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Staatsbürgerschaft

Sparks, 1982–1984

In den zwei Jahren nach Mitkas Zusammenbruch nannten ihn viele in seinem Umfeld, auch Adrienne, weiterhin Tim. Er hatte nichts dagegen. Sie taten es meist aus Gewohnheit. Es war der Name, den er seit 32 Jahren benutzt hatte. Der Mann, der auf den Namen Tim hörte, war nun jedoch ein völlig neues Wesen, dessen Enthüllungen viele Fragen aufwarfen. »Wer bist du, Tim?« – »Warum hast du das Geheimnis bewahrt?« – »Was hat das zu bedeuten?«

Die Menschen, die Mitka nahestanden, verbrachten viel Zeit damit, einfach nur zuzuhören. Seine zwanghafte Wiederholung seiner Geschichten zerrte an den Nerven, aber niemand wagte es, dies zu äußern. Wie sollten sie auch? Professor Leneaux und vor allem Adrienne spürten, dass das Erzählen und Wiedererzählen die einzige Möglichkeit für Mitka war, das Geschehene zu verarbeiten. Unermüdlich und zielstrebig setzte sich Adrienne klaglos für ihren Mann ein, was auch bedeutete, dass sie sich den einen oder anderen Vorfall zum x-ten Mal anhörte, als würde sie ihn zum ersten Mal hören. Dabei bewies sie unendliche Geduld.

Abgesehen von der Irritation und dem Entsetzen, die mit jeder Wiederholung von Mitkas Geschichten einhergingen, gewöhnten sich die Mitglieder der Familie Kalinski an die neue Realität. Die Familie würde nie mehr zu der Existenz zurückkehren, die sie früher mit »Tim« gekannt hatte. Aber mit der Zeit entwickelte sich ein neues Gleichgewicht.

Ein weiteres Problem, das die Familie vor große Herausforderungen stellte, war Mitkas gestrichene Invaliditätsrente. Aus Frustration darüber, dass sie keine Antworten oder Hinweise darauf erhielten, wie sie wieder Zahlungen von der Sozialversicherung erhalten konnten, beauftragten sie einen Anwalt, der ihnen von Rabbi Nadler empfohlen worden war. Es dauerte ein ganzes Jahr, aber die Sache wurde geklärt. Mitka erhielt seine Lohnnachzahlung und er bekam wieder jeden Monat seinen Rentenbetrag. Die Kosten für den Anwalt waren beträchtlich, so beträchtlich, dass dies zu einer ständigen Quelle für weitere Ressentiments gegen die Regierung und insbesondere gegen Präsident Reagan wurde. Mitka lacht darüber und über eine weitere Absurdität: »Ich hatte 1984 für Reagan gestimmt.«

Mitka und Professor Leneaux trafen sich regelmäßig, meist für eine Stunde, in der Mitka dem Professor seine Geschichte erzählte. Für Mitka war das kathartisch, für den Professor war es eine Zeit, in der »ich der Student war, nicht der Lehrer«.

Wenn Adrienne etwas Zeit hatte, gab es immer jemanden, dem sie schreiben konnte. Sie bat um Hilfe für ihren Mann, um Hilfe bei der Suche nach Informationen, die helfen könnten, seine Herkunft herauszufinden und irgendwie seine große Angst zu überwinden. Ihre Wut wuchs jedoch mit jedem Brief. Oft war sie heftig und intensiv. Wenn sie ihren siebenjährigen Enkel Michael beobachtete, konnte sie nur an Mitkas Kindheit denken. Sie spürte förmlich all die Grausamkeiten, die er erlebt hatte. Als Mutter konnte sie nicht begreifen, wie jemand einem Kind antun konnte, was Mitka angetan worden war. Mit jeder Geschichte wuchs ihre Entschlossenheit, Gerechtigkeit für ihn zu finden.

