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Bar-Mizwa

Mineola, Long Island, 2001

Als Mitka am Grab seines Vaters stand, fühlte er sich, als stünde er auf heiligem Boden. Er hielt die Hand seiner Schwester und blickte auf den Stein, der den Mann ehrte, der ihnen das Leben geschenkt hatte. Sie wussten um eine Verwandtschaft, die sie über Zeit und Entfernung hinweg verband.

Auch wenn Mitka noch immer das ganze Gewicht seines Lebens auf den Schultern trug, schlug es ihm nicht mehr in die Knie wie bei früheren Gelegenheiten. Was einst schwer gewesen war, war nicht weniger schwer. Vielmehr hatte er nun neue Kraft, es zu tragen. In der Stille dieses Augenblicks wog die Erinnerung nicht mehr als eine Feder.

Mitka hatte gesagt: »Ich bin zufrieden.« Das war wahr und auch nicht wahr. Ihm war die Erfüllung eines lang verwehrten Bedürfnisses geschenkt geworden. Er hatte seinen Vater und seine Schwestern gefunden. Aber er hatte noch immer niemanden, den er »Mutter« nennen konnte. Wenn die Suche ein Ende haben sollte, musste er jenseits dieser Wegstation beharrlich weitergehen. Der Friede war immer noch flüchtig, irgendwo außerhalb seiner Reichweite. Er wollte seine Mutter.

Mitka und Adrienne kehrten in die Wüste von Nevada und in ihren Alltag mit seinen üblichen Gewohnheiten zurück. Doch weder das Zuhause noch der gewohnte Lebensrhythmus konnten Mitkas Gedanken wirklich zur Ruhe bringen.

Inzwischen hatte Mitka gelernt, dass er nicht in einem ständigen Schwebezustand leben konnte, und sei es nur um seiner eigenen Gesundheit willen. Er musste schlafen, essen, laufen, arbeiten, spielen und präsent sein. Manchmal gelang es ihm, ohne die ständige Erinnerung an längst vergangene Ereignisse zu leben, öfter aber nicht.

Im Laufe der nächsten vier Jahre interessierte sich die Presse, meistens Lokalreporter, erneut für Mitka. Der lange Nachrichtenbeitrag über Mitka von Lyanne Melendez wurde im August 1997 auf KGO ausgestrahlt. Die Reportage weckte das Interesse von Louise Bobrow.

Louise war eine Krankenschwester aus Long Island, New York, die Geschichten liebte. Ein Ausdruck dieser Leidenschaft war es, andere dazu zu bringen, ihr ihre Geschichten zu erzählen, und so war sie zu einer professionellen Schriftstellerin und Dokumentarfilmerin geworden. Als sie auf Mitkas Geschichte stieß, arbeitete sie gerade mit der Shoah Foundation zusammen daran, Geschichten von Überlebenden des Holocaust aufzuzeichnen.

Louise suchte Mitka auf und nahm seine stundenlangen Erinnerungen an die Ereignisse seiner Kindheit auf.218 Von seiner Geschichte tief berührt, erzählte sie sie auch Rabbi Anchelle Perl, dem Rabbiner der orthodoxen jüdischen Synagoge Chabad Mineola auf Long Island. Er war besonders bewegt von Mitkas später Entdeckung und Bestätigung, dass er tatsächlich Jude war. Auf Drängen von Bobrow rief der überschwängliche und kontaktfreudige Rabbiner Mitka an, um ihn in der »Familie« willkommen zu heißen.

Der erste Anruf von Rabbi Perl bei Mitka war der Beginn einer Telefonfreundschaft.219 Weitere Anrufe folgten. In einem dieser Gespräche fragte ihn der Rabbiner, ob er jemals eine formelle Bar-Mizwa gehabt habe.

Mitka hatte natürlich nie seine Bar-Mizwa gehabt. Als er 13 Jahre alt war, das Alter, in dem jüdische Jungen die Zeremonie durchlaufen, um die Rechte und Pflichten eines jüdischen Erwachsenen zu übernehmen, hatten die Dörrs ihn versklavt und ihm nicht einmal gesagt, dass er Jude war.

