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Der miss- und unverstandene Schwabe

|11|Das größte Missverständnis besteht darin, Schwäbisch und Hochdeutsch für Gegensätze zu halten. Es gründet unter anderem darin, dass die Schwaben über eine Reihe von Vokabeln verfügen, die im Schriftdeutschen eine andere Bedeutung haben, anders verwendet werden oder nicht existieren.

|12|Der Schwabe – ein Hochdeutscher

„Meine Enkel schwätzet nach der Schrift!“ Diese häufig gehörte Klage aus dem Munde alter Schwaben bedeutet auf Schriftdeutsch, dass die Kinder dialektfrei sprechen.

Was die schwäbische Redewendung nach der Schrift schwätzen bedeutet, ist nicht schwer zu erraten. Es ist das Gleiche wie „Schriftdeutsch reden“. Warum haben die Schwaben – ganz entgegen ihrem sonstigen Sprachverhalten – statt dieser schlichten Form die etwas umständlichere und wortreichere gewählt? Bemerkenswert ist zudem, dass diese Wendung das Wort „Hochdeutsch“ ersetzt und somit vermeidet. Hat dies tiefere Gründe?

Auch darüber kann man nur spekulieren und unter Zuhilfenahme einiger Viertele zu folgendem Schluss gelangen: Wenn man „Schwäbisch“ und „Hochdeutsch“ als Gegensatzpaar begreift, bedeutet dies zwangsläufig, dass „Schwäbisch“ das Gegenteil von „Deutsch“ und überdies von „hoch“ wäre – also „niedrig“.

Ein erniedrigendes Ergebnis. Es fällt ein klein wenig, aber eben nicht sehr viel erhebender aus, wenn man statt „Hochdeutsch“ „Schriftdeutsch“ sagt. Demgegenüber lässt die Wendung nach der Schrift den Verdacht, „Schwäbisch“ stehe im Gegensatz zu „Deutsch“, gar nicht erst aufkommen.

Auch in sprachwissenschaftlicher Hinsicht trifft die Formulierung nach der Schrift eher zu als das Wort „Hochdeutsch“, welches auch die Mundartforscher vermeiden und durch „Schriftdeutsch“ oder „standardsprachlich“ ersetzen – aus gutem Grund. Denn streng genommen ist Schwäbisch das eigentliche Hochdeutsch!

Zum Begriff „Hochdeutsch“ stellt das deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm fest: „Zunächst hat das Wort und das dazu gehörige Substantiv ‚Hochdeutschland‘ eine rein geographische Bedeutung |13|und ist in dieser seit dem 15. Jahrhundert nachweislich gang und gäbe.“ Deutschland war grob unterteilt in Nieder- und Hochdeutschland. Wer die Hochdeutschen waren, definierte Sebastian Franck 1538 in seinem Buch „Germaniae Chronikon“: „Mitler Zeit sind die Alemani die Hochteutschen, da itz sind Schwaben, Schweitz und Beyern.“

Infolgedessen wurden auch die Mundarten dieser Gebiete als „hochteutsch“ bezeichnet. Allerdings wurde dieser Begriff daneben schon recht früh auf die Kanzleisprache angewandt. Das führte schließlich dazu, dass der Gelehrte Johann Bödiker (1641–1695) in seinen „Grundsätzen der teutschen Sprache“ für die Dialekte des höher gelegenen Teiles von Deutschland die Gesamtbezeichnung „Oberdeutsch“ prägte, die bis heute gilt.

Damit ist bewiesen, dass die Schwaben im Grunde die wahren Hochdeutschen sind und es schon waren, als die Vorfahren jener, die sich heute zugutehalten, „Hochdeutsch“ zu sprechen, noch plattes Niederdeutsch von sich gaben.

Ob das allerdings jene Schwaben tröstet, deren Enkel nach der Schrift schwätzen, ist eine andere Frage.

|14|Ölhäfen im Landesinnern

Menschen von der Waterkant reagieren immer wieder irritiert, wenn sie in süddeutschen Städten fern jeglichen schiffbaren Gewässers in einer Hafengasse landen.

In Köln am Rhein gibt es eine Hafengasse, die einst auf das Hafentor zuführte, vor dem die Hafenflächen gelegen waren. Auch in Ulm an der Donau und in Tübingen am Neckar gibt es jeweils eine Hafengasse. Doch die liegen mitten in der Altstadt, fern vom Flussufer, und daher wundern sich immer wieder aufs Neue fremde Menschen, wenn sie dort ein Straßenschild mit der Aufschrift „Hafengasse“ erblicken: Wo, bitte, ist denn hier ein Hafen?

Das Missverständnis besteht darin, dass man im mittleren und nördlichen Deutschland nur eine Art von Hafen kennt, und das ist der Schiffslandeplatz. Im Süden aber lebt der andere Hafen ungebrochen weiter, den es schon im Althochdeutschen als hafan gegeben hat, der jedoch im Schriftdeutschen dem Topf unterlegen ist.

