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Verfassung: Kritisch

Draußen: ein kalter Wintermorgen im Berlin(3) des Jahres 1900. Drinnen, im Zimmer, hat die Magd einen Apfel in den kleinen Ofen gelegt, der neben dem Bett des acht Jahre alten Walter(6) steht. Vielleicht können Sie sich den Geruch ja vorstellen, aber selbst, wenn Ihnen das gelingt, werden Sie nicht die mannigfachen Assoziationen erspüren, die in Benjamin(7) aufstiegen, als er sich 32 Jahre später an diese Szene erinnerte. Dieser aus der Ofenhitze genommene Bratapfel, so Benjamin in seinen Erinnerungen »Berliner(4) Kindheit um Neunzehnhundert«, habe aus der Ofenhitze mit sich gebracht

die Arome von allen Dingen …, welche der Tag mir in Bereitschaft hielt. Und darum war es auch nicht sonderbar, daß immer, wenn ich an seinen blanken Wangen meine Hände wärmte, ein Zögern mich beschlich, ihn anzubeißen. Ich spürte, daß die flüchtige Kunde, die er in seinem Dufte brachte, allzu leicht mir auf dem Wege über meine Zunge entkommen könne. Jene Kunde, die mich manchmal so beherzte, daß sie mich noch auf dem Marsch zur Schule tröstete.[1]

Doch mit der Tröstung war es schnell vorbei: In der Schule kam ihm »… die ganze Müdigkeit, die erst verflogen schien, verzehnfacht wieder. Und mit ihr jener Wunsch: ausschlafen zu können. Ich habe ihn wohl tausendmal getan und später ging er wirklich in Erfüllung. Doch lange dauerte es, bis ich sie darin erkannte, daß noch jedesmal die Hoffnung, die ich auf Stellung und ein sicheres Brot gehegt hatte, umsonst gewesen war.«[2]

Diese Vignette enthält vieles, was für Walter Benjamin(8) charakteristisch ist: angefangen bei dem verzauberten glänzenden Apfel, dessen Aromen schon auf Benjamins(9) Vertreibung aus dem Paradies seiner Kindheit vorverweisen, die ihrerseits auf das bevorstehende Exil des Erwachsenen hindeutet, das ihn aus Deutschland(5) auf eine pikareske Vagabondage schicken und schließlich auf der Flucht vor den Nationalsozialisten im Jahr 1940 in den Tod führen sollte. Man hat die verletzliche Gestalt vor Augen, die darum kämpft, Einfluss auf die schwierige Welt jenseits ihres verzauberten, wohlriechenden Schlafzimmers auszuüben. Da ist der Melancholiker(10), der das, wonach er sich sehnt (Schlaf), erst dann bekommt, wenn es hoffnungslos mit dem Scheitern anderer Wünsche verknüpft ist. Da ist die sprunghafte Schnitttechnik (vom Bett zur Schule zur entzauberten Zeit des Erwachsenen), die an die modernen Schreibtechniken erinnert, mit denen er in seinem 1928 entstandenen Buch Einbahnstraße arbeitete und die eines seiner Hauptwerke ankündigt, den 1936 entstandenen Essay »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« über filmische Montage und ihr revolutionäres Potential. Vor allem aber stößt man in Benjamins(11) Erinnerung an seine Kindheit zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf diese befremdliche, kontraintuitive kritische Bewegung, die er in seinen Texten immer wieder vollführt: Er reißt die Ereignisse aus dem von ihm sogenannten historischen Kontinuum heraus, um in einem gnadenlosen Rückblick die Illusionen aufzudecken, die zuvor noch für Wahrheiten gehalten wurden; er jagt retrospektiv Dinge in die Luft, die in ihrer Zeit ganz natürlich, unproblematisch, gesund gewirkt hatten. Man hätte auf den ersten Blick annehmen können, er(12) gebe sich dem nostalgischen Abglanz einer idyllischen Kindheit hin, ermöglicht durch Papas Geld und der Arbeit von Dienstboten, doch in Wahrheit steckte er gewissermaßen Dynamitstangen in die Grundfesten seiner Kindheit und überhaupt des Berlins(5) seiner frühen Jahre. In dieser Erinnerung einer verlorenen Kindheit ist außerdem vieles von dem enthalten, was diesen bedeutenden Kritiker und Philosophen(13) für die überwiegend jüngeren Landsleute und jüdischen Intellektuellen, die für das Institut für Sozialforschung tätig waren, so eindrucksvoll und einflussreich machte – jener Einrichtung, die später als Frankfurter Schule bekannt wurde. Benjamin war der wichtigste intellektuelle Impulsgeber der Gruppe, obwohl er(14) nie zur Belegschaft des Instituts gehört hatte.

Wie so viele der Kindheitsdomizile der führenden Mitglieder der Frankfurter Schule verdankten sich auch die komfortablen, bürgerlichen Wohnungen und Villen in Westberlin(6), in denen Emil(1), ein erfolgreicher Kunsthändler und Antiquar, und Pauline Benjamin(1) lebten, dem geschäftlichen Erfolg des Vaters. Wie die Horkheimers(6), die Marcuses(8), die Pollocks(2), die Wiesengrund(1)-Adornos(36) und andere Familien assimilierter Juden, aus denen die Denker der Frankfurter Schule stammten, lebten die Benjamins(15)(2)(2) in unerhörtem Luxus, im wilhelminischen Pomp des machtstrebenden deutschen Staates zu Beginn des 20. Jahrhunderts, einer Zeit, in der sich eine rapide Industrialisierung vollzog.

Und das war einer der Gründe, warum Benjamins(16) Schriften auf viele der führenden Mitglieder der Frankfurter Schule einen so tiefen Eindruck machten: Diese Männer hatten denselben privilegierten, säkularen jüdischen Hintergrund des neuen Deutschland(6) und lehnten sich ebenso wie er gegen den Krämergeist ihrer Väter auf. Max Horkheimer(7) (1895–1973), Philosoph, Kritiker und mehr als dreißig Jahre lang der Leiter des Instituts für Sozialforschung, war der Sohn eines Textilfabrikanten in Stuttgart(1). Herbert Marcuse(9) (1898–1979), politischer Philosoph und Liebling der radikalen Studierenden in den 1960er Jahren, war der Sohn eines wohlhabenden Berliner(7) Geschäftsmanns und gehörte in seiner Jugend als Angehöriger einer jüdischen Familie, die in die deutsche Gesellschaft integriert war, zur oberen Mittelschicht. Der Vater des Sozialwissenschaftlers und Philosophen Friedrich Pollock(3) (1894–1970) wandte sich vom Judentum ab und war als Besitzer einer Lederfabrik in Freiburg(1) im Breisgau geschäftlich erfolgreich. Als Knabe lebte der Philosoph, Komponist, Musiktheoretiker und Soziologe Theodor Wiesengrund Adorno(37) (1903–1969) in unbeschwerten Umständen, die mit denen des jungen Walter Benjamin vergleichbar waren. Seine Mutter Maria Calvelli-Adorno(1) hatte als Opernsängerin reüssiert und sein Vater Oscar Wiesengrund(2) war ein erfolgreich assimilierter jüdischer Weinhändler in Frankfurt(4), der, wie der Historiker der Frankfurter Schule Martin Jay(1) es formulierte, dem Sohn(38) »den Sinn für die feineren Dinge des Lebens [vermittelte]; Interesse am Kaufmannsberuf vermochte er bei Adorno(39) jedoch nicht zu wecken(40)«[3] – diese Bemerkung trifft auch auf andere Mitglieder der Frankfurter Schule zu, die zwar vom Ertrag der beruflichen Tätigkeit ihrer Väter abhängig waren, allerdings Angst hatten, von deren Geist angesteckt zu werden.

