Seit Mitka als Teenager in New York angekommen war, war sein Leben voll von erstmaligen Erfahrungen. Eine dieser Premieren ereignete sich am Montag, den 14. Dezember 1953.
Da das tatsächliche Jahr und der Tag seiner Geburt unbekannt sind, wusste Mitka nicht, wie alt er war, und der Tag hatte für ihn keine wirkliche Bedeutung. Dennoch geschah an diesem vermeintlichen Geburtstag etwas, das er nie vergessen würde: Adrienne machte ihm ein Geburtstagsgeschenk. Es war das erste Mal, dass er ein Geschenk erhielt. Sie schenkte ihm einen Pullover.
Glaubt man Adrienne, dann war ihm die Situation peinlich und er reagierte mit einem albernen Grinsen. Er trug den Pullover. Er liebte den Pullover sogar. Aber er wusste nicht, wie er reagieren oder was er empfinden sollte.
Erst einen Monat zuvor hatte Mitka Adrienne geheiratet. Selbst das war nicht besonders bedeutsam gewesen. Es war eben ein weiteres Ereignis, das geschah. Er hatte keine wirkliche Vorstellung davon, was er getan hatte.
Mr und Mrs Tim Kalinski wohnten damals am Chipman Place 47. Das zweistöckige weiße Holzhaus stand auf einem schmalen Grundstück in einer Reihe mit ähnlichen Häusern dieser Art. Nur Einfahrten trennten die Häuser voneinander. Eine Betontreppe führte zur vorderen Veranda, die von einem Giebel überdacht war. Es war das Haus, in das Adrienne gezogen war, um sich um ihren Onkel Harry zu kümmern. Wie die anderen Häuser in diesem Arbeiterwohnviertel war es unauffällig, aber dennoch geräumig. Und es hatte eine besondere Bedeutung für Adrienne und, in geringerem Maße, für Mitka.
In diesem Haus begannen Tim und Adrienne ihre Ehe.
Wenn Mitka über sein Verhalten in dieser Zeit spricht, wird deutlich, dass er, so gut er eben konnte, Adriennes Führung folgte. Er stolperte mutig vorwärts im pflichtbewussten Glauben, das zu tun, was seiner Meinung nach erwartet wurde. Innerlich fühlte er sich jedoch »orientierungslos«.
»Ich war ein Niemand und ich hatte nichts«, sagt Mitka.
Bei den folgenden Worten weist er auf Adrienne: »Sie musste mir beibringen, wie man ›unser‹ sagt. Ich sagte immer ›dein‹, denn alles, was ich hatte, hatte ich ihr zu verdanken. Es war ihr Haus, ihre Familie. Sie sagte immer, es sei ›unser‹. Das kam mir falsch vor, denn es gehörte ihr.«
Mitkas Gefühl, ein »Niemand« zu sein, drängte sich oft in sein Leben. Er sehnte sich danach, sich das Recht zu verdienen, frei und unbefangen »unser« zu sagen. Mit der Zeit wurde ihm das Wort vertraut genug, um es auch zu verwenden, aber die Selbstzweifel blieben bestehen. Er verbarg diese Unsicherheit in derselben Gruft, in der er alle seine Geheimnisse aufbewahrte.
