Wir kommen im Auto von Saint-Gervais zurück. Béatrice ist müde. Sie streckt sich auf ihrem Sitz aus. Ihre Augen liegen tief in den Höhlen. Sie atmet schwer, schläft aber schließlich ein. Jedesmal wenn die Straße Kurven macht, fällt ihr Kopf wie leblos zur Seite.
Ich fahre ohne Unterbrechung bis nach Paris. Wir erreichen das Haus, ich wecke Béa auf. Ihre Augen sind noch immer eingefallen, ihr Blick ist leer. Sie hat Mühe, die Treppen hinaufzusteigen, und legt sich sofort hin. Die Nacht zieht sich. Ich betrachte Béatrice in ihrem unruhigen Schlaf. Am nächsten Morgen beschließen wir, ihren Kardiologen zu Rate zu ziehen. Er diagnostiziert eine Lungenembolie und lässt sie sofort ins Krankenhaus einweisen.
Auf der Intensivstation ist ein Bett für sie reserviert. Ein Neffe des Kardiologen ist Klinikchef. Ein Glück!
Uns bleibt keine Zeit, zu Hause vorbeizufahren, um Laetitia einen Kuss zu geben. Es geht ins Saint-Antoine-Krankenhaus. Dieses kannten wir noch nicht!
Wie immer versuchen wir, alles nicht zu schwer zu nehmen, ein wenig zu flachsen. Jeder spielt seine Rolle. Nur nicht schon gleich zu Anfang weinen. Höflichkeit geht vor: Wir bedanken uns bei der sehr netten Krankenschwester. Wir machen das alles nicht zum ersten Mal.
Der Neffe des Kardiologen ist da. Er nimmt Béatrice in Empfang. Sie ist gleich doppelt gestraft, eine Gefangene ihres Körpers und der Krankenhausvorschriften. Sie bekommt ihre Uniform: eine Art weißes Leibchen, das direkt am Körper getragen wird. An alles ist gedacht, Anschlüsse, Vorhängeschlösser an den Fenstern – um Selbstmordversuche zu verhindern –, kein Telefon, kein Fernsehen, gedämpfte Farben, kurze Besuchszeiten.
Ich halte mich an gar nichts. Das Personal findet sich schließlich mit meiner Sturheit ab, keiner stellt mehr meine hartnäckige Anwesenheit in Frage. Als ich Béa am ersten Abend verlassen muss, nehme ich eine Liste der erlaubten Gegenstände mit. Ich beruhige sie: Ja, ich werde ihre und meine Eltern benachrichtigen; ja, ich werde unserem kleinen Mädchen – es ist jetzt zweieinhalb – einen Kuss von ihr geben.
Die Ärzte führen allerlei Untersuchungen durch und bestätigen die Diagnose der Lungenembolie. Sie legen Béatrice in einen verglasten Raum, der Tag und Nacht erleuchtet ist, und schließen sie an einen rot blinkenden Herzmonitor an. Sie legen ihr einen venösen Zugang, über den sie ernährt und mit Medikamenten versorgt wird. Ihr Körper ist reglos, ihre Haut fahl im Licht der Neonröhren. Tränen laufen ihr übers Gesicht.
Béatrice erleidet sechs Lungenembolien und verbringt ein Jahr in diesem Krankenhaus. Ich besuche sie jeden Tag, doch ich tue es ohne Freude. Ich verstehe ihre Einsamkeit nicht. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Die Angst benebelt meinen Blick. Ich komme vormittags gegen elf. Sie freut sich, mich zu sehen, trotz meines Schweigens. Um zwölf muss ich gehen, raus hier. Ich bleibe in der Rue Saint-Antoine.
Ich habe ein einfaches Bistro ausfindig gemacht. Die beleibte Wirtin steht am Herd, ihr vom Alkohol ausgezehrter Gatte äußert sich nur, indem er mit Ellbogen und Schultern zuckt, wie ein Huhn. Ich setze mich immer an denselben Tisch. Die Wirtin macht mir irgendeine Vorspeise und ihr berühmtes Tagesgericht. Von der Wärme betäubt, döse ich ein.
Nachmittags kehre ich zu Béatrice in ihrem Neonlicht zurück. Ich beschreibe ihr die Straße, das Bistro, die Gerüche, das Essen. Dies bleibt ein ganzes Jahr unser Ritual. Sie weint, wenn ihre Venen aufplatzen und ihre Arme dick mit Alkoholkompressen verbunden werden müssen. Sie gibt sich damit zufrieden, dass ich da bin, wie niedergedrückt ich auch sein mag, und sieht mich die ganze Zeit an. Manchmal bleibe ich über Nacht, um ihre Angst zu lindern. Als sie nach Monaten einmal das Bett verlassen kann, macht sie sich schön, ist aber totenbleich. Nur mit Mühe schafft sie es bis zu meinem Bistro. Sie freut sich wie ein kleines Kind über alles. Als wir das Bistro verlassen, übergibt sie sich auf den Gehsteig.