Fischers Schwäbisches Wörterbuch gibt daran Martin Luther eine gewisse Mitschuld. Denn der verschmähte den Hafen. In seiner Bibelübersetzung ließ er die Kinder Israel den Fleischtöpfen Ägyptens nachweinen. Wäre er Schwabe gewesen, hätte er die Fleischhäfen bevorzugt und damit womöglich dem Hafen den Sieg über den Topf verschafft. Jedoch es hat nicht sollen sein. Schließlich muss man dankbar sein, dass seine Wiege nicht noch weiter nördlich stand, denn sonst hätten wir es heute in der Bibelstunde mit Fleischpötten zu tun.

In der Schriftsprache hat der Hafen nur als Glückshafen überlebt, der nicht mit dem Hafen der Ehe zu verwechseln ist. Der Begriff erinnert an die Zeiten, als man die Lose aus einem irdenen Hafen zog.

|15|Den Hafen und das Häfele gibt es aus unterschiedlichen Materialien, etwa als Blechhafen oder Keramikhafen, und zu den unterschiedlichsten Bestimmungen. Meist ist es der Inhalt, der zusammen mit dem Grundwort Hafen neue Begriffe bildet wie Milchhafen, Schmalzhafen oder Gsälzhafen. Auf diese Weise hatten die Schwaben vor Erfindung der Einwegflasche mehr Ölhäfen als die Saudis. Auch der Familienname Ölhafen kommt daher; er bezeichnete einen Ölhändler.

Häfen enthalten nicht immer nur Versorgungs-, sondern mitunter Entsorgungsgut, etwa der Seichhafen. Er wird auch gerne als Nachthafen bezeichnet, was nicht auf den Inhalt, sondern auf den Einsatz-Zeitraum zielt. Dieser Begriff wird auch gerne verwendet, um Vergleiche zu ziehen. So kann man sich unter einem „G’sicht wie an Nachthafe“ alles und nichts vorstellen. Nicht mehr im Realen, sondern nur noch in der Redewendung lebt der Schleckhafen fort. „Des isch fei koi Schleckhafe“ besagt, dass eine Tätigkeit alles andere als angenehm ist.

Ein Wort sucht man im Schwäbischen allerdings vergebens: den „Einhafen“, wie die korrekte Übersetzung von „Eintopf“ lauten müsste. Stattdessen behilft man sich halt mit dem Gaisburger Marsch.

|16|Von der Bühne zur Etage

„Die ganze Welt ist eine Bühne!“ Auch ein Schwabe wird diesem shakespeareschen Satz zustimmen – wenn auch aus anderen Gründen als der Rest der Welt.

Die meisten Deutschen verstehen unter Bühne die Bretter, die die Welt bedeuten. Sie wundern sich daher, wenn Schwaben über altes Gerümpel befinden: „Des kommt auf d’ Bühne!“ Sperrmüll zur Weiterverwertung ins Theater? So nahe dieser Gedanke in Zeiten versiegender Kulturhaushalte liegt: Es handelt sich um ein Missverständnis, das darin besteht, dass die Schwaben mit Bühne den Dachboden meinen, auf dem sich im Lauf der Jahrzehnte ihr alter Gruscht angesammelt hat.

Das so entstandene Durcheinander verleiht, wenn man das Wort Bühne im schwäbischen Sinne begreift, dem oben erwähnten Shakespeare-Zitat eine völlig neue Aussagekraft, die der originalen vielleicht sogar überlegen ist. Denn das Chaos auf dieser Welt kann einem mindestens ebenso den Nerv töten wie das vom Dichter besungene menschliche Rollenverhalten.

Nun hat der Autor in seinem englischen Originaltext natürlich nicht Bühne geschrieben, sondern „stage“. Doch das ändert nichts an der Frage, warum das deutsche Wort Bühne im einen Fall einen Ort im Rampenlicht und im anderen, schwäbischen Sinne eine schlecht beleuchtete Rumpelkammer bezeichnen kann.

Die gemeinsame Grundlage bilden Balken und Bretter, aus denen vor der Erfindung des Stahlbetons beide Arten von Bühnen gebaut wurden. Tatsächlich bedeutete Bühne ursprünglich „Brettergerüst, Decke“. Im Haus war es, wie das Schwäbische Wörterbuch erläutert, „die waagrechte Balken- und Bretterlage, welche den Boden eines oberen, die Decke eines unteren Stockwerks bildet“. Daraus |17|entwickelte sich die Bedeutung „Dachraum über der Wohnung oder oberer Raum in Scheuer und Stall, als Aufbewahrungsort gebraucht“. Bühne im Sinne der darstellenden Künste ist wiederum eine Kurzform des Wortes „Schaubühne“.

Die Schwaben haben ihrerseits Probleme mit dem Boden, der vielen Nichtschwaben die Bühne ersetzt. Denn im Schwäbischen ist der Boden nicht oben, sondern unten und wird geschätzt als elastischer Untergrund, in den man andere ung’schpitzt neischlage kann. Doch da der Boden auch aus Brettern gefügt sein kann, gilt für ihn eine ähnliche Bedeutungsvielfalt wie für die Bühne. Deshalb kann es auch im Schwäbischen einen Heu-, Frucht- oder Kornboden geben.

