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Demitro

Bad Aibling, 1950–1951

Als Mitka nach Bad Aibling zurückkehrte, war er ein anderer. Seine äußere Versklavung war beendet worden, als amerikanische GIs ihn 1949 aus Rotenburg mitnahmen. Aber die tückische innere Versklavung war nicht so leicht zu überwinden. Sie zu beenden, würde Zeit erfordern. Im Mai 1950 begann Mitka, wenn auch langsam, diese inneren Fesseln zu lockern. In diesem Monat hatte er wieder bei den Dörrs gewohnt, diesmal nicht als Sklave, sondern als eine Art Gast, wie vorgetäuscht das Willkommen bei den Dörrs auch gewesen sein mochte. Als er Rotenburg verließ, hatte Mitka eine Entscheidung getroffen – an sich schon ein neu erlerntes Verhalten. Er hatte die Vorstellung hinter sich gelassen, dass er jemals wieder in der Badegasse 14 leben könnte. Er sah sich nicht mehr als Martin. Er wusste noch nicht, wer er war, aber er wusste, wer er nicht war. So viel war geschafft. Weitere Herausforderungen lagen vor ihm.

Alle Kinder im Kinderdorf stellten die Mitarbeiter, die mit den Nachforschungen über ihre Identität beauftragt waren, vor die mühevolle Aufgabe, gesicherte Fakten über die Existenz des Kindes zu beschaffen, sobald es um eine Repatriierung oder Umsiedelung ging. Gab es lebende Verwandte? Welche Nationalität hatte das Kind? Wollte ein Verwandter es aufnehmen? Diese Nachforschungen bedeuteten, sich in einem bürokratischen Labyrinth zurechtzufinden. Dieses Labyrinth war durch die Verwerfungen des Krieges und die Komplexität des Friedens noch ineffizienter als gewöhnlich, da nun die vier alliierten Mächte und eine Vielzahl kleinerer, zuvor besetzter Länder versuchten, gemeinsame Vereinbarungen über die DPs zu treffen. Manchmal war die Arbeit relativ einfach, meistens jedoch nicht.109 Im Fall von Mitka gab es auf die Anzeigen, die die IRO in ukrainischen Zeitungen schaltete, in denen um Informationen über Mitka gebeten wurde, nicht eine einzige Resonanz. Das Gleiche gilt für Suchanfragen beim Roten Kreuz in Moskau.110

Die Behörden brachten familienlose Kinder zurück in ihr Herkunftsland, wenn dies möglich war. Da dies für Mitka nicht möglich war, war Umsiedlung die einzige Möglichkeit. Bei der Entscheidung, wohin er geschickt werden sollte, hatte Mitka ein Mitspracherecht. Es galt der Grundsatz, »die Wünsche des Kindes« zu berücksichtigen.111

Gegen Ende des Jahres 1950 bekam Mitka oft Diskussionen von Gleichaltrigen darüber mit, in welches Land sie gehen würden. Manchmal beteiligte er sich auch daran. Dabei ging es häufig um Australien, Israel und Amerika. Die Jungen prahlten: »Ich gehe nach Israel und werde Soldat.« Oder: »In Australien kann ich Pilot werden.« Mitka nahm das alles auf und zeitweise begeisterte er sich für jedes Land, das genannt wurde. Aber schließlich entschied er sich. Er wollte in die Vereinigten Staaten von Amerika einwandern. Der Grund dafür war einfach. »Ich habe diese Filme gesehen und jemand hat mir gesagt, dass sie in Amerika gedreht wurden. Das war’s. Ich wollte nach Amerika, wo man Filme drehte.« Mitka hält inne und lacht über sich selbst und seine Logik. »Was wusste ich schon über diese Dinge?«

In Fällen wie dem von Mitka war es nicht einfach, eine Genehmigung zur Umsiedlung in die Vereinigten Staaten zu erhalten. Die USA nahmen zwar DPs aus Deutschland auf, aber die Genehmigung zur Einwanderung erfolgte nicht automatisch. In ihrem Buch In the Children’s Best Interests: Unaccompanied Children in American-Occupied Germany, 1946–1952 erklärt Lynne Taylor, welche Faktoren Mitkas Situation beeinflussen sollten.

