Der Umzug von New York nach Baltimore verlief für Mitka ohne besondere Zwischenfälle. Er wurde in ein Heim der Catholic Charities geschickt, weil »die Synagoge ziemlich überfüllt war. Ich vermute, sie haben wohl um Hilfe gebeten und mich dann in einen Bus nach Baltimore gesetzt«. Auch hier musste man sich an ein neues Bett gewöhnen und neue Bekanntschaften schließen, aber die Veränderung warf Mitka nicht aus der Bahn. Er hatte inzwischen eine optimistische Anpassungsfähigkeit entwickelt, die ihn jede neue Situation als willkommenes Abenteuer betrachten ließ. Das spürt man, wenn er erzählt: »In Baltimore traf ich Wasyl wieder. Ich hatte ihn seit Bad Aibling nicht mehr gesehen.« 130
Jim Libertini, der Leiter der Einrichtung von Catholic Charities, die vertriebene Kinder und Jugendliche aufnahm, nimmt in Mitkas Gedächtnis einen Ehrenplatz ein. Laut Mitka war Mr Libertini genau die Vaterfigur, die er zu dieser Zeit brauchte. Eine der unzähligen Aufgaben, die der ältere Mann übernahm, bestand darin, seine »Kinder« in ihre neue Welt einzuführen, indem er ihnen so schnell wie möglich einen Job verschaffte. »Mr Libertini war der Direktor des Heims. Er half mir, Arbeit zu finden. Das war seine Aufgabe. Und er ging mit mir zu einer Verwaltungsstelle, wo ich meine Sozialversicherungskarte bekam.«
Mitkas erste Arbeitsstelle war ein Knochenjob im Memorial Park in der East Thirty-Third Street. »Ich schlug mir mit einem Hammer auf den Finger und lernte, Worte zu sagen, die ihr nicht hören wollt.« Er blieb nicht lange dort auf dem Baseballfeld; als Nächstes arbeitete er in einer Metzgerei. »Ich musste den Laden putzen – nachts. Ich mochte Nachtarbeit nicht.«
Es hielt den jungen Mitka nie lange bei den zugewiesenen Jobs. Er grinst verlegen, als er davon spricht, und druckst ein wenig herum, mehr, weil es ihm offensichtlich peinlich ist, nicht, um uns bewusst zu belügen, bis er schließlich eine Erklärung dafür anbietet, warum das so war. Er verstand einfach die grundlegenden Anforderungen der Arbeit nicht, z. B., dass man am nächsten Tag wieder erscheinen musste. »Ich wurde bezahlt, und dann …« – er reibt sich die Hände wie in Vorfreude – »ging’s erst mal ins Kino.«
Arbeitsregeln, die für die meisten selbstverständlich waren, hatte Mitka niemand beigebracht. Dass er nun ein Arbeitnehmer war, dessen Chef bestimmte Erwartungen an ihn hatte, wollte sich ihm nicht einprägen. Und manchmal war seine wachsende Freiheit einfach zu verlockend. Mit der Zeit lernte er, dass seine neu gewonnene Freiheit auch Grenzen hatte. Versuch und Irrtum und vor allem Mr Libertini wurden seine Lehrer, die ihm auf die Sprünge halfen.
Zu seinem nächsten Job gelangte Mitka mit dem Bus, vom Catholic Charities Home quer durch die Stadt in den Westen von Baltimore. Mit Mr Libertinis Hilfe fand er Arbeit bei einem Jalousienhersteller in der Eastern Avenue. »Wenn ihr etwas über Jalousien wissen wollt, bin ich euer Mann.«
Allmählich hatte Mitka sich mit den Gepflogenheiten und Regeln, die für Arbeitnehmer galten, besser vertraut gemacht. An seinem ersten Tag »lernte ich die Raucherpause kennen. Alle verschwanden, um zu rauchen. Am nächsten Tag tauchte ich mit gerollten Zigaretten im Ärmel auf … Ich hab aber nie auf Lunge geraucht. In Bad Aibling haben alle geraucht – Pall Mall, Chesterfield, Old Gold, Lucky Strike. Ich bekam davon Kopfschmerzen. Aber ich wollte amerikanisch sein, also hatte ich immer Zigaretten dabei wie jeder andere auch.« Mitka hat auch diesen Job hingeschmissen. »Was wusste ich schon? Ich würde etwas Geld verdienen und dann einfach gehen.«
Ungefähr zu diesem Zeitpunkt stellt Mr Libertini Regeln für Mitka auf. Mitka wiederholt in strengem Tonfall die Gardinenpredigt des Heimleiters: »Das ist das letzte Mal, dass ich dir einen Job verschaffe. Du wirst mich noch kennenlernen, Junge. Du kannst nicht noch einen Job hinschmeißen.«
Zur Betonung, dass er die Botschaft verstanden hatte, schlägt Mitka auf den Tisch. »Er hat mir sozusagen die Angst vor Gott und vor dem Teufel eingeflößt. Und das hat gesessen. Ich habe meine Lektion gelernt.«
Als die Crown Cork and Seal Company (gegründet von William Painter, dem in Baltimore ansässigen Erfinder des Kronkorkens 131) Mitka einstellte, war dies die letzte Chance, dass Jim Libertini seinen widerspenstigen jungen Schützling auf die rechte Bahn bringen konnte.
