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Amerika

Die Bronx, Februar 1951–1952

Das Flugzeug präsentierte sich auf der Rollbahn vor Mitka wie eine leuchtende Vision – ein Traum, in den er eintreten würde, wenn er die Treppe hinaufstieg und in die hohle, geflügelte Silberröhre eintrat. Er hatte schon Flugzeuge am Himmel gesehen, sogar einen Absturz hatte er erlebt. Aber bis zu diesem Tag war er nur zu Fuß, in Lastwagen, Zügen, Pferdewagen und in einem Jeep gereist. Jetzt war er zum ersten Mal im Begriff, ein Flugzeug zu besteigen, das ihm mehr magisch als real erschien.

Mitka war aufgeregt und ängstlich zugleich. Es war ein kleiner Trost, dass er andere in der Schlange kannte, darunter Mama und Papa Bonderowska, Hauseltern aus dem Kinderdorf in Bad Aibling.125 Er wagte es nicht, seine Angst zu zeigen, obwohl er das Gefühl hatte, seine Brust könnte jeden Moment zerspringen. Er erreichte die oberste Stufe und erhaschte einen Blick auf den Boden unter sich, als er durch die Tür trat. Er folgte den anderen den Gang entlang, suchte sich eine Reihe aus und ließ sich an einem kleinen Fenster nieder, ohne zu wissen, ob er das Richtige tat. Er versuchte, es sich bequem zu machen. Ein vergeblicher Versuch.

Als Mitka das Flugzeug nach New York City bestieg, hatte er keine Ahnung, dass alles, was für ihn so neu war, es für die meisten anderen auch war. Transatlantische Passagierflüge waren ein relativ neues Phänomen in der sich schnell entwickelnden kommerziellen Luftfahrtbranche.

Er schaute aus dem Fenster und sah nichts als Dunkelheit, bis auf einen faszinierenden Anblick: Unter ihm erschien »eine Eisfläche«. Die endlose weiße Fläche blendete ihn.

Wenn es um seinen ersten Flug geht, beschreibt Mitka vor allem seine Befürchtungen. Aus dem Himmel zu fallen und auf der Erde zu landen, schien zwar unmöglich … aber es machte ihm dennoch Angst. Als das Flugzeug im Sinkflug für die Landung war, dachte Mitka, seine schlimmste Befürchtung – ein Absturz – würde wahr. Die Turbulenzen schienen sie zu bestätigen. Schon während des Fluges hatte er einige Turbulenzen erlebt. »Ich habe in eine Tüte gekotzt, wie alle um mich herum auch«, sagt er.

Mitkas Ängste beschränkten sich nicht auf das Fliegen. Das Unbekannte, das ihn erwartete, lauerte bedrohlich in seinen Gedanken. Der Flug über den Atlantik in ein Land, das Mitka nur aus Filmen, von amerikanischen GIs und von den Quäkern in Bad Aibling kannte, war ein Symbol dafür, dass er sein früheres Leben hinter sich ließ. Doch als das Fahrwerk ausfuhr und dann den Boden berührte, wurde das Symbol zur Realität.

Der etwa fünfzehnjährige Junge, der an jenem kalten Januarmorgen aus dem Flugzeug stieg, verfügte über ungewöhnliche körperliche Kraft, auffallende Attraktivität, schelmischen Humor und Charme. Da ihm das fehlte, was er so dringend brauchte – die Reife –, glaubte er, wie Jugendliche das eben tun, dass er die Welt zu seinem Vorteil verändern könnte. Unbeirrt und frohen Mutes verließ er das Flugzeug und stürzte sich voller Tatendrang ins Getümmel. Monatelang hatte er sich ein mythisches Amerika mit »Cowboys und Indianern«, John Wayne und einer Freiheit, die er nie gekannt hatte, ausgemalt. Ein Flügel und ein Gebet – Gebete der Quäker, die sich um ihn sorgten – trugen ihn in sein neues Land.