Diese Information inspirierte Rabbi Perl zum Handeln. Er wollte Mitka kennenlernen und hatte einen Vorschlag für ihn. Würde er seine Bar-Mizwa bei Chabad Mineola feiern? Diese Frage öffnete Mitka sofort eine Tür, von der er vorher nicht einmal gewusst hatte, dass es sie gab. War das möglich?

Mitka denkt über die Einladung von Rabbi Perl nach.

Über meine Mutter 220 gab es immer noch keine Aufzeichnungen. Deshalb wurde es wichtig, die einzige Verbindung, die ich zu ihr hatte, zu erforschen: unseren Glauben. Ich lernte, dass ein jüdischer Junge erst mit seiner Bar-Mizwa wirklich volljährig wird. Könnte ich so spät im Leben noch ein Mann werden? 221

Mitka wusste, dass er eine Bar-Mizwa haben wollte. Aber er zögerte. Unsicherheit und Scham überwältigten ihn – aus mehreren Gründen.

Mithilfe von Adrienne, die sich um den Papierkram kümmerte, hatte er immer wieder versucht, Reparationszahlungen von der deutschen Regierung zu beantragen. Tatsächlich erhielt er einige kleine Schecks für die nicht gemeldete – und nicht bezahlte – Arbeit, die er für die Dörrs geleistet hatte. Es war jedoch nie gelungen, etwas aus dem Child Survivor Fund der Conference on Jewish MaterialClaims against Germany bekommen. »Die Kriterien für die Anspruchsberechtigung legen unter anderem fest, dass die Entschädigung auf jüdische Naziopfer beschränkt ist.« 222 Trotz erdrückender Beweise konnte Mitka keine offizielle Geburtsurkunde vorweisen, die seine jüdische Identität hätte belegen können. Er konnte den von den Bürokraten geforderten Beweis nicht liefern. Er war der Meinung, dass das Fehlen offizieller Unterlagen in Verbindung mit seiner Unfähigkeit, die Thora zu lesen und zu studieren, wie es Tradition war, ihn mit Sicherheit von der Bar-Mizwa ausschließen würde.

»Ich habe keine offiziellen Dokumente, die belegen, dass ich jüdische Wurzeln habe«, sagte Mitka zu Rabbi Perl. Dann strahlt er, als er die Antwort des Rabbiners wiedergibt: »Was zählt, ist, dass Sie eine jüdische Seele haben.«

Dann sprach Mitka seine andere Angst an. »Wie konnte ich, der ich nicht einmal lesen und schreiben kann, so etwas tun? Irgendwie schäme ich mich so. Man soll dafür lesen und lernen, aber das kann ich nicht.«

Mitkas Analphabetismus war jedoch kein Ausschlusskriterium, zumindest was Rabbi Perl betraf. »Er lehrte mich die traditionellen Gebete und die Teile der Thora, die ich brauchte. Wenn ich die Worte hörte, waren sie mir vertraut. Vor allem, wenn sie mehr gesungen als gesprochen wurden. Wenn ich sie sozusagen gesungen habe … Ich konnte sie mir auf diese Weise sicher merken … Und er hat mich gelehrt, dass man den Namen G-ttes nicht ausspricht. Aus Respekt sagen die orthodoxen Juden ›Haschem‹. Das ist es, was sie anstelle seines Namens sagen.«

In einem Interview aus dem Jahr 2010 erläuterte Rabbiner Perl seine Einstellung zu Mitkas Vorbereitung auf die Bar-Mizwa:

