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Die Siebzigerjahre

Sparks, 1970–1981

Im Nachhinein betrachten Mitka und Adrienne die 1960er-Jahre als eine idyllische Zeit, und in vielerlei Hinsicht war sie das auch. Als das neue Jahrzehnt anbricht, sind ihre Erwartungen an das Leben optimistisch. Der lange Wirtschaftsaufschwung der 1960er-Jahre war noch nicht der grassierenden Inflation und der hohen Arbeitslosigkeit der Siebziger gewichen. Das Einkommen der Familie, das durch die Invalidenrente gestützt wurde, gab ihnen relative Sicherheit. Anfang 1970 waren die Kinder zwischen fünf (Donna) und 15 (Mike) Jahre alt. Vor allem Adrienne war damit beschäftigt, die Aktivitäten für die Jüngeren zu organisieren, während sie ein Auge auf einen Teenager hatte, der nichts anderes im Kopf hatte als seine Band, Reverend Graves, und den umgebauten Leichenwagen, der die Instrumente zu den Auftritten transportierte. Das Auto, das in Mitkas Einfahrt parkte, war ein Cadillac. Alles schien gut zu laufen.

Bei der Geburt seiner Kinder hatte Mitka, wenn überhaupt, nur wenige Gefühle empfunden. Mit der Zeit änderte sich jedoch etwas. Mitkas Sorge um seine Kinder, auch wenn sie sich von Adriennes mütterlicher Zuwendung unterschied, wurde zu einer treibenden Kraft für ihn. Er war entschlossen, für seine Kinder zu sorgen, sie zu schützen und vor allem zu verwöhnen.

Sowohl Mitka als auch Adrienne war es wichtig, den Geburtstag jedes Kindes mit einer Party zu feiern. Bei den Dörrs hatte Mitka einen Geburtstagskuchen für Rosemarie in Tante Annas Wohnung gebracht, aber zur Feier war er nicht eingeladen gewesen. Er hatte noch nie Geburtstage gefeiert, bevor er dies mit Adrienne in North Tonawanda tat. Adriennes Geburtstage wurden zwar gefeiert, aber mit wenig Trara. Sowohl sie als auch Mitka waren entschlossen, die Geburtstage ihrer Kinder anders zu gestalten.

Cheryl, nun bald eine Teenagerin, wollte unbedingt ein Pferd haben – wie viele Mädchen in ihrem Alter. Mitka war fest entschlossen, ihr den Wunsch zu erfüllen.

»Ich hatte das Geld nicht, also beschloss ich, herauszufinden, ob ich es irgendwie eintauschen konnte. Mein Chef Jim Gregg wollte in seinem Haus einen Keller ausheben lassen. Also habe ich das gemacht, im Austausch für ein Pferd, das er hatte. Jeden Tag nach der Arbeit ging ich zu seinem Haus und hob den Keller aus. Anfangs konnte ich nicht darin stehen, aber schließlich hatte ich so viel ausgehoben, dass ich es konnte. Die Erde warf ich aus einem kleinen Fenster.«

Am Samstag, den 19. September 1970, fand sich eine Gruppe von Mädchen im Haus der Kalinskis ein, um Cheryls 12. Geburtstag zu feiern. Adrienne erinnert sich gut daran. »Ich bekam einen Anruf von Mitka und er sagte: ›Bleibt alle da. Ich bringe ein Pferd für Cheryl mit.‹ Ich dachte, es sei ein ausgestopftes Pferd. Bevor die Party zu Ende war, kam Mitka mit einem echten Pferd die Straße entlang.«

Keiner hat diesen Tag vergessen.

Cheryl strahlt, als sie sich erinnert: »Das war der beste Geburtstag aller Zeiten. Ich war so aufgeregt und alle meine Freundinnen haben das Pferd gesehen.« Cheryl nannte das Pferd Star. Sie brachten es auf einem Feld in der Nähe unter. »Da war diese Frau, die ein Stück Land besaß«, sagt Mitka. »Es war eingezäunt und nicht weit von uns entfernt, sodass man leicht dorthin gelangte.« Star hatte ein Zuhause bei dem glücklichsten jungen Mädchen in Sparks gefunden.