Der führende psychoanalytische Denker der Frankfurter Schule Erich Fromm(2) (1900–1980) unterschied sich in gewisser Hinsicht von seinen Kollegen – nicht, weil sein Vater lediglich einen nur mäßig erfolgreichen Mosthandel in Frankfurt(5) betrieb, sondern weil er ein orthodoxer Jude war, der sich als Kantor in der lokalen Synagoge betätigte und peinlich genau alle jüdischen Feiertage und Gebräuche beachtete. Allerdings teilte Fromm(3) mit seinen Kollegen sicherlich einen tief verwurzelten Widerwillen gegen den Mammon und eine Ablehnung der Geschäftswelt.

Henryk Grossmann(1) (1881–1950), eine Zeitlang der führende Ökonom der Frankfurter Schule, verbrachte seine Kindheit in Krakau(1), im damaligen vom österreichischen(1) Habsburgerreich kolonisierten Galizien. Er stammte aus einem schwerreichen Elternhaus: Sein Vater, ursprünglich Barbesitzer, hatte sich zu einem erfolgreichen Kleinindustriellen und Minenbesitzer hochgearbeitet. Rick Kuhn(1), Henryks(2) Biograph, schrieb: »Der Wohlstand der Familie Grossmann(3) schirmte sie ab gegen die Folgen der gesellschaftlichen Vorurteile, politischen Strömungen und Gesetze, die die Juden benachteiligten.«[4] Viele der führenden Denker der Frankfurter Schule waren in ihrer Kindheit ähnlich behütet, auch wenn natürlich keiner gänzlich von Diskriminierungen verschont blieb, vor allem, als dann die Nazis an die Macht kamen. Allerdings trugen Grossmanns(4) Eltern, obwohl sie in die Gesellschaft von Krakau(2) integriert waren, Sorge dafür, dass ihre Söhne beschnitten und als Mitglieder der jüdischen Gemeinde registriert wurden: Die Assimilation hatte durchaus Grenzen.

Alle diese Männer waren intelligent, sie waren sich also der Ironie ihrer historischen Situation durchaus bewusst: dass es ihnen nämlich dank der Geschäftstüchtigkeit ihrer Väter möglich war, sich für ein Leben der Kritik, des Schreibens und der Reflexion zu entscheiden, auch wenn diese Texte und Gedanken ödipalerweise darauf fixiert waren, das politische System zu zerstören, dem sie ihr Leben verdankten. Die komfortablen Welten, in denen diese Männer geboren und aufgewachsen waren, mögen in den Augen von Kindern vielleicht ewig und sicher gewirkt haben. Doch während Benjamins(17) Erinnerung einerseits eine Elegie auf eine dieser Welten – die materiell üppige Welt seiner Kindheit – ist, enthüllt sie doch auch andererseits die unerträgliche Wahrheit, dass sie weder ewig noch sicher ist, sondern faktisch erst seit kurzem existierte und bereits dem Untergang geweiht ist.

Das Berlin von Benjamins(18) Kindheit(8) war in seinem damaligen Erscheinungsbild ein recht junges Phänomen. Bis noch vor einem halben Jahrhundert war die Stadt ein preußisches Provinznest gewesen; zur Jahrhundertwende aber hatte sie Paris(3) als modernste Stadt auf dem europäischen Festland überflügelt. Der Furor, mit dem sie sich selbst neu erfand und mit dem ans Bombastische grenzende neue architektonische Denkmäler geschaffen wurden (beispielsweise das im Jahr 1894 eröffnete Reichstagsgebäude), war auf das übersteigerte Selbstvertrauen zurückzuführen, das den Bewohnern der Stadt eignete, seit sie im gerade vereinigten Deutschland(7) 1871 zur Hauptstadt erklärt wurde. Zwischen jenem Zeitpunkt und der Jahrhundertwende stieg die Bevölkerung Berlins(9) von 800 000 auf zwei Millionen Einwohner an. Während die neue Hauptstadt wuchs, wurde sie nach dem Vorbild jener Stadt geformt, die sie an Großartigkeit übertreffen sollte. Die Kaisergalerie, die die Friedrichstraße und die Behrenstraße miteinander verband, war nach dem Vorbild der Passagen in Paris(4) erbaut worden. Berlins(10) pompöser Boulevard im Pariser(5) Stil, der Kurfürstendamm, entstand, als Benjamin ein Junge war; das erste Kaufhaus am Leipziger Platz eröffnete 1896 und war offensichtlich den stattlichen Einkaufstempeln »Au Bon Marché« und »La Samaritaine« nachempfunden, die in Paris(6) über ein halbes Jahrhundert zuvor ihre Tore geöffnet hatten.

Bei der Abfassung des Erinnerungstexts über seine Kindheit versuchte Benjamin(19) etwas, das oberflächlich gesehen lediglich wie eine nostalgische Flucht aus einer schwierigen Situation eines Erwachsenen aussieht, sich bei näherem Hinsehen jedoch als revolutionärer Schreibakt entpuppt. Für Benjamin(20) war die Geschichte nicht, wie Alan Bennett(1) es formulierte, »eine dröge Angelegenheit nach der anderen«, lediglich eine Abfolge von Geschehnissen ohne Sinn. Vielmehr wurde diesen Geschehnissen narrativer Sinn auferlegt – das erst machte sie zu Geschichte. Doch war dieses narrative Auferlegen von Sinn durchaus kein unschuldiger Akt. Geschichte wurde von den Siegern geschrieben, in deren triumphalistischem Narrativ es für Verlierer keinen Platz gab. Ereignisse aus dieser Geschichte herauszureißen, wie Benjamin(21) es tat, und sie in andere temporale Kontexte – er sprach von Konstellationen – zu versetzen, war ein gleichzeitig marxistischer(21) und jüdischer Akt: ersteres, weil es darum ging, die verborgenen Selbsttäuschungen und die ausbeuterische Natur des Kapitalismus bloßzustellen; letzteres, weil dieses Vorgehen von jüdischen Ritualen der Trauer und der Erlösung geprägt war.