Zahlreiche nationale Regierungen, insbesondere die der Vereinigten Staaten, Kanadas, Australiens und Neuseelands, aber auch andere, waren an den Vertriebenen interessiert, betrachteten sie jedoch als potenzielle Arbeitskräfte für ihre sich erholenden Volkswirtschaften. Niemand war erpicht darauf, Vertriebene aufzunehmen, die nicht für sich selbst sorgen konnten.112

Und:

Zwar erklärten sich einige Regierungen bereit, eine bestimmte Anzahl von Visa für unbegleitete Kinder zu erteilen, doch die Anzahl dieser Visa betrug nur Dutzende oder maximal Hunderte, und die Programme waren sehr sorgfältig konzipiert, um sicherzustellen, dass die Kinder den Staat so wenig wie möglich belasten würden.113

Die Leitung des Dorfes erkannte, dass es bei Mitka schwierig werden könnte, eine Erlaubnis für die Einwanderung nach Amerika zu erhalten. Wegen seiner Rolle bei dem Einbruch in das Quäker-Haus gab es kaum Bedenken. Alle waren davon überzeugt, dass Mitka einfach nur ein unreifer Mitläufer gewesen war und dass er sein Verhalten außerordentlich bereute.114 Es gab jedoch noch andere Aspekte im Leben und in der Erfahrung des Jungen, die Anlass zur Sorge gaben.

Schon während seiner gesamten Zeit im Dorf hatte es sich als schwierig erwiesen, Mitka das Lesen und Schreiben beizubringen, und dies stellte das größte Hindernis für die Erteilung eines Visums für die Übersiedlung in die Vereinigten Staaten dar. Alle, die mit ihm arbeiteten, waren sich einig, dass er über den nötigen Intellekt verfügte, um zu lernen, was erforderlich war. Aber zwei Faktoren hinderten ihn am Lernen. Das Dorf konnte trotz der heroischen Bemühungen seiner Leitung und seiner Mitarbeiter keinen kontinuierlichen, konsequenten und effektiven Unterricht anbieten. Das andere Hindernis war Mitka selbst.

Mitka besuchte den Unterricht, aber nur sporadisch. Einige Unterbrechungen waren nicht von ihm selbst verschuldet. Umstände wie seine Zeit im Piusheim und sein Besuch in Rotenburg unterbrachen seinen Schulbesuch ebenso wie der regelmäßige Wechsel der Lehrer.115 Aber Mitka wurde auch ein Meister im Schwänzen. Den regelmäßigen Gewissensbissen folgten wieder Phasen, in denen er die Schule mied. »Ich wusste, dass all diese Kinder an religiösen Feiertagen schulfrei hatten. Jedes Mal, wenn ein Feiertag anstand, war ich in dieser Religion. Meistens war ich katholisch, weil sie die meisten Feiertage hatten. Mr Deane [der Dorfleiter] hat das mitbekommen und mich zu sich gerufen und gesagt: ›Kalinski!‹« Hier schlägt Mitka mit der offenen Handfläche auf den Tisch. »›Entscheide dich!‹ Also habe ich ganz schnell nachgedacht und gesagt: ›Katholisch.‹ Und das war’s. Ich war katholisch – einfach so.« In Anbetracht seiner Geschichte, in der man ihn als Judenfresse bezeichnet hatte, und seiner Angst vor gelben Sternen ist es nicht verwunderlich, dass Mitka es vermied, sich mit dem Judentum zu identifizieren. Das sollte auch für den größten Teil seines Erwachsenenlebens so bleiben. Katholisch zu sein diente vorerst einem pragmatischen Zweck – er musste nicht zur Schule. Aber er hatte auch ein Händchen dafür, andere Ausreden als die Religion zu finden, um den Unterricht zu schwänzen.