Im Jahr 1972 ereignete sich jedoch ein weiterer Unfall im Hause Kalinski. Dieses Mal betraf es Cheryl. Adrienne beginnt die Geschichte. »Ich habe damals in Saint Mary’s gearbeitet. Bevor ich zur Arbeit ging, sagte ich zu Tim: ›Lass Cheryl dieses Pferd nicht reiten.‹«

Mitka nimmt den Faden wieder auf: »Cheryl wollte immer zu ihrem Pferd. Ich habe ihr gesagt, dass sie das darf, aber dass sie nur reiten kann, wenn ich dabei bin.« Nun fährt wieder Adrienne fort: »Sie hatte schon immer ihren eigenen Kopf. Es war ihr egal, was Papa sagte. Sie sattelte Star und ritt sie trotzdem.«

Nun erzählen beide abwechselnd. Mitka: »Ich weiß nicht genau, was passiert ist, aber irgendwie hat sich das Pferd erschreckt. Es hat sie nicht abgeworfen, es ist gestürzt.«

Adrienne: »Sie tat mir leid, aber ich war auch wütend auf sie. Sie wusste, dass sie nicht reiten sollte, aber sie hat es trotzdem getan.«

»Es war ein schrecklicher Bruch. Zuerst war da der harte Boden, dann der Steigbügel, dann Cheryl, dann noch mehr Steigbügel, dann das Pferd.«

»Ihr Bein war völlig zertrümmert. Sie hatte einen Gips von der Hüfte bis zu den Zehen.«

Der Unfall ereignete sich zu einem Zeitpunkt, als Mitka von seinem Sturz von 1967 fast geheilt war. Seine frühere kerzengerade Haltung war allmählich wieder zu erkennen. Und auch wenn man ihm verboten hatte, auf dem Bau zu arbeiten, konnte man ihn beim Herumbasteln mit Uhren und Spielzeug antreffen. Gartenarbeit und verschiedene Bauprojekte füllten seine Tage aus. Besonders gern fuhr er seinen geliebten Cadillac in Florentine Gold. An dieser Stelle sagt er ohne einen Hauch von Bitterkeit: »Cheryl konnte sich mit dem Gips nicht in den Cadillac setzen. Also musste ich ihn verkaufen.«

Die nächsten Worte spricht er langsam, melancholisch und gesetzt. »Ich habe mein schönes Auto verkauft. Bevor ich es verkauft habe, habe ich das Auto geküsst.« Und nun anscheinend irgendwie getröstet, fügt er hinzu: »Wir haben irgendwo ein Bild davon.«

Wieder einmal in seinen Hoffnungen enttäuscht, schöpfte Mitka aus seinem angeborenen Optimismus, so wie er es sein ganzes Leben lang getan hatte. Mit dem Geld aus dem Verkauf des Cadillacs »kauften wir ein Wohnmobil, weil wir Cheryl darin unterbringen und überallhin reisen konnten. Also kauften wir das Wohnmobil für Cheryl und das war eine gute Sache. Wir liebten dieses Wohnmobil. Wir konnten damit in der Bodega Bay campen. Und wir sind auch an viele andere Orte gefahren.«

Auf die Frage, was mit Star passiert ist, sagt Mitka: »Wir haben sie eine Zeit lang behalten. Ich weiß nicht mehr, was wir mit ihr gemacht haben. Ich glaube, wir müssen sie verkauft haben, aber ich kann mich nicht erinnern.«

Mitka, Adrienne und alle anderen Familienmitglieder erinnern sich aber an das, was kurz darauf geschah.

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Im April 1974 war Jimmy fast 18 Jahre alt und würde bald seinen Abschluss an der Sparks High School machen. Schon als Jugendlicher hatte sich Jimmy für die Strafverfolgung interessiert. Das Interesse wuchs zu einer Leidenschaft und er las alles, was er in die Finger bekam, über den Beruf, der ihn Tag und Nacht beschäftigte. Eines Tages würde er Polizist oder Hilfssheriff werden. Das war es, wofür Jimmy lebte.

Adrienne erzählt die Geschichte von dem schicksalshaften Tag im Frühjahr von Jimmys Abschlussjahr.

»Jimmy war bei einem Treffen der Kadetten des Sheriffs von Washoe County gewesen. Er war auf dem Heimweg und prallte gegen einen Strommast. Ein entgegenkommendes Auto wäre fast noch in ihn hineingefahren, verfehlte ihn aber dann doch.«

Als Mitka und Adrienne an der Unfallstelle eintrafen, schien Jimmy unverletzt zu sein.

