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Weiter nach Westen

Reno und Sparks, 1959–1963

An jenem kalten Sonntagmorgen, den 22. Februar 1959, verließ die Familie Kalinski zusammen mit ihrem Hund Candy den Bundesstaat New York in einem vollgepackten »Minivan« der damaligen Zeit: einem Ford Ranch Wagon von 1952. Mit zwei Türen, einem V6-Motor und einem Drei-Gang-Standardgetriebe war es nicht Mitkas Traumwagen. Doch wie andere Autos, die er besessen hatte, repräsentierte der Wagen, wie weit Mitka es im Leben gebracht hatte, und Mitka war stolz auf ihn.

Wenn er im Auto saß, hatte Mitka alles unter Kontrolle. Er konnte an jeden beliebigen Ort fahren oder von dort verschwinden. Das Auto, ein typisch amerikanisches Symbol der Unabhängigkeit, war eine konkrete Erinnerung an seine Befreiung von den Nazis.

Tim – der einzige Name, unter dem Mitkas Familie ihn kannte – war der amerikanische Name, den er annahm. Er trennte ihn von seiner Vergangenheit und gab ihm eine feste Verbindung zu allem, was seine neue Welt ausmachte. Und jeden Tag kam der Prozess, die Überbleibsel seines Lebens in Polen, der Ukraine und Deutschland zu beseitigen, ein kleines Stück weiter voran.

Mitka war besonders stolz auf die Fortschritte, die er beim Erlernen der englischen Sprache gemacht hatte. Zwar glaubte er, deutlich mehr von seinem osteuropäischen Akzent abgelegt zu haben, als tatsächlich der Fall war, aber die verbliebenen Spuren beeinträchtigten sein Selbstvertrauen nicht.

Nur acht Jahre nach seiner Landung in Amerika war Mitka ein großer und körperlich starker Mann. In anderer Hinsicht blieb er jedoch ein kleiner, schüchterner siebenjähriger Junge, der von seiner Vergangenheit verfolgt wurde. Seine Geselligkeit wurde zu einem Mittel, um seine Vergangenheit vor anderen zu verbergen, vor allem vor denen, die er am meisten liebte.

Mitkas Aufenthalte in der Bronx, in Baltimore, North Tonawanda und Pendleton hatten ihm einen notwendigen Puffer verschafft und ihm eine verspätete Gelegenheit geboten, vom Jungen zum Mann zu werden. Als er über die Grenze des Staates New York nach Westen und durch Pennsylvania und nach Ohio fuhr, glaubte Tim Kalinski, jetzt Ehemann und Vater, Arbeitnehmer und ein verantwortungsbewusster Erwachsener, dass Martin, das zusammengekauerte, bedürftige Kind, sicher versteckt war.

Auf dem Weg nach Westen beherrschte eine jungenhafte aufgeregte Begeisterung Mitkas Vorstellung. Er war auf dem Weg in das Land von John Wayne und den Cowboys, dem Schauplatz der Geschichten, die er am meisten liebte, die seine Teenagerfantasien geprägt und ihm Englisch beigebracht hatten. Die Reise war von Anfang an von seinem Bild des Wilden Westens geprägt. In vielerlei Hinsicht war es der amerikanische Westen gewesen, die ihn gelehrt hatte, ein Mann zu sein. Zumindest die romantisierte Version davon, die in den Filmen gezeigt wurde. Jetzt konnte er den wirklichen Westen sehen und erleben. Es spielte kaum eine Rolle, dass in Nevada weder ein Haus noch ein Job auf ihn warteten.

Adrienne hatte eine ganz andere Einstellung zu dem Abenteuer, auf das sie sich eingelassen hatten. Da sie stets praktisch veranlagt war, sah sie den Umzug als eine Notwendigkeit an. Bei dieser folgenschweren Entscheidung ruhte ihre Hoffnung auf der Überzeugung ihres Cousins Cal, dass Reno ein Ort voller Möglichkeiten sei. Ihre Verwandten zu verlassen, war die schwerste Entscheidung, die sie je getroffen hatte, aber die finanziellen Mittel der Familie waren erschöpft, und sie wusste, dass Mitka eine feste Arbeit brauchte. Sie war überzeugt, dass dies die richtige Entscheidung für ihre Familie war.