Im zweiten Jahr ihrer Ehe gab es ein bedeutendes Ereignis im Leben des Paares. Am 28. September 1954 wurde Tim und Adrienne Kalinski ihr Sohn Michael geboren. Mitka war jetzt Vater und ein junger Mann – 21 auf dem Papier, aber wahrscheinlich erst 19. Er spricht über seine Vaterschaft mit der für ihn typischen Offenheit. »Ich fühle mich schlecht, wenn ich das sage, aber es hat mir nichts bedeutet. Ich habe nichts gefühlt. ›Vater‹ – was wusste ich denn schon von einem ›Vater‹?«
Adrienne schaltet sich ein und verteidigt ihren Mann mit dem nachdrücklichen Hinweis, dass »er ein guter Vater war«. Zur Bekräftigung wiederholt sie es noch einmal: »Er war ein guter Vater.« Und um ihre Worte noch weiter zu unterstreichen, weist sie darauf hin, dass Mitka alles Mögliche für seine Kinder getan hat, was Mitka mit den Worten kommentiert: »Ich habe nur getan, was ich tun sollte.«
Gegen Ende desselben Jahres starb Harry. Adrienne erbte das Haus gemeinsam mit ihren »Schwestern« Verna und Hilda.144
»Ich habe Michael morgens immer zu Onkel Harry gebracht«, schildert Adrienne die Situation. »An diesem Tag sah ich nach Onkel Harry und nahm mir dann etwas Zeit, um Michael anzuziehen. Als ich mit dem Baby zurückkam, war Onkel Harry tot. Er saß immer am Fenster und hielt sein Ohr an das Radio, weil er taub war und das für ihn die einzige Möglichkeit war, das Radio zu hören. Er saß einfach da. Er ist ganz plötzlich und friedlich gestorben. Ich rief meinen Cousin Cal an und teilte ihm mit, dass Harry gestorben war. Ich wusste, er würde wissen, was zu tun war, denn er war Polizist.«
Cousin Cal kam auch bei einer anderen Gelegenheit seinen Verwandten zu Hilfe. Mitka erzählt uns die Geschichte.
»Ich hatte ein Auto gekauft, bevor ich fahren konnte – einen 47er Kaiser. Dann kaufte ich einen 49er Ford. Der war halb kaputt – Schalldämpfer und so –, aber ich habe ihn wieder zusammengebaut. Das war alles, bevor ich einen Führerschein hatte. Damals gab ich gern den großen Macker. Eines Tages fuhr ich mit dem Auto und beschloss, direkt vor einem Hydranten zu parken – genau dort, wo ›Parken verboten‹ stand. Und wisst ihr, warum ich das getan habe?« Er lacht und schlägt sich aufs Bein, wie er es oft tut, wenn er mit sich selbst zufrieden ist.
»Ich hatte diese Filme gesehen, in denen die Kerle immer eine große Nummer waren, und ich habe von ihnen gelernt. Ich dachte, die Polizei würde annehmen, dass jemand, der keinen Führerschein hat, ganz sicher nicht direkt vor einem Hydranten parken würde. Also dachte ich, ich sei sicher.«
Er schließt diese Erinnerung mit dem bekannten Refrain ab. »Ist das zu glauben? Aber damals dachte ich, ich könnte mit allem davonkommen.« In diesem Fall kam er tatsächlich ohne Bußgeldticket davon.
Die Heirat mit Adrienne half ihm zu erkennen, dass er nicht so unverwundbar war, wie er gedacht hatte.
Einmal, so erzählt er, »fuhr ich das Auto ihrer Schwester Verna und irgendwie rutschte mir – dumm, wie ich war – raus, dass ich keinen Führerschein hatte. Adrienne wurde so wütend auf mich. Ich weiß nicht, woher er es wusste, aber am nächsten Tag tauchte ihr Cousin Cal auf. Er war Polizist und sie sagte, er würde dafür sorgen, dass ich einen Führerschein kriege. Und so gingen wir zu der Stelle, wo sie die Fahrprüfung abnahmen. Und dieser Typ – wie nennt man ihn – ein Prüfer – kam mit diesem Papier auf einem Klemmbrett heraus. Das war die Prüfung, die man machen sollte.«
Wie angewiesen, setzte sich Mitka auf den Fahrersitz und ließ die Tür offen. Cal stand neben dem Wagen und sah Mitka über die Schulter. Der Prüfer saß auf dem Beifahrersitz.