Adrienne sagt: »Es schien ihm nicht schlecht zu gehen, tat es aber doch. Der Hinterkopf war so heftig gegen die Heckscheibe geschlagen, dass sie zerbrach, aber Jimmy schien okay zu sein. Wir haben ihn ins Krankenhaus gebracht. Mitka hat darauf bestanden, dass er untersucht wird, obwohl er in Ordnung schien. Und sie sagten, er habe eine Gehirnerschütterung.«

Mitka und Adrienne nahmen Jimmy mit nach Hause, mit der Anweisung des Arztes, dass er sich ausruhen müsse, damit die Gehirnerschütterung ausheilen könne. Sie atmeten erleichtert auf, dass Jimmy am Leben war. Aber Adrienne hatte das Gefühl, dass nicht alles in Ordnung war. Kurze Zeit später bestätigten sich ihre Befürchtungen.

»Plötzlich konnte er nicht mehr aufstehen. Er saß da, redete mit uns und schlief mitten im Satz einfach ein. Und wir konnten ihn nicht aufwecken. Es war fast so, als ob er ohnmächtig wäre. Und es gab Zeiten, da konnte er nicht geradeaus gehen. Einmal ging er von der Schule nach Hause und die Polizei griff ihn auf. Sie dachten, er sei betrunken, weil er so stark schwankte. Er konnte nicht laufen und hat es nicht einmal gemerkt.«

Die Kalinskis brachten Jimmy erneut ins Krankenhaus, wo er zur Beobachtung blieb. Auch sie beobachteten ihren Sohn und spürten dabei immer stärker den Schmerz der Hilflosigkeit. Einmal, als Mitka und Adrienne bei ihm waren, fielen die Geräte, die Jimmys Lebenszeichen aufzeichneten, plötzlich aus.

»Wir waren in seinem Zimmer«, erinnert sich Adrienne, »und plötzlich sagt Dad: ›Hey, was ist los? Hier bewegt sich nichts mehr.‹ Da war eine Krankenschwester drin – und auch ein Arzt, glaube ich – und sie drückten auf einen Knopf. Junge, die Leute kamen angerannt. Sie wurden sofort aktiv und sie haben ihn zurückgeholt.« Als sie fortfährt, steht ihr die Anspannung ins Gesicht geschrieben: »Das war das erste Mal, dass er die Sterbesakramente erhalten hat.«

Es war klar, dass mit Jimmy etwas nicht stimmte. Die Ärzte konnten jedoch nichts anderes feststellen, als dass er eine schwere Gehirnerschütterung hatte.

Inmitten all der Ungewissheit fand Adrienne einige Dinge, für die sie dankbar war. »Jimmy war ein guter Junge – er hat immer gelacht. Das hatte sich nicht geändert.« Und: »Er machte seinen Highschool-Abschluss und sie gaben ihm sein Diplom im Krankenhaus.«

Dennoch kämpfte sie mit Verzweiflung und Angst. Mitka, ängstlich und nervös, hatte den unbedingten Drang, irgendetwas zu tun. Es gab jedoch anscheinend nichts, was er tun konnte, und ein – für ihn – unnatürliches Gefühl der Ohnmacht überkam ihn.

Auf der Suche nach Antworten auf Fragen, die zu jener Zeit kaum verstanden wurden, fand Adrienne Hoffnung an einem ungewöhnlichen Ort. Wie es ihre wöchentliche Gewohnheit war, las sie Boulevardzeitschriften.

»Ich hatte gerade im Enquirer über die ›CT-Maschine‹ gelesen.«

Es war ein dünner Strohhalm, an den sie ihre Hoffnungen klammern konnte, aber es ging um ihren Sohn. Die zielstrebige Entschlossenheit, mit der sie so vieles in ihrem Leben durchgestanden hatte, trat in Aktion.

Ihr Sohn Jimmy hatte ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten, auch wenn Adrienne es nicht so genannt hätte, wie es heute üblich ist.150 Damals sah sie, wie ihr Sohn auf eine Art und Weise litt, die sie nicht verstand, und die medizinischen Fachleute eigentlich auch nicht. Sie wusste nur, dass Jimmy sich abnormal verhielt und reagierte, und sie führte dies zu Recht darauf zurück, dass er mit dem Kopf gegen die Heckscheibe seines Trucks geknallt war. Sie hatte die Absicht, alles zu tun, um Hilfe zu bekommen.