Die Reise selbst war anders als eine moderne Fahrt quer durch die Staaten. Im Jahr 1956 hatte Präsident Dwight D. Eisenhower, beeindruckt von der deutschen Autobahn, die er im Zweiten Weltkrieg befahren hatte, den Federal Aid Highway Act unterzeichnet. Dabei handelte es sich im Wesentlichen um einen nationalen Plan für den Bau eines Autobahnnetzes zwischen den Bundesstaaten, das nach seiner Fertigstellung ein strategisches System von Superhighways in Amerika bilden sollte.

Die zweispurigen Straßen, auf denen die Kalinskis unterwegs waren, waren allerdings alles andere als super. Raststätten und Supermärkte gab es nicht. Es gab zwar Motels, aber die waren rar gesät.

Die Familie begann die Reise im tiefsten Winter. Es gab keine Wettervorhersagen, keine Sicherheitsgurte, keinen ADAC-Pannendienst und schon gar keine GPS-Geräte oder Smartphones.

Adrienne, die Finanzmanagerin der Familie, führte akribisch Buch über die Reise. Aus ihrem Hauptbuch geht beispielsweise hervor, dass die Familie am ersten Tag 380,6 Meilen gefahren ist und 0,52 $ für Lebensmittel (sie hatte für den ersten Tag Mahlzeiten eingepackt), 6,50 $ für ein Motelzimmer, 7,12 $ für Benzin und 1,20 $ für Mautgebühren und Verschiedenes ausgegeben hat, insgesamt also 15,84 $.

Sie waren jeden Tag etwa zehn Stunden unterwegs und übernachteten in Mount Victory, Ohio; St. Louis, Missouri; Junction City, Kansas; Cheyenne Wells und Steamboat Springs, Colorado, und Wendover, Utah. Mitka war noch nie in den Bergen gefahren, aber er lernte schnell. »Ich fand heraus, dass der Wagen besser zieht, wenn ich etwas Luft aus den Reifen lasse.« Während der gesamten Reise führte Mitka selbst kleinere Autoreparaturen durch und füllte täglich Öl in den Motor ein, der es in alarmierendem Tempo verbrannte.

In der letzten Nacht gab es in Wendover an der Staatsgrenze zwischen Utah und Nevada eine ungeplante (und nicht verbuchte) Ausgabe, die einen noch unerwarteteren Gewinn einbrachte. Wenn Mitka über jenen Freitagabend, den 27. Februar, spricht, gerät er ins Schwärmen. Ein Grinsen zieht über sein Gesicht und er reibt sich die Hände, um eine Geschichte zu erzählen, an die er sich gern erinnert. Mitka verließ an diesem Abend das Motel, um die Staatsgrenze nach Nevada zu überqueren.

»Ich habe also dieses Casino entdeckt. Ich konnte es kaum erwarten, sie« – Mitka zeigt mit einem verschwörerischen Lächeln auf Adrienne – »in einem Motel abzusetzen und dorthin zu gehen. Ich hatte keine Ahnung von gar nichts, aber ich spazierte rein wie ein hohes Tier. Dann habe ich zugesehen, was die anderen gemacht haben, und habe einfach mein Geld auf die Linie gesetzt. Dann stand ich einfach da.«

Hier verschränkt er die Arme und schaut sich um, pfeift lässig und imitiert jemanden, der einfach nur herumhängt.

»Bald darauf sagt der Typ: ›Das ist Ihr Geld.‹«

Bei diesen Worten spiegelt sein Gesicht die freudige Überraschung des damaligen Augenblicks.

»Also sammelte ich das Geld ein und ging zurück ins Motel. Damals waren es noch Silberdollar. Ich gab sie Adrienne, und sie zählte sie. Zuerst dachte sie, es seien halbe Dollars. Sie fing an, ›39,00 $‹ aufzuschreiben. Dann merkte sie, dass es Dollar waren – 78 Dollar! Ist das zu glauben?«

Es war das erste Mal gewesen, dass Mitka einen Fuß in den Staat Nevada gesetzt hatte. Es war ein vielversprechender Anfang. Für ihn war es der Beginn eines lebenslangen guten Verhältnisses zu Casinos.

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Am nächsten Morgen, einem Samstag, begannen die Kalinskis die etwa 550 Kilometer lange Fahrt durch die windgepeitschte Wüste Nevadas nach Reno. Es war die letzte Etappe ihrer sechs Nächte, sieben Tage und 4 608,8 Kilometern langen Reise.

