nie auf die Idee käme, etwas Falsches zu tun, aber er hört leicht auf die schlimmen Jungs, mit denen er zusammen ist, und lässt sich von ihnen beeinflussen.«
Etwas mehr als sieben Monate zuvor war Mitka – ein vorpubertärer Junge – aus einem vertrauten Leben in Rotenburg herausgerissen und in eine Situation hineinversetzt worden, in der vieles für ihn völlig neu war. Hier wurde er mit Erwartungen konfrontiert, die er nicht einordnen konnte, und verlor kurz den Boden unter den Füßen. Das Verständnis und Mitgefühl, das ihm die Quäker entgegenbrachten, waren zwar großzügig, aber aufgrund ihrer eigenen Arbeitsüberlastung auch begrenzt. Im Großen und Ganzen war er immer noch auf sich allein gestellt und versuchte sein Bestes, um in kurzer Zeit das zu schaffen, wofür andere Kinder Jahre Zeit haben, um es zu erreichen. Mitka war orientierungslos.
Durch den Umzug ins Aufnahmehaus stand Mitka wieder unter dem wachsamen Auge von Kathleen Regan und er war dem Einfluss von Johnny Daussy entzogen. Allerdings war dies nur eine Notlösung, keine Lösung. Es wurde beschlossen, Mitka ins Piusheim zu schicken, eine von Lutheranern geführte Erziehungsanstalt. Irgendwann Ende Oktober reiste er in seine neue Schule.
Ein an »Fräulein Wijsmuller« adressierter Brief, den Mitka mithilfe von Erwachsenen diktiert hatte, ist das einzige schriftliche Zeugnis aus seiner Zeit in der Reformanstalt. Er ist auf den 1. November 1949 datiert und lautet wie folgt:
Ich bin schon seit ein paar Tagen hier. Mir gefällt es hier jetzt ein bisschen besser als am Anfang. Nach einiger Zeit wird es in Ordnung sein. Ich werde mich zusammenreißen und versuchen, ein guter Junge zu sein. Ich arbeite immer noch auf einem Feld. Ich weiß nicht, wie lange ich hier bleiben soll. Wenn Sie mir etwas schicken wollen, können Sie das tun. Ich brauche sehr dringend ein Paar Schuhe. Ich habe eines von der Einrichtung bekommen, aber nur leihweise. Bitte grüßen Sie alle und jeden von mir und nehmen Sie auch meine allerbesten Grüße für Sie entgegen.105
68 Jahre später sagt Mitka über die vier Monate, die er im Piusheim verbrachte: »Es war eine gute Sache. Ich wusste nichts und sie haben mir dort manches beigebracht. Sie haben mir beigebracht, wie man in einer Reihe steht und wie man kooperiert.« Und in einem Nachgedanken: »Vorher hatte ich zu viele Freiheiten.« Am 8. März 1950 kehrte er nach Bad Aibling zurück.
Zurück im Kinderdorf sprach Mitka immer wieder davon, dass er nach Rotenburg fahren wolle, um die Dörrs zu besuchen. Seine Beweggründe dafür waren kompliziert. Die einfache Erklärung war, dass er keine Gelegenheit gehabt hatte, sich zu verabschieden. Dieser fehlende Abschluss quälte ihn. Vor allem war es ihm wichtig, sich von den Tieren zu verabschieden, die er liebte.
Aber es waren auch andere Beweggründe im Spiel. Irgendetwas in dem Jungen musste den Dörrs, insbesondere Gustav und Anna, zeigen, dass er jetzt sein eigener Herr war. Noch jetzt, Jahrzehnte später, klingt ein gewisser Triumph aus seinen Worten, wenn er über seine Rückkehr nach Rotenburg spricht. Er brauchte es, stolz darauf sein zu können, dass er, wenn schon nicht im blühenden Leben stand, aber doch zumindest an Unabhängigkeit gewonnen hatte und ganz ohne sie zurechtkam.
Aber das war noch nicht alles. Er hatte gemischte Gefühle gegenüber der Familie, deren Grausamkeit er ertragen hatte. Dass er Zuneigung für sie empfand, wäre wohl zu viel gesagt; aber er spürte doch eine Verbundenheit, die sich jeder Logik zu entziehen schien. Aber diese Bindung war echt.