Hätte Mitka gewusst, dass er einer von 160 Millionen Menschen in den Vereinigten Staaten von Amerika war, wäre seine erwartungsvolle, unbekümmerte Haltung vielleicht ins Wanken geraten. Aber zumindest im Moment war er nicht überwältigt. Er war sich der Herausforderungen bewusst, aber zuversichtlich, dass er sie bewältigen würde, so wie er es in Bad Aibling getan hatte. Die ukrainische Sprache hatte er längst vergessen und seine jiddischen Sprachkenntnisse reduzierten sich von Tag zu Tag mehr auf ein paar unvergessliche und nützliche Sätze. Er kannte ein paar amerikanische Ausdrücke, ansonsten sprach er kein Englisch. Er sprach – wenn auch nicht fließend, so doch wenigstens passabel – einen hessischen Dialekt des Deutschen, der selbst für Deutsche schwer zu verstehen war. Dass er die Sprache von Amerikas verhasstem Feind sprach, war nicht hilfreich. Seine Sprache und sein Akzent waren nicht gerade beliebt. Die Tatsache, dass er kein Englisch sprechen konnte, hatte jedoch einen Vorteil. Es verschaffte ihm Zeit, eine seiner größten Schwächen zu verbergen: Er konnte weder lesen noch schreiben.

Abgesehen von Mitkas Sprachschwierigkeiten gab es eine ganze Reihe kleiner, aber wichtiger Dinge, die ihm fremd waren. Gewohnheiten und kulturelle Normen, die selbst für Nicht-Englisch-Sprecher in seinem Alter zu unbewussten Verhaltensweisen geworden waren, waren ihm völlig fremd. Wissenschaftler, die sich mit der frühkindlichen Entwicklung befassen, beschreiben den Prozess der Sozialisierung, der mit der Geburt beginnt und sich danach ganz natürlich durch die Beziehungen zu Eltern, Geschwistern, Verwandten, Spielkameraden, Lehrern und die Interaktion mit der Umwelt des Kindes weiterentwickelt. Selbst wenn man Mitkas Sozialisation als unzureichend bezeichnen wollte, trifft das die Sache kaum.

Die Betreuer und Sozialarbeiter in Bad Aibling hatten unter schwierigen Umständen alles Mögliche getan, um Mitkas Reifung zu beschleunigen, aber als er sie verließ, wussten sie, dass er weit weniger auf das vorbereitet war, was auf ihn zukam, als sie es sich gewünscht hätten. In den fast zwei Jahren, die er im Kinderdorf verbracht hatte, wurde er zwar reifer, aber nach Aussage des Personals war er kaum sozialisiert gewesen, als er unter ihre Obhut und Vormundschaft kam, sondern verhielt sich eher wie ein Kleinkind. Zwei turbulente Jahre lang versuchte er aufzuholen, aber seine Entwicklung entsprach nicht seinem Alter.

Da die einzigen verfügbaren Aufzeichnungen Mitkas Geburt auf den 14. Dezember 1932 datieren, war er laut seiner Unterlagen 18 Jahre alt, was eine gewisse Reife erwarten ließ, die ihm allerdings durch die Umstände verwehrt wurde. Aber er hatte nicht vor, dieser Annahme bezüglich seines Alters zu widersprechen. Wenn er als Achtzehnjähriger akzeptiert wurde, dann sollte es eben so sein. Er nahm das ihm zugewiesene Alter nicht nur an, er machte es sich zu eigen. Ganz intuitiv verstand er die Vorteile, die sich für ihn daraus ergaben, dass er jetzt 18 war – vor allem den, dass er nun für sich selbst verantwortlich war. Diese Freiheit trieb ihn an, auch wenn ihm die Fähigkeiten fehlten, gut damit umzugehen.

Seinen ersten Morgen in den Vereinigten Staaten verbrachte Mitka in einer Synagoge im Hunts-Point-Viertel im Süden der Bronx. Er erinnert sich an die Adresse: Bryant Street.