»Und dort lernte ich Bill Shane kennen. Er war mein Boss. Er hatte zwar einen Chef über sich, aber er war mein Boss.« Es kam zu einem Gespräch.
»Und er sagte zu mir: ›Wie heißt du?‹«
»Demitri Kalinski.«
»Mist, Junge, so kann ich dich nicht nennen. Ich kenne jemanden, der aussieht wie du, der heißt Tim. Was dagegen, wenn ich dich Tim nenne?‹
Und Mitka sagte: »Okay.«
Er denkt an diesen besonderen Moment zurück und sagt: »Und das war’s. Das hat meinem Leben eine Art Siegel aufgesetzt. Niemand nannte mich jetzt mehr Jude, Roter oder Nazi. Ich hatte einen amerikanischen Namen. Ich war Tim.«
Mehr als alles andere bisher in Mitkas neuem Leben gaben ihm die Worte seines Chefs eine Chance, die er intuitiv verstand: In Amerika konnte er sich neu erfinden. Als er hörte: »Was dagegen, wenn ich dich Tim nenne?«, griff er sofort nach dieser Identität. Dieser sehr amerikanische Name – Tim – löschte seine Vergangenheit aus. Damit hatte er eine Schwelle zu seiner Zukunft überschritten. Von nun an würde er nicht mehr nur unter dem Namen Tim bekannt sein. Er würde tatsächlich Tim werden. Zumindest dachte er das in diesem Moment.
Seine Vergangenheit zu vergessen war nicht die Sache eines Augenblicks. Einerseits, weil Mitka nicht über seine Vergangenheit sprechen konnte, dazu fehlte ihm das Vokabular. Aber das trifft nicht den Kern der Sache. Er verspürte außerdem den Wunsch, ganz Amerikaner zu werden. Wie die Nation, in der er sich jetzt wiederfand, war er erfüllt von dem Mut und Optimismus eines Abenteurers, der mit jedem weiteren Schritt Neuland erobert. Aber er war auch sensibel, er hatte Antennen, die jede noch so subtile Nuance von Anerkennung oder Ablehnung wahrnahmen. Ganz selbstverständlich distanzierte er sich von den Spötteleien über seinen fremden Akzent und Namen. Tim würde sehr gut zurechtkommen. Niemand konnte ihm vorwerfen, was er nicht wusste. Es war an der Zeit, weiterzuziehen, und niemand musste ihn dazu drängen. Niemand fragte nach und er erzählte nichts. Amerika lag vor ihm. Es gab Mädchen, mit denen man tanzen, Filme, die man sehen, und Abenteuer, die man erleben konnte. Es war die Geburtsstunde von »Tim« – eine Zeit, in der es Geheimnisse zu verbergen und ein neues Selbst zu erwerben galt.
»Bill fragte mich, wo ich wohnte, und ich sagte: ›Highland Street.‹ Er sagte: ›Es gibt da eine Mrs McGovern, und sie hat ein Zimmer frei. Warum sprichst du nicht mit ihr?‹ Das tat ich und dann wohnte ich gleich um die Ecke von Bill und Rose Shane« in der East Monument Street. Bills Mutter und sein Stiefvater Harry wohnen ebenfalls in der Nähe.
Mitka beginnt zu lachen. »Und so zog ich zu Mrs McGovern in die Stripper Street.« Es gibt zwar eine Stricker Street in Baltimore, aber dem Jungen, der nicht Englisch sprach, blieb der Name Stripper Street hängen.
In Mrs McGoverns Pension bekam Mitka Mahlzeiten und ein spärlich eingerichtetes Zimmer. Was ihm wirklich gefiel, war der separate Eingang zu seinem Zimmer im obersten Stock. Er konnte kommen und gehen, wie er wollte, und das Essen war Hausmannskost, im Gegensatz zu dem faden Essen, an das er sich in den Einrichtungen gewöhnt hatte.
Tim Kalinski hatte einen neuen Job als Hersteller von Flaschenverschlüssen, einen Boss, der sich für ihn interessierte, und ein neues eigenes Zimmer.