Ich arbeite unermüdlich im Büro, absolviere meine zehn Stunden zeitversetzt, Wochenenden eingeschlossen.
Sie erwartet mehr von mir, vor allem, dass ich sie in ihrem Glauben begleite. Doch ich schweige stur. Nur wenn ich bei ihr bin, bin ich gegen die Angst gefeit. Professor Slama rät dringend dazu, einen Cavaclip14 einzusetzen.
Nachdem wir das Risiko einer tödlichen Embolie und das Restrisiko von Folgeschäden der Operation abgewogen haben, entscheiden wir uns für den chirurgischen Eingriff.
Sie versprechen, dass die Herzoperation nur eine kleine Narbe hinterlassen wird. Doch Béa wird nie wieder im Bikini baden: Die Narbe beginnt in der Mitte des Brustbeins und verläuft in einem großen Bogen bis kurz oberhalb der rechten Pobacke. Dieses lange violette Mal wird sie zeit ihres Lebens tragen. Bis zum Schluss bin ich der Einzige, der ihr Geheimnis kennt.
Als sie schließlich aus dem OP-Trakt geschoben wird, sind ihre Augen geschlossen. Ich halte ihre Hand. Wir haben gewonnen …
Jahre des Leidens.
*
Laetitia ist vier. Wir verbringen die Ferien zusammen mit meinen Cousins auf Korsika, auf einem riesigen Segelboot.
Nur die täglichen sechs Tabletten der Chemotherapie erinnern uns an Béas Krankheit.
An diesem Tag badet sie zusammen mit ihrer Tochter im Meer. Die beiden lachen und spritzen sich gegenseitig nass. Béatrice sieht blendend aus. Als sie sich den Knöchel an einem Felsen anschlägt, entfährt ihr nur ein kleiner Schmerzenslaut, sie klettert aufs Boot zurück, um den Kratzer zu säubern. Die Wunde wird nie vernarben – eine »Nebenwirkung«, die man uns verheimlicht hat.
Béas Krebs lässt ihr Blut eindicken, die Chemotherapie verflüssigt es. Über ihrem rechten Knöchel bildet sich ein nekrotisches Geschwür, dann auch über ihrem linken. Der Krebs sollte uns eigentlich mehr beschäftigen. Doch es sind diese scheußlichen Geschwüre, die sich im Verlauf ihrer Krankheit für Béatrice zu einem Trauma auswachsen. In Paris verbringt sie durchschnittlich das halbe Jahr im Krankenhaus. Ihre Eltern sind praktisch ständig an ihrer Seite, doch ich versuche so oft wie möglich, sie zu vertreten, auch wenn es bis an den Rand meiner Kräfte geht. Nach wie vor hat sie ein Lächeln für mich, wenn ich auftauche. Ich bringe ihr Kassetten mit, auf denen ich Laetitia aufgenommen habe, all die Briefe, die zu beantworten wir uns vorgenommen haben, und die Neuigkeiten von draußen.
Ihre Mutter, selbst Ärztin, ist entsetzt angesichts der verschiedenen Versuche seitens der Ärzte, die Geschwüre zu »behandeln«. Es ist das reinste Gemetzel.
Béa weint vor Schmerz.
*
Diese Bilder überfluten mein Gedächtnis, gelb gefärbt vom Nikotin. Der Zigarettenrauch steigt mir wieder in die geröteten Augen. Jetzt fallen mir die Verzweiflung und die Hilflosigkeit wieder ein, die ich damals angesichts des Ganzen empfand. Die Wut hingegen habe ich vergessen – dafür sorgen Béatrices Abwesenheit und mein kaputter Körper.
*
Professor Fiessinger macht schließlich Béas Martyrium ein Ende. Er entlässt sie zur weiteren Pflege nach Hause und empfiehlt ihr eine konservative Behandlung. Die besteht darin, die Geschwüre täglich so lange mit einem Skalpell abzuschaben, bis sie bluten – das muss sein, damit sich wieder neue Zellen bilden. Ich bin bei der Prozedur morgens und abends zugegen, aber die Skalpelle kann ich einfach nicht ertragen. Ich nähere mein Gesicht dem ihren und trockne ihre Tränen.
Wie oft hat sie mich bis aufs Blut gebissen, während dieses Gemetzel vor sich ging? Ein paar Minuten später ist alles vergessen, sie ist zu Hause, bei ihrer Familie. Dieser Professor hat sie wieder ins Leben entlassen.
Von nun an muss ich sie beschützen.
14 Clip, der auf die untere Hohlvene aufgesetzt wird, um aufsteigende Blutgerinnsel abzufangen.