Aber so schlecht Mitkas Voraussetzungen für eine formale Bildung waren, so gut waren sie im Blick auf eine praktische Berufsausbildung. Von Anfang an zeigte er, dass er für handwerkliche Arbeit geeignet war. Das war schließlich etwas, das er kannte. Eine Bemerkung, die er einem Betreuer gegenüber über seine Zeit bei den Dörrs machte, gibt Einblick in eine der vielen Paradoxien seiner Versklavung: Die Dörrs hätten ihn gezwungen, hart und gut zu arbeiten, und so »haben sie einen Menschen aus mir gemacht« 116.

Wiederholt bat Mitka darum, Aufgaben zu erhalten, die ihm zusagten, vor allem in der Landwirtschaft. Eine Zeit lang versuchten die Mitarbeiter des Dorfes, einen Garten anzulegen. Ältere Flüchtlinge hatten Schaufeln und andere landwirtschaftliche Geräte für die jugendlichen Gärtner beschafft. Mitka war einer derjenigen, die mitmachten und Spaß an der Arbeit hatten, aber irgendwann ging die Begeisterung für das Projekt verloren und der Garten wurde aufgegeben.

Vielversprechender war die Berufsausbildung der Organisation für Rehabilitation durch Ausbildung (ORT). Die ORT bot eine Ausbildung zum Schuster an. Für einen Jungen, der nie Schuhe getragen hatte, erwies sich dies als wenig geeignet. Wie Mitka sagte: »Was war das mit dieser Schusterei? Ich habe es nicht verstanden, diese kleinen Nägel in Schuhe zu hämmern.«

Ein anderes Ausbildungsangebot der ORT, das Maurerhandwerk, lag ihm dagegen sehr. Ziegel vermauern – »das gefiel mir und ich war gut darin. Ich war sehr gut darin.« Das Wichtigste war, dass er ein Handwerk erlernte, das gebraucht wurde. Der Erfolg im Maurerhandwerk hatte auch den Vorteil, dass er Mitka Selbstvertrauen vermittelte. Das brauchte er unbedingt, um voranzukommen, und es würde sich später im Leben auszahlen.

Die Mitarbeiter in Bad Aibling erkannten Mitkas Nachholbedarf an Selbstvertrauen. Als er ins Lager kam, weinte er oft; er wurde schon bei kleinen Provokationen wütend; er zeigte unverhältnismäßig viel Reue, wenn er sich danebenbenahm; er zog sich zurück, wenn er mit einer Situation nicht zurechtkam; er wirkte passiv, übermäßig schüchtern und ungewöhnlich sensibel, und in vielen sozialen Interaktionen kannte er kein angemessenes Verhalten. Da er seine Kindheit isoliert und ohne fürsorgliche Vorbilder verbracht hatte und ihm Schulbildung und Spielen mit anderen Kindern vorenthalten worden waren, verfügte er einfach nicht über altersgemäße soziale Fähigkeiten. Die Mitarbeiter erkannten seine melancholische Sehnsucht, weil man ihn oft sagen hörte: »Wenn ich nur einen älteren Bruder hätte.« 117

Das Kinderdorf war überzeugt von der Arbeit von Anna Freud in Großbritannien und wollte daher nach ihrem Vorbild psychiatrische Unterstützung für Kinder anbieten, die sich in einer schwierigen Situation befanden.118 Die vielleicht direkteste psychologische Hilfe für Mitka waren die Termine mit der Psychiaterin Dr. Renate Sprengel. Diese Besuche ermöglichten zumindest eine Einschätzung seiner psychologischen Bedürfnisse und dies half den Mitarbeitern, ihre Bemühungen besser auf Mitka abzustimmen.

Außerdem bemühten sich Natalie Kent und ihr Mann Oakie intensiv darum, Mitka zu erreichen und ihn in eine Reihe von »familienähnlichen Aktivitäten« einzubeziehen. Manchmal brachte sein Verhalten – oder besser gesagt, sein Fehlverhalten – ihre Bemühungen zum Scheitern. Zum Beispiel, als das Dorf eine Art Gutschein-Ökonomie einführte.119 Gedrucktes »Geld« gab Mitka und den anderen Kindern die Möglichkeit, im Supermarkt einzukaufen und sich Privilegien zu verdienen.