Der Zweck des Thorastudiums besteht darin, die hebräische Sprache lesen zu lernen, die Buchstaben aussprechen zu lernen, zu erklären, wie sie aussehen, wie man sie liest und wie man sie singt … Die Art, wie wir lesen, und die Art, wie wir singen, die Art und Weise, wie wir etwas betrachten, bezieht sich nicht nur auf die eigentlichen Buchstaben, sondern sie ist eine Lektion für das Leben. [Wenn] man etwas betrachtet, kann man es auf die eine oder andere Weise lesen. Man muss lernen, das Lied des Lebens anzuwenden … Mitka hatte nicht die übliche Vorbereitung von sechs bis acht Monaten [Studium], aber Mitka brauchte diese Vorbereitung auch nicht, denn seine Lebenserfahrung und seine Fähigkeit zu überwinden – das war die beste Erfahrung, die beste Vorbereitung, die wir allerdings in der Form niemandem wünschen würden.
Seine Bar-Mizwa hat eine historische Dimension, denn er kam aus einer Zeit, in der es Menschen gab, die ihn und Menschen wie ihn mit aller Macht vernichten wollten. Er hatte das überlebt und überlebte es, ohne dass es ihn verbittert oder hart gemacht hätte. Er hat nie Hass auf seine Herkunft zum Ausdruck gebracht, sondern nur seine Wertschätzung für das, was er war.
Was ist der Unterschied zwischen Mitka und dem typischen dreizehnjährigen Jungen, der Bar-Mizwa feiert? Die Antwort ist: Abgesehen von seiner Größe und seinem Alter gibt es kaum einen Unterschied. Sein Geist ist so jung wie der eines heute Dreizehnjährigen. Die symbolische Bedeutung der Bar-Mizwa ist die öffentliche Bekundung einer vorhandenen, aber noch verborgenen Heiligkeit, die sich mit dem Alter entwickelt.
Mitka hatte eine so ungewöhnliche Geschichte überlebt … Andere waren getötet worden, aber er lebte und wurde ein Sklave … Dann, so viele Jahre später, war es für ihn an der Zeit, Bar-Mizwa zu feiern.223

Adrienne schwebte im siebten Himmel. Die ganze Familie ebenfalls. Diese Zeremonie würde eine Leere in Mitkas Herz füllen. Bei der Planung der Reise nach New York wurde vereinbart, dass ihr Enkel Michael und ihr Schwiegersohn Mike Bland224 Mitka und Adrienne begleiten würden. Am 18. August 2001 stieg die vierköpfige Gruppe in den Flieger zum Big Apple.

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Louise Bobrow hatte Mitka und Adrienne freundlicherweise eingeladen, bei ihr auf Long Island zu wohnen. Mike und Michael fanden eine Unterkunft in einem nahe gelegenen Hotel. Die Familie verbrachte Sonntag, den 19. August, mit einer Fahrt mit der U-Bahn – eine Aktivität, auf die Mitka bestand, weil »ich diese U-Bahn wirklich mag« – und einem Spaziergang über die Promenade eines nahe gelegenen Strandes. Es war ein ruhiger Tag für sie, ein Tag zum Ausruhen vor dem wichtigen Ereignis, das für den nächsten Morgen geplant war.

Montag, der 20. August, der Tag von Mitkas Bar-Mizwa, war für Long-Island-Verhältnisse nicht heiß, aber die Luftfeuchtigkeit ließ es für die Kalinskis, die das trockene Wüstenklima von Sparks gewöhnt waren, so erscheinen. Adrienne, Mitka, Michael und Mike machten sich früh auf den Weg zur Synagoge, damit Mitka vor der Zeremonie noch Zeit mit Rabbi Perl verbringen konnte.

Der lang ersehnte Moment war gekommen. Wie es der Brauch verlangt, nahm Adrienne in der Synagoge auf der linken Seite der knapp zwei Meter hohen Mechiza Platz, einer Abtrennung, die Männer und Frauen bei orthodoxen Gottesdiensten trennt.225 Sie trug einen kleinen Anhänger, den sie auch heute noch trägt: einen Davidstern mit einem christlichen Kreuz in der Mitte, den sie Jahre zuvor in einem Holocaustmuseum in London gekauft hatte. Für Adrienne, die keine Jüdin ist, ist der Anhänger ein wichtiges Symbol für die Einheit im Glauben mit ihrem Mann. Ihr Enkel Michael und ihr Schwiegersohn Mike, beide mit Kippa, saßen in der ersten Reihe rechts. Um Mitka zu ehren und zu unterstützen, hatten sich an diesem besonderen Montagmorgen226 150 Gemeindeglieder versammelt.