Aus den Aufzeichnungen geht hervor, dass es in der Bryant Street 718 tatsächlich eine Synagoge gab, die bis 1953 »Schild Davids« hieß. Das vierstöckige, mit Stuck verzierte Haus verfügte im ersten Stock über einen Saal für die orthodoxe Gemeinde, die einmal 700 Mitglieder zählte; in den anderen Stockwerken befanden sich Schlafsäle und Speisesäle für das Mädchenwaisenheim, das die Gemeinde betrieb. Heute ist die einstige Synagoge eine öffentliche Schule.126 Diese Synagoge war wahrscheinlich der Ort, an dem Mitka aufgenommen wurde, auch wenn das nicht bestätigt werden kann. Damals gab es vier Synagogen in der Bryant Street, aber Mitka erinnert sich an ein Detail, das die Suche einschränkt. »Von der Synagoge aus konnte man das Wasser sehen.«

Noch am selben Morgen, an dem er – mit dem Bus, wie er meint – in der Synagoge ankam, ging Mitka zur Arbeit. »Hausarbeit … ihr wisst schon … Küche putzen, Kartoffeln schälen, das Auto des Direktors waschen … solche Sachen. Ich habe ein Bild, auf dem ich das Auto wasche.« Die nächsten Worte klingen zunächst leicht verstimmt, bis sie sich in Einverständnis mit dem auflösen, was – jetzt im Nachhinein betrachtet – ungerecht erscheint. »Ich habe zwölf Stunden lang gearbeitet, bevor ich bezahlt wurde. Dann waren es zehn Cent pro Stunde.«

Sein eigenes Geld zu verdienen, war jedoch Mitkas ganzer Stolz. Auf den Straßen der Bronx kaufte er seinen ersten Clark Bar – einen Schokoriegel. »Ich hatte etwas Geld – vielleicht fünf Dollar – und gab es der Dame. Und ich dachte wohl, sie würde mir etwas zurückgeben, aber sie behielt es! Junge, war ich ein Trottel – diese Riegel kosteten damals etwa fünf Cent, vielleicht zehn. Und dieser hier hat mich etwa fünf Dollar gekostet, aber was wusste ich schon.« Auf die Frage, ob der Riegel gut war, antwortet Mitka mit einem breiten Lächeln und einem Augenzwinkern: »Oh ja.« Und dann: »Ich habe hier hinten welche« – er geht in die Küche und kommt mit einer übergroßen Schachtel Clark-Riegel zurück, nimmt einen heraus, packt ihn aus und beißt grinsend ein Drittel des knusprigen, schokoladenüberzogenen Konfekts ab.

Einzelheiten im Blick darauf, wo er schlief und was er aß, sind Mitka gleichgültig, aber er berichtet von einem Schlafsaal und einem Speisesaal in der Synagoge. »Sie gaben uns zu essen, aber man musste zu bestimmten Zeiten dort sein.«

Mitka erwähnt auch die Gottesdienste in der Synagoge am Schabbat – dem siebten Tag der jüdischen Woche, einem Tag der Arbeitsruhe und Erholung. Im Mittelpunkt des Schabbats stehen zwei eng verwandte Gebote: das Gedenken (zakhor) und das Halten des Schabbat (schamor).

Es ist verständlich, dass Mitka versuchte, die Behandlung der Juden, die er aus erster Hand miterlebt hatte, zu vergessen oder sich jedenfalls nicht daran zu erinnern. Tatsächlich begann er, seine früheren Erfahrungen und seine Identität zu verbergen, wenn auch nur, indem er keine Informationen über sich selbst preisgab. Wahrscheinlich wurde er in einer Synagoge untergebracht, weil er Jude war, obwohl er diese Tatsache nicht anerkannte. In Deutschland hatte er die Lektion gelernt, dass sein Überleben davon abhing, dass er seine Identität verbarg. Was damals eine unbewusste Haltung gewesen sein mochte, setzte sich fort und verstärkte sich noch.