Mitkas Hoffnung, dass die Enthüllung seiner Vergangenheit seine Qualen lindern könnte, erfüllte sich nicht. Also versuchte er einfach, immer die nächste Aufgabe anzupacken, die vor ihm lag. Er reparierte alles, was kaputt war. Er vergrub sich in die Arbeit an Haus, Grundstück und dem Wohnmobil. Er fand Wege, seinen erwachsenen Kindern zu helfen: Mike, Jimmy und Cheryl. Er konzentrierte sich besonders darauf, Adrienne mit Donna und Michael zu helfen, die beide noch zur Schule gingen und zu Hause wohnten. Auch wenn ihn innere Qualen belasteten, andere sahen einen fröhlichen, liebevollen Mann.

Trotz allem fanden Mitka und Adrienne Wege, um mit ihrer Familie Geburtstage zu feiern und Feiertage zu gestalten. Die Ausflüge mit dem Wohnmobil nach Bodega Bay wurden fortgesetzt und waren die größte Quelle der Freude für sie.

Adrienne erzählt, was für eine Erholung es für jeden in der Familie war, wenn sie die Reise über den Donnerpass und den Abstieg nach Kalifornien begannen. Die ruhige Bucht, das Angeln, das Krabbenfischen, die Abende am Lagerfeuer, das Kennenlernen anderer Camper und vor allem der weite Pazifik, der sich vor ihnen ausbreitete – diese Erfahrungen ermöglichten es ihnen, wenn auch nur für kurze Zeit, die Dringlichkeit hinter sich zu lassen, mit der Adrienne versuchte, Dokumente und Fakten über Mitkas Leben ausfindig zu machen.

Bei einem Campingausflug im Sommer 1983 kam es zum ersten Durchbruch bei Adriennes Suche, etwas – irgendetwas, egal, was – herauszufinden.

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Wie Adrienne erzählt, kam Mitka wie immer »mit jedem ins Gespräch«. Er traf niemals Fremde. Mit einer herzlichen Begrüßung und der weit ausgestreckten großen rechten Hand stellte er sich vor. Wie es seinem Naturell entsprach, begann er seine Gespräche mit einer humorvollen Bemerkung. Er war in seinem Element. Zu den Menschen, die er kennenlernte, gehörten Charlie und Val Viney. Im Laufe des Small-Talks erzählte Charlie Mitka, dass sie eine Reise nach Deutschland machen würden. Kaum hatte Charlie diese Worte ausgesprochen, »begann Mitka sofort, Charlie von seiner verborgenen und beschämenden Vergangenheit zu erzählen« 167.

Das Gespräch entwickelte sich und Charlie war gefesselt, sowohl von dem Mann als auch von den Details aus dem Leben eines ehemaligen Kindersklaven. Vielleicht hat Mitka ihn gefragt oder Charlie hat es von sich aus angeboten, jedenfalls erinnert sich Mitka daran, dass Charlie »an die Tür dieses Nazis klopfen würde«. Mitka war sehr aufgeregt, dass jemand Gustav Dörr zur Rede stellen würde. Für ihn ging es um mehr als nur darum, Informationen über seine Vergangenheit zu erhalten; es ging darum, dass Charlie Gustav in seinem Namen gegenübertreten würde.

Für Adrienne hatte Charlies Mission jedoch auch ein Ziel, das nichts mit der Konfrontation mit Gustav Dörr zu tun hatte. Sie wollte Fakten. Mehr noch als Fakten wollte sie physische Beweise wie Fotos oder Dokumente und »eine Karte oder einige Postkarten aus der Gegend um Rotenburg« 168.

Adrienne schildert uns, was sie sich bisher aus Mitkas Erinnerungen zusammenreimen konnte:

Mit Mitkas Hilfe hatte ich Monate zuvor eine Karte gezeichnet, wie er sich an die Gegend erinnert hatte. Wir waren gespannt, wie genau seine Erinnerungen wirklich waren. Er hatte bestimmte Häuser benannt, die Kirche, in der er Milchkannen abgeliefert hatte, das Schloss, in dem sich Gustav Dörr vor den belgischen Soldaten versteckt hielt, die Massengräber, die verschiedenen Hinrichtungsstätten und die Jakob-Grimm-Schule, in der die Engländer und andere Flieger gefangen gehalten worden waren. Und es gab verstreute Grundstücke, die der Familie Dörr gehörten, die Flakstellungen auf dem Dörr-Gelände, den Bahnhof und verschiedene andere Gefangenenbaracken in und um Rotenburg.169

Als Mitka und Adrienne Charlie und Val nach Deutschland verabschiedeten, waren sie voller Hoffnung. Sie gaben ihnen einen Zettel mit Informationen zu Mitka und einige alte Fotos, Adressen und Adriennes handgezeichnete Karte mit. Mitka warnte Charlie vor Gustav und den Mitgliedern der Familie Dörr. Noch 1983 war er von der Angst vor seinen ehemaligen Entführern beherrscht.