Man kann ebenso gut Korn- oder Heustock sagen, wobei Stock das Balkenwerk bezeichnet, das ein Stockwerk bildet. Doch fasst man sich im Schwäbischen lieber kurz und sagt einfach Stock, wo andere von „Stockwerk“, „Geschoss“ oder „Etage“ reden. Die hieß übrigens im Altfranzösischen noch „estage“, woher das englische „stage“ stammt. Damit wären wir – hoffentlich etwas klüger – wieder zu Shakespeare und auf die Bühne zurückgekehrt.

|18|Der Buckel

Alle Schwaben haben einen Buckel. Das liegt nicht an der Inzucht, sondern daran, dass der Begriff Buckel im Schwäbischen weiter gefasst ist als im Schriftdeutschen.

„Angeborene oder erworbene krankhafte Verkrümmung der Wirbelsäule nach hinten“, so definiert das Konversationslexikon den Buckel. Das heißt, im Schriftdeutschen steht dieser Begriff für eine anatomische Anomalie. Im Schwäbischen aber ist der Buckel normal. Außer jener krankhaften Verkrümmung bezeichnet das Wort auch eine situative Krümmung. Das zeigt die Mahnung „Mach koin so an Buckel!“, die das hochsprachliche „Halte dich gerade!“ auf den Punkt bringt, das zu den Standardsprüchen der Mütter und der Rückenschulen gehört.

Doch selbst wenn der Schwabe gerade sitzt, hat er einen Buckel. Denn der ist ihm zum Synonym für Rücken geworden, egal ob der gebogen ist oder nicht. Zudem ist der schwäbische Buckel nicht nur ein anatomisches, sondern auch ein topographisches Phänomen. Denn hierzulande heißt auch der Hügel Buckel, und außer Menschen sind auch Landschaften buckelig.

Wie konnte der Buckel im Schwäbischen zum Rücken werden? Eine stammesspezifische Aufweichung des Rückgrates konnte bislang nicht festgestellt werden. Vielmehr kennt die Geschichte zahllose aufrechte Schwaben, die, anstatt sich ihren Obrigkeiten zu beugen, diese eingeladen haben, ihnen den Buckel naufzusteigen oder naazurutschen – oder gar, sie am Buckel dort zu küssen, wo d’ Haut a Loch hat.

Liefert die Wortgeschichte den Schlüssel zum Verständnis? Im Falle des Buckels ist sie umstritten. Kluges Etymologisches Wörterbuch leitet ihn vom altfranzösischen boucle (Schildbuckel) ab, das |19|von mittellateinisch buccula stammen soll, der Verkleinerungsform von bucca, der aufgeblasenen Backe. Das Mittelhochdeutsche Wörterbuch von Benecke/Müller/Zarncke hingegen überlegt umgekehrt, ob nicht boucle von Buckel kommt. Das käme dem Wörterbuch der Brüder Grimm entgegen, das Buckel und bücken von biegen herleitet.

Diese Herleitung hat etwas für sich. Denn wenn der Buckel nur einfach eine beliebige Erhebung wäre, könnte der Mensch, vor allem der weibliche, auch vorne Buckel haben. Aber das Wort Buckel definiert ausschließlich die Rückseite, die zum Buckel wird, wenn man sich bückt. Das ist zum Beispiel bei vielen körperlichen Arbeiten der Fall. Und da nach schwäbischem Selbstverständnis die Arbeitshaltung der Normalzustand zu sein hat, folgt daraus geradezu zwangsläufig, dass im Schwäbischen das Wort Buckel die Stelle des Wortes Rücken einnehmen musste.

Allerdings schaffen die Schwaben sich nicht nur bucklig, sie können sich auch bucklig lachen, wo andere sich vor Lachen krümmen. Aber dass dadurch jemand eine bleibende Verkrümmung der Wirbelsäule erworben hätte, ist bis dato nicht bekannt. So lustig sind die Schwaben dann auch wieder nicht.

|20|Der schwäbische Teppich

Der Schwabe zeigt wenig Neigung, auf dem Teppich zu bleiben: Gelegentlich kriecht er drunter, und die Schwäbin legt ihn gerne auf den Tisch oder wirft ihn sich um.

„Was håt denn dui für an Teppich umhänge?“ Mit dieser Frage kann frau der Trägerin eines teuren Paschmina-Schals den Triumph über ihr Luxus-Accessoire vermiesen, sofern die kein Schwäbisch kann. Denn unter Schwaben muss diese Frage nicht unbedingt eine Herabwürdigung jenes Edeltextils bedeuten. Schließlich hat schon die Urgroßmutter, wenn sie fror, ihren Teppich über die Schultern gezogen.

Das heißt aber nicht, dass sie unter den Perser kroch, den sie vermutlich ohnehin nicht besaß. Vielmehr ist der Begriff Teppich im Schwäbischen etwas weiter gefasst als im Schriftdeutschen, wo er auf dem Boden zu liegen hat oder allenfalls noch an der Wand hängen darf.

Der schwäbische Teppich muss nicht geknüpft, er kann auch gewoben, gestrickt oder gehäkelt sein, denn außer als Bodenbelag oder Wandbehang dient er als Decke und als Zudecke. Während man die Decke auch als Unterlage benutzen kann – etwa die Tischdecke oder die Badedecke, die ebenfalls als Teppich bezeichnet werden – ist der schwäbische Begriff „Zudecke“ ausschließlich Textilien vorbehalten, mit denen man etwas zudeckt, etwa das Bett. Deshalb wird das Oberbett ebenfalls Teppich genannt.