Als sie ankamen, belief sich Adriennes Kostenaufstellung auf insgesamt 193,79 Dollar. Mitkas Gewinn von 78 Dollar am Spieltisch machte mehr als ein Drittel des bereits überstrapazierten Reisebudgets aus.

Gemeinsam hatten Mitka und Adrienne zum ersten Mal den riesigen amerikanischen Kontinent mit seinen Städten und Ortschaften, den weiten Prärien von Kansas, den schneebedeckten Gipfeln der Rocky Mountains und der kargen Wüste von Nevada gesehen. Ihre Hoffnungen auf ein neues Leben wuchsen mit jedem Panorama und eine Liebesbeziehung mit der frei vor ihnen liegenden Straße hatte begonnen.

Für den Jungen, der 13 Jahre zuvor in Rotenburg an der Fulda zum ersten Mal einem freundlichen amerikanischen GI begegnet war, für den jungen Teenager, der das Leben und die englische Sprache durch John Wayne und Westernfilme kennengelernt hatte, konnten die Sehenswürdigkeiten Amerikas mit seinen Träumen mehr als nur mithalten.

Als sie in Reno ankamen, checkten Tim, Adrienne, Mike, Jimmy und Cheryl mit Candy im Schlepptau im Sandman Motel an der Fourth Street ein, eine halbe Meile östlich der Innenstadt. Ihre erste Aufgabe war es, herauszufinden, wo sie wohnen wollten. Cal hatte sich in Sparks niedergelassen, der Nachbarstadt von Reno. Adrienne erschien es sinnvoll, ebenfalls in der Arbeiterstadt anzufangen, in der der einzige Mensch lebte, den sie kannten. Außerdem war es erschwinglich.

Mitkas unmittelbare Sorge galt der Beschaffung eines Führerscheins für Nevada. Seinen New Yorker Führerschein hatte er mit Cals Hilfe gemacht, aber hier war Cal nicht wie damals in North Tonawanda in der Lage, ihm einen Gefallen zu tun. Mitka war auf sich allein gestellt und besorgt.

Er ging in die Stadt und bat um ein Gespräch mit dem Sheriff, der Bud Young hieß.147 »Und ich habe es ihm einfach gesagt. Ich zeigte ihm meinen New Yorker Führerschein und sagte: ›Ich habe diesen New Yorker Führerschein, aber ich kann nicht lesen, um den Test hier zu machen.‹« Einzugestehen, dass er Analphabet war, das wollte er niemandem gegenüber, nicht einmal Adrienne, aber beim Sheriff, so dachte er, hatte er wohl keine andere Wahl.

Mitka hält mit seinem typischen selbstzufriedenen Grinsen inne. »Und Bud sagte: ›Du gehst zu diesem Ort.‹ Und das tat ich. Dort wartete ein Mann mit meinem Führerschein. Und dieser Führerschein ist mir heilig. Ich hatte noch nie einen Strafzettel oder so. Ich wette, das kann niemand von sich behaupten. Aber ich bin so vorsichtig. Alle fünf Jahre muss man den Führerschein verlängern lassen. Und darauf achte ich und mache es frühzeitig, damit ihn mir niemand nehmen kann.«

Mit dem Führerschein in der Tasche machte sich Mitka auf die Suche nach Arbeit. Es dauerte nur ein paar Tage. Ein Mann namens Garth Ross stellte ihn als »Handlanger« im Betonbau ein. Es schien, als würde Nevada sein Versprechen einlösen. Die Dinge liefen gut für Mitka und seine Familie. Das sollte sich jedoch bald ändern.

Nach nur wenigen Monaten verschlechterte sich die Auftragslage von Ross und er war gezwungen, Mitka zu entlassen. Ross lieh ihm 200 Dollar, um die Familie über die Runden zu bringen, mit dem Versprechen, dass er Mitka wieder einstellen würde, wenn die Arbeit wieder anzöge.

Aber »ich konnte nicht darauf warten, dass er Arbeit für mich findet«, kommentiert Mitka. »Ich hatte eine Familie zu ernähren.« Also nahm er einen Job bei Jim Brussa an, einem Maurer.148

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Als sie im Februar 1959 nach Nevada kamen, hätten Mitka und Adrienne nie gedacht, dass sie innerhalb von zehn Monaten viermal umziehen würden. Nachdem sie eine Woche lang in einem Motel gewohnt hatten, beschlossen sie, dass dies kein guter Ort für sie war. Mitka hatte zwar Arbeit gefunden, aber die Familie hatte nicht genug Geld, um eine Miete zu zahlen. Auf Cals Drängen hin zogen sie bei ihm und seiner Familie ein. Cals zehn Meter langer Autoanhänger reichte kaum für seine Frau und seine drei Söhne aus. Der Zuwachs durch die fünf Kalinskis und Candy war natürlich für alle eine große Belastung.