Kaum hatte Adrienne den Artikel über einen CT-Scanner gelesen, der 1972 gerade erfunden worden war, machte sie sich auf die Suche nach einem solchen. »Da draußen bei uns gab es so was nicht, auch nicht in Kalifornien, aber es gab ein Buffalo.« Buffalo, New York, war zufällig die Stadt, in der alle ihre Verwandten lebten. Also richtete sie ihre Energie auf ein Ziel: Jimmy nach Buffalo zu bringen.

Sie und Mitka baten Beamte aus Reno um Hilfe. »Das Büro des Sheriffs flog uns nach San Francisco. Dann musste ich sechs Tickets in der 1. Klasse kaufen, damit Jimmys Trage in das Flugzeug passte.« 151 Die Kosten für den Flug mit Jimmy sprengten das Familienbudget. Das spielte keine Rolle und sie dachten auch nicht weiter darüber nach. »Ich habe mir von meiner Familie Geld geliehen, um diese Plätze zu buchen«, sagt Adrienne. »Wir haben alles zurückgezahlt – jeden Penny. Es dauerte einige Zeit und wir bekamen etwas von der Versicherung, was uns half. Aber zu diesem Zeitpunkt hätte ich alles getan, um Hilfe zu bekommen.

Jimmy war im Buffalo General Hospital. Ich habe das Krankenhaus nicht verlassen, obwohl meine Familie in der Nähe war. Ich habe alle angerufen und sie gebeten, für ihn zu beten, aber ich habe ihn nicht verlassen. Ich schlief auf einem Stuhl in seinem Zimmer.«

Jimmy blieb 38 Tage im Krankenhaus. Noch zwei weitere Male erhielt er die letzte Ölung.

Mitka blieb in Sparks, während Adrienne und Jimmy in Buffalo waren. Donna, 9, und Cheryl, 16, brauchten ihn. Und selbst wenn das nicht so gewesen wäre, wären die Kosten für einen Flug nach Buffalo unerschwinglich gewesen. Es fällt Mitka heute schwer, über diese dunklen Tage zu sprechen.

Wegen der Umständlichkeit und der Kosten von Ferngesprächen vom Krankenhaus aus telefonierten sie nur selten miteinander. »Ich weiß, dass es für Dad schwer war. Er hatte keine Ahnung, was passierte. Er wusste nur, dass es schlimm war.«

Adrienne kehrte mit Jimmy nach Nevada zurück, jedoch ohne eine zufriedenstellende Diagnose oder einen medizinischen Plan für Jimmys weitere Behandlung. »Als er nach Hause kam, konnte er nicht laufen«, sagt Adrienne. »Es ging ihm besser, aber er war nie mehr derselbe.«

In den schrecklichen Tagen nach Jimmys Unfall verging die Zeit für die Kalinskis wie im Flug. Sie kämpften darum, ein normales Alltagsleben aufrechtzuerhalten, ohne viel Erfolg. Als Eltern für Donna und Cheryl da zu sein und gleichzeitig Jimmy rund um die Uhr zu betreuen, überforderte sie.

Als es schien, als könne nicht noch etwas schiefgehen, wurde Cheryl schwanger. Als ihr Sohn Michael zur Welt kam, war sie nicht in der Lage, für ihn zu sorgen. Es war 1975, und sie war erst 17 Jahre alt. Adrienne und Mitka übernahmen die Verantwortung für ihren Enkel und wurden so zu Eltern eines Neugeborenen.

Ein turbulentes Jahrzehnt neigte sich dem Ende zu. Aber die Familie hatte überlebt. Der kleine Michael war eine Quelle der Freude für alle und der Haushalt war wieder einigermaßen ausgeglichen. Die Fahrten mit dem Wohnmobil nach Bodega Bay wurden wieder aufgenommen. Jimmy meldete sich freiwillig beim Sheriff Department, obwohl die Auswirkungen seiner Hirnverletzung seine Aktivitäten einschränkten. Er litt weiterhin unter Symptomen, die denen der Multiplen Sklerose ähnelten, und später wurde bei ihm diese Krankheit diagnostiziert. Donna, inzwischen ein Teenager, war weiterhin mit der Schule und Arbeiten im Haushalt beschäftigt. Mitka war immer noch arbeitsunfähig, aber er fand Wege, sich mit den verschiedensten Projekten zu beschäftigen. Seine Niedergeschlagenheit schob er weg.