In 5. Mose 5,15 ermahnt Mose, als er den Israeliten die Zehn Gebote verkündet, sein Volk: »Denk daran, dass du selbst einmal Sklave in Ägypten warst und dass der Herr, dein Gott, dich mit großer Macht und gewaltigen Taten aus dem Land geführt hat. Deshalb hat dir der Herr, dein Gott, befohlen, den Sabbat zu halten.« In jenen Schabbatgottesdiensten in einem Saal unter seinem Schlafplatz wusste Mitka nicht, dass es am Schabbat unter anderem darum ging, sich daran zu erinnern, dass seine Vorfahren aus Ägypten in die Freiheit geführt wurden. Wie die Israeliten war auch er aus der Knechtschaft befreit worden. Als er die Stimme hörte, die ihm sagte: »Am Ende findest du dein Ziel«, war das für ihn ein Zeichen des göttlichen Eingreifens in sein Leben. Es war etwas, an das er sich erinnerte, ein Zeichen, dass seine Tage als Sklave nicht das Ende der Geschichte sein würden.

Noch etwas brachte Mitka bei diesen Schabbatgottesdiensten ins Nachdenken. Er hörte Gesänge auf Hebräisch, Gesänge, die ihm bekannt vorkamen. Woher kannte er diese Lieder? Die Melodien riefen verblasste Bilder in seinem Kopf wach und er erkannte auch die Worte wieder, obwohl er ihre Bedeutung nicht kannte. Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass ihn Lesungen aus der Thora und Gesänge verfolgten. Sie riefen eine unbestimmte Sehnsucht in ihm wach, von der er nicht sagen konnte, worauf sie sich eigentlich richtete.

In der Zwischenzeit hatte Mitka außerhalb der Synagoge Erfahrungen in der Stadt gemacht. Noch bevor die Worte über seine Lippen kommen, sieht man ihm die freudige Erwartung auf alles, was er entdeckte, an. Die Exkursionen, die er in Bad Aibling kennengelernt hatte, waren nichts im Vergleich dazu.

»Wir fuhren mit einem Shuttlebus zur Freiheitsstatue und zur Radio City Music Hall, um dort eine Show anzusehen.«

Es gab in der Tat viele Ausflüge, die seinen etwa dreimonatigen Aufenthalt in der Synagoge ausfüllten. Der YMCA mit seinem Schwimmbad weckte Erinnerungen an das Hundepaddeln in der Fulda. Das Schlittschuhlaufen auf der Freilufteisbahn des Rockefeller Centers weckte Erinnerungen an das Schlittschuhlaufen in Rotenburg. »Die Dörrs waren Trödelsammler und sie hatten ein paar dieser alten Schlittschuhe, die man mit einem Schlüssel an den Schuhen befestigen musste. Und die habe ich ausprobiert – aber Schlüssel funktionieren nicht so gut an diesen Holzschuhen.«

Und dann waren da noch Filme. Das amerikanische Kino hatte eine große Rolle dabei gespielt, Mitkas Vorstellung von Amerika zu beflügeln. Jetzt, in Amerika, entdeckte er, dass es überall Kinosäle gab. Und Filme ansehen, das konnte er stundenlang.

Ein Film machte besonderen Eindruck auf Mitka. Er hatte seinen Verdienst gespart und zahlte in einem Kino 25 Cent, um Die roten Schuhe zu sehen. Das britische Drama aus dem Jahr 1948 erzählt die Geschichte einer Ballerina, die sich einer Ballettkompanie anschließt und dann die Hauptrolle in der gleichnamigen Inszenierung des Films übernimmt. Die Handlung ist dramatisch, voller Leidenschaft und Liebe, die erfüllt, aber auch vereitelt wird. Aber das war für Mitka von geringem Interesse. Was ihm wichtig war: Bei diesem Film, wie bei so vielen anderen, hörte er Musik.