Nach zwei Wochen fand Adrienne im Wagon Wheel Mobile Home Park, ein paar Kilometer südlich von Reno an der Kietzke Street, einen Wohnwagen, den sie für 400 Dollar kaufen konnte. Es war eine schnelle Entscheidung und, wie sich herausstellte, keine besonders gute, denn »er war viel zu klein für uns«, räumt Adrienne ein. Schnell fanden die Kalinskis ein kleines Haus zur Miete in der Ninth Street, und Adrienne verkaufte den Wohnwagen für 250 Dollar.

Das Haus in der Ninth Street war der vierte Wohnsitz der Kalinskis in Nevada.

Man hätte meinen können, dass die Familie nun, da sie ein Haus hatten, angekommen war, aber so war es nicht. Als Thanksgiving und Weihnachten näher rückten, überkam Adrienne ein Heimweh, das sie überwältigte. Es war erschütternd. Wieder einmal beluden sie und Mitka den Kombi mit den Kindern und dem Hund und machten sich auf die Reise zurück nach Lockport, New York. Da der Winter nahte, fuhren sie dieses Mal nach Süden über die Route 66.

Am Sonntag, den 8. November, fuhren sie nach Las Vegas, dann nach Winslow, Arizona; nach Tucumcari, New Mexico; nach Chandler, Oklahoma; nach Pocahontas, Illinois, und schließlich nach Lockport, wo sie am Freitagabend ankamen. Adrienne fuhr damals nicht Auto und tut es auch heute noch nicht, aber Mitka übernahm gern das Steuer. Er fuhr oft bis in die Nacht hinein, damit sie tagsüber mit den Kindern die Sehenswürdigkeiten Amerikas erkunden konnten. Die inzwischen verblassten quadratischen Schwarz-Weiß-Fotos, die mit einer Brownie-Kamera aufgenommen wurden, zeigen Stationen bei verschiedenen »Old West«-Attraktionen in Arizona, einen Besuch in einem rekonstruierten Indianerdorf in Tucumcari und vieles mehr. Einfache Attraktionen entlang der Route boten der Familie reichlich Gelegenheit, sich die Beine zu vertreten.

Adriennes starkes Bedürfnis, »nach Hause« zurückzukehren, hatte sie seit ihrer Ankunft in Nevada nicht losgelassen. »Aber als ich wieder in Lockport war«, sagt sie, »haben wir an Thanksgiving mit meiner Familie gegessen. Ich weiß noch, dass es die ganze Zeit geregnet hat. Und das war’s dann. Ich war bereit, nach Reno zurückzukommen. Danach habe ich nie wieder zurückgeblickt.«

Nach zwei Wochen und 6 000 Meilen auf der Straße stand die Zukunft der Kalinskis fest: Sparks, Nevada, sollte ihr ständiges Zuhause werden. Mitka nahm die Arbeit bei Jim Brussa wieder auf und Adrienne fand ein anderes Haus zur Miete, wieder in der Ninth Street.

Ende 1960 zog die Familie ein weiteres Mal um, diesmal in ein winziges Dreizimmerhaus, das an eine kleine Gasse grenzte. Ein weiterer Umzug auf dem Karussell der vorübergehenden Zwischenstationen stand noch bevor.

Trotz ihrer Armut, der Anpassung an eine neue Umgebung und der Herausforderungen, die so viele Umzüge mit sich bringen, blicken Mitka und Adrienne auf diese Zeit mit Freude zurück. Sie waren dort, wo sie sein wollten, und machten das Beste aus ihrer Situation.

Ende 1961 holten Adrienne und Mitka eines Tages Michael von der Robert Mitchell Elementary School an der Ecke Zwölfte und Prater ab. Sie bemerkten ein Schild mit der Aufschrift »Zu vermieten« an einem kleinen Haus, das keine hundert Meter von der Schule entfernt war. Mitka erinnert sich, dass er sagte: »Hey, das Haus gefällt mir irgendwie.«

Der Umzug in das Haus in der Twelfth Street sollte der letzte Umzug der Kalinskis sein.