Wenn Fremdlinge sich darüber wundern, was die Schwaben alles als Teppich bezeichnen, kann man sie darauf hinweisen, dass auch im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm der Teppich erheblich weiter geknüpft ist als im heutigen Schriftdeutsch: „Eine Zierdecke (mit eingewebten oder eingestickten Bildern, Mustern und bunten |21|Farben) zum Behängen der Wände (Wandteppich), Bedecken des Fußbodens (Fußteppich), der Möbel, des Tisches u. s. w. (Stuhl-, Tischteppich)“, heißt es dort.

Das aber bedeutet, dass der Bodenteppich nur eine von vielen Teppich-Varianten war, die im Übrigen bei der großen Mehrheit der Bevölkerung die unwichtigste Rolle gespielt haben dürfte. Denn wer konnte sich schon ein solch teures Stück leisten? Auf diesen Aspekt weist übrigens Fischer in seinem Schwäbischen Wörterbuch hin mit der Bemerkung, dass der Fußteppich dem „gemeinen Mann“ fehle.

Verfolgt man die Wortgeschichte des Teppichs zurück, stößt man auf das altgriechische tapes und tapis, was schon damals neben Teppich auch „Decke“ bedeutete. Die Römer haben daraus tapete und tapetum gemacht, das war ein Teppich, um Wände, Tische, Sofas, Fußböden usw. zu bekleiden. Von tapete stammt natürlich auch die Tapete ab, die ursprünglich aus Stoff war.

Die Schwaben haben daran festgehalten und haben zudem mit dem Teppich nicht nur Gegenstände, sondern auch sich selber bedeckt. Das aber bietet sprachunkundigen Ignoranten immer wieder Anlass, auf den Schwaben und ihrem Teppich herumzutrampeln.

|22|Das Geheimnis des Käsdrecks

Im Neuschwäbischen gibt es das merkwürdige Wort Käsdreckzieherei. Es lässt an einen umgestürzten Fondue-Hafen denken, hat damit aber nichts zu tun.

„Dann gibt’s eine ewige Käsdreckzieherei, und am Ende profitieren nur die Anwälte davon.“ So spricht Notar Esslinger im Roman „Bienzle und die letzte Beichte“ resigniert zum Kommissar. Und in der 30. Sitzung des 13. Landtags von Baden-Württemberg am 18. Juli 2002 im Kloster Bebenhausen sagte der Abgeordnete Claus Schmiedel (SPD) während einer Rede des Umwelt- und Verkehrsministers Ulrich Müller: „Das ist doch ein Käsdreck!“

Das sind zwei praktische Anwendungsbeispiele für das schwäbische Wort Käsdreck. Es ist insofern ungewöhnlich, als die Bestimmungswörter, die vor dem Grundwort Dreck stehen, üblicherweise dessen Verursacher nennen: Kuhdreck, Spatzendreck, Mausdreck.

Ausnahme ist der Scheißdreck, dessen zwei Wortbestandteile annähernd dasselbe ausdrücken, zur Verstärkung des Ausdrucks aber kombiniert sind. So etwas nennt man ein „Hendiadyoin“ (Eins vermittelst zwei). Sollte auch der Käsdreck ein Hendiadyoin sein? Schließlich gilt der Käse – ebenso wie der Dreck – häufig als Inbegriff des Wertlosen.

Zwar gibt es irgendwo in der Schwäbisch-Literatur einen Hinweis, wonach Käsdreck die Ablagerung an der Außenseite des Backsteinkäses sei. Aber das scheint eher der nachträgliche Versuch zu sein, einem bereits existierenden Wort einen Sinn zu geben. Fischers Schwäbisches Wörterbuch jedenfalls enthält nur im Nachtragsband einen Käsdreckmäurer (Spottname der Maurer), im Übrigen aber ist ihm der Käsdreck fremd, was darauf hindeuten könnte, dass dieses Wort eine Neuschöpfung ist.

|23|Es gibt in solchen Fällen aber auch noch eine andere Möglichkeit, nämlich die, dass ein altes Wort nicht mehr verstanden und deswegen umgedeutet wird. Und das wäre in diesem Falle das Wort Gêêsdreckzieherei. Gêês ist die Mehrzahl von Gââs, und das ist die Gans. Gêêsdreck ist der Gänsedreck, und dieses Wort gilt laut Fischer als – der Inbegriff des Wertlosen. Der Grund dafür geht aus folgendem Sprichwort hervor: „Der isch minder als der Gêêsdreck, und der sel dungt it.“

Der Umstand, dass dieser Geflügelmist nicht einmal zum Dünger taugt, gibt wiederum der Wendung „de Gêêsdreck ziehe“ ihren tieferen Sinn, der laut Fischer „vergebliche Arbeit tun“ bedeutet. Fischer nennt auch den Gêêsdreckzieher, und das ist ein Mensch, „der alles in die Länge zieht“ – ohne dass etwas dabei herauskommt, so möchte man hinzufügen.

