Jetzt, im Frühjahr 2020, während ich diese Zeilen schreibe, begeht die Welt den 75. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager durch die Alliierten. Eine Möglichkeit, das Gedenken an solch epochale Ereignisse zu begehen, besteht darin, Geschichten zu erzählen – Geschichten wie die von Mitka. Seine Geschichte zu erzählen bedeutet, eine weitere Salve gegen eine Festung von Ideen zu feuern, die nur Wahnsinn, Zerstörung und Tod bringen.
Im Sommer 2016 wurden Lynn und ich durch Robert Lucchesi mit den Kalinskis bekannt gemacht. Joel hatte sie schon früher kennengelernt – wiederum durch Robert. Robert war es, der sich mehr als 20 Jahre lang beharrlich darum bemüht hatte, dass Mitkas Geschichte erzählt wird. Er blieb beharrlich dran, obwohl nichts darauf hinwies, dass dies jemals geschehen würde. Jetzt erhält er seinen Lohn dafür, an Dinge geglaubt zu haben, von denen damals nichts zu sehen war.
Heute lasse ich die Arbeit an dieser Geschichte Revue passieren. Ich denke an die unermüdliche Unterstützung von Lynn und Joel – die Hunderte von Stunden an Interviews und Telefonaten, die Tausende von Dokumenten und Bildern, die studiert und ausgewertet wurden, die Dutzende von Büchern, die bei der Recherche verwendet wurden. Besonders gern erinnere ich mich an die Zeit, die ich mit Mitka und Adrienne und mit dem Großteil ihrer Familie in Sparks, Nevada, verbracht habe.
Die Geschichte, die in diesem Buch erzählt wird, endet mit Mitkas Bar-Mizwa im Jahr 2001 und damit, dass Mitka zum ersten Mal ein Paar Tefillin anlegt, die verkünden: »Höre, Israel! Der Herr ist unser Gott, der Herr allein.«
Sein ganzes Leben lang hat sich Mitka danach gesehnt, etwas zu haben, was ihn mit seiner Familie und mit etwas darüber hinaus verbindet. Im Ritual der Bar-Mizwa erfuhr er eine Verbindung zu seinem jüdischen Glauben und zu seiner Vergangenheit, die diese Sehnsucht stillte.
In den 19 Jahren, die dazwischenliegen, ist viel passiert. Mitka ist jetzt Mitte 80, Adrienne ist 90. Er lebt weiterhin mit einem tiefen Schmerz, der ihn verfolgt, und das wird wahrscheinlich bis zum Tag seines Todes so sein. Er weiß weder, wer seine Mutter war, noch das Datum und den Ort seiner Geburt.
Seit wir Mitka und Adrienne im Jahr 2016 kennengelernt haben, waren wir immer wieder erstaunt über die bemerkenswerten Eigenschaften, die sie gemeinsam haben. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters sind sie immer noch aufgeweckt, neugierig und engagiert. Sie hören zu, lachen, unterhalten sich, stellen Fragen, scherzen, denken nach und nehmen so am Leben teil wie viel jüngere Menschen. Der Austausch ist oft lustig, laut und manchmal chaotisch, aber immer mit einem Unterton von Loyalität und Liebe. Sie sind voll und ganz im täglichen Leben präsent. Doch trotz all dieser guten Dinge kämpft Mitka immer noch mit seiner Vergangenheit, und zwar vehement.
Im Jahr 2005 mussten Mitka und Adrienne den Verlust ihres Sohnes Jimmy erleben. Seit seinem Unfall im Jahr 1974 und der dabei erlittenen Hirnverletzung hat er seine vollen körperlichen Fähigkeiten nie wiedererlangt. Die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens lebte er mit den Auswirkungen der Multiplen Sklerose und war oft auf den Rollstuhl angewiesen. Er führte jedoch ein gutes Leben und schenkte seinen Eltern zwei Enkelkinder.