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Das Haus, das Mitka und Adrienne in der Twelfth Street mieteten – ein Schlafzimmer, ein Bad und weniger als 100 Quadratmeter Wohnfläche – war kleiner als die Häuser, in denen sie in New York gewohnt hatten. Das war für sie jedoch kein Problem. Sie waren bereit, sich niederzulassen, Wurzeln zu schlagen. Mitka hatte eine feste Arbeit und sie hatten sich in ihrem Leben inzwischen gut eingerichtet. Das Geld war knapp, aber das war nichts Neues und änderte nichts an ihrer Entschlossenheit, jeden Tag so zu nehmen, wie er kam. Sie waren dankbar, dass sie ein Dach über dem Kopf und Essen auf dem Tisch hatten.

1963 teilte die Vermieterin Mitka und Adrienne mit, dass sie das Haus verkaufen wolle, und fragte sie, ob sie es auf der Grundlage eines Mietkaufvertrags kaufen könnten. Als sie nach dem Preis fragten, nannte sie den Preis von 14 500 Dollar.

»So verging ein wenig Zeit, bis wir uns entschieden«, berichtet Mitka. »Und ich fragte sie wieder, wie viel sie wollte. Diesmal sagte sie: ›14 000 Dollar.‹ Dann sagte sie« – Mitka zeigt auf Adrienne und zwinkert mit den Augen – »sie sagte: ›Nein, es waren 14 500 Dollar.‹ Also sage ich immer, dass sie mir 500 Dollar schuldet.«

Der Vertrag wurde unterzeichnet und die Kalinskis erhöhten ihre Mietzahlung um monatlich 35 Dollar, die auf die Kaufsumme angerechnet wurden. Bald darauf begann Mitka mit dem ersten Anbau an ihrem neuen Haus, dem noch etliche weitere folgen sollten. Er entschied sich für den Bau eines zweiten Stockwerks mit drei Zimmern.

Als Mitka beschloss, sein Haus zu erweitern, stand er vor einem Problem, für das es keine offensichtliche Lösung gab: Er hatte nicht genug Geld, um Baumaterial zu kaufen. Trotzdem schmiedete er einen Plan. Auf verschiedenen Baustellen hatte sich Mitka immer wieder darüber aufgeregt, dass brauchbares Holz, Ziegelsteine, Beton, Trockenbauwände, Nägel, Schrauben und vieles mehr regelmäßig auf der Müllkippe landete.

Mitka begann, sich nach Baumaterialien umzusehen, die er verwenden konnte. Da er seinen Arbeitgebern gegenüber stets loyal war, nahm er nie etwas heimlich mit. Er bat immer um die Erlaubnis, den Abfall mitnehmen zu dürfen. Wenn die Erlaubnis erteilt wurde, füllte er seinen Hinterhof mit allen möglichen Dingen. Normalerweise kostete ihn das nichts. Gelegentlich, wenn verwertbare Waren einen gewissen Wert hatten, kaufte er sie für ein paar Cent.

Als er alle Materialien beisammenhatte, stand Mitka vor einer weiteren Herausforderung. Er kannte sich mit Mauerwerk und Beton aus, aber er hatte noch nie ein Haus mit Sanitär- und Elektrizitätsleitungen gebaut, wobei eine Vielzahl von Vorschriften zu beachten waren. Er ging an diese Herausforderung heran, wie an so viele andere auch. »Damals hatte ich keine Ahnung von Dingen wie Rahmenbau, Rigipsplatten, Klempnerarbeiten und Elektrizität, aber ich habe zugesehen und Fragen gestellt – ständig Fragen gestellt. Du wärst überrascht, wie viel dir die Leute erzählen können. Und so habe ich vieles gelernt.«

In den 1960er-Jahren erweiterte Mitka das Haus immer wieder. Als das Obergeschoss fertig war, baute er an der Rückseite des Hauses aus und verdoppelte so die Quadratmeterzahl. Er baute einen Innenhof aus Betonplatten, die eigentlich für das Stewart-Gefängnis in Carson bestimmt waren, aber von den Inspektoren abgelehnt wurden. Er schuf ein knapp 50 Quadratmeter großes Familienwohnzimmer mit einem Kamin. Er fügte einen Abstellraum von ähnlicher Größe hinzu. Er gestaltete das Vorderzimmer um und entwarf einen Kamin, von dem er wusste, dass er Adrienne gefallen würde. »Damals in North Tonawanda hat sie einen Bruchsteinkamin gesehen. Ich habe diesen Kamin nur für sie gebaut, weil er ihr gefiel.«