»Jedes Mal, wenn der Typ mir eine Frage stellte, beugte sich Cal vor und zeigte auf das Blatt, und ich kreuzte die Antwort an. An diesem Tag habe ich meinen Führerschein gemacht.« Schnell fügt Mitka noch hinzu: »Wie ich meinen Führerschein bekommen habe, ist peinlich, aber ich habe ihn gehütet wie einen Schatz. Ich war so stolz darauf. Vom ersten Tag an bis heute hatte ich nie einen Unfall, nie einen Strafzettel für Falschparken oder zu schnelles Fahren – nichts.«
Mitka überlässt sich kurz seinem Stolz, dann wird er feierlich. »Und wisst ihr, wieso? Ich wollte nicht mit dem Gesetz in Konflikt kommen. Also war ich mehr als vorsichtig, wo ich parkte, wie schnell ich fuhr und all das Zeug. Ich war kein amerikanischer Staatsbürger und ich wollte nichts mit der Polizei zu tun haben.«
Mit einem gültigen Führerschein in der Hand gewann Mitka an Selbstachtung. Wie bei anderen Fahranfängern, die zum ersten Mal legal Auto fahren, war das eine große Sache. Aber für ihn war es viel mehr als der übliche Initiationsritus. Er fuhr jetzt ganz legal Auto, hatte einen Job und versuchte nach besten Kräften ein guter Vater zu sein – jede dieser Errungenschaften brachte ihn ein Stück weiter auf dem Weg dahin, Adrienne zu glauben, wenn sie darauf bestand, dass er »unser« statt »dein« sagen solle.
Adrienne und Mitka erinnern sich an glückliche Zeiten in ihrer frühen Ehe, aber es gab auch Herausforderungen. Die Eifersucht, die Mitka schon zu Beginn ihrer Beziehung an den Tag gelegt hatte, verschwand nicht, als sie heirateten.
»Er war immer eifersüchtig«, stellt Adrienne unverblümt fest. »Er ist mir immer gefolgt, wenn ich aus dem Haus gegangen bin. Selbst wenn ich mit Michael im Kinderwagen unterwegs war, lief Mitka hinter mir auf der anderen Straßenseite. Das hat mich immer so wütend gemacht. Ich meine, was hat er denn gedacht, was ich vorhätte? Ich gehe doch nur mit meinem drei Monate alten Sohn am helllichten Tag die Straße entlang!«
»Ich weiß nicht, warum ich das getan habe«, sagt Mitka. »Es hat sie wütend gemacht.«
Adrienne berichtet, dass sie Mitka ihre Meinung gesagt hat: »Ich bin vielleicht mit dir verheiratet, aber ich gehöre dir nicht.«
In einer Begebenheit zu Beginn ihrer Ehe zeigt sich Adriennes unabhängige Natur besonders eindrücklich. Sie hatten ein befreundetes Ehepaar zu sich nach Hause eingeladen, um Karten zu spielen. Die vier saßen um den Kartentisch herum, es wurden Getränke serviert und das Spiel begann. Plötzlich wurde der Spaß auf dramatische Weise unterbrochen.
Adrienne erzählt es. »Mitka hat geschummelt. Er saß nur da, lächelte und versteckte Karten unter dem Tisch.«
Ihre Reaktion war schnell und unwiderruflich. Sie stand auf, packte die Tischkante und kippte den Tisch um. Karten flogen herum, Getränke wurden verschüttet. Das Kartenspiel war vorbei.
Mitka schmunzelt bei der Erinnerung. Diese Geschichte hört er offensichtlich gern. Sein Lächeln wird breiter. »Das war das letzte Mal, dass ich mit ihr Karten gespielt habe«, sagt er.
