Für die Kalinskis war die Zeit in Deutschland noch nicht zu Ende. Am Mittwoch, den 14. November, sollte ein weiteres Ereignis Erinnerungen wachrufen. Martha Deist hatte erfahren, dass ein Mann namens Fobianka, der Kommandant im Pfaffenwald gewesen war, vier Häuser weiter in der Friedloser Straße wohnte. Martha und Willi luden ihn zu sich ein. Von Mitka erwähnten sie nichts.
Schon als Adrienne die Reise nach Deutschland plante, hatte sie sich vorgenommen, ein Tagebuch über alles zu führen, was passierte. Sie entschied sich dafür, zu allen Begegnungen ein tragbares Aufnahmegerät mitzunehmen. Donna hatte die gleiche Idee gehabt. Als Fobianka im Haus der Deists eintraf, griff Donna in ihre Handtasche und schaltete den Rekorder ein. Einige Zeit später gelang es Adrienne, eine Abschrift und Übersetzung von Donnas Tonband zu erhalten. So hat sie eine Aufzeichnung des seltsamen Treffens.
Sowohl Adrienne als auch Mitka erinnern sich an den Moment, als Kommandant Fobianka Mitka vorgestellt wurde. Mitka sagt: »Wir standen einfach nur da und dann sagte Willi: ›Das ist Mitka. Er war im Pfaffenwald, als er ein kleiner Junge war.‹«
Mitka fährt fort: »Sein Kopf ruckte hoch und er starrte mich einfach an. Die ganze Zeit hat er seinen Blick nicht von mir genommen. Er starrte mich einfach an, als könnte er es nicht glauben.«
»Ich glaube, er hatte Angst«, erklärt Adrienne. »Er wusste, was sie da drinnen gemacht haben, und er hatte Angst, dass Mitka reden würde.«
Die Niederschrift von Fobiankas Worten legt nahe, dass die Eindrücke der Kalinskis richtig waren.187 Im Jahr 1984 war das Lager Pfaffenwald ein verborgener Teil der deutschen Geschichte. Wahrscheinlich hatte Kommandant Fobianka Angst, dass die ganze Wahrheit über das Lager ans Licht kommen würde. Bei diesem Treffen bestand Fobianka darauf, dass der Pfaffenwald »ein Sammellager für kranke russische Zivilisten« war. »Sie kamen in den Pfaffenwald, wenn sie krank waren. Wenn sie wieder gesund waren, gingen sie zurück nach Russland.« Er bestritt, dass ein einzelnes Kind ohne Angehörige wie Mitka dort gewesen war. »Ich hatte kein einziges Kind dort, das niemanden hatte.«
Willi forderte Kommandant Fobianka heraus. Er erklärte, Gustav habe Mitka, »ein Kind ohne Familie«, aus dem Pfaffenwald geholt. Fobianka wiederholte daraufhin seine vorherige Behauptung: »Ich habe kein einziges Kind bekommen, das niemanden hatte.« Dann erklärte er weitere Dinge, die im Widerspruch zu Mitkas Erinnerung stehen. »Es gab keine Abtreibungen«, sagte er. Und er behauptete, dass er in Zusammenarbeit mit Ärzten »Medikamente verteilte«, dass »niemand geschlagen werden durfte« und dass er »immer versuchte, die Familien zusammenzuhalten«.
Während Fobianka Geschichten erzählte, um seine gute und verantwortungsvolle Führung des Lagers zu betonen, nutzte er die Gelegenheit, um Pfaffenwald-Häftlinge und auch Susanne Hohlmann, von der er wusste, dass sie eine Dissertation über das Lager Pfaffenwald schrieb, die bald erscheinen würde, zu beschuldigen. Es waren ihre Recherchen, die Fakten über das Lager ans Licht brachten – Morde, Abtreibungen, medizinische Experimente. Fobianka sagte, er und andere sollten Hohlmann verklagen, damit ihr ihr Stipendium aberkannt würde.
Fobianka erinnerte sich auch an die Dolmetscherin des Lagers, möglicherweise die Frau, die mit Mitka auf Jiddisch gesprochen hatte. Sie sei »jüdisch und aus Moskau … eine Musikstudentin« gewesen. »Sie war klein und dick.«
An einer Stelle versuchte Adrienne, ihm eine Frage zu stellen. In der Aufzeichnung murmelt Fobianka spöttisch, sie sei eine dumme Amerikanerin. Es war vielleicht ein Glück, dass er dies nur verhalten und auf Deutsch sagte und dass Adrienne ihn nicht verstand. Es ist nicht schwer, sich eine bissige Antwort von Adrienne vorzustellen, wenn sie die Beleidigung gehört hätte.