Für Mitka war das Hören von Musik immer ein Tor zum Lernen – wie man sie spielt, wie man zu ihr tanzt. Indem er deutschen Soldaten zuhörte, die im Takt der Militärmusik marschierten, brachte er sich selbst das Akkordeonspielen bei. Und indem er Tänze im Synagogensaal beobachtete, »lernte er einfach so, wie man tanzt … Tango … Walzer. Ich lernte es in meinem Kopf. Ich konnte es in einem Film sehen und es lernen. Ich spiele die Musik in meinem Kopf; dann kann ich es tun.«

Tanzen war genau das Richtige für Mitka. Er konnte sich im Takt mit seiner Partnerin bewegen, und er konnte ein Mädchen im Arm halten. Zum ersten Mal während seiner Erzählung zeigt sich hier – wenig überraschend – ein weiterer Wesenszug Mitkas: seine hellwache Libido. Er zeigt uns ein Foto von sich und einem anderen jungen Mann, die auf einer Parkbank sitzen, jeder den Arm um ein Mädchen gelegt, und erzählt uns die Geschichte dazu.

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Andere Abenteuer warteten in der New Yorker U-Bahn. Obwohl er nicht lesen konnte, stieg Mitka die Treppe hinunter – »Habt ihr die Treppe gesehen, die unter die Stadt führt?« – und bestieg den ersten Zug, der am Bahnsteig ankam. Schon während der Fahrt »begann ich, jede Haltestelle zu zählen, an der wir hielten. Ich dachte, so käme ich wieder an meinen Ausgangspunkt zurück.« An der siebten Haltestelle stieg er aus, lief ein wenig umher und stieg dann in einen anderen Zug.

»Eins, zwei, drei – ich habe bis sieben gezählt, aber die Abstände zwischen den Stopps schienen länger zu sein. Ich kam bis zur Endstation, aber ich war erst bei fünf.« Mitka klopft sich mit den Händen auf die Schenkel und beginnt zu lachen. »Ich wusste nicht, was eine Schnellbahn ist!«

Ein anderes Mal war er ins Kino und anschließend in eine Bar gegangen – eine Bar im ersten Stock, in der getanzt wurde. »Und ich traf diese Typen. Und ich schätze, ich habe versucht, mich ein bisschen aufzuspielen. Und sie sagten etwas zu mir. Ich bin mir nicht sicher, was – irgendetwas darüber, dass sie einen Piloten aus mir machen könnten. Und ich Ahnungsloser – ich stieg mit diesen Jungs in ein Auto. Ich saß auf dem Rücksitz. Wir fuhren über die Brücke und kamen in eine finstere Gegend, wo niemand zu sehen war. Und als wir ausstiegen« – hier reibt Mitka sich die Hände – »bin ich losgerannt. Und ich wette, ich hätte an diesem Tag die Olympischen Spiele gewinnen können, so schnell bin ich gerannt. Und ich hörte noch einen der Jungs etwas sagen wie: ›Hey, warum hast du ihn entkommen lassen?‹

Schließlich sah ich eine Polizeistation und rannte hin. Aber ich konnte kein Englisch und die Polizisten konnten kein Deutsch, also konnte ich ihnen nicht wirklich etwas sagen. Ich musste die Nacht auf dem Polizeirevier verbringen. Am nächsten Tag kam ein Polizist, der Deutsch sprach. Er fragte: ›Wo wohnen Sie?‹, aber ich konnte es ihm nicht sagen, weil ich die Adresse nicht genau kannte.«

Eine Idee schoss Mitka durch den Kopf. »Ich erinnerte mich daran, dass ich im Kino gewesen war und ich hatte einen Abriss der Eintrittskarte in der Tasche. Also habe ich dem Polizisten den Abriss gezeigt. Er sagte: ›Wenn ich Sie dahin zurückbringe, kommen Sie dann nach Hause?‹ Und ich sagte: ›Sicher.‹ Also brachten sie mich zu dem Kino und ich ging zurück in die Synagoge. Dafür bekam ich Ärger.« Und zufrieden fügt Mitka noch hinzu: »Wieder einmal hatte mir das Kino das Leben gerettet.«