Als alle Platz genommen hatten, betrat Mitka die Synagoge. Er trug einen schwarz-weißen Tallit (Gebetsschal), seine Kippa und die Thorarolle. Er strahlte vor Freude, während er mit sehr bewusst gesetzten Schritten durch den Raum ging und in die Gesichter der Menschen sah, die mit ihm feiern wollten. Er sah Rabbi Perl, der auf dem Podium wartete, und der Anblick beruhigte seine Nerven. Vorn angekommen, legte er die Schriftrolle vorsichtig auf das Lesepult. Rabbi Perl, der nur knapp 1,60 m groß war, hätte neben Mitka klein aussehen müssen; an diesem Tag tat er das nicht. Vielleicht lag es an seinem Überschwang, mit dem er die Gemeinde zu diesem heiligen Moment begrüßte, vielleicht aber auch an der Demut und Ergriffenheit, die Mitka ausstrahlte. Auf jeden Fall war für alle offensichtlich, welche Autorität und welcher Respekt Rabbi Perl entgegengebracht wurde.

Rabbi Perl hob zu Beginn des Gottesdienstes triumphierend die Faust wie ein Läufer, der gerade als Erster die Ziellinie überquert hatte. »Applaus für Mitka Kalinski bei seiner Bar-Mizwa«, rief er. Wie ein Mann applaudierte die Gemeinde mit lautem Klatschen, das sich schließlich in einen gemeinsamen Rhythmus einschwang.

Als sich der Jubel gelegt hatte, fuhr der Rabbiner fort. »In Nazideutschland hätte eine Bar-Mizwa wie diese niemals stattgefunden. Ich möchte allen Vertretern der Öffentlichkeit, die sich die Zeit genommen haben, heute Morgen hier zu sein, meinen Dank und meine Anerkennung aussprechen.« Dann schaute er Mitka direkt an und sagte: »Niemals – niemals hättest du dir damals vorstellen können, dass an deiner Bar-Mizwa Richter und Staatsbeamte teilnehmen würden.«

In diesem Moment erwähnte Rabbi Perl noch nichts davon, dass er sich bei etlichen prominenten Amtsträgern auch außerhalb der Long-Island-Gemeinde um Unterstützung für Mitka bemüht hatte, und viele hatten herzliche, persönliche Glückwunschschreiben geschickt, um Mitka zu würdigen. Darunter waren der New Yorker Gouverneur George Pataki, Senatorin Hillary Clinton und Vizepräsident Dick Cheney.

An diesem Punkt seines Berichts öffnet Mitka ein Album und bemerkt voller Stolz: »Wie ist das? Diese Leute kennen mich und meine Geschichte.«

Er weist auf die beeindruckenden Unterschriften und die offiziellen Siegel hin, die das Album enthält, und in seiner Gestik wird deutlich, welche Wertschätzung diese Briefe seinem Leben verleihen. Die Briefe sind nicht nur Routineschreiben, sondern für ihn sind sie kostbare Ausdrucksformen dessen, was ihm so lange verweigert wurde: eine offizielle Anerkennung dessen, was er erlitten, und, was vielleicht noch wichtiger ist, dessen, was er erreicht hat.

Nachdem Rabbi Perl die öffentliche Unterstützung für Mitka gewürdigt hatte, schaltete er um. Mit einem verschmitzten Grinsen erklärte er der Gemeinde: »Ich glaube, dies ist eine der schwierigsten Bar-Mizwa-Feiern, die ich je zu leiten hatte. Normalerweise ist der Rabbiner größer als der Bar-Mizwa-Junge.« Um das zu demonstrieren, stellte sich der Rabbiner auf die Zehenspitzen und versuchte vergeblich, Mitkas Größe zu erreichen.