Ohne mit der Wimper zu zucken, antwortet Adrienne: »Und das war das letzte Mal, dass du beim Kartenspiel geschummelt hast.«
Adrienne war kämpferisch und zäh, und es stellte sich heraus, dass sie genau das war, was Mitka brauchte. Sie sah niemanden – nicht einmal den Mann, den sie liebte – durch eine rosarote Brille. Hinter ihrer eisernen Entschlossenheit und ihrer kämpferischen Persönlichkeit verbarg sich eine andere Eigenschaft – eine einfühlsame Freundlichkeit –, die Mitka Raum zum Wachsen gab und seine Würde unangetastet ließ. In Adrienne war Mitka auf eine Goldmine aus Mutterwitz, grimmiger Entschlossenheit und Liebe gestoßen – eine Liebe, die vor allem unerschütterlich war, manchmal aber auch sentimental.
Tim und Adrienne Kalinski bildeten gewissermaßen ein Yin und Yang. Das drückte sich in ihren jeweiligen Vorlieben aus. Mitka mochte Schlager mit romantischen Texten und üppigen Orchesterarrangements; Adrienne stand mehr auf Rock’n’Roll. Er tanzte gern Walzer, sie war mehr für Swing. Er mochte knallharte Western, sie nicht. Alles in allem hat es funktioniert.
Von 1954 bis 1956 lebten Mitka und Adrienne im Haus von Onkel Harry. Es war eine Zeit des Aufbaus. Mitka arbeitete auf dem Bau. Der kleine Michael füllte Adriennes Tage aus.
Im Spätherbst 1955 wurde Adrienne zum zweiten Mal schwanger.
»Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, dass wir umziehen«, erläutert Mitka. »Ich wollte das nicht. Wir wohnten in dem Haus, das Onkel Harry ihr hinterlassen hatte. Und so wie ich mir das vorstellte, war es abbezahlt. Wenn wir keine Miete zahlten, hatten wir Geld für etwas anderes. Ich wollte ein Sunliner Cabrio kaufen. Habt ihr schon mal so eins gesehen? Oh, die sind fantastisch. Aber sie« – er deutet auf Adrienne – »hat sich in den Kopf gesetzt, dass sie ein Haus will.«
Das Cabrio für Mitka musste warten.
Jetzt fährt Adrienne fort. »Ich bin mit Michael spazieren gegangen und habe mir Häuser angesehen. Und manchmal ging ich zu Häusern, die zum Verkauf standen. Ich habe Pläne für ein Haus gezeichnet.«
Onkel Harry und Tante Nell waren kinderlos und so erbten nach Harrys Tod die »Schwestern« – Verna, Hilda und Adrienne, die Töchter und Großnichte von Mama und Papa Cook – das Anwesen zu gleichen Teilen. Da Adrienne und Mitka im Haus wohnten, lag es an ihr, zu entscheiden, wann und wie sie den Gewinn aus diesem Erbe realisieren würden. Im Herbst 1955 veranlasste Adrienne den Verkauf von Onkel Harrys und Tante Nells Haus; sie teilten den Gewinn mit Verna und Hilda und verwendeten den Rest für das nächste Kalinski-Vorhaben.
Mit Geld für die Anzahlung auf eine Hypothek in der Hand kaufte Adrienne ein Grundstück an der Beech Ridge Road am westlichen Rand der Ortschaft Pendleton in Niagara County. Sie arrangierte eine Baufinanzierung, fand einen Bauunternehmer und beobachtete voller Vorfreude, wie ihr Haus Gestalt annahm.
»Ich weiß nicht mehr, was wir als Anzahlung geleistet haben«, bemerkt Adrienne, »aber ich weiß, was wir jeden Monat für die Hypothek bezahlt haben.« Sie macht eine dramatische Pause und sagt dann voller Stolz: »Es waren 87 Dollar pro Monat.«
Pendleton, das im Osten an den Eriekanal und im Süden an den Tonawanda Creek grenzt, entsprach Adriennes Traum, auf dem Land zu leben und dennoch in der Nähe ihrer Verwandten in der Stadt zu sein. Pendleton ist eine landwirtschaftlich geprägte Gemeinde mit etwa 2 500 Einwohnern und liegt nur 15 Kilometer nordwestlich von North Tonawanda.