Charlie und Val reisten tatsächlich nach Deutschland. Dort lösten sie ihr Versprechen gegenüber Mitka ein und arrangierten extra einen Abstecher nach Rotenburg an der Fulda.

Charlie sprach kein Deutsch, was ihn aber nicht abschreckte. Als er in Rotenburg ankam, ging er zu einem Mercedes-Händler, um nach dem Weg zu fragen. Es stellte sich heraus, dass dies eine gute Wahl war. Nach seiner ersten Anfrage stellte er fest, dass er einen Übersetzer brauchte, und konnte die Hilfe eines jungen Mannes in Anspruch nehmen, der fließend Englisch und Deutsch sprach.

In kühner amerikanischer Manier machte sich Charlie dann mit Val und seinem Übersetzer auf den Weg zur Badegasse 14 und klingelte dort. Er hoffte und erwartete, die Dörrs anzutreffen, zumindest irgendjemanden aus der Familie. Eine weißhaarige Frau begrüßte ihn. Nach einigen einleitenden Worten übergab Charlie ihr ein Foto und den Flyer mit Informationen über Mitka. Nachdem sie diese Dinge angesehen hatte, verwies sie Charlie an eine andere Adresse: Burggasse 14.

Charlie begab sich zu der neuen Adresse und klingelte dort. Auch hier öffnete eine ältere Frau. Sie sah den Flyer kurz an, presste ihn an ihre Brust und wiederholte immer wieder ein und denselben deutschen Satz.

Der Dolmetscher konnte Charlie helfen, sich einen Reim auf die beiden Begegnungen zu machen. Die erste Frau, die er traf, war Anna Jakob, die Frau, die in einer der oberen Wohnungen gewohnt hatte, als Mitka in der Badegasse 14 versklavt war. Bei der zweiten Frau handelte es sich um Frau Deist, die Mutter von Willi Deist, jenem Jungen aus der Hitlerjugend, der Mitka verprügelt hatte und später von 1945 bis zu seiner Rettung 1949 Mitkas einziger Jugendfreund wurde.

Charlie hatte bedeutende Fortschritte gemacht, deren Ausmaß ihm nicht bewusst war. Frau Deist war die Frau, der Mitka die Eier von dem Huhn gegeben hatte, das er auf dem Heuboden entdeckt hatte. Sie hatte Mitleid mit Mitka gehabt, hatte ihn sogar gemocht, als er bei den Dörrs gewesen war.

Über den Übersetzer erklärte Frau Deist Charlie, dass sie und ihre Familie daran interessiert seien, mehr über Mitka zu erfahren, und sie versprach, sich um Informationen über sein frühes Leben zu bemühen.

Frau Deist rief ihre Tochter Käthe Deist-Reiprich und ihren Schwiegersohn Franz Reiprich an, die erfreut waren, etwas von Mitkas Leben in Amerika zu erfahren. Franz, der etwas Englisch sprach, bestand darauf, Charlie zum Haus von Gustav und Lisa Dörr zu fahren.

Adrienne beschreibt, was passiert ist:

Als sie auf dem Hof von Gustav angekommen waren … öffnete Lisa die Tür und Franz begann zu erklären, dass Charlie aus Amerika kam und dass er im Auftrag von Mitka dort war, um Gustav Dörr zu sehen. Lisa war sehr wachsam. (Charlie wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, dass Anna Jakob die Dörrs bereits vor seinem Besuch gewarnt hatte.) Lisa sagte: »Ich weiß, warum Sie hier sind, und ich weiß, was Sie wollen!« Sie weigerte sich entschieden, Franz und Charlie in ihre Wohnung zu lassen, da Franz immer wieder betonte, dass Charlie nur mit Gustav sprechen wolle. Sie lehnte es hartnäckig ab, sie zu Gustav zu lassen oder mit ihm zu sprechen …170

Nach der enttäuschenden Begegnung mit Lisa luden die Deists Charlie und Val zu sich zum Essen ein, aber die mussten ihre geplante Reise fortsetzen. Letztendlich hatten die Vineys ihr Versprechen gegenüber Mitka gehalten und Rotenburg besucht.