Entscheidend an Benjamins(22) Methode war also eine neue Auffassung von Geschichte, welche sich vom Vertrauen in jene Art von Fortschritt verabschiedete, die für den Kapitalismus eine Glaubenswahrheit darstellte. Damit folgte er Nietzsches(1) Kritik am Historismus, an jenem beschwichtigenden, triumphalistischen, positivistischen Gefühl, die Vergangenheit könne wissenschaftlich genauso begriffen werden, wie sie wirklich war. In der deutschen Philosophie des Idealismus wurde dieser Glaube an den Fortschritt durch die dialektische Entfaltung des Geistes in der Geschichte unterfüttert und gestützt. Allerdings tilgte diese historistische Phantasie Elemente der Vergangenheit, die nicht in ihr Narrativ passten. Benjamin(23) sah seine subversive Aufgabe also darin, das wiederzufinden, was von den Siegern dem Vergessen anheimgegeben worden war. Er wollte diese weitverbreitete Amnesie durchbrechen, die illusionäre Vorstellung von historischer Zeit zerstören und alle, die im Kapitalismus lebten, aus ihren Illusionen aufrütteln. Ein solcher Durchbruch würde sich, so seine Hoffnung, aus dem ergeben, was er als »eine neue, dialektische Methode der Historik« bezeichnete.[5] Dabei ging Benjamin davon aus, dass die Gegenwart von den Ruinen der Vergangenheit heimgesucht werde, von dem Müll, den der Kapitalismus aus seiner Geschichte heraus zu retuschieren suche(24).

Benjamin(25) bediente sich kaum einmal des freud(3)schen Begriffs einer Rückkehr des Verdrängten, aber genau das wurde durch sein Projekt in Bewegung gesetzt. Deshalb erinnert er sich beispielsweise in »Berliner(11) Kindheit um Neunzehnhundert«, wie er als kleiner Junge das Kaiserpanorama in einer Berliner(12) Einkaufspassage aufzusuchen pflegte. Das Panorama war eine gewölbeförmige Vorrichtung, die stereoskopische Bilder historischer Ereignisse, militärischer Siege, von Fjorden und Stadtlandschaften vorführte; die Bilder waren auf eine runde Wand gemalt, die langsam vor den Zuschauern vorbeizog. Moderne Theoretiker haben eine Parallele zwischen diesen Panoramen und den heutigen Multiplexkinos gezogen, ein Vergleich, den Benjamin(26) mit Sicherheit zu schätzen gewusst hätte: Die Art, wie eine veraltete, von einer bestimmten Technik geprägte Unterhaltungsform in den Blick genommen wird, die früher einmal der letzte Schrei war, regt uns dazu an, über eine jüngere Technik nachzudenken, die auf vergleichbare Bedürfnisse zielt.

Das Kaiserpanorama war zwischen 1869 und 1873 erbaut worden und nun dazu bestimmt, der Vergessenheit anheimzufallen, allerdings nicht bevor seine letzten Besucher, vor allem Kinder, es besucht hatten – vorzugsweise, wenn es draußen regnete. Benjamin(27) schrieb dazu: »Es war ein großer Reiz der Reisebilder, die man im Kaiserpanorama fand, daß gleichviel galt, bei welchem man die Runde anfing. Denn weil die Schauwand mit den Sitzgelegenheiten davor im Kreis verlief, passierte jedes sämtliche Stationen … [B]esonders gegen das Ende meiner Kindheit, als die Mode den Kaiserpanoramen schon den Rücken kehrte, gewöhnte man sich, im halbleeren Zimmer rundzureisen.«[6] Für Benjamin(28) waren es genau solche ausgemusterten Dinge – neben abgebrochenen Versuchen und kläglichen Misserfolgen, die aus den Narrativen des Fortschritts getilgt worden waren –, die seine kritische Aufmerksamkeit erregten. Er schrieb eine Geschichte der Verlierer, die nicht nur besiegte Personen betraf, sondern auch überflüssige Dinge, die früher einmal topaktuell gewesen waren. Wenn er sich also an das Kaiserpanorama erinnerte, dann schwelgte er nicht nur in der bittersüßen Erinnerung an das, was er an einem Regennachmittag in seiner Kindheit unternommen hatte, sondern er tat etwas, was sich in seinen Schriften immer wieder findet: Er studierte das Übersehene, das Wertlose, das Billig-Kitschige, eben jene Dinge, die in der offiziellen Version der Geschichte keinen Sinn ergaben, in die jedoch, so seine feste Überzeugung, die Träume und Wünsche des kollektiven Bewusstseins eingeschrieben waren. Indem er das Erbärmliche, Obsolete aus dem historischen Vergessen barg, wollte Benjamin(29) uns aus dem kollektiven Traum wecken, mit dem sich der Kapitalismus die Menschheit unterworfen hat.

Früher einmal war das Kaiserpanorama die angesagteste Sache in der Szene, zugleich eine Projektion utopischer Phantasien und deren Projektor. Als dann später der kleine Walter(30) das Panorama aufsuchte, war es bereits im Begriff, auf dem Schrotthaufen der Geschichte zu landen. Insofern war es, wie der erwachsene Benjamin(31) später erkannte, als er seine Erinnerungen niederschrieb, eine Allegorie auf die Täuschungen einer fortschrittsorientierten Geschichtsschreibung: Das Panorama dreht sich endlos im Kreis, seine Geschichte ist eine ewige Wiederholung, die echten Wandel ausschließt. So wie die Vorstellung historischen Fortschritts selbst war auch das Panorama ein phantasmagorisches Werkzeug, mit dem die Betrachter in einem Zustand der Unterwerfung, der Passivität und des törichten Träumens festgehalten wurden. Sie warteten (wie es ja auch Walter(32) bei seinen Besuchen tat) auf neue Erfahrungen, entfernte Welten und kurzweilige Reisen; auf ein Leben endloser Zerstreuung anstelle einer Konfrontation mit der Wirklichkeit des Kapitalismus mit sozialer Ungleichheit und Ausbeutung. Das Kaiserpanorama wurde durch neuere, bessere Technologien ersetzt, aber das geschieht im Kapitalismus immer: Wir werden immer mit etwas Neuem konfrontiert, nie lenken wir unseren Blick auf das Weggefallene, das Überholte, das Ausgemusterte. Wir sind mit dem Folteropfer in A Clockwork Orange vergleichbar oder mit den Bewohnern eines dantesken Infernos: dazu verdammt, bis in alle Ewigkeit die neuesten Waren zu konsumieren.