Die Anprobe seines ersten eigenen Anzugs war für den gut aussehenden jungen Mann ein ganz besonderer Moment. Gut und recht elegant gekleidet zu sein, bestätigte ein wachsendes Selbstvertrauen in ihm – ein Gefühl, dass er es schaffen könnte, Amerikaner zu sein. »Ich sah ziemlich gut aus«, sagt er verschmitzt. »Könnt ihr das glauben?«

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Als Mitka im Januar 1951 in New York City ankam, war die Stimmung im Land optimistisch und positiv. Zwar waren die Vereinigten Staaten am 27. Juni 1950 in den Koreakrieg eingetreten, aber das Ende des Zweiten Weltkriegs hatte das Land mit Optimismus erfüllt. Der Babyboom hatte 1946 begonnen. Das GI-Gesetz wurde verabschiedet, das eine ganze Generation junger Männer aufs College schickte. Junge Familien wurden gegründet, Häuser in den Vorstädten gekauft und die Wirtschaft des Landes wuchs. Dieses Amerika prägte das Bild der 1950er-Jahre als eines glücklichen Jahrzehnts.

Aber es zieht sich auch ein dunkleres Thema durch die Geschichte. In den Schulen herrschte nach wie vor Rassentrennung, im gesamten Süden gab es entsprechende Gesetze und Bürgerrechte für Afroamerikaner waren praktisch nicht existent. Die Amerikaner fürchteten einen Atomangriff, Kommunisten im Land wurden als Bedrohung angesehen und der Kalte Krieg beherrschte die Außenpolitik. Im November 1953 wurde ein Waffenstillstand im Koreakrieg unterzeichnet, allerdings hatte der Krieg 33 651 Gefallene und 3 262 weitere Tote gekostet.127

Andere Ereignisse prägten diese Zeit. 1951 wurde das Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York eröffnet. Die israelische Knesset erklärte den 13. April zum Holocausttag. Vier Monate zuvor war die »Hexe von Buchenwald«, Ilse Koch, zu lebenslanger Haft verurteilt worden.128 Am 6. Oktober teilte Josef Stalin der Welt mit, dass die Sowjetunion über Atombomben verfüge. Am Ende des Jahres nahm die Draft-Eisenhower-Bewegung an Fahrt auf und drängte den zukünftigen Präsidenten Dwight D. Eisenhower, seine Parteizugehörigkeit zu erklären und für das Amt zu kandidieren.

Die neue Technologie des Fernsehens brachte die Varietéshow Arthur Godfrey and His Friends und die Seifenoper Search for Tomorrow in die Wohnzimmer der Amerikaner. Aber es war Lucille Ball, die die Nation mit der Sitcom I Love Lucy in ihren Bann zog, als die Sendung am 15. Oktober 1951 ausgestrahlt wurde. Mitka wusste von all dem allerdings wenig. Ihm genügte das Radio, weil es ihn mit der Musik verband. 1951 hörte Mitka wie der Großteil der Amerikaner Nat King Cole, Debbie Reynolds, Bing Crosby, Tony Bennett, Doris Day, Mario Lanza, Patti Page, Louis Armstrong, Rosemary Clooney, Frankie Lane, Perry Como und Dinah Shore und tanzte auch zu diesen Klängen. Meistens handelte es sich um »Wohlfühlmelodien, die die Stimmung im Amerika der Nachkriegszeit widerspiegelten« 129.

Die Stimmung in der Nation war in der Tat optimistisch und zuweilen übermütig. Dies entsprach auch Mitkas Gemütsverfassung. Nach etwa drei Monaten in der Bronx lockte ihn das Abenteuer und er machte sich auf den Weg zu seiner nächsten Station.