Fobianka gluckste grausam, als er die Lagerbewohner beschrieb. »Es ging nicht immer friedlich zu. Manchmal sind die Leute nackt herumgelaufen und dann war das ganze Lager in Aufruhr.« Er beendete das Gespräch mit Selbstbeweihräucherung. »Ich bin mit den Leuten sehr gut zurechtgekommen.«
In den nächsten zwei Tagen suchten Mitka und Willi gemeinsam nach Unterlagen, die weitere Hinweise enthalten könnten. Es war eine mühsame und lästige Suche, die nicht zu Mitkas Temperament passte. Die Frustration wuchs und die Suche war mühsam und verlief leider ergebnislos. Adrienne reagierte verärgert darauf, dass Willi über Mitkas Zeit bestimmte, was Mitkas Stresslevel noch erhöhte.
Ohne dass sie es wussten, hatte sich der längere Aufenthalt der Kalinskis in der Region herumgesprochen. Wäre ihnen klar gewesen, dass sie zu Objekten der Neugierde, ja so etwas wie kleine Berühmtheiten geworden waren, hätten Mitka und Adrienne ihre Gefühle vielleicht etwas gezügelt.
Am späten Nachmittag des 15. Novembers entwickelten sich die Dinge weiter. Drei Autoren – der Journalist Reinhard Renger des renommierten Magazins Stern, ein Reporter der Bad Hersfelder Lokalzeitung 188 und Susanne Hohlmann – wollten Mitka interviewen. Wahrscheinlich hatte Willi Deist Kontakt zu den beiden Journalisten aufgenommen. Susanne Hohlmann hatte Mitka bei der zufälligen Begegnung in der Bäckerei in Asbach über ihre Eltern kennengelernt. Sie wollte etwas über Mitkas Erlebnisse erfahren, da sie in Mitka einen der wenigen Überlebenden des Lagers sah.
Die Nachricht von Mitkas Anwesenheit in Deutschland gab Anlass zu einem weiteren Ereignis: Bürger aus der Region planten eine Feier aus Anlass des Volkstrauertags.189 Die Gefangenen im Lager Pfaffenwald hatten einige ihrer Toten auf einem kleinen verfallenen Friedhof im Lager begraben. Die Idee war, dass Mitka als einer von zwei bekannten Überlebenden des Lagers die Toten des Lagers Pfaffenwald dort ehren sollte. War der Ort damals ein Akt des Widerstands der Lagerinsassen gewesen, so würde er nun weiterhin diesem Zweck dienen.
Worte aus Adriennes unveröffentlichtem Manuskript beschreiben ihren Besuch dort am frühen Morgen, der in Vorbereitung auf die Zeremonie und die Gedenkfeier am Nachmittag stattfand.
Sonntag, der 18. November, war kalt und trostlos, mit einem feinen Nieselregen, der irgendwie mit der Tatsache zusammenzuhängen schien, dass wir einen sehr düsteren Ort besuchen würden. Ich war zuversichtlich, dass Mitka stark sein würde, diesen Aufenthalt durchzustehen, auch wenn die emotionalen Auswirkungen zweifellos für ihn traumatisch sein würden. Ich hatte zwar die ihm verschriebenen Beruhigungsmittel mitgebracht, aber er hatte während unserer gesamten Reise keine einzige Tablette genommen. Er war entschlossen, mit »klarem« Verstand zu sehen, zu hören und zu fühlen – und nicht mit einem Verstand oder Körper, der durch irgendwelche Medikamente betäubt war … Wir sind an diesem Morgen früh aufgestanden und haben Donna und Michael für die nächsten paar Stunden zu Martha gebracht. Dann fuhren Willi, Mitka und ich nach Asbach. Dort trafen wir Susanne und Reinhard … Wir befanden uns sehr bald auf einer schmalen kleinen Landstraße. Es gab keinen anderen Verkehr, keine Häuser, nur Land. Es war absolut nichts zu sehen. Der Himmel war trüb und bedeckt. Das Einzige, was wir in der Ferne sehen konnten, war die Autobahnbrücke in der einen Richtung und Bäume, Bäume, Bäume in jeder anderen Richtung.
Am Rand dessen, was offenbar einmal eine ungepflasterten Straße war, gab es noch einige Stacheldrahtzäune. Mitka stand schweigend da und starrte auf die Brücke in der Ferne. Dann drehte er sich langsam um und blickte in die sanften Hügel und tiefen Wälder und die völlige Leere und Stille.