Für Benjamin war also die Abfassung seiner Kindheitserinnerungen Teil eines umfassenderen literarischen Projekts, das zugleich auch einen politischen Akt darstellte. Dieser politische Akt bildete die Grundlage für die marxistisch(22) getönte interdisziplinäre Arbeit, die später als Kritische Theorie bezeichnet wurde, und er wurde dann im Lauf des 20. Jahrhunderts von Benjamins(33) jüdischen Landsmännern vollzogen. Das geschah vor dem Hintergrund jener (aus deren Sicht) drei großen finsteren triumphalistischen Narrative der Geschichte, vertreten von gläubigen Jüngern des Kapitalismus, des stalinistischen(1) Kommunismus und des Nationalsozialismus.

Wenn kritische Theorie überhaupt irgendetwas bedeutet, dann ist damit jene Art radikalen Neu-Denkens gemeint, die als Herausforderung der offiziellen Versionen der Geschichte und des intellektuellen Strebens zu verstehen ist. Möglicherweise geht die Kritische Theorie auf Benjamin(34) zurück, doch war es dann Max Horkheimer(8), der sie, als er im Jahr 1930 zum Leiter der Frankfurter Schule ernannt wurde, als solche bezeichnete: Kritische Theorie stand in Opposition gegen all jene feigen intellektuellen Tendenzen, die sich im 20. Jahrhundert durchsetzen konnten und die als Instrumente benutzt wurden, um eine veraltete soziale Ordnung aufrechtzuerhalten – beispielsweise der logische Positivismus, die Vorstellung einer wertfreien Wissenschaft oder eine positivistische Soziologie. Die Kritische Theorie verstand sich auch als Opposition zu der Angewohnheit des Kapitalismus, diejenigen, die er ausbeutet, mit Konsumgütern abzuspeisen, und uns so vergessen zu lassen, dass andere Lebensentwürfe möglich sind. Das hat zur Folge, dass wir nicht mehr erkennen, dass wir aufgrund unserer fetischistischen Aufmerksamkeit für Konsumgüter, die man angeblich unbedingt haben muss, und unserer zunehmenden Abhängigkeit von ihnen Gefangene dieses Systems sind.

Als Benjamin(35) sich an den Wintermorgen seiner Kindheit im Jahr 1900 erinnerte, mochte es auf den ersten Blick so wirken, als sei er in eine Träumerei über seine privilegierte Kindheit versunken. Faktisch jedoch schrieb er wie ein Marxist – wenn auch ein reichlich sonderbarer Marxist. Der neue Morgen und das neue Jahrhundert, die die Aufmerksamkeit des kleinen Walter(36) durch jene süßen Düfte verlockten, welche 1900 durch weibliche Arbeit zustande kamen, schienen herrliche Möglichkeiten und materielle Sicherheit zu verheißen, doch wurde das alles von Benjamin(37) als Illusion enttarnt. Er schrieb einmal, der Kapitalismus sei »eine Naturerscheinung« gewesen, »mit der ein neuer Traumschlaf über Europa(3) kam und in ihm eine Reaktivierung der mythischen Kräfte«.[7] Das Ziel seines Schreibens bestand darin, uns aus diesem dogmatischen Schlaf wachzurütteln. Die Welt, die seine Eltern sich in ihrer Villa in Westberlin(13) geschaffen hatten, musste entlarvt werden: dieses Leben, das so sicher, beständig und natürlich schien, in Wahrheit aber auf Selbstgefälligkeit in Verbindung mit dem skrupellosen Ausschluss all derjenigen aufgebaut war, die nicht in dieses triumphalistische Narrativ passten, also vor allem die Armen.

So berichtete er(38) beispielsweise über den Ort seiner Geburt in einer großen Appartementwohnung in einem damals eleganten Bezirk südlich des Berliner(14) Tiergartens. Er schrieb in der dritten Person; vielleicht sollte diese Distanzierungstechnik die Entfremdung des kommunistischen Schriftstellers von seinem früheren Selbst zum Ausdruck bringen: »… die Klasse, die ihn zu ihrem Angehörigen bestimmt hatte, [lebte] in jener aus Selbstgefühl und Ressentiment gebildeten Haltung, die [aus ihrem Wohnviertel] etwas wie ein ihr zum Lehen verliehenes Ghetto machte. Jedenfalls war er in dieses Viertel der Wohlhabenden eingeschlossen, ohne von einem anderen zu wissen. Die Armen – für reiche Kinder seiner Generation lebten sie auf dem Dorfe(39)[8]

In einem Abschnitt der »Berliner(15) Kindheit um Neunzehnhundert« beschreibt er unter der Überschrift »Bettler und Huren« die Begegnung mit einem Armen. Bis zu diesem Augenblick hatten für den jungen Walter(40) Arme lediglich als Bettler existiert. Dann jedoch, als wolle er beweisen, dass ihm erst durch das Schreiben eine echte Erfahrung möglich war, erinnerte er sich daran, wie er eine kleine Niederschrift anlegte(41),

… vielleicht der ersten, die ich ganz für mich selbst verfaßte. Sie hatte es mit einem Mann zu tun, der Zettel austeilt und mit den Erniedrigungen, die er durch ein Publikum erfährt, das für die Zettel kein Interesse hat. So kommt es, daß der Arme – damit schloß ich – sich heimlich seines ganzen Packs entledigt. Gewiß die unfruchtbarste Bereinigung der Lage. Aber keine andere Form der Revolte ging mir damals ein als die der Sabotage; diese freilich aus eigenster Erfahrung. Auf sie griff ich zurück, wenn ich der Mutter mich zu entziehen suchte(42).[9]

Die Projektion der Protestmethoden gegen seine überbehütende Mutter auf einen um seine Existenz kämpfenden Arbeiter ist vielleicht nicht die ausgefeilteste Form der Revolte für einen Mann, der sich selbst als einen Kommunisten verstand, doch Benjamins(43) jugendliche, wenn auch begrenzte Empathie war immerhin ein Anfang. Wiederholt wurde er in Reflexionen über die Frage hineingezogen, in welcher Weise seine privilegierte Kindheit von einer skrupellosen Vertuschung der Existenz von Abstoßenden und Unglücklichen abhing und inwiefern die bürgerliche Sicherheit seiner Kindheit einen monströsen, mehr oder weniger absichtlichen Akt des Vergessens mit sich brachte: Das, was jenseits der heruntergelassenen Jalousien der Familienwohnungen lag, wurde ausgeblendet. So erinnert sich Benjamin beispielsweise in der »Berliner(16) Chronik«, einer Reihe von Zeitungsartikeln aus den 1920er Jahren, die der Abfassung der »Berliner(17) Kindheit« vorangingen, an das Gefühl bürgerlicher Sicherheit, das die Atmosphäre in der Wohnung seiner Familie bestimmte(44):