Die zuständige Psychiaterin Dr. Renate Sprengel war der Meinung, dass ein Besuch in der Badegasse 14 Mitka guttun würde.106 Sie schien zu ahnen, dass dies eine Katharsis sein könnte. Aufgrund ihrer eigenen Untersuchungen von Mitka und der Berichte von Kathleen Regan und Natalie Kent wusste sie, dass jede Maßnahme, die ihm helfen könnte, seine Vergangenheit zu bewältigen, versucht werden sollte. Außerdem hatten die IRO und die Mitarbeiter des Kinderdorfs den Auftrag, unter drei Alternativen für Mitkas Zukunft eine zu wählen: Mitka, ein Kind ohne Familie, zu seiner deutschen »Familie« zurückzubringen, wenn er das wollte; ihn in die Ukraine, sein vermutetes Herkunftsland, zurückzuschicken oder ihn auf eine Umsiedelung vorzubereiten.107 Wenn die ersten beiden Optionen scheiterten, würde die Umsiedelung die einzige Möglichkeit für Mitka sein. Ein Besuch bei den Dörrs würde in vielerlei Hinsicht ausschlaggebend dafür sein, ob die erste Option infrage käme.
Gegen Ende der dritten Aprilwoche 1950 begleitete eine Mitarbeiterin der Kinderkrippe Hanau Mitka und ein anderes Kind auf einer Reise nach Rotenburg. Mitka trug einen Koffer mit einigen Habseligkeiten bei sich, darunter auch eine Boxkamera. Vor der Reise hatte er Kathleen Regan erzählt, wie sehr er sich wünschte, Bilder von den Dörrs und von seinem Rotenburger Haus zu haben. Die Sehnsucht, die in seinen Hoffnungen mitschwang, hatte Kathleen gerührt, und sie hatte ihm ihre Brownie-Kamera geliehen.
Die Fahrt in einem Personenzug war nicht Mitkas erste Zugfahrt. Beim Einsteigen in den Triebwagen wählte er eine Sitzbank mit Rückenlehne, die eher einer kurzen Kirchenbank glich, die in Reihen hintereinanderstanden. In diesem Waggon konnte er sich bewegen, wo er wollte, und er fand eine richtige Toilette, nicht nur den Boden des Abteils. Die Luft im Wagen war sauber, die Gerüche neutral. Um ihn her herrschte eine konstante, angenehme Temperatur. Er musste sich nicht durch Menschenmassen drängen, um durch die Ritzen zwischen den Holzlatten zu spähen, wie er es früher getan hatte. Auf dieser Fahrt schaute er durch Fenster auf Bayern und seine Wälder. Er konnte von einer Seite des Waggons auf die andere wechseln und 500 Kilometer deutscher Landschaft an sich vorbeiziehen sehen.
Am Freitag, den 20. April, kam Mitka in Rotenburg an der Fulda an. Er stieg aus dem Zug und stand auf einem Bahnsteig, den er schon oft gesehen hatte. Tante Anna, die er seit über einem Jahr nicht mehr gesehen hatte, holte ihn am Bahnhof ab. Sie machten sich auf den Weg in die Badegasse 14 – in das Haus, in dem er länger als in jedem anderen in seinem kurzen Leben gewohnt hatte. Geplant war, dass er drei Wochen bei den Dörrs bleiben sollte – drei Wochen Ferien, hatten die Mitarbeiter des Kinderdorfes gesagt. Und in gewissem Sinn waren es auch Ferien, wenn auch aus keinem anderen Grund, als dass es eine Pause vom Leben im Kinderdorf war.
Mitka hat an diese Zeit nur lückenhafte Erinnerungen. »Ich weiß, dass ich richtiges Essen gegessen habe. Ich glaube, ich habe mit der Familie gegessen.« Er spekuliert, kann aber nicht mit Sicherheit sagen, dass er »in einem Bett oder etwas Ähnlichem« geschlafen hat. Eines weiß er jedoch mit Sicherheit. Er wohnte in demselben Zimmer, das er fast sieben Jahre lang bewohnt hatte – aber er bemerkte eine Veränderung. »Die Gitterstäbe waren weg.«
Carla Hansen, eine Fürsorgerin von der Außenstelle Kassel, kam am 28. April in die Badegasse 14, um mit den Dörrs und mit Mitka zu sprechen. Es sollte ermittelt werden, ob es im Interesse von Mitka sei, zu seiner sogenannten Pflegefamilie zurückzukehren. Nach ihrem Besuch verfasste sie einen zweiseitigen, einzeiligen Bericht mit ihren Beobachtungen.108
»Während seiner Ferien hat der Junge die Uhr der Pflegeeltern repariert. Die Pflegeeltern bemerkten, dass er sehr geschickt mit seinen Händen ist.« Der Bericht erwähnt, dass »der Pflegevater und die Pflegemutter«, Opa und Oma, »67 und 64 Jahre alt« sind und dass Opa Tage zuvor einen Schlaganfall erlitten hatte. »Dieser Junge muss ihnen eine große Hilfe gewesen sein und jetzt, da der Pflegevater einen Schlaganfall erlitten hatte, wäre er es noch mehr … Demitro war an diesem Tag mit ihnen auf den Feldern und half, Kartoffeln zu pflanzen. Sie lobten ihn für seine Fähigkeiten und sagten, dass er nicht vergessen habe, was er gelernt hatte« und dass »er schon immer ein sehr flinker Arbeiter war und keine langen Erklärungen braucht«.