Ereignisse, Umstände und Befürchtungen über seine Zukunft und die seiner Familie hatten Mitka in einen Schraubstock gezwängt. Angefangen mit seinem Sturz in Incline Village, gefolgt von der erzwungenen Arbeitsunfähigkeit, dann Cheryls Unfall, dann Jimmys schwere Hirnverletzung, dann Cheryls ungeplante Schwangerschaft – jedes Ereignis presste den Schraubstock fester und fester zusammen. Und während er noch versuchte, den rapide zunehmenden Stress zu bewältigen, zeichnete sich eine neue Bedrohung ab.

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Als sich die Siebzigerjahre dem Ende zuneigten, war der Präsidentschaftswahlkampf von Ronald Reagan in vollem Gange. Eine der Kernbotschaften seiner Kampagne war es, die ökonomischen Probleme des Landes anzugehen und zu beheben. Zu Reagans Plan zur Wiederbelebung der Wirtschaft gehörte eine Reihe von Vorschlägen zur Reduzierung der Staatsausgaben. Reagan beschrieb »Milliarden von Dollars an Verschwendung, Extravaganz, Betrug und Missbrauch« 152. Im Visier des Präsidenten und des Kongresses befanden sich Zehntausende von Behinderten, die Leistungen nach dem Social Security Disability Act von 1956 und verschiedenen Änderungen dieses Gesetzes erhielten.153

Mitka hatte in den Nachrichten gehört, dass ein Gesetz in Vorbereitung war, das die Leistungen, die er aufgrund seines Sturzes 1967 erhalten hatte, gefährden könnte. Diese Leistungen waren das Haupteinkommen der Familie, nur ergänzt durch Adriennes geringfügiges Einkommen aus gelegentlichen Teilzeitjobs, Babysitting und Ähnlichem, kleine Geldbeträge, die Mitka für gelegentliche Handwerkerarbeiten erhielt, und die Mieteinnahmen aus einer Immobilie nebenan, die sie nach dem Tod eines Nachbarn günstig erworben hatten. Der Verlust von Mitkas Unterstützungsleistungen wäre katastrophal.

Als Präsident Reagan am 18. Februar 1981 eine Fernsehansprache hielt und eine weitere am 24. September desselben Jahres, hörte Mitka zu, denn es ging um die Interessen seiner Familie. Es war etwas Persönliches. In seinen Reden verpflichtete sich der Präsident, die Staatsausgaben zu senken, indem er unter anderem Sozialprogramme des Bundes überprüfte und abschaffte, bei denen »eine wirkliche Notwendigkeit nicht nachgewiesen werden kann« 154. Mitka hatte Gerüchte darüber gehört, was diese Zusage des Präsidenten bedeutete, Geschichten über Kürzungen und sogar die Abschaffung von Sozialversicherungsleistungen. Die Sorge, was mit seiner Familie ohne seine Invaliditätsrente geschehen könnte, beherrschte seine Gedanken. Er war entsetzt.

Tatsächlich quälte sich Mitka nicht nur wegen des drohenden Einkommensverlustes. Er durchlebte noch einmal den Schmerz und das Leid, die Angst und den Verlust, die er 30 Jahre lang verborgen gehalten hatte, manchmal sogar vor sich selbst.

Seine Augen füllen sich mit jahrelang unvergossenen Tränen. »Erst hat Hitler mir alles genommen. Jetzt nimmt mir Reagan alles weg. Plötzlich bin ich wieder in Deutschland. Ich bin dieser Junge.«

In seinem Herzen und in seinen Gedanken reiste Mitka zurück nach Deutschland, in die Viehwaggons und in die Lager. Er fühlte die Schläge, die eisigen Nächte, den unstillbaren Hunger, und er sah Molys abgezogenes Fell, ein Produkt von Gustav Dörrs Rachsucht. Er erinnerte sich an völlige Einsamkeit.