Sechs Monate nach Baubeginn zogen Mr und Mrs Kalinski im späten Frühjahr 1956 in ihr neues Haus an der Beech Ridge Road.
Am 13. Juli kam Jimmy, ihr zweites Kind, zur Welt.
Mitka und Adrienne sind immer noch am Flachsen über das Projekt. »Es war ein schönes Haus«, bekräftigt Mitka. Und Adrienne springt zu einer ihrer Lieblingserinnerungen: »Erzähl ihnen von der Hundehütte.«
Candy war das geliebte Haustier von Adrienne. Mitka war schon immer ein Tierliebhaber gewesen, und Candy und er freundeten sich sehr schnell an. So war es nur natürlich, dass er sich mit Begeisterung daranmachte, eine Hundehütte zu bauen.
»Ich habe also im Keller diese schöne Hundehütte für Candy gebaut und als ich fertig war, wollte ich sie in den Garten bringen.« Mitka schlägt sich an die Stirn und beginnt zu lachen. »Egal, wie ich sie drehte, ich bekam sie nicht durch die Tür. Schließlich musste ich das Dach abnehmen, um sie nach draußen zu kriegen. Es endete damit, dass ich dann das Dach mit Ziegeln gedeckt habe.«
Mitka sieht Adrienne an, sein Gesicht strahlt vor Zufriedenheit. Er weist auf seine Frau und sagt: »Sie hat den Keller wirklich schön hergerichtet. Wisst ihr, wie sie Keller aus Beton gießen? Sie formen sie mit diesen Metallpressen. Wenn sie die Presse lösen, sieht es aus, als wären es einzelne Blöcke. Nun, sie hat jeden Block angestrichen.«
»Ich habe alle Farbdosen aufgehoben, die sie beim Bau des Hauses verwendet haben«, setzt Adrienne fort, »und ich habe jeden Block in einer anderen Farbe gestrichen. Einer war grün, der nächste gelb, der nächste blau und so weiter. Es war sehr festlich.«
»Oh, dieser Keller«, sagt Mitka. »Wir haben da unten ein paar tolle Partys gefeiert. Es war ein großer Keller. An einem Ende waren der Warmwasserboiler und die Waschmaschine und der Trockner, aber der Rest des Kellers war für Partys reserviert.«
Von Beginn ihrer Ehe an kümmerte sich Adrienne um die Bezahlung der Rechnungen, die Verwaltung des Hauses und die Betreuung der wachsenden Familie. Mitka hingegen versuchte, und das gibt er bereitwillig zu, zu lernen, wie man ein Ehemann und Vater ist.
Dabei stieß auf einige Hindernisse auf dem Weg.
»Ich ging samstagabends immer in den Harold’s Club in der Oliver Street, um Mundharmonika zu spielen. Sie«, Adrienne, »musste mit mir reden und sagen: ›Tim, du bist jetzt Vater. Du kannst am Samstagabend nicht in Bars gehen.‹ Und sie hatte recht. Ich habe gelernt.«
Ohne einen Hauch von Groll sagt Mitka: »Was wusste ich schon? Ich wusste nicht, was es bedeutet, ein Vater zu sein. Aber ich bin nicht mehr hingegangen.«
Doch manchmal kochten die Gemüter hoch. Adrienne lacht, als sie wieder ein Beispiel nennt.
»Jimmy und Mike waren noch klein – vielleicht zwei und vier. Irgendeins von den Nachbarkindern war auch hier. Ich badete die Jungs und benutzte Babyshampoo in einer von diesen Sprühflaschen. Sie spielten und quietschten, wie es Kinder eben tun. Sie haben nicht geweint oder gekämpft, aber es war sehr laut. Mitka konnte es nie ertragen, wenn Kinder weinten, und ich schätze, ihr Gequietsche hörte sich so an. Ehe ich mich versah, stürmte er herein, stieß die Tür auf und riss mir die Shampooflasche aus der Hand.