Charlie kam mit einem positiven Ergebnis aus Rotenburg zurück, auch wenn es nicht das Ergebnis war, das Mitka und Adrienne sich erhofft hatten. Er hatte, wenn auch nur in geringem Maße, eine Verbindung zu Mitkas Vergangenheit hergestellt. Die Aussichten auf eine Kommunikation zwischen den Familien Kalinski und Deist waren real. Es waren die Deists, die den Jungen, der keine Angehörigen hatte, bei den Dörrs beobachtet hatten. Sie hatten die Schläge, den Mangel an Kleidung, die Unterernährung und das Leiden von Martin gesehen. Es begann ein Briefwechsel, der viele von Mitkas Erinnerungen bestätigte. Besonders hilfreich waren die Briefe von Willi.

Willi, seine Schwester Käthe und sein Schwager Franz boten ihre Hilfe bei der Suche nach Dokumenten an, die es Mitka ermöglichen würden, die amerikanische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Daraufhin setzten sie sich mit Eduard Gruschka in Verbindung, dem Übersetzer, der Gustav begleitet hatte, als er Mitka im Lager Pfaffenwald abholte.

Aus Polen schickte Gruschka Antworten auf die Briefe von Willi und den Reiprichs. Er begann mit einer Beschreibung seiner Rolle bei den Dörrs. Gruschka bezeichnete sich als Gustavs »Kriegsgefangenen« und sagte, dass »ich ab dem 10. November 1939 als Gespannfahrer und ab 1940 als Lastwagenfahrer gearbeitet habe. Ab 1940 lieferte ich zunächst Milch nach Bebra, und dann, ab 1942, als die Engländer Kassel zerstörten und verließen, holte mich der [inzwischen] verstorbene Landrat Erich Braun, um Blindgänger auszugraben« 171.

Gruschka erwähnte ein paar kleine Details, die weder mit Mitkas Erinnerungen noch mit den UNRRA-Aufzeichnungen übereinstimmten. Dennoch bestätigte der Brief viele von Mitkas Erinnerungen. Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass die Kalinskis das, was Eduard ihnen erzählte, durchforsten mussten, um an die harten Fakten zu gelangen.

Gruschka schrieb über die Zeit bei den Dörrs:

Ich habe den Jungen (das Kind) mit Gustav 1942 aus Asbach [der Gemeinde, in der das Lager Pfaffenwald lag] mitgenommen; er sollte mit Gustavs Mutter auf den Feldern arbeiten. Ja, du weißt ja selbst, wie wir bei Gustav Dörr behandelt wurden, aber das ist schon lange her. Der kleine Junge kam gut mit dem Trödelsammler Christian Dörr aus, aber er bekam oft Schläge von Gustav. Am schlimmsten war Anna, nachdem ihr Mann in Russland an irgendeinem Fieber gestorben war.

Dann fügte er eine elektrisierende Information hinzu:

Das Kind war kein Russe. Es war das Kind eines polnischen Offiziers, der sich nach dem Ersten Weltkrieg in der Ukraine niedergelassen hatte. Sein Vater wurde von den Nazis in einem Konzentrationslager ermordet. Seine Mutter und seine beiden Schwestern wurden von den ukrainischen SS-Soldaten getötet (lebendig verbrannt).

Professor Grant Leneaux, der den Brief übersetzt hatte, beriet sich mit Adrienne, nachdem sie Gruschkas Worte über Mitkas Familie gelesen hatte. Sie kamen zu dem Schluss, dass Mitka zu verletzlich war, um diese Details zu hören. Adrienne sagt: »Ich hatte Angst davor, was er tun würde, wenn er hörte, dass seine Mutter und seine Schwestern lebendig verbrannt worden waren.« Um ihm diese Einzelheiten zu ersparen, sagten sie ihm nur, dass alle aus seiner Familie gestorben waren. Ihr Plan, Mitka zu schützen, ging jedoch nicht auf.