Hier herrschte eine Art von Dingen, welche, bei aller Gefügigkeit, mit denen sie den Impulsen der Moden sich im Kleinen unterwarf, im Ganzen so von sich und ihrer Dauer überzeugt war, daß sie mit keiner Abnutzung, keinem Erbgang, keinem Umzug rechnete und immer gleich nahe und gleich weit von ihrem Ende, das das Ende aller Dinge schien, verharrte. Das Elend konnte in diesen Räumen keine Stelle haben, in welchen ja nicht einmal der Tod sie hatte(45).[10]

In seinem letzten Essay schreibt Benjamin(46): »Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.«[11] Diese Wahrnehmung, das Nichtakzeptierbare, das Peinliche, das Widerstrebige, das ideologische Verschwinden dessen zu unterdrücken, was nicht in das herrschende Narrativ passt, findet sich bei Benjamin schon früh, und sie blieb ihm ein Leben lang erhalten: Die Barbarei begann für Walter Benjamin(47) in seinem Elternhaus. Und auch die Denker der Frankfurter Schule verschrieben sich der Aufdeckung der Barbarei, die ihrer Meinung nach die angebliche Kultur des Kapitalismus stützte, auch wenn sie diese Barbarei nicht mit derselben Akribie wie Benjamin(48) innerhalb ihrer je eigenen Familien aufspürten.

Man gewinnt bei Benjamin(49) den Eindruck, dass es in seiner Kindheit von gediegenen Gebrauchsgegenständen nur so wimmelte, als seien seine Eltern unwissentlich Opfer dessen gewesen, was Marx(23) als Warenfetischismus bezeichnete: Und sie lebten ihre Zugehörigkeit zur profanen Religion des Kapitalismus durch ausschweifende Einkaufstouren aus und häuften so jene Artikel an, die ihr Sohn sowohl als Kind als auch dann später als erwachsener Marxist in seiner Phantasie umfunktionierte. »Um ihn(50) herum«, so seine Biographen, »erstreckte sich eine vielgestaltige Dingwelt, die seine ausgeprägte Einbildungskraft und seine unersättlichen Nachahmungsfähigkeiten ansprach: feines Geschirr, Kristall und Besteck, das an Festtagen aufgelegt wurde; und antike Möbel – ausladende, verzierte Schränke und Esstische mit geschnitzten Tischbeinen boten sich bereitwillig zu Maskenspielen an.«[12] Aus einem Abstand von 32 Jahren schilderte Benjamin, wie der kleine Walter(51) durch diese üppige Oberfläche hindurchdrang, indem er etwa einen Tisch beschrieb, der für ein Festessen gedeckt war: »… wenn ich diese langen, langen Reihen von Mokkalöffeln oder Messerbänkchen, Obstmessern oder Austerngabeln sah, stritt mit der Lust an dieser Fülle Angst, als sähen die, die nun erwartet wurden, einander gleich wie unsere Tischbestecke.«[13] Ein kluger Gedanke: Als die Denker der Frankfurter Schule und andere führende Marxisten(24) wie Georg Lukács(6) über das Phänomen der Wiederholung im Kapitalismus nachdachten, war genau das ihre Sorge: dass Personen ebenso wie Besteckteile zu Waren wurden, gezwungen, sich dem alles aufzehrenden Tauschprinzip anzupassen, entmenschlicht und grenzenlos ersetzbar durch Artikel desselben Wertes.

Doch welches Bedürfnis bewegte Walter Benjamin(52) im Jahr 1932, über seine Kindheit in Berlin(18) zu Beginn des Jahrhunderts zu schreiben? Denn wieder und wieder kehrte er in seinen Texten aus den 1920er und 1930er Jahren zu diesen seine Phantasie anregenden Kindheitsszenen zurück. Und vor allem im Sommer des Jahres 1932 erinnerte er sich – im ersten Entwurf zu dem Werk, aus dem dann später »Berliner(19) Kindheit um Neunzehnhundert« hervorging – an seine Kindheit, um auf eine ganz eigentümliche Weise ein ganz bestimmtes psychisches Bedürfnis zu befriedigen. Er(53) wanderte in jenem Sommer in Europa(4) umher, Berlin mied er, und letztlich landete er in der Toskana im Seebad Poveromo(1).[14] Das Berlin seiner Kindheit war dazu verurteilt zu entschwinden, die Juden und Kommunisten der Stadt wurden von den Nationalsozialisten ermordet oder gezwungen, ins Exil zu gehen. Unglückseligerweise war Benjamin sowohl Jude als auch Kommunist. Die »Berliner(20) Kindheit« sei also zu einer Zeit entstanden, so Benjamin in seiner Einleitung, als »mir klar zu werden [begann], daß ich in Bälde einen längeren, vielleicht einen dauernden Abschied von der Stadt, in der ich geboren bin, würde nehmen müssen(54)«.[15]

Nostalgie, die sehnsuchtsvolle Hinwendung zur Vergangenheit, ist normalerweise dekadent, trügerisch und konservativ, vor allem wenn ein Erwachsener auf seine Kindheit zurückblickt. Benjamins(55) nostalgische Haltung zum Berlin(21) seiner Kindheit zur Zeit der Jahrhundertwende hingegen war die Nostalgie eines revolutionären Marxisten(25) und außerdem, was noch wichtiger ist, die Nostalgie eines Juden, dem es darauf ankam, den traditionellen jüdischen Trauer- und Erinnerungsritualen einen neuen Akzent abzugewinnen. Darauf verwies der marxistische(26) Kritiker und Benjamin-Forscher Terry Eagleton(1):

Heutzutage ist Nostalgie beinahe so verpönt wie Rassismus. Unsere Politiker empfehlen uns, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen und uns von alten Zwistigkeiten abzuwenden. Dann können wir in eine gesäuberte, blanke, amnesische Zukunft springen. Benjamin(56) wandte sich gegen diese Art von Philistertum, denn ihm wurde bewusst, dass die Vergangenheit vitale Ressourcen für die Erneuerung der Gegenwart bereithält. Wer die Vergangenheit auslöscht, begibt sich in die Gefahr, auch die Zukunft zu beseitigen. Keiner hatte größeres Interesse daran, die Vergangenheit auszumerzen, als die Nazis, die – genau wie die Stalinisten – einfach alles aus dem historischen Befund strichen, was sie als unpassend empfanden(2).[16]

So galt es, Arbeit an der Vergangenheit zu leisten: Für die Nazis bestand diese Arbeit im Bereinigen und Beschönigen; für Benjamin(57) bedeutete sie die sensible Pionierarbeit des Archäologen. Das Gedächtnis ist kein »Instrument zur Erkundung der Vergangenheit, sondern deren Schauplatz«, schreibt er in der »Berliner(22) Kindheit«. »Es ist das Medium des Erlebten wie das Erdreich das Medium ist, in dem die toten Städte verschüttet liegen. Wer sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muß sich verhalten wie ein Mann, der gräbt. Das bestimmt den Ton, die Haltung echter Erinnerung. Sie dürfen sich nicht scheuen, immer wieder auf einen und denselben Sachverhalt zurückzukommen; ihn auszustreuen wie man Erde ausstreut, ihn umzuwühlen wie man Erdreich umwühlt.«[17] Genau das tat Benjamin(58): Er kehrte wieder und wieder zur selben Szene zurück, grub sich so lange durch Schichten der Verdrängung hindurch, bis er zum Schatz gelangte.