Nun, das wollte ich nicht dulden, also bin ich hinterher, habe mir das Shampoo zurückgeholt und die Badezimmertür geschlossen und verriegelt. Das machte ihn richtig wütend und er kam mir nach, rannte die Tür ein und brach das Schloss auf. Ich stand an der Wand im Badezimmers und richtete die Düse der Shampooflasche auf ihn, als wollte ich ihn bespritzen.
Plötzlich sahen wir uns an und fingen beide an zu lachen. So war das bei uns. Wir wurden wütend, aber genauso schnell verflog die Wut auch wieder.«
Adrienne hatte reichlich Nerven. Sie gab nicht klein bei und das war genau das, was Mitka brauchte. Und er nahm es gut auf. Als sie das Kommando übernahm, war er erleichtert. Seine Liebe zu ihr wuchs und vertiefte sich. Und er wurde mit jedem Tag reifer.
Es gab jedoch einen Teil seines Lebens, den er nicht mit Adrienne teilen konnte, zumindest nicht auf direktem Wege. An manchen Tagen stieg die Angst vor seiner verborgenen Vergangenheit bis zur Panik in ihm auf. Mitka hatte ständig Angst, dass man entdecken würde, was er war und was er nicht war. Seine größte Furcht war die, dass Adrienne ihn verlassen würde, wenn sie den Mann hinter der Fassade kennen würde, und dass er dann wieder allein wäre.
Eine gute Gabe hat Mitka jedoch nie verlassen. Seit seiner Kindheit war die Musik seine Zuflucht, sie gab ihm ein Gefühl der Befreiung. Und in der Tat bot ihm die Musik eine Möglichkeit, seine Gefühle für Adrienne zu verstehen. »Ich habe mich durch die Musik in sie verliebt. Ich hatte einen eigenen Song für sie. Es war ›Domino‹.«
Das Lied wurde 1951 von mehreren populären Sängern der damaligen Zeit aufgenommen, aber Mitka gefiel der Hit von Tony Martin am besten. Er lernte die Melodie und liebte es, im Walzertakt zu dem Auf und Ab zu tanzen, das vom Orchester gespielt wurde.
Aber mehr als die Musik war es der Text von »Domino«, der Mitkas Gefühlen Ausdruck verlieh. Der Songschreiber hatte die Worte gefunden, die er nicht finden konnte – Worte, die seine Ängste und seine Sehnsüchte widerspiegelten, Worte, die er seiner Braut sagen wollte. »Domino, Domino, du bist ein Engel, den mir der Himmel geschickt hat«, beginnt der Song. »Meine ganze Welt füllt sich mit Musik, wenn ich dich in den Armen halte.« Der Sprecher bringt zum Ausdruck, dass diese Frau sein Ein und Alles ist, aber er fürchtet, sie an einen anderen zu verlieren und allein zu bleiben. »Domino, Domino, willst du mir nicht sagen, dass du mich nie verlassen wirst?«
Mit der Heirat und der Vaterschaft erlebte Mitka eine weitere Veränderung. Er wusste nicht, wie man ein Vater ist, aber er wusste, wie man arbeitet.
Die Arbeit auf dem Bau war für Mitka wie geschaffen. Er mochte diese Arbeit und kam mit ihren Anforderungen gut zurecht. Als Hilfsarbeiter auf Baustellen brauchte er nur Anweisungen zu befolgen. Vor allem brauchte er nicht zu lesen.
Seine Verbindung zum Baugewerbe leitet er bis in seine Zeit in Birkenau zurück. Dort hatte er bei der Herstellung von Ziegeln geholfen, die, wie er befürchtet, für die Öfen zur Massenverbrennung von Menschen verwendet wurden. Später, in Bad Aibling, hatte er das Maurerhandwerk gelernt. Das Schicksal wollte es, dass seine frühe Ausbildung als Maurer eine Fähigkeit war, auf die er später zurückgreifen sollte.