Mitka erzählt die Geschichte. »Ich habe nicht viel geschlafen und bin in der Nacht aufgestanden. Der Brief lag auf dem Tisch und ich starrte ihn an und starrte ihn an. Ich konnte nicht lesen, aber ich konnte einzelne Buchstaben erkennen.« Er macht eine Pause, bevor er fortfährt. »Und ich sah dieses Wort – VERBRANNT. Ich konnte die Buchstaben lesen und habe sie laut ausgesprochen. Und ich wusste, was es bedeutet. Ich konnte sehen, dass es neben den Buchstaben ›SS‹ stand. Am nächsten Tag fragte ich Adrienne danach. Da hat sie mir erzählt, was Gruschka geschrieben hatte.«

Wie sich herausstellte, verstörten Gruschkas Worte Mitka nicht in dem Maß, wie Adrienne und Professor Leneaux es befürchtet hatten. Im Gegenteil, sie befeuerten sein Verlangen, mehr zu erfahren.

Einen Monat später schrieb Gruschka in einem Brief vom 21. Januar 1984 direkt an Mitka; die Adresse hatte er von Willi Deist erhalten. In diesem Brief führte er die gleichen Punkte an, die er in seinem Brief an die Familie Reiprich genannt hatte. Eine neue Information stach hervor. Zu Beginn seines Briefes schrieb Gruschka eine einfache Erklärung, bei der jeder Buchstabe groß geschrieben wurde.

DEIN NAME IST MIECZYSLAW KALINSKI

Es folgt eine Tirade über Gustav Dörr. Er sei ein »Schwein« und ein »Schweinehund«, der nach dem Krieg »als aktiver Nazi und wegen Judenquälerei eingesperrt« worden sei.

Gruschka führte weiter aus, dass »der eiserne Gustav« nicht zur Wehrmacht gegangen sei und eigentlich als »Drückeberger oder Wehrdienstverweigerer« gegolten habe. Er sei aber »in der SA und ein aktiver Mörder auf jüdischem Besitz« gewesen. Diese harten Worte waren für Mitka und Adrienne von Bedeutung, denn sie bestätigten, was Mitka wusste. Der Mann und die Familie, die ihn versklavt hatte, waren aktive Kollaborateure von Hitlers Bosheit. Die Geschichten, die Anna nach dem Krieg den UNRRA-Vertretern erzählt hatte, dass sie ein verlassenes Kind aufgenommen hätten, und Gustavs Worte in dem Telefongespräch zwei Jahre zuvor, dass er mit Mut und Mitgefühl gehandelt habe, um einen jüdischen Jungen zu retten – das waren Lügen.

Dann wendet sich Gruschkas Aufmerksamkeit von Gustav ab und Mitka zu. Er schrieb:

Den Namen Dimitri hat dir der Lageraufseher in Asbach gegeben, weil es Gustav Dörrs Wunsch war, alle Spuren deiner Herkunft zu verwischen … Dein richtiger Name ist Mieczyslaw Kalinski aus Tschortkiw, polnische Ukraine – Polen. Deine Eltern stammen aus einer reichen polnischen Familie. In der Vergangenheit wurden deine Vorfahren von dem polnischen Großhetmann Zokkiewski geadelt, denn die Vorfahren deines Vaters nahmen an Kämpfen mit aufständischen Kosaken teil.

Gruschkas Worte fesselten Mitka. Er wollte ihm glauben. Aber konnte er das? Er hörte diese Geschichte zum ersten Mal. Er fragte sich – mit einer gewissen Bitterkeit –, warum Gruschka ihm gegenüber nie ein Wort davon erwähnt hatte, als er bei den Dörrs war. »Ich habe immer gesagt, wenn ich nur einen großen Bruder hätte. Das hätte er für mich sein können. Jedes Mal, wenn ich Milch nach Bebra gebracht habe, ist er auf dem Wagen mitgefahren. Und wir sind zusammen nach Kassel gefahren. Warum hat er mir diese Dinge nie erzählt?«

Adrienne wurde misstrauisch, und dann auch Mitka. Sie fragten sich, ob es Gruschka vielleicht um Geld als Gegenleistung für Informationen ging. So bat er sie zum Beispiel, ihm »150,00 $ für eine Reise nach Westdeutschland« zu schicken, auf der er versprach, weitere Informationen zu suchen, die Mitka helfen könnten. Es war das erste von vielen Malen, dass er die Kalinskis bat, ihm Geld zu schicken.