Dann, mit dem Timing eines geübten Komikers, fuhr Rabbi Perl fort: »Normalerweise ist der Rabbi älter als der Bar-Mizwa-Junge. Und normalerweise hat der Rabbiner mehr Erfahrung als der Bar-Mizwa-Junge.« Lachen brach aus, bevor sich eine stille Feierlichkeit über den Raum legte.

»Wir können uns nicht vorstellen, welche Herausforderungen der liebe Mitka in seinem Leben zu bewältigen hatte. Und deshalb müssen wir dir, Mitka, Danke sagen. Danke für deinen Mut. Danke, dass du ein Beispiel der Hoffnung bist. Wir schätzen dich und danken dir für das, was dein Leben uns gibt.«

Dann wandte sich Rabbi Perl an Louise Bobrow. Es war ihre Initiative gewesen, Rabbi Perl von Mitka zu erzählen, die zu diesem Tag geführt hatte. Er lud sie ein, zur Gemeinde zu sprechen, und sie tat es strahlend.

»Als ich Mitka zum ersten Mal traf, war ich tief bewegt von seiner Geschichte – in den Lagern und dann sieben Jahre lang als Sklave, davon vier Jahre nach dem Krieg. Und ich spürte vor allem, dass er ganz und gar Jude sein wollte. Als ich Mitka traf, rang ich gerade mit meiner eigenen Spiritualität. Und er« – sie unterbrach sich kurz und lächelte Mitka an – »hat mich näher zu Haschem gebracht. Deshalb möchte ich mich bei dir bedanken, Mitka, und ich sage: Mazel tov

Jetzt war der Moment gekommen, an dem Mitka tun musste, was von einem angehenden Bar-Mizwa verlangt wurde. Auf Hebräisch, wie Rabbi Perl es ihm beigebracht hatte, betete er.

Die Worte – Worte, die, wenn sie gesungen wurden, klar und aus seiner lang zurückliegenden Kindheit vertraut klangen – sprudelten aus seinem Mund. Schwach, aber deutlich, kannte er diese Sprache seines Volkes aus einer Zeit, bevor er in einem Kinderheim in der Ukraine zurückgelassen wurde.

Dann sprach Mitka auf Englisch weiter. In einem Interview, das später in Guideposts veröffentlicht wurde, erinnerte sich Mitka an diesen Moment.

Ich rezitierte die Gebete, die der Rabbiner mir beigebracht hatte, und sprach – ein wenig, auf Englisch – darüber, was ich nach all den Jahren fühlte. So lange habe ich dieses Gewicht mit mir herumgetragen, das Gewicht meiner Vergangenheit, zu viel zu wissen und doch nicht genug. Jetzt fühle ich eine solche Leichtigkeit in mir, an dem Ort, an dem ich sie in jener lang zurückliegenden Nacht gespürt hatte, als Haschem im Rascheln der Blätter zu mir sprach … in meiner Seele.227

Als Mitka seine kurzen Ausführungen beendete, ertönte ein Schofar (Widderhorn). Die Freude über das Ereignis wurde für alle hörbar herausposaunt. Rabbi Perl griff den schallenden Ruf auf.

Möge Haschem dich segnen, Mitka Kalinski …
Die Gemeinde antwortete mit einem
Amen.
… mit einem Leben in Frieden.
Amen.
… mit einem Leben voller Güte.
Amen.
… mit einem Leben voller Segnungen.
Amen.
… mit einem Leben, für das gut gesorgt ist.
Amen.
… mit einem Leben mit guter körperlicher Gesundheit.
Amen.
… mit einem Leben, in dem du niemals mehr Scham und Demütigung erleidest.
Amen.

Mit jedem »Amen« (So soll es sein) hatte diese jüdische Gemeinde ihre Zustimmung zu den Segenswünschen des Rabbiners bekundet.