In New York, als er unter Elmer Nobilio gearbeitet hatte, war es für Mitka gut gelaufen. Aber nun war er verheiratet und hatte zwei Kinder, und die Arbeit bekam einen anderen Stellenwert. Er war nicht länger ein sorgloser Junggeselle, der arbeitete, um Geld für Filme und Tanzveranstaltungen zu verdienen. Er hatte nun eine Familie zu ernähren.
Schon bald bot sich die Gelegenheit, eine neue Stelle anzutreten, die mehr Verdienstmöglichkeiten zu bieten schien.
»Als ich bei Elmer arbeitete, verwendeten wir diese Stahlträger. Und dieser Typ sagte: ›Ich wette, Sie können diese Träger nicht allein bewegen.‹ Also …« Mitka lächelt, reibt sich die Hände und fährt fort: »Schaut mir einfach zu. Ich habe zuerst ein Ende genommen und es auf einige Klötze gelegt, dann habe ich das andere Ende genommen und es seitlich verschoben. Dann nahm ich das Ende von den Klötzen und schob den ganzen Träger hinüber. Und da war dieser Typ, der mich beobachtete. Und er sagte: ›Ich zahle dir 15 Cent mehr pro Stunde, wenn du bei mir arbeitest.‹ Also fing ich bei den Maurern an und arbeitete für Dick und Al Hoefer. Ist das zu glauben? Ich habe diesen neuen Job für 15 Cent mehr pro Stunde angenommen.«
Einmal mehr erfüllte die Arbeit Mitka. Sie gab ihm einen Sinn und die Möglichkeit, seine Fähigkeiten zu beweisen. Das Geld war zwar nicht üppig, reichte aber für die junge Familie. Die Dinge änderten sich jedoch, als sich die Geschäftsmöglichkeiten des Unternehmens in einer Weise erweiterten, die Mitkas immer vorhandene Angst wieder zutage förderten.
»Dick und Al Hoefer bekamen einige Aufträge für Arbeiten auf der anderen Seite des Flusses – in Kanada. Und um dorthin zu kommen, hätte ich über die Brücke gehen müssen. Und das wollte ich nicht, weil man dabei die Grenzposten passieren musste, und sie fragten einen: ›Wo sind Sie geboren?‹ Was hätte ich darauf antworten sollen? Ich kannte nicht einmal selbst die Antwort. Was wäre, wenn sie herausfinden würden, dass ich kein US-Staatsbürger bin und mich zurückschicken würden? Was würde dann passieren?«
Zum Glück für Mitka ergab sich eine andere Arbeitsmöglichkeit. Diese war bei Union Concrete, einem Unternehmen mit Sitz in West Seneca, New York, das, wie Mitka es ausdrückte, »Keller goss«.145 Es war ein weiterer Job, der ihm gefiel.
»Und ich war ein guter Arbeiter. Aber ich arbeitete so schnell, dass die Arbeiter zu mir kamen und mich baten, langsamer zu arbeiten. Ich habe nicht versucht, jemandem zu schaden. Ich habe einfach zu schnell gearbeitet. Und diese Jungs sagten mir … ich würde sie schlecht aussehen lassen, also habe ich versucht, etwas langsamer zu machen. Aber das machte für mich nicht viel Sinn. Ich war ja dort, um zu arbeiten.«
Nach einem Moment fährt er fort: »Dieselben Leute luden Adrienne und mich zu einem Picknick in Hamburg am Eriesee ein. Sie hatten dort eine Hütte. Und sie hatten einen Würstchengrill. Und ich habe siebzehn Hotdogs gegessen!«
Mitka wirft sich ein wenig in die Brust und fügt hinzu: »Ich war ein großer Esser, und Joe und Phil – so hießen sie – sagten zu mir: ›Bring das nächste Mal deine eigenen verdammten Hotdogs mit.‹«
Wenn Mitka ans Essen denkt, erinnert er sich an den Hunger. In Europa wurde jeder wache Moment von seinem leeren Magen bestimmt. Als er in Amerika ankam, änderte sich das Blatt. Aus den ständigen Hungerattacken wurde ein unstillbarer Appetit. Er verschlang mit Heißhunger alles, was man ihm vorsetzte. Aber selbst der hohe Kalorienbedarf und der überhöhte Stoffwechsel eines spätpubertären Jugendlichen erschienen als Erklärung dafür, wie viel an Essen er vertilgen konnte, nicht ausreichend. Die Umstehenden beobachteten Mitka mit Erstaunen.