Seine Hände waren tief in seinen Manteltaschen vergraben. Er sagte nichts, nickte nur langsam mit dem Kopf, als wolle er sagen: »Ja, das ist der richtige Ort.« 190
Das Lager Pfaffenwald hat Mitka mehr als jedes andere Lager, das er durchlaufen hat, beschäftigt. Er wurde die Gespenster dieses Ortes, die Erlebnisse, die er dort hatte, darunter auch solche, über die er nie gesprochen hat, nicht los.
Mitka und Adrienne hatten genügend Zeit, um sich auf die Feier vorzubereiten. Unter anderem kauften sie einen Kranz. Die Schleife war mit den Worten beschriftet:
Als zehnjähriger Junge habe ich vergeblich mit euch gelitten. Als Überlebender grüße ich euch in schmerzlicher Erinnerung.191
Donna, Michael und Martha gesellten sich zu Adrienne, Mitka und Willi, und die Gedenkfeier begann am Sonntag, den 18. November, um 14 Uhr. Adrienne schrieb über die Minuten, die dem Ereignis vorausgingen:
Wir stehen alle herum und warten auf wen auch immer, der kommen wird, um diese armen Seelen zu betrauern … Dann tauchte leise, ganz leise eine Gruppe von vielleicht zehn oder 12 deutschen Bürgern – Männer, Frauen und Kinder – aus den Tiefen des Waldes auf. Sie kamen nicht den Weg entlang, den wir genommen hatten. Stattdessen kamen sie aus der entgegengesetzten Richtung. Sie waren weder feindlich noch freundlich, nur sehr präsent, sehr ernst und sehr schweigsam.192
Nicht alle Anwesenden waren dort, um zu trauern. Ein Mann ergriff das Wort, um zu protestieren. Dies sei keine Gedenkstätte für Deutsche, rief er.
»Niemand hier soll vergessen, dass hier keine Deutschen begraben sind.«
Susanne Hohlmann reagierte auf diese Aussage – sie drehte sich um und spuckte auf den Boden. Ihre Verachtung für die Vorstellung, dass nur tote Deutsche an diesem Trauertag geehrt werden sollten, konnte sie nicht unterdrücken. Adrienne teilte diese Abscheu, aber ihre Aufmerksamkeit galt vor allem Mitka.
Adrienne hörte die Musik. Sie sah die kleine Menge, die sich zum Trauern versammelt hatte, und sie sah ihren Mann vor der Tafel knien, die den Ort markierte, an dem so viele gelitten hatten und gestorben waren. Nach einigen stillen Momenten erhob sich Mitka in Ehrfurcht. Er hielt den Kranz mit der Schleife, die er und Adrienne gekauft hatten. Dort, an der Gedenktafel in den Ruinen des Lagers Pfaffenwald, erwies er all denen, die dort gelitten hatten und gestorben waren, seine Ehre.
Michael erinnerte sich später: »Es war das erste Mal, dass ich meinen Opa weinen sah.«
In der verbleibenden Zeit der Kalinskis in Deutschland setzten Mitka und Willi ihre Suche nach Unterlagen fort. Die Bemühungen waren vergeblich.
Nach der Zeremonie suchte der Stern-Reporter Reinhard Renger das Gespräch mit Anna Dörr-Krause. Er sagte Adrienne und Mitka, dass er über ihre Seite der Geschichte berichten wolle, berichtete aber dann, dass sie zu seiner Enttäuschung kaum etwas anderes zu sagen hatte, als dass sie sich kaum an den »armen kleinen Waisenjungen« erinnerte, dem ihre Familie geholfen hatte.
Dann ging Renger zu Lisa Dörr und wurde von ihr, wie er sagt, »hinausgeworfen« mit der strengen Warnung, »absolut nichts über Gustav oder ihre Familie zu drucken« 193.
Schließlich sprach Renger mit Fobianka. Der hätte ihn nicht abgewiesen, berichtete Renger den Kalinskis. Er habe gesagt: »Pfaffenwald war ein gutes Lager. Wir haben die Leute da gesund gemacht und sie dann mit einem Papier nach Hause geschickt, auf dem stand, dass sie der deutschen Regierung gut gedient haben.« 194
Davon unbeirrt nutzte Renger Informationen, die er von Mitka, den Deists und anderen erhalten hatte, und beschrieb schonungslos, wie »kranke Landarbeiter ermordet wurden und aus Deutschland verschwanden«. Und er zögerte nicht, Einzelheiten über die »Misshandlungen, denen Mitka in der Obhut der Dörrs ausgesetzt war«, zu nennen.
