Nach drei Monaten auf der Intensivstation bringt Béatrice die Kinder zum ersten Mal ins Krankenhaus mit. Laetitia gibt sich große Mühe herauszufinden, ob ich sie auch wiedererkenne, da ich wegen des Luftröhrenschnitts nicht sprechen kann. Sie treibt allerlei Unfug, schleicht sich hinter die anderen Familienmitglieder, die um mein Glasbett herumstehen, und macht ihnen Hasenohren oder schneidet Grimassen. Ich verfolge ihre Spielchen mit großem Entzücken. In meinen Augen entdeckt sie das Lachen, das ihr mein Mund wegen der Schläuche nicht schenken kann.
Schuldgefühle stellen sich ein. Sie sind unnütz und lassen einen doch nie mehr los. Hätte ich diesen Tag des 23. Juni vermeiden können, dann hätte Béatrice nicht so viel Kraft lassen, die Kinder hätten nicht diesen Schock erleben müssen, Laetitia wäre nicht so zerrissen und Robert-Jean nicht so verstört. Sie mussten sich derart anstrengen, damit ich nicht aufgebe! Es war zu viel für ihr Alter, es ging über ihre Kräfte. Für mich begann an diesem 23. Juni meine Gegenwart.
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Ich liege auf einem Glaskugelbett, das mir ein Gefühl des Schwebens vermittelt: Unter mir werden mikroskopisch kleine Kugeln durch einen warmen Luftstrom verwirbelt. Die Wärme, das summende Gebläse, das Fehlen jeglicher zeitlicher Anhaltspunkte entziehen mich der Wirklichkeit. Sechs Wochen lang bin ich nun schon abwesend, wird mein Hirn immer mürber. Und das alles nur, damit mein Hintern verheilt!
Wundliegegeschwüre sind unser Los. Es genügt, eine Viertelstunde lang mit etwas in Berührung zu sein, einem Gegenstand, einem Möbelstück – wir merken es überhaupt nicht –, und schon ist die entsprechende Körperstelle entzündet. Dann bedarf es monatelanger intensiver Pflege, bis sie sich wieder schließt.
Mehr als einmal bin ich in den zweifelhaften Genuss eines Dekubitus gekommen, an der Ferse, am Ellbogen, an den Knien und am Kreuzbein. Die Druckgeschwüre waren so tief, dass die Knochen freilagen und ich operiert werden musste, um eine bleibende Infektion zu verhindern.
Sogar im Krankenhaus kann man einen Dekubitus bekommen. Obwohl ich im Rehazentrum drei Monate lang bestens gepflegt, massiert und mehrmals täglich umgelagert wurde, genügten zwei Wochen auf der Intensivstation und schon war es passiert. Erst nach neun Monaten in Kerpape schloss sich diese erste Wunde wieder.
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Durch die vielen Stunden, Nächte, Monate, die ich liegend verbringe, den Blick an die Decke gerichtet, wird mir ein Reichtum zuteil, der mir, einem schillernden Angehörigen der Hautevolee, bisher entgangen war: die Stille.
In der Stille herrscht das Bewusstsein. Es ordnet ein, was uns umgibt. In der Stille thront der Mensch. Am Anfang befällt einen eine gewisse Furcht. Kein Geräusch, das einen entführt, keine Empfindung, die einen begrenzt – ein riesiges, monotones und lebloses Brachland. Man muss sich winzig klein machen, erst dann entdeckt man in dieser tonlosen Trostlosigkeit eine Spur von Leben. Bis man schließlich unendlich kleiner Details gewahr wird: Der Finger einer Krankenschwester streckt sich, verabreicht eine schmerzlose Spritze an irgendeiner Stelle dieses Körpers, den man nicht mehr spürt; eine Träne kullert unter dem frischen Verband hervor über die Schläfe bis ins Ohr und kitzelt, bis der Schlaf sie verwischt; der Druck des Heftpflasters auf einem Nasenflügel, das den Beatmungsschlauch fixiert; ein vor Erschöpfung flatterndes Augenlid. Ein Gesicht nähert sich: Man nimmt Laute wahr, doch die Worte bleiben unverständlich. Lila Augenlider, die sich im Neonlicht schließen. Wenn die Dunkelheit herannaht, drehen sich die Augen weg. Dann nichts mehr. Das Erwachen kommt zögerlich: ein Geräusch oder ein Druckgefühl im Gesicht. Das Gehirn tritt in den Wachzustand ein. In diesen Stunden, in denen die Augen geschlossen bleiben, hebt eine schwache Aktivität im Inneren an.