»Erinnerung war nicht lediglich eine Bestandsaufnahme der Vergangenheit«, merkte seine Biographin Esther Leslie an(1). »Die Bedeutung der Erinnerung hing von den Schichten ab, die sie überdeckten und die bis hinauf zur Gegenwart reichten, bis hin zum Zeitpunkt und dem Ort ihrer Wiederentdeckung. Erinnerung aktualisiert das Gegenwärtige.«[18] Mit anderen Worten: Es existierte ein Phänomen, das Benjamin(59) in seinem Passagen-Werk als ein »›Jetzt‹ seiner ›Erkennbarkeit‹« bezeichnet[19] – so als könne die Bedeutung längst begrabener Dinge erst viel später erkannt werden. Wir blicken zum Teil aus dem Grund in die Vergangenheit, weil wir das Jetzt verstehen wollen. So kehrte beispielsweise Benjamin(60), als er sich in den 1920er und 1930er Jahren an sein Knabenalter erinnerte, wieder und wieder zu einer ganz bestimmten Kindheitsszene zurück, in welcher sein Vater Emil(3) in das Schlafzimmer des fünfjährigen Walter trat:

Wahrscheinlich um mir gute Nacht zu sagen. Es war halb gegen seinen Willen, denke ich, daß er die Nachricht vom Tode eines Vetters mir erzählte. Das war ein älterer Mann, der mich nichts anging. Mein Vater aber gab die Nachricht mit allen Einzelheiten … Von der Erzählung nahm ich nicht viel auf. Wohl aber habe ich an diesem Abend mein Zimmer und mein Bett mir eingeprägt, wie man sich einen Ort genauer merkt, von dem man ahnt, man werde eines Tages etwas Vergessenes von dort holen müssen. Nach vielen Jahren erst erfuhr ich, was. In diesem Zimmer hatte mir mein Vater ein Stück der Neuigkeit verschwiegen. Nämlich der Vetter war an Syphilis gestorben.[20]

Benjamin(61) grub diese Szene wiederholt aus: In verschiedenen Entwürfen zur »Berliner(23) Kindheit um Neunzehnhundert« und deren Vorläufer, der »Berliner(24) Chronik«, schreibt er sie ungefähr viermal um, wobei er sich jedes Mal auf andere Aspekte konzentriert. Hier und andernorts bringen die Vorahnungen des Kindes und das Wissen des Erwachsenen, der sich schreibend an seine Vergangenheit erinnert, Vergangenheit und Gegenwart in eine dialektische Beziehung zueinander. Erst als er seine Erinnerungen niederschrieb, konnte er(62) in vollem Ausmaß die Gründe nachvollziehen, die seinen Vater(4) dazu bewogen hatten, ihn in seinem Schlafzimmer aufzusuchen; erst dem Erwachsenen erschloss sich das Ereignis in seinem Jetzt der Erkennbarkeit.

Diese obsessive Erinnerung an die Kindheit erinnert an Marcel Proust(1), einen der Lieblingsautoren Benjamins(63), vor allem an eine andere Schlafzimmerszene zu Beginn von À la recherche du temps perdu, in der ein anderer privilegierter kleiner Junge – der neurotische, jüdische, viktorianische, zwanghafte Marcel(2) – in seinem Zimmer sitzt und darauf wartet, dass seine geliebte Mutter kommt und ihm einen Gutenachtkuss gibt. »Man weiß, daß Proust(3) nicht ein Leben wie es gewesen ist in seinem Werke beschrieben hat«, so Benjamin(64) in seinem Essay »Zum Bilde Prousts(4)«, »sondern ein Leben, so wie der, der’s erlebt hat, dieses Leben erinnert. Und doch ist auch das noch unscharf und bei weitem zu grob gesagt. Denn hier spielt für den erinnernden Autor die Hauptrolle gar nicht, was er erlebt hat, sondern das Weben seiner Erinnerung, die Penelopearbeit des Eingedenkens.«[21] Benjamin(65) machte also Gebrauch von Prousts(5) Begriff der mémoire involontaire, der Wirksamkeit spontanen Erinnerns, die er vom vorsätzlichen Eingedenken der mémoire volontaire unterscheidet. Nach Benjamin(66) waren Träume der Schlüssel für solches Erinnern. »An jedem Morgen halten wir, erwacht, meist schwach und lose, nur an ein paar Fransen den Teppich des gelebten Daseins, wie Vergessen ihn in uns gewoben hat, in Händen«, so schreibt er im selben Essay. »Aber jeder Tag löst mit dem zweckgebundenen Handeln und, noch mehr, mit zweckverhaftetem Erinnern das Geflecht, die Ornamente des Vergessens auf. Darum hat Proust(6) am Ende seine Tage zur Nacht gemacht, um im verdunkelten Zimmer bei künstlichem Lichte all seine Stunden ungestört dem Werk zu widmen, von den verschlungenen Arabesken sich keine entgehen zu lassen(67)[22]

Als Proust(7) den Geschmack des in Tee getauchten Madeleine-Gebäcks auf der Zunge verspürte, eröffnete sich ihm seine Kindheit in bislang unerhörtem Detailreichtum. Solche Momente ließen das entstehen, was Benjamin(68) als »Prousts(8) blinde[s], unsinnige[s] und besessene[s] Glücksverlangen« bezeichnete.[23] Auf den ersten Blick mag es den Anschein haben, als sei Benjamin(69), als er sich an den Duft des Bratapfels erinnerte, von einem ähnlichen Verlangen angetrieben, seine Kindheit vor den Verwüstungen durch die Zeit zu retten, in Wahrheit aber ging es ihm um etwas Anderes, Eigentümlicheres. Prousts(9) Suche nach der »verlorenen Zeit« wurde unternommen, um gänzlich vor der Zeit zu fliehen; Benjamin(70) hingegen zielte darauf, seine Kindheit in eine neue zeitliche Beziehung zur Vergangenheit zu bringen. Der Literaturwissenschaftler Peter Szondi(1) bemerkte dazu: »Prousts(10) eigentliches Ziel ist die Flucht vor einer Zukunft, die voller Gefahren und Drohungen ist, und die schlimmste von allen ist der Tod.« Benjamin(71) verfolgt hingegen ein anderes und meines Erachtens weniger trügerisches Projekt: Es gibt keine Immunisierung gegen den Tod, man entkommt ihm nicht. »Die Zukunft ist genau das, was Benjamin – im Unterschied zu Proust(11) – in der Vergangenheit sucht. Fast jeder Ort, den seine Erinnerung wiederzuentdecken sucht, trägt Spuren dessen, was noch bevorstand«, so Szondis(2) Formulierung. »Im Unterschied zu Proust(12) will Benjamin sich nicht von der Zeitlichkeit befreien; er möchte die Dinge nicht in ihrer ahistorischen Essenz sehen.«[24]