Die Gêêsdreckzieherei ist bei Fischer zwar nicht erwähnt, dafür aber die Redewendung „Glaubsch du, i zieh lang de Gêêsdreck mit dir?“ (Glaubst du, ich streite lange mit dir herum?) Demnach wäre die Gêêsdreckzieherei ein langer fruchtloser Streit, von dem, wie Notar Esslinger sehr richtig zu Bienzle bemerkte, nur die Anwälte profitieren.

|24|Die Mucken der Schwaben

Die Schwaben haben zweifellos ihre Mucken, aber Mücken kennen sie nicht. An deren Stelle saugen einem hierzulande die Schnaken das Blut aus den Adern.

Die schriftsprachliche Mücke heißt auf Schwäbisch Schnake, und die schwäbische Muck(e) entspricht in der Schriftsprache der Fliege – wobei es die Fliege auch in Teilen des Schwabenlandes gibt, wo sie Fliag, Flaig oder Fluig gesprochen wird.

Sprachgeschichtlich besteht kein Unterschied zwischen Mücke und Muck. Wie in den Fällen von Brücke/Bruck, bücken/bucken, rücken/rucken etc. haben die Schwaben sich geweigert, den Schritt vom älteren u zum neueren ü mitzumachen – was man als eine ihrer sprachlichen Mucken betrachten mag. Im Althochdeutschen hieß jenes Insekt noch mugga, und erst im Mittelhochdeutschen trat die mügge neben die mugge.

Die zwei Tüpfelchen auf dem u – der Schwabe bezeichnet so etwas als Muckenschiss – sind aber nicht der einzige Unterschied zwischen Mücke und Muck(e). So wird man in schwäbischen Wörterbüchern vergeblich nach dem Wort Muckenstich suchen, weil es das nicht gibt. Denn eine Muck, mag sie noch so lästig und noch so muckenfrech sein, sticht nicht. Das tun allenfalls irgendwelche wesentlich kleineren und schwer zu identifizierenden Mückle. Der Mückenstich hingegen heißt im Schwäbischen Schnakenstich. Folgerichtig müssten die Schwaben ihre Elefanten aus Schnaken produzieren, da ja die Nichtschwaben gerne aus Mücken Elefanten machen. Doch bei genauerer Betrachtung kann es sich bei dieser schriftdeutschen Mücke nicht um einen Blutsauger handeln, sondern es muss eine gemeine Stubenfliege gemeint sein: Denn jene Redensart ist bereits im Altgriechischen nachzuweisen, wo das Insekt myia heißt – also Fliege.

|25|Des Rätsels Lösung ist einfach: Noch im Mittelhochdeutschen bedeutete mugge oder mügge sowohl Fliege als auch Mücke. Das Wort Schnake hingegen, das auch schon im Mittelhochdeutschen als snake bekannt ist, bezeichnete ausschließlich die Stechmücke.

Die Schnake hat sich offenbar in den oberdeutschen Sprachraum zurückgezogen und hier dafür gesorgt, dass als Muck nur noch die Fliege bezeichnet wird, während im übrigen Deutschland der Begriff Mücke auf die Schnake reduziert ist. Dabei haben die Schwaben deutlich profitiert, denn mit der Muck im Sinne von Fliege lassen sich wunderbare Komposita bilden. Eines davon, der Muckenschiss, wurde bereits vorgestellt.

Während jeder weiß, wie ein Muckenschiss aussieht, dürfte noch selten jemand einen Muckenseckel gesehen haben. Dennoch bildet er eine beliebte schwäbische Maßeinheit, die – vor allem in der Verkleinerungsform Muggaseggele – für eine winzige Größenordnung steht.1

Der Vollständigkeit halber sei noch angemerkt, dass Muckefuck sich weder aus dem Schwäbischen noch dem Englischen herleitet, sondern einen Kaffee-Ersatz bezeichnet.

|26|Jucken und beißen

Schwaben werden nicht nur von Hunden, Katzen und Flöhen gebissen, sondern auch von ihren eigenen Körperteilen. Beißen die zu arg, täte man gern ins Bad jucken.

„Wenn’s vorne juckt und hinten beißt, nimm Klosterfrau Melissengeist.“ Diese Volksweisheit könnte schwäbischer Herkunft sein, auch wenn sie sich, schwäbisch ausgesprochen, nicht recht reimen will. Was dennoch für eine schwäbische Autorenschaft spricht, ist, dass die hiesige Gepflogenheit, jucken durch beißen zu ersetzen, der Standardsprache ebenso fremd ist wie die unpersönliche Form „es beißt“ oder die Klage: „Mi beißt’s!

Wer oder was beißt? Antworten wie „mein Zaie“ (Zeh) oder „mei Ohrläpple“ rufen, da diese wie die meisten anderen beißenden Körperteile keine Zähne besitzen, unter Nichtschwaben Erstaunen hervor.