Dann, eines Tages im Dezember 1981, erhielt Mitka die Mitteilung, dass sein Fall einer von mehr als hunderttausend Fällen war, die von der Sozialversicherungsbehörde zur Überprüfung ausgewählt worden waren. Und da geschah es – wie aus heiterem Himmel, so erschien es allen Familienmitgliedern –, dass Mitka ein anderer wurde.

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Zwei Wochen lang ertönten nachts zu ungewöhnlichen Zeiten Geschrei und Gepolter aus Tims Schlafzimmer. Die Kinder wachten durch den Lärm auf und Adrienne eilte zu ihrem Mann. Dann erwachte Tim mit Schweißtropfen auf der Stirn und am Kinn, sein Schlafanzug war durchnässt, die Decken quer durch den Raum geworfen und sein Nachttisch umgestoßen.

Die fassungslose Adrienne versuchte, ihn zu trösten, aber für quälende Minuten konnte er nicht getröstet werden. Dann ließ die Raserei nach, nur um in der nächsten Nacht wiederzukommen.

Zu Beginn jedes neuen Tages fragte Adrienne Tim, was los sei. Er wollte nicht reden. Sein Schweigen vergrößerte Adriennes Last des Schreckens; sie ertrug sie mit stoischer Ruhe. Sie war auch wütend und fühlte sich schuldig dafür.

Donna und Enkel Michael konnten nicht sagen, was mit ihrem Helden, dem liebevollen Vater, den sie zu kennen glaubten, geschehen war. Beide Kinder, ängstlich und verwirrt, versuchten so zu tun, als ob alles in Ordnung wäre. Das war es aber nicht.

Es gab nicht viel, was Adrienne aus der Fassung brachte. Dies schon.

Adrienne erinnert sich: »Er brach zusammen. Manchmal hörten wir, wie er nachts um sich schlug. Am nächsten Morgen fand ich die Laken ganz durchwühlt vor. Und seine Kleidung und das Bettzeug waren schweißgetränkt.«

In den 28 Jahren ihrer Ehe hatte Adrienne ihren Mann noch nie so gesehen. Sie zermarterte sich den Kopf und fand keine Antworten; nichts, das erklären konnte, was geschah. Sie sah ihr Heim und das, was sie als ihr Leben kannte, bedroht.

Albträume waren für Mitka nichts Neues, aber er hatte es geschafft, die Aufmerksamkeit von seinen gelegentlichen Albträumen auf verschiedene Weise abzulenken. Zu verraten, worum es in seinen Albträumen ging, würde die Geheimnisse ans Licht bringen, die er so lange bewahrt hatte.

Am Tag nach Weihnachten 1981 wehte ein starker Wind, der Mitka die Temperatur kälter erscheinen ließ, als sie tatsächlich war. Die Stadt erstrahlte noch immer im Glanz von Weihnachtsbeleuchtung, Schleifen und Girlanden. Die Casinos quollen über vor selbstbewussten Spielern, die vom Schlemmen in den Feiertagen übersättigt waren.

Im Haus der Kalinskis fühlten sich Familienbilder und Krimskrams – Dinge, die einst ihr glückliches Zuhause repräsentierten – fremd an. Angesichts von Tims nächtlichen Ausbrüchen lebte Adrienne in den Fängen der Angst. »Was soll aus uns werden?«, dachte sie.

Aber Mitka erkannte etwas Neues. Er hatte eine Epiphanie.

Tim Kalinski ist nicht allein. Tim hat eine Familie und, was vielleicht am wichtigsten ist, eine Frau, die ihn mit einer Heftigkeit liebt, wie er sie noch nie erlebt hat.

Gerade als es so aussah, als ob Tims panische, nervenzehrende Nächte kein Ende nehmen würden, brach Mitka Kalinski zusammen.

An jenem Samstagmorgen, den 26. Dezember, brach Mitka Kalinsky in seinem Haus in der Zwölften Straße in Sparks, Nevada, sein Schweigen. Er stand an seinem Esszimmertisch – dem Tisch, an dem das Familienleben stattfand und an dem man gemeinsam aß – und starrte seine Frau an. Seine blauen Augen blickten leer und bleiern auf die Frau, die er liebte, die Frau, die er zu verlieren fürchtete. Aber das spielte keine Rolle. Er wusste, dass das alles aufhören musste.

Und dann sprach Mitka die Worte aus, die sein Leben verändern sollten.

»Adrienne, setz dich. Ich muss dir etwas sagen.«