Wenn er in die Vergangenheit blickte und dort das Vergessene, das Obsolete, das angeblich Irrelevante entdeckte, kam es Benjamin(72) vielmehr darauf an, nicht nur die Vergangenheit durch die Art revolutionärer Nostalgiearbeit zu erlösen, die den Kritiker Terry Eagleton(3) so ansprach, sondern auch die Zukunft. »Die Vergangenheit«, so Benjamin in dem Text »Über den Begriff der Geschichte«, »führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird.«[25] Benjamins(73) Aufgabe als kritischer Archäologe bestand darin, diesen Index wiederzuentdecken und zu entziffern.

Insofern war das, was er tat, sehr jüdisch. Proust(13), auch er ein bedeutender jüdischer Schriftsteller, strebte an, seine Kindheit vor den Verwüstungen durch die Zeit zu bewahren, indem er sie durch das Phantasiegebilde des Romans aus dem Kontinuum der Geschichte herausnahm. Benjamin(74) ließ sich von diesem Vorhaben inspirieren, doch verfolgte er mit seiner Erinnerungsarbeit einen anderen Zweck. Indem er über seine privilegierte Kindheit nachsann, ging es ihm darum, sich selbst und seine historische Verfasstheit als Funktion des kapitalistischen Klassensystems zu verstehen. Für Proust(14) war die Erinnerung ein Mittel zur Wiedererweckung eines Zustands der Glückseligkeit: Die Zeit sollte angehalten werden. Für Benjamin hatte der Akt des Erinnerns im Schreiben den dialektischen Charakter eines Palimpsests, er bewegt sich in der Zeit vor und zurück und verwebt zeitlich auseinanderliegende Ereignisse zu jenem Gebilde, das er als die Penelopearbeit des Erinnerns bezeichnete.

Doch sollte die »Berliner(25) Kindheit« nach Benjamins(75) Einschätzung noch mehr leisten – sie bildete eine Art geistiger Vorbeugungsmaßnahme gegen das, was bevorstand: die Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland(8) und das Exil, das für ihn damit sehr wahrscheinlich verbunden sein würde. »Ich hatte«, so schreibt er(76) in der Einleitung zu seinem Werk,

das Verfahren der Impfung als heilsam erfahren; ich hielt mich auch in dieser Lage daran und rief die Bilder, die im Exil das Heimweh am stärksten zu wecken pflegen – die der Kindheit – mit Absicht in mir hervor. Das Gefühl der Sehnsucht durfte dabei über den Geist ebensowenig Herr werden wie der Impfstoff über einen gesunden Körper. Ich suchte es durch die Einsicht, nicht in die zufällige biographische, sondern in die notwendige gesellschaftliche Unwiederbringlichkeit des Vergangenen in Schranken zu halten(77).[26]

Liest man das zum ersten Mal, dann kann man sich nur schwer dem Eindruck verschließen, dass dieses Projekt zum Scheitern verurteilt ist – eher dazu angetan, einen Exilierten zu quälen und zu schwächen, als ihn gegen die Widrigkeiten zu stählen, die auf ihn zukommen; dass es also eher dem erneuten Aufreißen einer Wunde dient als einer Unterstützung des Heilungsprozesses. Wohl haben Philosophen, wenn sie von Widrigkeiten heimgesucht wurden, teilweise Trost im Gedanken an glücklichere Zeiten gesucht – man denke nur an den Philosophen Epikur(1), der an einen Freund schrieb, er leide heute, am letzten Tag seines Lebens, unter ganz entsetzlichen Schmerzen aufgrund von Nierensteinen und seiner Unfähigkeit, Wasser zu lassen; trotzdem sei er heiter, denn »die Erinnerung an all meine philosophischen Betrachtungen wiegt all diese Bedrängnisse auf«.[27] Philosophische Abgeklärtheit hatte über den durch Nierensteine verursachten Schmerz gesiegt – so jedenfalls die Behauptung des Philosophen.

Allerdings ist Benjamins(78) Projekt der Selbstimpfung gegen das Leiden um einiges vertrackter als dasjenige Epikurs(2). Erstens ist er(79) sich darüber im Klaren, dass ein erneutes Auflebenlassen der Vergangenheit sehr wahrscheinlich die Sehnsucht nach einer glücklicheren Zeit wachruft, eine Sehnsucht, die jedoch nicht erfüllt werden kann. Epikur(3) überwindet die Auswirkungen des körperlichen Schmerzes durch philosophische Abgeklärtheit; Benjamin(80) scheint darauf aus zu sein, den seelischen Schmerz des Verlusts und des Heimwehs durch eine andere, krypto-marxistische(27) Art der Abgeklärtheit zu überwinden. Im Unterschied zum proust(15)schen Projekt, seine Sehnsucht dadurch zu befriedigen, dass man die Kindheit durch Schreiben aus der Zeit herausnimmt und ihr dadurch Unvergänglichkeit verleiht, sollen die Bilder des Heimwehs, die Benjamin in seiner Erinnerung wachruft, ihm bewusst machen, dass das Verlorene verloren ist, dass aber die Meditation über die Unwiederbringlichkeit seiner Kindheit ihn irgendwie trösten und gegen Leiden immunisieren wird.