Eines Tages ist eine Stimme da. Meine ist es nicht, sie kommt von innen. Eher eine weibliche Stimme, vielleicht Béas. Sie stellt mir Fragen, als sei sie ganz unabhängig von mir, und weil ich anfangs nicht reagiere, antwortet sie des Öfteren auch. Ich gewöhne mich an ihre Anwesenheit, fange selbst an zu antworten. Doch ich erkenne nicht einmal meine eigene Stimme: Es kommt mir vor, als ob zwei Plaudertaschen in meinem Kopf ein Kaffeekränzchen abhalten, ohne je eingeladen worden zu sein. Unterhaltsam sind sie schon, sie gehören ja auch zu mir. Nach und nach mache ich meine Autorität geltend. Immer häufiger antworte ich anstelle der männlicheren der beiden Stimmen. Anfangs sind die Gesprächsthemen seltsam banal.
»Ist dir klar, was dir zugestoßen ist?«
»Ja, ja. Ich glaube schon.«
»Was sagst du zu Béatrice, wenn sie kommt?«
»Ich schaue sie an, du Schlauberger!«
Diese innere Stimme und meine eigene reden ohne Unterlass, so dass ich bald nicht mehr weiß, wer wer ist.
Monatelang starre ich an die Decke, ohne mich je zu langweilen. In diesem blendenden Weiß habe ich um meinen Körper getrauert, bin ich unter die Lebenden zurückgekehrt. Ich habe diese Stimme gebändigt, durch die ich womöglich wie ein Erleuchteter geklungen hätte (das hätte noch gefehlt, dass sie mich in einer Anstalt wegsperren!). Vergessen die fürchterlichen Momente, als ich lernen musste, ohne Gerät zu atmen, lernen musste, ein Leben mit dem zu akzeptieren, was von mir noch übrig ist, und dem, was mir hinzugefügt wurde. Gestärkt durch meine ständige innere Beschäftigung und beruhigt von dem Wissen um Béatrices Liebe, bessert sich mein Zustand allmählich.
Die wenigen Empfindungen, die mir noch bleiben, habe ich unter Kontrolle. Auf Béatrices Besuche bereite ich mich mit meinem pausenlosen inneren Palaver vor. Wenn sie da ist, verschwinde ich: Ich registriere jeden Blick von ihr, jedes Wort. In dieser Zeit muss sie mich mit dem Virus der Hoffnung infiziert haben, habe ich mein Bewusstsein entdeckt, so dass sich dann alles Weitere ergeben konnte.
Das Vertrauen in die Zukunft entsteht in der Stille. Die Stunden verstreichen. All meine Gedanken konzentrieren sich auf mein körperliches Überleben. Ich darf die Hoffnung nicht bedrängen. Schreckliche Schmerzen bohren sich in alles Empfindsame, über das ich noch verfüge. Sie rauben mir den Atem, ich liege da mit leerem Blick. Sobald sie auch nur für einen winzigen Moment nachlassen, flackert die Hoffnung wieder auf. Und mit ihr eine neue Geburt.
Stille.
Selbst in diesem Debakel wage ich noch, daran zu glauben. Aus der Kluft zwischen meinem gegenwärtigen Leben und dem Glück, das ich noch erwarte, erwächst die Hoffnung.