Ein letzter Schritt blieb noch zu tun. Rabbi Perl legte Mitka zwei Tefillin, kleine Lederkapseln, die Pergamente mit Worten aus der Thora enthalten, an – eine auf seine Stirn, eine auf seinen Arm. Dies geschah im Gehorsam gegenüber dem Gebot in 5. Mose 6,8: »Du sollst [die Gebote] als Zeichen auf deine Hand binden, und sie sollen zur Erinnerung zwischen deinen Augen sein.«

Damit war der Mann-Junge zum Mann geworden, mit allen Verantwortungen und Privilegien, die mit diesem heiligen Status verbunden sind. Es gab nur noch eines zu tun: feiern.

»Rabbi Perl sagte mir: ›Zieh lieber deine Tanzschuhe an.‹ Ich hatte keine Ahnung, was mich erwarten würde«, erinnert sich Mitka. »Der Rabbiner – oh, er sprang einfach auf. Er war ein kleiner Kerl, aber er war so glücklich, dass er hochsprang, bis sein Kopf auf der Höhe von meinem war.«

Mitka wurde auf die Schultern der Männer gehoben und in den Raum getragen, wo schon Musik erklang. Es war die traditionelle jüdische Tanzmusik für die Hora-Reigentänze. Die Menschen fassten sich an den Händen und tanzten.

Schließlich unterbrach Mitka den Tanz, um die Gäste zu begrüßen, die ihm »Mazel tov« sagen wollten. Einige wollten sich ausführlich unterhalten, um ihre Geschichten zu erzählen oder mehr von ihm zu hören.

»Oh, diese Leute – sie waren so nett zu mir. Und jeder wollte mit mir reden.« Er lacht: »Sie hatten ein wunderbares Mittagessen, aber ich habe es verpasst. Es wurde so viel geredet, dass ich nicht zum Mittagessen kam.«

Dass er das Essen verpasste, machte Mitka nichts aus. Die Freude, mit seinen neu gefundenen Brüdern und Schwestern zu sprechen, ließ jeden Gedanken an das Essen verblassen.

Als er und Adrienne sich anschickten zu gehen, sprach Mitka noch aus, was ihm auf dem Herzen lag.

Ich weiß, dass es jetzt möglich ist. Jedes Mal, wenn sie diesen Segen sagten, dachte ich an die Zeit, als ich ein Niemand war. In jenen Jahren war ich nur eine Judenfresse. So nannte man mich. Und hier höre ich die schöne Stimme des Rabbis und kann es einfach nicht glauben. Wie kann jemand so etwas für mich tun, für jemanden, den er nicht einmal kennt?
Ich möchte dem Rabbi danken. Ich möchte ihm so sehr danken. Er hat mich aufgerichtet. Er gab mir Mut. Ich habe meine Leute gefunden. Es ist, als hätte ich sie mein ganzes Leben lang gekannt. Ich habe mein Volk gefunden.228

Jahre später erklärte Rabbi Perl in einer Radiosendung von 2012:

Auch wenn es schon viele Jahre her ist, aber wir sprechen alle immer noch mit Stolz von der besonderen Bar-Mizwa-Zeremonie, die wir mit Mitka gefeiert haben. Er ist ein sehr bescheidener und aufrichtiger Mensch, dessen Lebensgeschichte als Kindersklave während des Holocausts uns weiterhin täglich inspiriert. Er ging an seine längst überfällige Bar-Mizwa-Feier hier bei uns auf Long Island mit ebenso offenen Augen voller Staunen und Freude heran, wie man sie im Gesicht eines jeden Dreizehnjährigen findet, der Bar-Mizwa wird. Mitka bleibt in unseren Herzen und Seelen ein Leuchtturm des Lichts und der Hoffnung und beweist ohne jeden Zweifel, dass die Nazis zwar Gewalt über seinen Körper gehabt haben mögen, dass Mitkas Seele aber immer wach und frei und in allen Umständen verbunden war mit dem unendlichen Allmächtigen.229

Dass Mitka eingeladen wurde, seine Bar-Mizwa ausgerechnet in New York zu feiern, war eine glückliche Fügung, mit der sich ein Kreis schloss. 50 Jahre zuvor, im Jahr 1951, hatte Mitka zum ersten Mal amerikanischen Boden betreten und in einer Synagoge in der Bronx Zuflucht gefunden. Seine erste Fahrt mit der U-Bahn hatte ihn nach Long Island geführt, in die Nähe des Ortes, an dem er nun zu seinem Glauben zurückgefunden hatte. All diese Erinnerungen stiegen nun auf und überfluteten Mitka mit Nostalgie.