Natürlich kennen die Schwaben beißen auch im klassischen Sinne des Zubeißens. Darüber hinaus aber beschreibt beißen im Schwäbischen – anders als im Schriftdeutschen – ebenso den Kauvorgang. Denn das Wort „kauen“ ist im Schwäbischen weniger gebräuchlich. So ermahnen die Eltern ihre Kinder, sie sollen den harten Brotriebel oder das zähe Schnitzel „fescht beiße“. Das schriftdeutsche Sprichwort „Gut gekaut ist halb verdaut“ lässt sich daher im Schwäbischen viel prägnanter (und derber) reimen: „Gut bisse isch halb g’schisse.“

Neben menschlichen oder tierischen Zähnen können Substanzen wie etwa Rauch auch im Schriftdeutschen beißen, aber eben nur, wenn sie beißenden Schmerz verursachen. Im Schwäbischen hingegen beißen selbst harmlose Insektenstiche, lästige Ekzeme und wollene Strümpfe.

|27|Warum beißen sie anstatt zu jucken? Das mag damit zusammenhängen, dass jucken im Schwäbischen eine andere Bedeutung hat, die dem schriftdeutschen „springen, hüpfen“ entspricht. Im Kinderzimmer juckt ’s Ziefer in de Bette rum, beim Bungee-Jumping juckt ma vom Fernsehturm naa, und wer vor Freude in die Luft springt, tut an Juck oder Jucker. Dieses jucken ist keine schwäbische Erfindung, sondern wohl die ursprüngliche Bedeutung des Wortes, die sich dann im Schriftdeutschen in den Bereich der Hautreizungen zurückgezogen hat.

Nicht verschwiegen werden darf eine weitere, rein schwäbische Konnotation von jucken, die Fischers Schwäbisches Wörterbuch nur in lateinischen Vokabeln (futuere, coire) sich wiederzugeben traut. Dieser Umstand verrät auch Nicht-Lateinern, welches deutsche Wort damit vermieden wird. Wie konnte jucken einen solchen Sinn erhalten? Vielleicht durch einen anderen, den auch das Schriftdeutsche kennt, nämlich (sich) jucken im Sinne eines Sich-Reibens, um einen vorhandenen Juckreiz zu beseitigen.

Aber da diese frivole Bedeutung weitgehend in Vergessenheit geraten und nur noch in den Nachschlagewerken präsent ist, braucht sie heute niemanden mehr zu jucken. Und damit juck!

|28|Wenn die Nachbarin grillt

Beklagt sich im schwäbischen Sprachraum jemand darüber, dass die Nachbarin grillt, stellt sich die Frage, ob hier eine Geruchs- oder eine Lärmbelästigung vorliegt.

Wenn schwäbische Opernfreunde nach dem Besuch der Zauberflöte berichten, die Königin der Nacht habe gegrillt, denken Nichtschwaben vermutlich an einen lustigen Regieeinfall. In Wahrheit enthält diese Feststellung die vernichtendste Kritik, die man über eine sängerische Leistung äußern kann. Denn das Verbum grillen bezeichnet ein schrilles Schreien im oberen Kopftonbereich und in jedem Fall oberhalb der Schmerzgrenze.

Grillen ist eine nervtötende Lautäußerung. Es erzeugt Schweißausbrüche und Aggressionsschübe, und wenn man es so meisterhaft beherrscht wie Klein-Oskarchen in Günther Grass’ Blechtrommel, lässt es sogar Glas zerspringen.

Ein Teil der angeblich typisch deutschen Kinderfeindlichkeit rührt garantiert daher, dass heutzutage viele Eltern ihre Kinder ungestört grillen lassen. Die früher geläufige Anweisung „Grill net so!“ findet kaum mehr Verwendung. Bei manchen Menschen würde sie im Übrigen ohnehin nichts mehr nützen, weil sie infolge häufigen Grillens eine grillige Stimme haben.

Viele würden sie auch gar nicht mehr verstehen. Denn die Bedeutung „kreischen, einen hohen, ‚grellen‘ Ton hervorbringen“, die Fischers Schwäbisches Wörterbuch unter dem Stichwort grillen nennt, steht in praktisch keinem der heutigen Nachschlagewerke. Dort findet man nur die Erklärung „auf dem Grill braten“.

Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Eine mögliche Erklärung wäre, dass, wer sich auf einen heißen Grill setzt, vor Schmerz grillt. Aber die ist falsch und anachronistisch. Denn „Grillen“ im Sinne von |29|Rösten gibt es erst, seit der Grill den früheren Rost verdrängt hat. Der hieß lateinisch „craticulum“, und daraus hat sich der französische „gril“ entwickelt, der über den englischen Grill im 20. Jahrhundert ins Deutsche gelangt ist.

Grillen im Sinne von „schrill schreien“ tun die Deutschen jedoch schon seit Jahrhunderten. Das Wort ist eine Nebenform von grellen, worin grell steckt. Allerdings ist auch grellen weithin in Vergessenheit geraten, und so grillen heute nur noch die kleinen Schwaben und die Schwäbinnen. Denn diese Art, Laute zu produzieren, ist nach allgemeinem Verständnis den Frauen und Kindern vorbehalten, also auch den Buben, die den Stimmbruch noch vor sich haben.

Ähnlich nervtötend wie grillen ist gilfen. Wie grillen von grellen, kommt gilfen von gelfen, welches vermutlich von gellen abgeleitet ist. Doch während grillen ohne Worte auskommt, ist gilfen oft mit der Übermittlung einer Botschaft verbunden.

Das Verbum gilfen deckt somit auch die hochfrequente Schimpfoder Klagetonebene der Schwäbin ab, die sich über etwas echauffiert – beispielsweise über grillende Nachbarskinder.

|30|Letz

Kommt den Schwaben etwas schlecht, falsch oder verkehrt vor, nennen sie es letz. Auch sie selber können ganz letz werden, wie folgende Ausführungen zeigen werden.