Der Brief von Gruschka weckte das Interesse der Kalinskis. Er gab ihnen einige Hinweise, denen sie nachgehen konnten. Adrienne und Mitka beschlossen, die neuen Informationen nicht zu ernst zu nehmen, bis sie den Bericht untermauern konnten. Nachdem sie zwei Jahre lang vergeblich Agenturen und einzelne Behörden angeschrieben hatten, beschlossen sie, sich auf eine neue Stufe der Suche zu begeben. Sie beschlossen, dass es an der Zeit war, nach Deutschland zu reisen.

Mehr noch als Mitka verspürte Adrienne den Drang, zu der Quelle all dessen zurückzukehren, was Mitka gebrochen hatte. Sie war mit ihrer Geduld am Ende. Zwei Jahre lang hatte sie zugesehen, wie ihr einst starker, furchtloser Ehemann förmlich auseinanderfiel. Sie war entmutigt, aber nicht besiegt. Sie war auch wütend. Wie Mitka sagte, wollte Adrienne nach Deutschland reisen, um »ein paar Leuten ordentlich den Kopf zu waschen«. Sie beschreibt ihre Beweggründe mit etwas anderen Worten.

Ich musste immer wieder an Michael [ihren Enkel] denken. Als Tim mir zum ersten Mal erzählte, was man ihm angetan hatte, war Michael sieben Jahre alt – etwa so alt wie Tim, als er zu den Dörrs kam. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie jemand ein Kind so behandeln konnte … und ganz besonders nicht Anna. Sie hatte selbst ein Kind. Ich wollte ihr gegenübertreten und sie dazu bringen, mir zu sagen, warum.172

Adrienne begann darüber nachzudenken, wie sie eine Reise nach Deutschland organisieren könnten. In der Zwischenzeit kämpfte Mitka, auch wenn man ihm das nicht ansah, mit Stress und Depressionen.

Adrienne hatte immer mehr das Gefühl, auf »verlorenem Posten« zu kämpfen. Aber dann hatte sie eines Nachts eine plötzliche, unerwartete Eingebung.

Als ich eines Nachts nicht schlafen konnte, stand ich auf und begann in der Dunkelheit des frühen Morgens zu schreiben. Ich schrieb über Mitkas Leben und über die Schmerzen, das Leid und die Frustrationen, die er als Kind ertragen hatte. Als ich fertig war, stellte ich fest, dass ich ein Gedicht mit 56 Zeilen geschrieben hatte. Es war alles da, auf dem Papier. Irgendwie fühlte ich mich gut, als ich es las, und wusste, dass es etwas ganz Besonderes für jemanden war, der mir sehr am Herzen lag. Ich nannte es »Mitka«.
Ich habe weder Mitka noch sonst jemandem von diesem Schreiben erzählt. Ich beschloss, es ihm zu einem geeigneten Zeitpunkt vorzulesen.
[In der Zwischenzeit] las ich, dass ein Verlag »kurze Gedichte« für seine neue Publikation suchte. »Mitka« war kein kurzes Gedicht, aber ich schickte es trotzdem ein …
Kurze Zeit später erhielt ich die Mitteilung, dass mein Gedicht tatsächlich zur Veröffentlichung ausgewählt worden war. Das war der »richtige Zeitpunkt«. Während Michael bei seiner Karatestunde war, erzählte ich Mitka endlich, was ich getan hatte. Der ungläubige Gesichtsausdruck von Mitka war unbeschreiblich. Er konnte nicht glauben, dass ich das tatsächlich nur für ihn geschrieben hatte.173