Ihre drei lebenden Kinder – Mike, Cheryl und Donna – und ihren Enkel Michael, der in vielerlei Hinsicht ein Sohn ist, betrachten Mitka und Adrienne nicht nur als alternde Senioren, sondern als aktive, verantwortungsbewusste Oberhäupter der Sippe, und das sind sie tatsächlich auch. Es ist ein Spagat, den sie geschickt und effektiv meistern, trotz des Chaos und einiger körperlicher Einschränkungen bei Adrienne. Die Tage sind ausgefüllt mit Aktivitäten mit dem einen oder anderen Mitglied der Familie, zu der inzwischen sieben Enkel und sieben Urenkel gehören. Sie regeln und verhandeln Familienangelegenheiten in einer Weise, die die Hälfte ihrer Altersgenossen ermüden würde. Der jüngste Urenkel, Aiden Mitka, der 2017 geboren wurde, wurde nach den beiden benannt. Bis zu drei Tagen in der Woche sind sie die Babysitter für ihn.
Eine Möglichkeit, wie die Kalinskis ihre Tage verbringen, ist das Einkaufen. Bei diesen Ausflügen geht es weniger darum, etwas zu kaufen, als vielmehr darum, aus dem Haus zu kommen. Beim Einkaufen lässt sich der immer noch kontaktfreudige Mitka nicht davon abhalten, sich mit Verkäufern, Managern und anderen Kunden anzufreunden. Er geht neben Adrienne her, hilft ihr, den Rollator zu steuern, öffnet ihr Türen und trägt die Einkäufe. Währenddessen geht das gutmütige Geplänkel zwischen den beiden unvermindert weiter. Als Beobachter fühlt man sich ein bisschen wie in einer Filmkomödie.
Eine weitere Lieblingsbeschäftigung der beiden ist es, an Casino-Büfetts zu essen. Adrienne liebt Muscheln in der Schale, die mit viel Knoblauch und Butter gekocht sind. Mitka verschlingt immer noch erstaunliche Mengen seiner Lieblingsgerichte – gebratenes Hähnchen, Maiskolben und Kartoffeln.
Mitka ist in Sparks und Reno zu einer kleinen Berühmtheit geworden. Das Reno Philharmonic Orchestra hat ihn geehrt, und er spricht gelegentlich in Schulen, bei Veranstaltungen der Rotarier und der Kiwanis und anderen Events in der Gemeinde. Manchmal werden er und Adrienne erkannt, wenn sie durch ein Geschäft gehen. Sie bleiben stehen und sprechen mit jedem.
Adrienne ist aufgrund einer fortgeschrittenen Makuladegeneration praktisch blind. Man würde es nicht bemerken, wenn man sie nicht beim Lesen, beim Führen der Familienbücher oder beim Schreiben von Schecks und Briefen beobachten würde. Sie sitzt auf demselben Platz, den sie seit 60 Jahren innehat – ihrem Thron als Familienmatriarchin am Kopfende des Esszimmertisches – umgeben von einer Sammlung von Lupen. Lesen und Schreiben ist für Adrienne eine mühsame Aufgabe, doch sie bleibt Tag für Tag unbeirrt dabei. Manchmal bedeutet das, dass ihre Augen nur Zentimeter vom Text entfernt sind. Ihr entgeht nichts. Sie macht weiter, obwohl sich ihre Welt durch ihr eingeschränktes Sehvermögen verkleinert hat. Sie will von niemandem bemitleidet werden. Und ihr manchmal bissiger, sarkastischer Witz findet immer noch seinen Weg in Gespräche. Es ist eine tief verwurzelte Neigung, die eine scharfe Wahrnehmung der menschlichen Natur und der Wechselfälle des Lebens erkennen lässt. Um sie zu beschreiben, scheint »weise Realistin« passend zu sein.231
Mitka verbringt seine Tage mit Tüfteln und Fernsehen. Er repariert alle möglichen Geräte oder Autos oder löst alle Arten von Klempner- und Elektroproblemen für Familie und Freunde. Er sieht sich die lokalen und nationalen Nachrichten an, um seinen Wissensdurst zu stillen. Im Mittelpunkt seines täglichen Fernsehens steht der Jewish Broadcasting Service (JBS). Obwohl er und Adrienne noch allein Besorgungen machen, fühlt sich keiner von beiden in der Lage, die Fahrt von Sparks nach Reno auf sich zu nehmen, um an den Gottesdiensten und Aktivitäten der Gemeinde Temple Emanu-El teilzunehmen. Stattdessen sieht sich Mitka jeden Freitagabend den Schabbatgottesdienst in der New Yorker Central Synagogue im Livestream an. Zur Unterhaltung sieht er Filme. Das meiste, was er sich anschaut, hat er schon Hunderte von Malen gesehen. Er rezitiert das Jahr, in dem der Film gedreht wurde, und die Namen des Regisseurs und der Schauspieler, gibt jedem, der es hören will, eine Beschreibung der Handlung und erzählt von seinen Erinnerungen, als er den Film zum ersten Mal sah. Sein Repertoire reicht von 1930 bis 1970, besteht aber hauptsächlich aus Filmen, die in seinem frühen Leben eine so wichtige Rolle gespielt haben.