Letz ist das Gegenteil von recht – in mehrfacher Hinsicht: So, wie das Wort „recht“ in eine Richtung weisen kann – etwa auf die rechte Seite –, so bedeutet letz ursprünglich „link“, und zwar auch und gerade im Sinne von „verkehrt“.

Somit ist „dr letze Fuß“ der linke Fuß bzw. das linke Bein, und stülpt man darüber den rechten Socken, dann hat man d’ Schtrümpf letz ââ. Hat man wiederum das Hemd letz ââ, dann ist die Innenseite nach außen gekehrt, und wer sich ein jugendliches Image geben will, zieht die Baseball-Kappe letz auf.

Von der Bedeutung „link(s), verkehrt, verkehrt herum“ ist es nicht mehr weit zu letz im Sinne von „falsch“: Der letze Weg ist der falsche, und wenn wer etwas „in de letze Hals“ kriegt, kann dies dazu führen, dass ihm die Luft ausgeht. Dann sieht’s ziemlich letz aus, was manchen Beobachtern ein bedauerndes „O letz!“ entlocken mag.

In diesem Zusammenhang bedeutet letz „schlimm, übel“ oder „böse“, und damit sind wir bei einer weiteren Stufe der Negativa angelangt, die mit diesem Wort beschrieben werden können: Ein übler Zeitgenosse ist „a ganz letzer“. Letz kann auch ganz einfach „schlecht“ im Sinne von „minderwertig“ bedeuten. Und schließlich können mit Hilfe schwäbischer Steigerungsattribute die Superlative erdenletz und bodenletz gebildet werden.

Das wirft die Frage nach dem regelmäßig gebildeten Superlativ letzescht auf: Ist der etwa identisch mit dem schriftsprachlichen „letzt“? Wäre letz damit die Grundform zu „letz(es)t“?

|31|Tatsächlich gab es das Adjektiv letze oder lez bereits im Mittelhochdeutschen, und zwar in denselben Bedeutungen, die es heute noch im Schwäbischen hat: „verkehrt, unrichtig, unrecht, schlecht“. Im Althochdeutschen hieß es lezzi. Doch nach allem, was in den Wörterbüchern steht, geht der Superlativ „letzt“, der im Mittel- und Althochdeutschen noch „lezzist“ lautete, nicht auf lezzi oder lez zurück, sondern auf das weitgehend vergessene Eigenschaftswort „lass“, welches „müde, matt“ bedeutet. Es hat sich aus dem Mittelhochdeutschen „laz“ (langsam) entwickelt, das allerdings mit lez verwandt war. Und dass der Langsamste der Letzte ist, leuchtet ja durchaus ein.

In diese Verwandtschaft gehört übrigens auch das Verbum letzen. Ursprünglich bedeutete es „abhalten, hindern“ und schließlich auch „schaden“, was noch heute in dem Kompositum „verletzen“ spürbar wird. Doch dann vollzog es einen grandiosen Bedeutungsbogen von „zu Ende bringen“ über „Abschied nehmen, Abschied feiern“ zu „essen und trinken“ und schließlich zu „sich vergnügen“.

Das alles mag etwas verwirrend sein. Und diesen Zustand beschreiben die Schwaben mit der Formulierung: „Des macht oin ganz letz!

|32|So, als wie

Einer der beliebtesten Vorwürfe gegen die Schwaben lautet, sie seien außerstande, die Vergleichspartikel als und wie korrekt einzusetzen. Ist dieser Vorwurf berechtigt?

Wenn ein Schwabe sich von einem Besserwisser vorhalten lassen muss, er kenne den Unterschied zwischen wie und als nicht, wird er vielleicht antworten: „Du bisch au net viel g’scheiter wie-n-i.“ Dann folgt unweigerlich die Zurechtweisung: „Es heißt: gescheiter als ich!“

Sollte er nun reuig einräumen: „Ok, du bisch doppelt so g’scheit als i“, wird er zu hören bekommen, es heiße „doppelt so gescheit wie ich“. Fragt er dann aber, warum es im einen Fall als und im anderen wie heißt, wird er vermutlich keine gescheite Antwort bekommen, wenn er nicht gerade einen Deutschlehrer vor sich hat.

Denen sei zu ihren Gunsten unterstellt, dass sie die Regel kennen, wonach ein Komparativ (gescheiter, größer, schöner) ein als nach sich zieht, während dem Positiv (gescheit, groß, schön) ein wie folgt: „gescheit wie“. Das wie drückt die Gleichheit aus, das als die Ungleichheit – mit der Ausnahme, dass Ungleichheiten, die mit so formuliert werden, beides zulassen, nämlich wie und als. Dabei fällt die Wahl meistens auf das wie: „doppelt so gescheit wie“.

Wie-n-i komme bin, isch sui gange.“ Auch in diesem Fall wird sich der Schwabe einen Rüffel einhandeln: Es heiße, wenn in der Vergangenheit erzählt werde: „Als ich gekommen bin“. Und er wird nicht so recht verstehen, warum die Schriftsprache das wie, das sie in der Vergangenheit verbietet, für die Gegenwart zulässt: „Wie ich zur Türe hereinkomme, verlässt sie den Raum“, gilt auch dem Duden als korrektes Deutsch.