Die Behinderung, die Krankheit bedeuten eine Zäsur und eine Erniedrigung. In den Momenten, in denen man seinem Ende entgegenblickt, ist die Hoffnung ein lebensnotwendiger Atem, der immer stärker wird; richtig gebraucht, wird er zum zweiten Atem.
Marathonläufer kennen das Phänomen des zweiten Atems. Es ist eine Art Zustand der Gnade. Dabei wird der Atem durchlässig, er vertieft sich. Die Schmerzen verschwinden. Zweiundvierzig Jahre lang habe ich mir die Luft abgeschnürt. Wir rauben uns selbst den Atem, indem wir zu schnell losrennen, indem wir immer die Besten, die Ersten sein wollen. Diejenigen, die nach einigen Dutzend Kilometern leichter atmen, haben mental die Ankunft im Ziel vorweggenommen. Das Fest Gottes, die wiedergefundene Liebe ist das Ziel. Diese Vision von der Ankunft ist eine Notwendigkeit.
Einen Marathon läuft man niemals allein.
Die Schreie, die Geständnisse, die desinfizierten Betten, die für den Nächsten bereitgestellt werden, verbinden die Menschheit über die Gegenwart hinaus. Die Welt ist bevölkert von Seufzern und Schemen, von Schattenexistenzen. Wir entdecken, dass es ein Davor und ein Danach gibt, dass schon die Alten sich die Welt erklärt haben, dass die Ewigkeit von denen bewohnt wird, die uns vorangegangen sind. Die Hoffnung ist die Brücke, die uns von den »Erinnerungen, […] schimmernden Gewölben gleich«15 zur Ewigkeit führt.
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Das Telefon klingelt. Eine himmlische Stimme erfüllt den Raum: »Hallo, hier Marie-Hélène Mathieu, Vorsitzende des christlichen Behindertenwerks Office chrétien des handicapés«, – kein Zweifel, ich komme dem Himmel immer näher! –, »ich habe Sie in der Sendung von Jean-Marie Cavada16 gesehen. Ich organisiere eine Vortragsreihe und würde Sie gern als Redner engagieren.«
»Ich habe nicht allzu viel Zeit zur Verfügung, verehrte Mme Mathieu, und ich bin nicht sehr gläubig. Außerdem befinden sich meine Gedanken zum Thema Behinderung noch auf dem Niveau eines Neulings.«
Doch wie hätte ich ablehnen sollen? Ich habe keine Lust zu diskutieren. Die Vortragsreihe findet in drei Monaten statt, mit etwas Glück kommen mir die Umstände zu Hilfe.
»Ich würde den Vortrag gern zusammen mit meiner Frau halten, die seit fünfzehn Jahren an einer schweren Krankheit leidet. Sie ist sehr gläubig, zusammen dürften wir es auf einen guten Mittelwert bringen!«
»Unter welchem Titel dürfen wir Ihren Vortrag ankündigen?«
Ich bin völlig erschöpft und orientierungslos, doch dann habe ich eine Eingebung:
»Der zweite Atem.«
»Sehr gut, dann kündigen wir also den zweiten Atem von Philippe und Béatrice Pozzo di Borgo an.«
»Nein, den zweiten Atem von Béatrice und Philippe.«
Sie wundert sich, doch ich lasse mich nicht beirren. Es hat mich einen großen Schritt weitergebracht, dass ich, ausgelöst durch ihre Frage, diese Worte finden konnte.