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Der Tag hatte eine Fülle von Erinnerungen, Erwartungen und Emotionen mit sich gebracht. Mitka kam wieder in Berührung mit allem, was einst schmerzhaft gewesen war, aber auch mit wenigen kostbaren, schönen Erinnerungen. Er erinnerte sich daran, wie er als Kind so oft dem Tod begegnet war und nicht wusste, was das bedeutete. Er dachte daran, wie er die englische Sprache gelernt hatte, an seine Arbeit, sein Mannsein, an die Liebe, die Ehe, die Kindererziehung, den Unfall und die Genesung. Er dachte daran, wie er sich selbst das Akkordeonspielen beigebracht hatte und wie er gelernt hatte, Uhren und Maschinen zu reparieren, und an die Tiere, die er geliebt hatte, und an die wertvollen Filme, die seine »Lehrer« gewesen waren. Und dann war da noch die immer wiederkehrende Frage, wer er war.

Irgendwann am Morgen seiner Bar-Mizwa wurde ihm bewusst, welche Sicherheit es bedeutete, nun zu einer Familie zu gehören, die über seine unmittelbare Familie hinausging. Die meiste Zeit seines Lebens war er sich nicht sicher gewesen, wie er Jude sein sollte, und hatte es sogar gelegentlich geleugnet. In seinem Innersten wusste er, dass er Jude war, aber um zu überleben, hatte er oft versucht, sich von diesem unausweichlichen Teil seines Wesens zu lösen. An diesem Tag zerrte er nicht an dem Anker, sondern ließ sich von ihm halten. Er trieb nicht ziellos durchs Leben. Wo einst Distanzierung notwendig gewesen war, war nun eine Bindung entstanden.

Bevor er nach Nevada zurückkehrte, wollte Mitka noch einen weiteren Ort in New York besuchen: das Museum of Jewish Heritage in der Nähe des Battery Park. Während ihres Besuches dort trennte er sich irgendwann von Adrienne, um allein zu sein.

»Ich ging an einen Ort, an dem ich allein war, und schaute einfach auf die Freiheitsstatue. Ich erinnerte mich, dass ich sie gesehen habe, als ich 1951 zum ersten Mal nach New York kam.«

In diesen Momenten, während er allein auf einer Bank im Battery Park saß, sprach Mitka zu »dieser schönen Statue« auf der kleinen Insel in New York Harbor. Es reichte nicht aus, seine Worte nur still in Gedanken zu bewegen. Es genügte nicht, sie zu flüstern. Er musste »die Dame« laut ansprechen. »Als ich zum letzten Mal hier war, wusste ich nicht, wer du bist. Aber jetzt weiß ich es. Und ich möchte dir einfach nur danken.«

Mitka denkt zurück an diesen einsamen Moment. »Es macht mir nichts aus, euch das zu sagen. In jenem Moment war ich voller Tränen.«

Freiheit war für Mitka kein abstraktes Konzept, sondern eine spürbare Realität. An diesem Tag empfand er dasselbe Gefühl wie 1949, als er nach der Befreiung durch amerikanische GIs vor Freude herumsprang und rief: »Ich bin frei!« Diesmal erwuchs seine Freiheit paradoxerweise daraus, dass er sich an den jüdischen Bund mit Gott gebunden hatte.

Mitka erzählt seine Geschichte in einfachen Worten. »Ich wusste es nicht … jetzt weiß ich es … Ich möchte dir einfach nur danken.« In Amerika beheimatet, mit einer Familie, die ihn liebt, und in einer Glaubensgemeinschaft, die ihn mit den Eltern, die er nie kannte, ebenso verbindet wie mit der heiligen Gegenwart, die einst zu ihm sprach, fühlt sich Mitka mehr als gesegnet.