Als alle Bauarbeiten abgeschlossen waren, verfügte das Haus in der Twelfth Street über sechs Schlafzimmer, ein Familienwohnzimmer, eine Veranda mit Eingangstreppe, ein Spielhaus, zwei Schuppen, eine Werkstatt und eine Garage. Das Grundstück war voll. Mitka führt Besucher durch sein Haus, prahlt damit, wie wenig er dafür ausgegeben hat, und erklärt voller Stolz die Details des Hauses, das er selbst gebaut hat. Jede Wand ist rechtwinklig und plan; das Mauerwerk ist perfekt.

Mitka sagt, sein Haus sei »wie das Auto in dem Johnny-Cash-Song ›One Piece at a Time‹«. Der Vergleich ist treffend. Wie der Erbauer des Autos in Cashs Song hat Mitka das Baumaterial »Stück für Stück« beschafft, und all die Teile, die sein Haus jetzt ausmachen, haben ihn fast »keinen Cent gekostet«.

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20 Jahre zuvor war Mitka in den Lagern und von der Familie Dörr brutal behandelt worden. Sein Name und seine Vergangenheit wurden ihm geraubt, und er hatte einfach durchgehalten. Irgendwie überlebten die Hoffnungen und Träume, die er damals hatte, all diese Entbehrungen. Musik und Kinobesuche waren seine Zuflucht, sobald der Krieg vorbei war. Jetzt hatte Mitka, der jahrelang weder Familie noch Heimat gehabt hatte, beides gefunden. Und trotz der Tatsache, dass er weder lesen noch schreiben konnte – eine Realität, die ihn quälte –, hatte er Erfolg in einem Land, das er liebte.

Zwei Fotos in einem Familienalbum geben einen Einblick in den Geist, der in den frühen 1960er-Jahren in der Familie Kalinski herrschte. Das erste ist ein einfaches Schwarz-Weiß-Foto von einem kleinen, quadratischen Haus. Von irgendeiner Gartengestaltung sieht man kaum etwas. Nur ein Auto im Stil der 1940er-Jahre, das auf einer Kiesauffahrt danebensteht, deutet darauf hin, dass das Haus bewohnt ist. Die von Adrienne handgeschriebene Bildunterschrift lautet:

Beach Ridge Rd.
Juli 1956–Februar 1959
Lockport, N. Y.

Das zweite Foto zeigt das kleine Haus der Kalinskis in der Twelfth Street in Sparks. Kaum ein Zentimeter ihres kleinen Gartens ist ohne beleuchtete Weihnachtsdekoration geblieben. Über dem Tor steht ein großes »Merry Christmas«, darunter hängen Lamettagirlanden. Auf der linken Seite sitzt ein riesiger Teddybär mit Weihnachtsmannmütze – er ist noch im Sitzen mehr als einen Meter groß. Hinter dem Bären stehen eine Schneefrau und ein Schneemann, und rechts steht ein Gespann aus tänzelnden Rentieren, angeführt von dem knollennasigen Rudolf. Über diesem Foto stehen, ebenfalls in Adriennes Handschrift, die Worte:

Unser Haus in Sparks, Nevada
1959–»Für immer«

Diese Bilder verraten mehr als nur, wo die Kalinskis wohnten. Sie lassen erkennen, wie sich das Leben der Familie verändert hatte. Das neu errichtete Haus in Beach Ridge auf dem ersten Bild befand sich wie die Familie, die dort lebte, in einem Prozess der Entstehung, des Werdens. Das Haus war solide und für das Leben im Norden New Yorks in den 1950er-Jahren völlig ausreichend, aber es hatte keine gestaltete Umgebung oder andere Merkmale, die die Persönlichkeit seiner Bewohner erkennen ließen. Das Haus in der Twelfth Street in Sparks war eindeutig nicht nur ein Ort zum Wohnen. Es war »unser Zuhause«, ein Ort voller Licht, Freude und Feststimmung. Adrienne glaubte, dass dieses Haus »für immer« ihr Zuhause sein würde. Manchmal glaubte Mitka das auch, aber da gab es auch immer diese nagende Angst.