Adrienne hat sich angewöhnt, für ihn Extraportionen zuzubereiten. »Ich habe ihm jeden Tag sieben Sandwiches gemacht, die er zur Arbeit mitnehmen konnte.«
Und das war noch nicht alles, wie Mitka mit etwas Prahlerei und einem Grinsen hinzufügt. »Sie hat mir sieben Sandwiches gemacht und ein paar Essiggurken und ein paar hart gekochte Eier und eine halbe Wassermelone.«
»Mitka war kräftig, aber er war nicht fett – nur groß und stark«, erklärt Adrienne, die seine Größe mit 1,80 m und sein Gewicht mit knapp 90 kg angibt. »Alles Knochen und Muskeln.«
Im Winter 1957/58 fielen in Buffalo insgesamt gut drei Meter Schnee.146 Allein im Februar wurden knapp 1,40 m gemessen, und das hatte katastrophale Auswirkungen auf Mitkas Arbeit.
»Der Schnee hat mir nie etwas ausgemacht«, erinnert sich Adrienne, »aber 1958 fiel er so stark und so oft, dass Mitka nur fünf Monate lang arbeiten konnte. Wenn er nicht arbeitete, wurde er nicht bezahlt.«
Mit zwei lebhaften Kleinkindern, die sie betreuen musste, hatte Adrienne alle Hände voll zu tun. Aber es ging nicht mehr nur um Michael und Jimmy. Am 19. September 1958 wurden den beiden Brüdern eine Schwester geboren. Ein neues Baby – und noch dazu ein Mädchen – wurde freudig begrüßt, aber ein weiteres Baby im Haushalt der Kalinskis bedeutete eine zusätzliche Belastung. Adrienne hatte nun drei kleine Kinder zu betreuen und Mitka spürte den Druck, noch einen weiteren Esser zu versorgen. Als das Wetter die Arbeit unmöglich machte, wuchs sein Stress.
Hilfe kam von einem Familienmitglied, das Adrienne und Mitka schon oft gerettet hatte. »Mein Cousin Cal war nach Reno in Nevada gezogen«, berichtet Adrienne. »Einer seiner Jungs hatte starkes Asthma und der Arzt meinte, das Klima dort wäre gut für ihn. Und Cal sagte: ›Warum kommt ihr nicht raus zu uns? Hier gibt es das ganze Jahr über Arbeit.‹«
Die Diskussion zwischen Mitka und Adrienne war kurz. »Wir haben alles verkauft, unser Auto vollgepackt und sind umgezogen«, sagt Adrienne.
Das Haus in Beech Ridge, das Adrienne entworfen hatte und das sie beide liebten, musste zurückbleiben. Alle Möbel und die meisten ihrer Besitztümer wurden ebenfalls abgestoßen. Als alles verkauft war, beluden sie ihren braunen 57er Ford Kombi mit dem Nötigsten.
»Mitka hat eine Matratze auf die Ladefläche gelegt, und die Kinder haben dort gespielt und geschlafen.«
Michael war viereinhalb, Jimmy zweieinhalb und Cheryl fünf Monate alt. Es war ein Sonntagmorgen, der 22. Februar 1959, als die Familie Kalinski Pendleton, New York, verließ und sich auf den Weg nach Westen machte.