Wer Zeit mit Mitka und Adrienne verbringt, versteht eines ganz genau. Intuitiv, natürlich, nahtlos und unbefangen dient einer dem anderen in einem Tanz der Liebe. Oh, sie streiten und spötteln auch. Wenn jemand zum ersten Mal einen Streit zwischen den beiden hört, kann das irritieren; aber es wird schnell klar, dass Zärtlichkeit und Zuneigung ihre Interaktion bestimmen. Im Handumdrehen wird wieder gelacht.
Obwohl Mitka nur Bruchstücke der Erinnerung an seinen Vater und seine Mutter geblieben sind, ist er ein Beispiel für das biblische Gebot, seine Eltern zu ehren. Er hat getan, was er konnte, um sie zu kennen und sie stolz zu machen.
Ich schließe mit ein paar Eindrücken aus unserer Zeit mit Mitka. Als wir mit den Leuten über Mitka und seine Geschichte sprachen, fiel am häufigsten das Wort »Überlebender«. Auch Adjektive wie »ausdauernd«, »belastbar«, »kämpferisch« und »inspirierend« tauchten in unseren Gesprächen immer wieder auf. Seine Kinder nannten ihn regelmäßig einen Helden.
All diese Worte sind bezeichnend und wahr. Es gab jedoch ein Wort, das all das in sich zu schließen schien, was Mitka in seinem langen, erstaunlichen Leben geworden ist. Dieses Wort ist mensch.
Menschen mit englischer Muttersprache haben dieses Wort aus dem Jiddischen entlehnt, das grob mit »guter Mensch« übersetzt werden kann. Ein umfassenderes Verständnis dessen, was es bedeutet, ein mensch zu sein, beinhaltet Charakter, Integrität, Würde und Authentizität. Ein mensch zu sein bedeutet, das zu verkörpern, was wir uns als idealen Menschen vorstellen, jemanden, der das Leben in vollen Zügen lebt, wie wir es uns wünschen. Es ist also ein großes Kompliment, jemanden einen menschen zu nennen.
Mitka ist ein mensch. Ein Mensch im tiefsten und wahrsten Sinn.
Heute führt Mitka ein bescheidenes Leben. Er lebt froh und ohne Bitterkeit. Er ist ein liebevoller Mensch voller Hoffnung. Er lacht oft. Wenn ich seine Augen sehe, muss ich unwillkürlich lächeln.
Als Lynn, Joel und ich zusammen mit unseren Redakteuren den letzten Entwurf von Mitkas Geschichte überarbeiteten, erinnerte mich Lynn an eine Bibelstelle, die das wiedergibt, was ich über diesen Mann erfahren habe. In 5. Mose 3,19 spricht Haschem: »Heute stelle ich euch vor die Wahl zwischen Leben und Tod, zwischen Segen und Fluch. Wählt doch das Leben.«
Mitka hat seine Wahl getroffen. Er wählte das Leben.