»Bei Crown Cork ging ich um vier Uhr nachmittags zur Arbeit und arbeitete bis Mitternacht. Das hat mir gefallen, weil ich vor der Arbeit noch ins Kino gehen konnte.«
Mitka arbeitete an einem Arbeitsplatz neben Bill und bediente eine Maschine, die den Korken in Flaschenverschlüsse stanzte. Die Arbeit in der Wechselschicht hatte Vorteile. »Wenn ich um 12 Uhr Feierabend hatte, ging ich manchmal zu Fuß nach Hause, aber manchmal ging ich auch mit Bill und Rose Shane – sie arbeitete auch bei Crown Cork – in eine Bar. Und wir tranken ein Bier und aßen Krabbencracker. Habt ihr das schon mal gegessen? Wir haben ein paar Krabben zwischen Cracker gelegt. Oder ich ging, wenn ich Feierabend hatte, ins Kino. In der Eastern Avenue, durch die ich zur Arbeit ging, gab es etliche Kinos. Und es spielte keine Rolle, ob ich den Film gestern schon mal gesehen hatte. Ich habe ihn noch mal gesehen. Ich sage euch, ich könnte euch den ganzen Film von Anfang bis Ende erzählen … das ganze Ding. Damals kostete das Kino einen Vierteldollar – den ganzen Tag lang, einen Vierteldollar. Für zehn Dollar bekam man eine Menge Filme zu sehen.«
Von den Filmen, die Mitka während seiner Zeit in Baltimore gesehen hat, prägten sich einige besonders ein, vor allem aber Der Sieger mit John Wayne und Maureen O’Hara in den Hauptrollen. Die Geschichte eines amerikanischen Boxers im Ruhestand, der in sein irisches Geburtsdorf zurückkehrt und dort die Liebe findet, berührte Mitka wie kein anderer Film. Der Film unter der Regie von John Ford hatte alle Elemente einer großartigen Geschichte – Romantik, Tragödie, Kämpfe, Tod und Humor –, aber für Mitka ging es um mehr als bloße Unterhaltung, obwohl auch das eine Rolle spielte. Mitka gesteht ein, dass er John Wayne verehrt, aber die Wirkung des Films auf ihn war noch tiefer als nur die Begeisterung eines Fans. Er kann es nicht erklären und er versucht es auch nicht. Doch wenn er darüber spricht, wird seine tiefe Verbundenheit mit der Geschichte und mit John Wayne erkennbar. Wenn man Mitka zuhört, spürt man, dass John Wayne ihm eine Identität gegeben hat, an der er sich festhalten, die er nachahmen und für seinen Erfolg nutzen konnte.
Es gab noch andere Filme, die Mitka in Baltimore gesehen hat, und wie Der Sieger hat er auch sie unzählige Male gesehen. Samson und Delilah war ein Favorit, ebenso wie Mississippi-Melodie, Lullaby of Broadway, Ringo, Tarzan – Herr des Urwalds und Fünf Helden. Scaramouche, Der galante Marquis mit Stewart Granger und Janet Leigh steht bei Mitka ebenfalls hoch im Kurs, ebenso wie alle Errol-Flynn-Filme, wie Kim – Geheimdienst in Indien, Die Liebesabenteuer des Don Juan und Robin Hood – König der Vagabunden. Das Kino diente Mitka als Sprachunterricht. Hier hörte er gesprochenes Englisch, er begann, die Schauspieler zu imitieren und die gehörten Sätze zu wiederholen und träumte von dem Tag, an dem er seinen schweren osteuropäischen Akzent los sein würde.