Clara Hansen hatte die Dörrs gefragt, warum sie das Jugendamt eingeschaltet hatten, um den Jungen »in eine Einrichtung zu geben«. Dazu schrieb sie: »Die Pflegeeltern haben sich nicht zugetraut, die Verantwortung für seine Erziehung zu übernehmen … Da der Junge ein Ausländer war, wurde immer zuerst ihm die Schuld zugeschoben, wenn irgendwo etwas Unrechtes geschah.«
Die Familie »schien sich über seinen Besuch zu freuen, und alle wollten, dass er über Pfingsten bleibt«, und »die Pflegemutter sagte mir, dass sie am Tag zuvor an Herrn Troniak geschrieben und um die Erlaubnis gebeten hatte, dass der Junge über Pfingsten bleiben dürfe, da sie dann eine Familienfeier hätten«. Dieses Anliegen hat Clara Hansen unterstützt.
John Troniak, der Leiter der Kinderbetreuungsabteilung des IRO-Büros in Frankfurt, erklärte in einer Aktennotiz: »Wir schließen uns Frau Hansen an und bitten um Ihre freundliche Erlaubnis, dass der Junge bis zum 31. Mai 1950 bei seiner früheren Pflegefamilie bleiben kann. Glauben Sie, es wäre möglich, dies zu arrangieren?« Der kurze Absatz wurde am 5. Mai 1950 an die Leitung des Kinderdorfes gesandt. Der Bitte wurde stattgegeben. Emmy Lefson, die leitende Sozialarbeiterin des Kinderdorfes, erhielt eine Kopie. Sie sollte später eine wichtige Fürsprecherin für Mitka werden.
Carla Hansens Bericht über den Besuch und die Gespräche in Rotenburg geht nicht auf die Unstimmigkeiten in den Antworten der Dörrs ein, die deren zwiespältige Haltung gegenüber Mitka offenlegten. In Bezug auf Mitkas Wünsche ist er eindeutiger: »Der Junge erklärte, dass er nicht zu seinen früheren Pflegeeltern zurückkehren wolle, und war nicht in der Lage, den Grund dafür zu nennen. Mein Eindruck war der, dass … er – auch wenn er der Pflegefamilie zugetan ist – sich doch immer fremd gefühlt hat und deshalb lieber Deutschland verlassen und in einem anderen Land neu anfangen möchte.« Auf eine erneute Frage an Mitka, warum er nicht bei den Dörrs bleiben wolle, »sagte er, er wisse es selbst nicht«.
Carla Hansens Bericht ist die Geschichte eines Jungen, der im Zwiespalt darüber ist, was er fühlt und wie er über die Familie Dörr denkt. Ihre Empfehlung lautete: Mitka solle in ein Land seiner Wahl umgesiedelt werden.
Als Mitka am 31. Mai ins Kinderdorf Bad Aibling zurückkehrte, hatte er noch nicht alle Widersprüche gelöst, die in ihm brodelten. Zwei Dinge konnte er jedoch als erledigt betrachten: Er wusste, er wollte nicht in die Badegasse 14 zurückkehren. Und er hatte sich von seinen Freunden – Schimmel, Lotte und den anderen Tieren – verabschiedet.
Jahre später erzählt er jedem, der ihn fragt, von seiner besten Erinnerung an diesen Besuch bei seinen ehemaligen Sklavenhaltern. Er setzt sich vor, tippt sich mit der Faust auf die Brust und sagt: »Ich wollte, dass sie die Anstecknadel sehen, die ich trug. Es war die Anstecknadel der Vereinigten Staaten, die mir die Amis gegeben hatten. Ich wollte, dass sie wissen, dass wir gewonnen haben. Ich habe gewonnen.«