Enttäuscht schrieb Renger im Mai 1985 an die Kalinskis, dass er es »bedauere und beschämt sei«, dass der von ihm geschriebene Artikel nicht veröffentlicht werde. Aus nicht ganz nachvollziehbaren Gründen habe der »Big Boss« entschieden, dass im Stern »kein Platz« dafür sei. Er schickte ihnen jedoch seinen Artikel.
In den nächsten Tagen ihres Besuchs im November 1984 zeigte Mitka seiner Familie mehr von Rotenburg an der Fulda. Gemeinsam besichtigten sie die Orte, die seine Kindheit geprägt hatten. Seine detaillierten Erinnerungen hatten sich in allen Einzelheiten bestätigt. Alle frühen Jahre von Mitka zogen noch einmal durch seine Seele. Und ihn erfüllte eine tiefe Dankbarkeit für seine liebevolle Familie und für das Land, in dem er nun lebte.
Ein Höhepunkt war die Begegnung mit Pater Reinhard Scheffer, einem katholischen Priester aus Beiershausen, der bei der Trauerzeremonie dabei gewesen war. Er war alt und sprach voller Trauer über sein Bedauern, dass er sich nicht früher über das Lager Pfaffenwald geäußert hatte. Er konnte die Vergangenheit nicht so umschreiben, wie er es sich wünschte, aber er gab den Kalinskis und Reinhard Renger die Namen von zwei russischen Ärzten, die im Lager gearbeitet hatten. Außerdem erzählte er ihnen, dass ein Baby, das im Lager geboren worden war, überlebt hatte und in der Nähe wohnte, aber keine Erinnerung an den Ort hatte.
Als letzte Geste lud Pater Scheffer die Kalinskis ein, am Mittwoch, den 21. November, noch einmal auf den Pfaffenwald-Friedhof zurückzukehren. Adrienne konnte die Ironie nicht übersehen:
All die Jahre hatte sich niemand die Mühe gemacht, anzuerkennen, dass es noch mehr Opfer gab. Und jetzt, nur weil Mitka wie ein Geist aus der Vergangenheit zurückgekehrt war, hielten diese Leute plötzlich zwei Trauerfeiern innerhalb von vier Tagen ab. Aber wir waren uns alle einig … ja … wir würden da sein.195
Pfarrer Scheffer leitete die Gedenkfeier, an der etwa 20 deutsche Bürger teilnahmen. Der Gottesdienst schien in gewisser Weise ein nachträglicher Gedanke zu sein, den Adrienne als einen Versuch ansah, das Unrecht zu sühnen, das Familie, Nachbarn und Freunde begangen hatten oder an dem sie zumindest mitschuldig waren. Abgesehen von ihrer ersten zynischen Reaktion wusste Adrienne die Bemühungen zu schätzen. Sie sah darin eine Chance für diese Deutschen, etwas Heilung zu bewirken. Das Ereignis war ein passendes Postskriptum zu einer bedeutungsvollen Reise.
Nach dem Gottesdienst fuhren die Kalinskis und Deists nach Asbach, um die Bäckerei der Hohlmanns zu besuchen und mit Susanne und ihrer Familie Tee zu trinken. An der Wand der Bäckerei hing die Kohlezeichnung eines kleinen Jungen. Sein dickes dunkles, überlanges Haar war zerzaust. Sein schlankes, hübsches Gesicht war ernst. Er lächelte nicht. Seine Augen waren voller Sehnsucht – oder vielleicht auch Traurigkeit –, seine Arme und Hände ruhten auf einer Fensterbank. Willi bemerkte die große Ähnlichkeit zwischen dem Jungen auf der Zeichnung und einem jungen Mitka. Das veranlasste Susanne, die Zeichnung von der Wand zu nehmen. Sie löste sie aus dem Rahmen und rollte sie so zusammen, dass sie für den Transport in die Vereinigten Staaten in einen Koffer passte. Heute hat dieses Bild einen Ehrenplatz links neben dem Kamin im Wohnzimmer der Kalinskis.
Den letzten Abend in Deutschland verbrachte die Familie bei den Deists. Es blieb nur noch, zu packen, Geschenke auszutauschen und sich zu verabschieden.
Die Reise war in unerwarteter Weise ein Erfolg geworden. Das Auffinden von Dokumenten über Mitka würde allerdings bis zu einem anderen Tag warten müssen.
Am Thanksgiving Day flogen die Kalinskis zurück nach Amerika.