Mitka erinnert sich: »Normalerweise konnte ich nicht mit auf Ausflüge, weil ich es mir nicht verdient hatte.« Dann glitzern seine Augen. »Ich erinnere mich an dieses Picknick. Ich konnte nicht mit, weil ich es mir nicht verdient hatte. Aber ich habe einen Weg gefunden. Kennst du diese Militärkarren mit Dreiviertelverkleidung? Ich habe mich unter die Sitzbank eines solchen Wagens geschlichen, um an einem Picknick teilzunehmen.« Er lacht mit einer Mischung aus Selbstgefälligkeit und Grimm. »Sie hatten gerade genug zu essen für die Kinder und ich glaube, ich habe ein paar Probleme verursacht, als ich auftauchte.« Leise fügt er hinzu: »Bei diesem Picknick habe ich mein erstes Marshmallow gegessen.«

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Zwei Aktivitäten waren förderlich für Mitkas emotionales Wohl. Als geborener Sportler fand er in der Softball-Mannschaft ein Zuhause und als er im Sommer zum Mannschaftskapitän gewählt wurde, sah er sich in seinen Führungsqualitäten bestärkt. Wieder einmal war es jedoch die Musik, die eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung seines Selbstbewusstseins und seiner Durchsetzungsfähigkeit spielte. Diese Eigenschaften hatte er bei seiner Ankunft im Dorf schmerzlich vermissen lassen. Mitarbeiter besorgten ihm ein Akkordeon und eine Mundharmonika, und er brachte sich bei, sie zu spielen. Kathleen Regan bemerkte, dass er auch auf dem Klavier recht gut zurechtkam, aber am meisten Freude bereitete ihm die Quetschkommode, die er bei Talentshows und Tanzveranstaltungen spielte. Seit seinen Jahren auf einem Heuboden in Rotenburg, wo er Militärmärsche lernte, hatte er seine musikalische Begabung weiterentwickelt. Das Akkordeon war seine größte Freude und es gab ihm die Möglichkeit, zu glänzen.

Mitkas Talent war offensichtlich und die Mitarbeiter des Kinderdorfs baten einen der Flüchtlingsmitarbeiter, Herrn Jakobsen, der eine Polka-Band leitete, um eine Einschätzung, ob er für eine Karriere als Musiker geeignet sei. Herr Jakobsen war von dem Talent des Jungen so beeindruckt, dass er Mitka zusagte, weiter mit ihm zu arbeiten, wenn sie nach einer Umsiedelung irgendwo in erreichbarer Nähe voneinander wohnen würden. Selbst wenn dies nicht der Fall sein sollte, riet er Mitka, das Akkordeonspiel nicht aufzugeben. Er sei der Meinung, Mitka könne mit seiner Musik »große Zufriedenheit und Anerkennung« erlangen.120

In Bad Aibling wuchs Mitka auch körperlich. Am 3. März 1949, kurz nach seiner Ankunft in Hanau, wurde seine Größe mit 155 Zentimetern gemessen; er wog 51 Kilo. Zwanzig Monate später, am 2. November 1950, wurde er erneut gemessen. Er hatte 13 Kilo zugenommen und war mindestens zehn Zentimeter größer geworden. Die Schultern des nun 1,70 Meter großen und fast 65 Kilo schweren Jungen waren breiter geworden, er hielt den Kopf hoch und kämmte sein kräftiges schwarzes Haar in einem Stil, der Bilder von Elvis in der Mitte der 1950er-Jahre vorwegnahm.121

Während der letzten Monate in Deutschland hatten der Leiter des Kinderdorfs, Douglas Deane, die Sozialarbeiterin Lukie Wijsmuller, die AFSC-Mitarbeiterinnen Kathleen Regan und Natalie und Oakie Kent, die Psychiaterin Dr. Renate Sprengel, Dr. Margaret Hasselmann und die Organisatorin des Teams, Emmy Lefson, sich gemeinsam bemüht, Mitka darauf vorzubereiten, die Standards für eine Umsiedelung zu erfüllen. Sie taten dies allerdings mit einer nur geringen Gewissheit, dass es sich auszahlen würde.