Warum Béatrice und Philippe? Trotz meiner extremen Schwäche wird mir klar, dass Béatrices Krankheit mir hilft, mich mit erstaunlicher Leichtigkeit an meine Behinderung zu gewöhnen. Ich ziehe mich zurück, lasse mich jedoch nicht entmutigen. Dabei hat meine Haltung nichts mit einem schlechten Gewissen gegenüber Béa zu tun, die bereits seit fünfzehn Jahren leidet und kämpft, auch nicht mit falschem Ehrgeiz, etwa weil ich es ihr gleichtun wollte. Nein, was mir hilft, ist die Zuversicht, die sie tief aus ihrem Inneren schöpft. Solange wir noch Lebenskraft besitzen, hat unser Leben seine ganz eigene Schönheit, und es wäre ein Jammer, dies nicht zu schätzen. Genau dieser Blick ist es, der mich nach einem Monat im Koma beim Erwachen begrüßt. Wie könnte ich den zweiten Atem erklären, ohne bei Béatrice zu beginnen? Nach und nach hat mich das Leben wieder durchdrungen, das Leid, die wahren Freuden, das Vergnügen, sprechen zu können, die Schönheit. Wie viele Nächte habe ich neben ihr gelegen und über die Welt nachgedacht, als wäre sie, Béatrice, mein Schlüssel zur Wahrheit!
Béatrice strahlt. Ich begleite sie, so gut ich kann.
Nichts deutet auf ihre Krankheit hin. Sie ist immer gleich schön, elegant, freundlich, optimistisch und aufmerksam. Doch sie schafft es kaum noch die Treppe hinauf und muss alle drei Monate für eine Ewigkeit das Bett hüten. Sie lässt sich nicht das Geringste anmerken. Manchmal, wenn sie sehr müde ist, schreit sie ihre Verzweiflung darüber heraus, dass sie gar nicht als krank angesehen wird. Das wirft sie dann der ganzen Welt vor. In Wirklichkeit aber wirft sie sich ihre eigene Lebensfreude vor. Sie würde sich zu gern gehen lassen. In solchen Momenten biete ich ihr meine Schulter an, sie weint sich aus und macht anschließend weiter.
Am Abend des Vortrags kommt diese Lebensphilosophie in ihrer tiefen Ruhe und ihrem Lächeln zum Ausdruck. Ich betrachte die fünfhundert Menschen im Saal, die alle beeindruckt sind von ihrer Kraft. Niemand räuspert sich oder hustet, es herrscht höchste Aufmerksamkeit. Da ist es, ihr Leben, geboren aus dem ersten Atem und erleuchtet von ihrer Vorstellung von der Ewigkeit, ungeachtet aller Widrigkeiten. Was soll ich nach einer solchen Demonstration noch groß sagen, außer dass es sich mit einer Behinderung gut leben lässt, wenn man nicht allein ist, wenn man so viel Kraft an seiner Seite spürt, die einen selbst in der Bewegungslosigkeit elektrisiert.
Ohne Béatrice hätte ich nicht so gekämpft. Während meines einjährigen Krankenhausaufenthalts entdeckte ich eine Welt, die mir bis dahin entgangen war, eine Welt, die ich nie aus der Nähe betrachtet hatte – die des Leids. Ich kannte nur Béas Leid. Es war eine private Angelegenheit, kein gesellschaftliches Phänomen. Aber wenn man einmal selbst neben Menschen, die vor Schmerzen schreien, auf der Intensivstation gelegen hat, wenn man die Einsamkeit in den Krankenhauszimmern kennengelernt hat, dann entwickelt man eine andere Sicht der Dinge.
Jenseits der Worte, jenseits der Stille entdeckt man die eigene Menschlichkeit.
Der Körper, den man bisher vergöttert hat, verblasst allmählich zugunsten eines erneuerten Geistes, einer vertieften Spiritualität. Eine Kehrtwendung des Herzens.
Auf dem Grunde seines Herzens, in der Innerlichkeit, im eigenen Mysterium entdeckt man den Anderen.
Der glatte, geschniegelte Privilegierte, der ich einmal war und der heute gekreuzigt auf seinem Bett liegt, malt sich ein Miteinander zwischen einer aufrecht stehenden und einer liegenden Menschheit aus. Das universelle Kreuz als Ausgangspunkt einer neuen Welt.
15 Khalil Gibran, Der Prophet. Aus dem Englischen von Ursula Assaf, Patmos Verlag.
16 Eine Sendung namens La marche du siècle, in der ich über die Zeit unmittelbar nach dem Unfall berichtet habe.