Welche Logik bestimmt dieses Durcheinander? Was den Positiv und den Komparativ betrifft, behauptet das Deutsche Wörterbuch der |33|Brüder Grimm mit Verweis auf das Englische und Französische, der Sprachgebrauch erfordere dafür unterschiedliche Konjunktionen: „rot wie Blut“ – „röter als Blut“; „red as blood“ – „redder than blood“; „rouge comme sang“ – „plus rouge que sang“. Im Deutschen wurde dieser Unterschied erst spät durch jene Regel zementiert, die von den Schwaben ignoriert wird – wie einst von allen Deutschen. Denn die sagten früher „rot als Blut“ und ebenso „röter als Blut“.

Das Beispiel zeigt zudem, dass bei Vergleichen ursprünglich als üblich war, welches allmählich durch wie verdrängt wurde – und wird. Bei dieser Entwicklung weg vom als und hin zum wie spielen die Schwaben ganz offensichtlich eine Vorreiterrolle: Sie verwenden das wie bereits dort, wo die Schriftsprachler noch als sagen. Und dafür werden sie dann von diesen geprügelt.

Doch manche Schwaben umgehen das Problem mit Hilfe des zwar als veraltet, nicht aber direkt als falsch geltenden als wie – und befinden sich damit in bester Gesellschaft. Denn wie reimte schon Dichterfürst Goethe? „Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor.“

|34|Als zu!

Schwaben sagen mitunter wie, wo Nichtschwaben ein als für angebracht halten. Dann aber verblüffen sie die andern als mit einem scheinbar völlig unmotivierten als.

Wenn der Patient auf ärztliches Befragen angibt: „I trink halt als a Viertele“, dann wird der Arzt den Wahrheitsgehalt des fast tonlos vorgebrachten Wörtchens als mit einem Blick auf die Leberwerte prüfen. Seine Antwort könnte dann lauten: „I glaub als, Sie trinket als vier.“

In diesem Dialog taucht das Wörtchen als auffallend oft auf, und zwar, wie weiter auffällt, an Stellen, wo es im Schriftdeutschen nicht vorkommt. Das zeigt die freie Übersetzung jenes Wortwechsels: „Ich trinke bisweilen ein Glas Wein.“ Arzt: „In mir festigt sich eher der Verdacht, Sie trinken täglich vier.“

Die Übersetzung zeigt zudem, dass jenes als jedes Mal einen anderen Sinn annimmt. Zunächst will der Patient mit einem unbetonten als betonen, dass er „gelegentlich“ ein Glas Wein trinke. Der Sinn dieser Aussage wird ins Gegenteil verkehrt durch das betonte als des Arztes, der damit den ständigen Konsum eines ganzen Liters Trollinger diagnostiziert. Das ebenfalls betonte mittlere als in der Wendung „i glaub als“ liegt auch bedeutungsmäßig dazwischen im Sinne eines „in wachsendem Maße“.

Wir haben es hier also mit dem Phänomen zu tun, dass bei der Betonung des Wörtchens als der höhere Ton eine höhere Frequenz nicht nur im akustischen, sondern auch im semantischen Sinne ausdrückt: Mit der Stärke der Betonung wandelt das als seine Bedeutung von „gelegentlich“ zu „immer“. Und deswegen ist das als in der eingangs zitierten Patientenangabe nur sehr schwach, während der Arzt die Häufigkeitsangabe als ebenso stark akzentuiert wie die anschließende Mengenangabe „vier“.

|35|Damit ist also bereits gesagt, dass dieses schwäbische als eine Frequenzmitteilung ist. Sie hat offenbar nichts zu tun mit der im schriftdeutschen häufigen Konjunktion als, die dem Vergleich dient – größer als – oder einer Zeitangabe: als es dunkel wurde. Im Schwäbischen wird sie meist durch wie ersetzt: „größer wie“ oder „wie’s dunkel wore isch“.

Im Gegensatz zu diesem als wird das schwäbische Häufigkeits-als je nach Gegend auch äls gesprochen. Es scheint sich also um zwei verschiedene Wörter zu handeln. Der Umstand, dass jene Schwaben, die äls bevorzugen, auch älles statt alles und älleweil statt alleweil sagen, lässt vermuten, dass jenes als/äls nichts anderes ist als ein verkürztes alles/älles. Das Schwäbische Wörterbuch bestätigt dies. Und darum schreibt es jenes als völlig zurecht mit -ll-: alls/älls – was in diesem Kapitel aber unterblieben ist, weil sonst die Anfangspointe hätte entfallen müssen.

Und nun zum Schluss noch ein kleiner Verständnistest: Nach dem Arztbesuch geht der Patient zum Frühschoppen, wo seine Freunde auf ihn warten. Sie schenken ihm ein, und er sagt „Als zu!“ Ist dieses als betont oder nicht?

 

 

 

1 Im Kapitel „1 Muggaseggl = 0,22 Millimeter“ der Serie „Schwäbisch auf Anfrage“ in der Südwest Presse vom 31. Mai 2008 wurde erstmals die genaue Länge des Muckenseckels veröffentlicht, die der Entomologe Dr. Hans-Peter Tschorsnig vom Stuttgarter Naturkundemuseum ermittelt hat.