Diese Zweifel waren nicht unbegründet. Am 26. September 1950 schrieb Theodora Allen, die europäische Vertreterin des US Committee for the Care of European Children, an Direktor Deane und Lukie Wijsmuller. Darin lobte sie die Fortschritte, die Mitka seit ihrem Gespräch mit ihm zwei Monate zuvor gemacht hatte. Dennoch schien sie nicht davon überzeugt zu sein, dass er ein guter Kandidat für die Einwanderung nach Amerika sei. Hier sind ihre Eindrücke von Mitka:

Als ich ihn sah, hielt ich ihn für einen ziemlich gestörten Jungen, und angesichts seines Verhaltens fragte ich mich, ob es für eine Agentur in den USA möglich wäre, ihn wirklich zu erreichen. Ich fragte mich auch, ob er von einem völligen Umgebungswechsel in ein Land profitieren würde, in dem Wettbewerbsfaktoren … eine größere Rolle spielen und sich positiv oder negativ auf die soziale und emotionale Sicherheit eines Menschen auswirken können. Zu der Zeit, als ich Dimitri sah, zeigte er sehr ausgeprägtes infantiles Verhalten und große Schwierigkeiten, mit Fremden wie mir in Kontakt zu treten. Seine Unfähigkeit zu kommunizieren schien mir symptomatisch zu sein für eine Interaktionsstörung, die in seinem Alter sehr schwer zu behandeln sein dürfte.122

Die Menschen, die Mitka kannten, wussten, dass diese Beobachtungen zutrafen. In Theodora Allens Brief folgen eine Reihe von Fragen:

Es würde uns sehr interessieren, ob Dr. Sprengel weiterhin therapeutische Gespräche mit Dimitri führt. Ist Dimitri in der Lage, Gefühle auszudrücken und ganz offen über seine Wünsche zu sprechen? Empfiehlt Dr. Sprengel ihm weitere therapeutische Gespräche? Wenn ja, was erwartet sie, was dadurch erreicht werden könnte? Dem Bericht zufolge zeigt Dimitri mehr Interesse an der Schule. Wir wüssten gern, in welcher Klasse er derzeit eingestuft ist und welche beruflichen Interessen er hat. Werden ihm im Kinderdorf bestimmte Arbeitsaufgaben übertragen? Wie reagiert er darauf? Wie verhält er sich gegenüber seinen Hauseltern?

Der Brief endet dann wie folgt:

Wir senden den Bericht von Dr. Sprengel zusammen mit dem Sozialreport von Frau Wijsmuller an unser New Yorker Büro. Ich habe die Zusicherung, für die wir Dimitri nominiert haben, nicht zurückgezogen, aber wir müssen die formelle Genehmigung des Katholischen Flüchtlingskomitees einholen, bevor wir ihn in die Planungen einbeziehen können. Halten Sie es für möglich, eine psychometrische Untersuchung durchzuführen … um mehr über seine natürliche Intelligenz zu erfahren?

Am Ende des Briefes hatte Emmy Lefson eine handschriftliche Notiz an Lukie Wijsmuller angefügt: »Miss W. Lassen Sie uns das mit Frau Dr. Sprengel besprechen, wenn sie kommt. E. S. L.«

Es ist nicht bekannt, welche Gespräche innerhalb des Teams stattgefunden haben, aber das Schreiben einer einflussreichen Stelle hatte Aufmerksamkeit erregt. Theodora Allen hatte ihren Standpunkt dargelegt. Es war klar, dass die Genehmigung für die Einwanderung von Mitka noch nicht erfolgt war – und vielleicht auch nie erfolgen würde. Außerdem schien sie bestimmte Bedingungen zu nennen, bevor er »in die Planungen einbezogen« werden würde.