Mitka hatte sich seit seinen ersten Tagen in Amerika danach gesehnt, US-Bürger zu werden. Er hatte jedoch für sich den Schluss gezogen, dass dies ein unerreichbarer Traum war. Um nach Deutschland zurückkehren zu können, musste Mitka seine Staatsbürgerschaft erhalten. Dies war die einzige Möglichkeit, das Land zu verlassen und zurückkehren zu können. Er war hoch motiviert, denn Adrienne drohte, ohne ihn nach Deutschland zu fliegen. Tatsächlich hatte sie vier Tickets gekauft – für Mitka, sich selbst, Donna und Michael –, um im November 1984 von San Francisco nach Deutschland zu fliegen. Auf der Liste der zu erledigenden Aufgaben: Mitka einen Reisepass besorgen.

»Sie hat mich dazu gebracht, meinen Hintern hochzukriegen, um zu versuchen, meine Staatsbürgerschaft zu bekommen«, sagt Mitka. »Wir sprachen mit diesem Anwalt und er fand heraus, dass sie mir die Fragen mündlich stellen konnten, sodass ich sie nicht lesen musste. Also zahlte ich 50 Dollar und meldete mich für den Test an.«

Die Vorbereitung auf die Prüfung war für Mitka angesichts seiner mangelnden Lese- und Schreibkenntnisse eine besondere Herausforderung. »Ich habe durch Filme und Fernsehen – vor allem durch die Nachrichten – etwas über die Regierung gelernt. Du wärst überrascht, was man alles lernen kann, wenn man nur aufmerksam ist.«

Als Mitka den Test zum ersten Mal machte, sagte er: »Ich dachte, ich hätte bestanden, aber das habe ich nicht. Ich glaube, ich bin nur knapp durchgefallen.«

Der nächste Testtermin war Mitte Oktober 1984.

»Als ich die Prüfung wiederholen konnte, brauchte ich die 50 Dollar nicht zu bezahlen. Ich musste nur hingehen und den Test machen. Oh, ich war so nervös. Eine Dame aus unserem Anwaltsbüro, Becky, begleitete mich – nicht um mir bei der Prüfung zu helfen, sondern um mich …wie nennt man das? … um mich moralisch zu unterstützen.

Der Richter stellte Fragen und ich war ziemlich gut, aber dann stellte er mir diese Frage: ›Wie viele Richter gibt es am Supreme Court?‹ Das war eine Frage, auf die ich die Antwort nicht wusste. Ich wusste, dass Reagan Sandra Day O’Connor ernannt hatte, aber ich kannte die Antwort auf diese Frage nicht. Waren es sechs? Sieben? Neun?

Schließlich sah ich ihn an und fragte: ›Welcher Oberste Gerichtshof? Nevada oder die Vereinigten Staaten?‹ Der Richter lächelte mich an und ich hatte bestanden.

Oh, ich war so aufgeregt. Ich bin rübergesprungen, um ihn zu umarmen, und dabei habe ich einen Stuhl umgeworfen und die Wachen kamen hereingestürmt. Ich glaube, sie dachten, ich würde ihn verletzen oder so.«

Am Freitag, den 19. Oktober 1984, wurde Mitka als Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika vereidigt. Zusammen mit anderen frischgebackenen US-Bürgern stand er im Gerichtsgebäude von Reno, um seiner geliebten Wahlheimat die Treue zu schwören. Was dann geschah, versetzte ihn aus aufgeregtem Jubel in Tränen der Rührung. Alle anderen Neubürger hatten Mitka auserwählt, die Flagge entgegenzunehmen, der sie kurz zuvor ihre Treue geschworen hatten. Mitka überschlug sich fast vor Freude und Dankbarkeit, als die Fahne feierlich gefaltet und ihm überreicht wurde. Mitka küsste die Fahne. Fast 34 Jahre lang hatte er von diesem Tag geträumt, aber ohne Hoffnung, dass sein Traum in Erfüllung gehen würde. Nun war es doch geschehen. Er war ein Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika.

Am Montag, den 22. Oktober, reisten Mitka und Adrienne nach San Francisco, um Mitka einen Reisepass zu besorgen.

Ein Kreis hatte sich geschlossen. Mitka würde nach Deutschland zurückkehren.