Viele Lektionen über das Leben hat Mitka Bill Shane zu verdanken. Bill war es auch, der ihn zur Musterung brachte. »Ich habe mich untersuchen lassen. In meinem Wehrpass stand 1-A [Tauglich für den Militärdienst]. Wie ich den Test bestanden habe, weiß ich bis heute nicht. Ich bekam einen Anruf oder so etwas vom Selective Service (Musterungsbüro). Und ich ging hin und ließ mich für die Armee untersuchen. Und da war so ein Typ mit Papier und ich machte einen Test. Es waren 120 Fragen. Du musstest 50 Prozent davon richtig beantworten. Und ich habe 69 richtig beantwortet.« 132
Mitka lacht. »Ist das zu glauben? Also, ich spreche kein Englisch. Ich kann nicht lesen und schreiben, und ich habe den verdammten Test bestanden.« Er fährt fort: »Und ich bekam einen Pass, in dem stand, dass ich 1-A bin.«
Auf die Frage, warum er nicht zum Militärdienst einberufen wurde, antwortet er: »Ja, wie konnte das nur passieren? Ich weiß es nicht. Da müsst ihr die Idioten fragen, die damals in Washington am Ball waren.«
Eine weitere freundliche Geste von Bill hat Mitka nicht vergessen. »Bill – er hat mir einen großen Gefallen getan. Er bewahrte mein Geld auf und half mir, etwas über Geld zu lernen. Nach einer Weile nahm er mich mit in den Western Auto Store in der Eastern Avenue. Und weil ich ein Radio wollte, half er mir, einen Ratenkauf für einen Zenith-Radiowecker einzurichten. Ich wusste nicht, was ein Ratenkauf war, aber Bill half mir, ihn zu bekommen. Und oh, dieser Radiowecker war wunderschön. Er hatte all diese Knöpfe. Und wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, stellte ich ihn an. Die Lieder waren damals wunderschön. Johnny Ray und Nat King Cole und Patti Page und Mario Lanza. Und das Radio war so eingestellt, dass es sich ausschaltete, wenn ich einschlief.«
Das Radio, das Mitka kaufte, war für die damalige Zeit ein technisches Wunderwerk. »Man konnte eine Kaffeemaschine hinten anschließen – der Timer auf der Uhr schaltete den Kaffee und die Musik ein.« Mitka hat die Kaffeemaschine nie benutzt, aber der Stolz über den Besitz eines solchen Hightechprodukts steht ihm ins Gesicht geschrieben. »Ich konnte in mein Zimmer gehen und meinen Lieblingssender hören. Dieses Zenith-Radio habe ich immer noch.«
An freien Tagen hatte Mitka Zeit für sich. Da Bill Shane sich um seine Finanzen kümmerte, hatte er genug Geld in der Tasche, um ins Kino oder tanzen zu gehen und im White Coffee Pot zu essen. Wenn er nicht gerade bei Mrs McGovern oder Rose Shane aß, konnte man ihn im White Coffee Pot oder an einem der zahlreichen Essensstände auf der Straße antreffen.
Bei seinem ersten Besuch bei einem Imbisswagen in der Bronx sah er sich die ganze Auswahl an und wusste nicht, was er tun sollte; dass er nicht lesen konnte, war ein Problem. Der Imbissstand hatte jedoch Clark-Riegel im Angebot. Er zeigte auf einen Clark-Riegel und auf Bilder von einem Hotdog und einer 7UP-Zitronenlimonade. Das Problem war gelöst. Danach bestellte er jedes Mal, wenn er zu einem Straßenimbiss ging, dasselbe: einen Hotdog, eine 7UP und einen Clark-Riegel.
Im White Coffee Pot stieß er auf die gleiche Barriere. Mithilfe einer freundlichen Kellnerin gelang es ihm, eine Mahlzeit zu bestellen, die wiederum zu seiner Standardbestellung wurde. Während er aß, hörte er »I Went to Your Wedding« oder »The Tennessee Waltz« von Patti Page aus der Jukebox.
Indem er so tat, als wüsste er, was er nicht wusste, riskierte Mitka, dass sein Schwindel aufflog, aber das Ganze hatte auch eine heilsame Wirkung. In seinem eifrigen Bemühen, ein Amerikaner zu sein, lernte er mit jedem neuen Streifzug ins Unbekannte dazu.
Mitka fand auch noch andere Möglichkeiten, seine Zeit zu genießen. »Es gab dieses Boot, das einmal in der Woche auslief, immer samstags, und auf dem es Musik und Tanz gab. Also ging ich da hin und tanzte. Broadway und Eastern Avenue kreuzen sich. Ich bog links in den Broadway ein und ging zum Wasser. Immer zu diesem Song ›Shrimp boats is a-coming … dah, dah, dah, dah, dah, dah, dah.« Er summt die Melodie. »Das Lied hatte eine Walzermelodie. Immer, wenn ich daran denke, denke ich an das Boot und das Tanzen.« 133
Während er dies erzählt, bewegt er Arme und Beine im perfekten Rhythmus der Musik. Ein selbstbewusstes Lächeln huscht über sein Gesicht und seine Augen sprühen bei jedem neuen Takt. Tanzen war etwas, wobei er nichts vortäuschen und auch kein Wort Englisch sprechen musste.
»Ich blieb etwa drei Stunden, dann ging ich zurück und holte mir irgendwo auf der Straße einen Hamburger. So habe ich damals gegessen. Ich ging zu diesen Leuten auf der Straße und holte mir einen Hamburger oder einen Hotdog und eine 7UP … oh, und einen Clark-Riegel. In jenen Jahren war ich in die Welt verliebt.«