Aktionen und interne Vermerke der Dorfleitung deuten darauf hin, dass eine Strategie für Mitka entwickelt wurde. Der Plan, der sich herauskristallisierte, hatte mehrere Elemente: direkte Antworten auf Allens explizite Fragen vermeiden; alles Positive in Mitkas Entwicklung kommunizieren; weiterhin in breiten, enthusiastischen Allgemeinplätzen die besten Argumente für ihn vorbringen; mit realistischen Erwartungen hart daran arbeiten, ihn auf die Umsiedlung vorbereiten und hoffen und beten, dass sie ihn über die Ziellinie bringen können.

Es ist zweifelhaft, ob Mitka in seiner Zeit im Dorf das Lesen und Schreiben jemals »ausreichend« beherrschte, um einem akzeptablen Standard zu entsprechen. Wahrscheinlicher ist, dass die Mitarbeiter seine Lese- und Schreibfähigkeiten ein bisschen »frisiert« haben – nur ein wenig. Lefson beispielsweise verfasste mit Unterstützung von Deane eine kurze Notiz, in der es hieß: »Er hatte einen speziellen Tutor … [und] wir freuen uns, berichten zu können, dass der Junge sehr gut reagiert hat und in nur sechs Wochen so weit sein wird, dass er berücksichtigt werden kann.« 123 In einem zweiten Vermerk, der ebenfalls von Miss Lefson verfasst wurde, heißt es: »Seine Lehrer berichten, dass er keineswegs unverständig ist, sondern durchaus lesen und schreiben kann.« Als schließlich die Zeit knapp wurde und die wenigen verbliebenen Kinder untergebracht werden mussten, verlagerten sich die Argumente zu Mitkas Gunsten von der Lese- und Schreibfähigkeit auf seinen grundsätzlich guten Charakter, der seine schulischen Leistungen überragte. Diese Argumente, so scheint es, haben gewirkt.124

Seit seinem vierten Lebensjahr hatte der Waisenjunge Mitka als Spielball der Willkür anderer gelebt. Er überlebte Bombenangriffe, Wälder, Beinaheexekutionen, Viehwaggons und Lager, Versklavung und Schläge, Hunger und Kälte. Ob durch reinen Willen oder durch Gnade oder eine Kombination aus beidem – er überlebte alles und wählte das Leben.

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Während seiner Zeit im Kinderdorf wurde er Demitro genannt. Bei seiner Ankunft nannte ihn einmal jemand Mitka. Als er diese Geschichte erzählt, richtet Mitka sich kerzengerade auf, er hält sich mit seinen muskulösen Händen an der Tischkante fest, und seine Stimme wird eindringlich und klar: »Nicht Demitro – ich kenne diesen Demitro nicht. Aber Mitka – dieser Name … irgendwie habe ich ihn gehört und wusste es einfach.«

Als er sich in Bad Aibling an seinen Namen erinnerte, als er ihn hörte und spürte, dass er zu ihm gehörte, dass er ihn als Individuum auszeichnete, da wusste er, dass er die Macht hatte zu wählen. Und er hatte ein Aha-Erlebnis. Mitka erkannte: »Ich bin frei!«

Es würde weitere derartige Aha-Erlebnisse geben. Aber im Moment genügte es, dass er sich für Amerika entschieden hatte und dass seine Wahl von denen, die die Autorität hatten, ihm den ersehnten Anfang zu ermöglichen, bestätigt worden war. Die Fantasie, die er in jedem amerikanischen Film so anschaulich vor sich gesehen hatte, könnte … ja, sie könnte wahr werden.

Anders als diejenigen, die Mitka liebevoll geholfen hatten, die Traumata und Rückschläge seiner Kindheit zu überwinden, ahnte er nicht, dass er schlecht gerüstet war, um allein in eine neue Welt aufzubrechen. Am Mittwoch, den 3. Januar 1951, verließ Mitka Bad Aibling in Richtung München. Er glaubte, er sei bereit.

Mitka Kalinski hatte Martin und die Schmach eines zugewiesenen Namens in den Dreck Deutschlands geworfen und war dabei, ein Flugzeug zu besteigen, um in die USA zu fliegen.