Das jüdische Waisenkind, das so oft im Visier von Hitlers mörderischen Absichten stand, hatte gesiegt. Der Gefangene, der kleine Mitka, hatte die Lager lebend verlassen – beschädigt, aber am Leben.

Die Nazis hatten ihm seine Familie, seinen Glauben, seinen Namen und seine Freiheit genommen. Aber all diese Dinge hat er zurückgewonnen. Sein Name ist Mitka, und er ist stolz darauf, Jude zu sein – er hat überlebt und es sogar erlebt, wie einige seiner Kinder das Judentum angenommen haben. Was die Heuschrecken gefressen hatten, wurde erstattet.230

Mitka ist ein unverschämt fröhlicher Mann, ein Mann, der liebt, der keine Rache will, der vertraut, der den Augenblick genießt, der die Wahrheit annimmt und der seinen Weg in der Erwartung geht, Antworten auf noch ungelöste Rätsel zu finden.

Aber er ist auch ein Mann, der mit einem Schmerz im Herzen lebt, ein Mann, der sein lebenslanges Trauma zum Teil dadurch bewältigt, dass er alles, was ihm widerfahren ist, erzählt und immer wieder erzählt. Er ist entschlossen, nicht zu vergessen, und indem er seine Geschichte erzählt, erinnert er sich.

Als Mitka am Tiefpunkt war, eingesperrt in seinem kalten Zimmer bei den Dörrs, hörte er eine Stimme. Er glaubte, was er damals hörte, und er glaubt es auch jetzt. Was er gehört hatte – »Am Ende findest du dein Ziel« – bedeutet: »Am Ende wirst du deine Bestimmung finden.« Diese Stimme und diese Worte ließen ihn dunkle Jahre und einsame Zeiten überstehen. Es war seine Bar-Mizwa, die ihm bestätigte, was seine Bestimmung war.

Nachdem er nach Amerika gekommen war, versuchte Mitka in den folgenden 30 Jahren verzweifelt, dem Jungen zu entkommen, der vor so langer Zeit in einem Kinderheim in der Ukraine zurückgelassen worden war. Er versuchte, das Waisenkind zu begraben, das in überfüllten Viehwaggons gesteckt hatte, und den Sklaven zu verleugnen, der in der Badegasse 14 geschlagen worden, der ausgehungert und fast erfroren war. Er hat die Stimme nie vergessen. Aber manchmal hat er es versucht. Er bemühte sich, seine Vergangenheit, seine Scham darüber, geheim zu halten.

Er konnte es nicht.

Neu geprägt kam Mitka von seiner Bar-Mizwa und trat kühn vor die Freiheitsstatue. Er sprach zu ihr in Worten, die ein Kind wählen würde, aber er sagte ihr die hart errungene Wahrheit eines alten Mannes.

Von Anfang an steckte in dem Jungen ein Versprechen. Da war Liebe und Großherzigkeit, da war Lachen und Musik, da war Zähigkeit und Widerstandsfähigkeit, da war Sturheit und Furchtlosigkeit, Loslassen und Festhalten, Schmerz und Qual, und da war Hoffnung und Glauben. Dann, auf dem Tiefpunkt, wurde dem Jungen das Versprechen gegeben, dass sich seine Bestimmung erfüllen würde. Immer wieder wurde es fast ausgelöscht. Aber er hielt an dem Versprechen fest. Der Mann, der Grund hatte zu hassen, entschied sich für die Liebe. Er lehnte es ab, verbittert zu werden, und fand das Glück. Er, das Opfer, lehnte das Opferdasein ab. Die Gnade, die er empfing, wurde zu der Gnade, die er weitergab.

Der Mann, der seinen Namen nicht schreiben konnte, machte die Freude zu seiner unvergesslichen Unterschrift. Durch die Bar-Mizwa war der Junge nun zum Mann geworden. Das Versprechen hatte sich erfüllt.