Eine entscheidende Besonderheit ist dabei noch zu beachten: Benjamin(81) schrieb, wie er selbst zu verstehen gab, nicht über die kontingente, autobiographische Natur des Verlusts. Das wäre eine Art von Verlust, der wir alle ausgesetzt sind, wenn wir älter werden und – möglicherweise mit einer gewissen Rührung – auf die Phase unserer Kindheit zurückblicken, die für uns nicht mehr zugänglich ist, außer durch das Mittel des vergleichsweise schwachen Aktes einer Neuerschaffung in der Phantasie, die an die tatsächlichen Geschehnisse letztlich nie heranreicht. Benjamins(82) Anliegen ist vielmehr die notwendige gesellschaftliche Unwiederbringlichkeit der Vergangenheit. Er will als marxistischer(28) historischer Materialist über den Verlust nicht nur seiner eigenen privilegierten Kindheit reflektieren, sondern über den Verlust jener Welt, die diese Kindheit ermöglichte. Aus diesem Grund übten die Erinnerungsschriften Benjamins(83) eine so außerordentliche Suggestionskraft auf die führenden Denker der Frankfurter Schule aus: Sie evozierten eine verlorene Welt materiellen Komforts für säkulare Juden in jenem neu erstandenen Deutschen Reich der letzten Jahre des 19. und der frühen Jahre des 20. Jahrhunderts, eine Welt, die in den Augen von Kindern dauerhaft und stabil wirkte, die von Benjamin jedoch – ein wenig wie die Zeit des Sommers in Shakespeares(1) Sonett XVIII »Shall I compare thee to a summers day?« – als nur allzu kurz entlarvt wurde.

Der Verlust der Zeit war also für Benjamin(84) im Unterschied zu Proust(16) unausweichlich; es blieb nur der Trost – wenn man es denn als solchen bezeichnen will – des Nachsinnens über die Notwendigkeit des Verlusts. Theodor Adorno(41), Benjamins(85) Freund und wohl der bedeutendste Denker der Frankfurter Schule, formulierte die aufschlussreichsten Worte über Benjamins(86) Erinnerungen: Sie »sollten … jäh aufleuchten, mit der Gewalt des Schmerzes ums Unwiederbringliche, das, einmal verloren, zur Allegorie des eigenen Untergangs gerinnt.«[28] Schön und gut – aber wie ist es möglich, aus solchem Klagen Trost zu schöpfen, der einen gegen das Leiden impft? Wie soll diese Selbstimpfung, diese Autoimmunisierung gegen vergangene und zukünftige Leiden vor sich gehen, wenn man sich an eine materiell besser gesicherte Vergangenheit erinnert, die auf immer ausgelöscht ist? Das Projekt wirkt abgehoben, kontraproduktiv, dabei zugleich faszinierend subversiv und politisch. Benjamin(87) suchte Hilfe in der Erinnerung, doch er entdeckte auch das Gegenteil von Hilfe – er erkannte, dass seine Kindheit gefährdet gewesen war, eine kleine Welt, die schon wankte, als sie noch sicher schien, bevor sie dann endgültig zusammenbrach.

Was an Benjamins(88) Kindheitserinnerungen außerdem seltsam anmutet, ist der Umstand, dass er Menschen immer stärker ausklammert. In »Berliner(26) Chronik« aus dem Jahr 1924 beschreibt er noch Familienmitglieder und Schulfreunde aus der Zeit ein Vierteljahrhundert zuvor. Doch in »Berliner(27) Kindheit um Neunzehnhundert«, abgefasst im Jahr 1932, werden seine Erinnerungen quasi zum literarischen Äquivalent einer Neutronenbombe – Menschen werden eliminiert und Sachen nehmen ihren Ort ein. Es waren ein Bratapfel, die Loggien im Wohnungsblock seiner (89)Großmutter, die Siegessäule im Berliner(28) Tiergarten, die seine Assoziationen weckten, die seine Vergangenheit öffneten, die in Poveromo(2) seinen Bedürfnissen entgegenkamen. In seinem Essay über Proust(17) hält er(90) fest, dass À la Recherche »in ihrer Mitte eine Einsamkeit [hat], die mit der Kraft des Maelstroms die Welt in ihren Strudel hinabreißt«. Eiland(1) und Jennings(1) drückten es so aus, dass Prousts(18) Roman für Benjamin(91) die »Verwandlung der Existenz in eine Domäne der Erinnerung« bedeutet, »die in einem Strudel der Einsamkeit ihr Zentrum hat«.[29] Benjamins(92) Memoiren haben eine ähnliche Tendenz. Man könnte diese Erinnerungen lesen und den Eindruck gewinnen, er sei ein Einzelkind gewesen – was nicht der Fall war. Seine Eltern sind stumme Anwesende (abgesehen vom Bild seines Vaters(5), der im Telefonat mit der Beschwerdeabteilung Drohungen und Flüche ausstieß). Im Porträt seiner Kindheit taucht der Porträtierte kaum einmal auf; seine Anwesenheit wird durch Objekte angezeigt.

»Denn alles wurde mir im Hof zum Wink«, notiert Benjamin(93) in einem Abschnitt von »Berliner(29) Kindheit« mit der Überschrift »Loggien«. »Wieviele Botschaften saßen nicht im Geplänkel grüner Rouleaux, die hochgezogen wurden, und wieviele Hiobsposten ließ ich klug im Poltern der Rolläden uneröffnet, die in der Dämmerung niederdonnerten(94)[30] Doch diese entvölkerte Erinnerung, die als Elegie auf die fetischisierten Güter in seinem Elternhaus gelesen werden könnte, ist trotz ihrer Offensichtlichkeit nicht ganz real. Jedes Ding enthält den Geist einer menschlichen Präsenz, eine Geschichte, die Wärme einer Bindung.

Sämtliche Denker der Frankfurter Schule waren beeindruckt von der Art und Weise, wie Dinge die Wärme unserer Bindung an Personen in sich tragen. Jahre später schrieb Adorno(42) über die Potenz von Objekten, darüber, wie die libidinöse Objektbesetzung unserer Bindung an eine geliebte Person in unserer Bindung an Objekte repliziert werden kann. »Je mehr Einstellungen anderer Personen ein Subjekt im Laufe seiner libidinösen Besetzungen auf ein und denselben Gegenstand vereinigt«, so der nunmehr ehemalige Leiter der Frankfurter Schule Axel Honneth(2) zu Adornos(43) Würdigung in seinem Essay Verdinglichung, »desto reicher an Aspekten stellt sich dieser ihm am Ende in seiner objektiven Realität dar.«[31] Adorno(44) war überzeugt, dass es möglich war, von einer Identifizierung mit nichtmenschlichen Objekten zu sprechen, eine Überzeugung, die Benjamin(95) mit Sicherheit teilte. Doch in seinen Erinnerungen legte Benjamin nicht lediglich ein Inventar des Schatzhauses der Vergangenheit an:

Und der betrügt sich selbst um das Beste, der nur das Inventar der Funde macht und nicht im heutigen Boden Ort und Stelle bezeichnen kann, an denen er das Alte aufbewahrt. So müssen wahrhafte Erinnerungen viel weniger berichtend verfahren als genau den Ort bezeichnen, an dem der Forscher ihrer habhaft wurde. Im strengsten Sinne episch und rhapsodisch muß daher wirkliche Erinnerung ein Bild zugleich von dem der sich erinnert geben, wie ein guter archäologischer Bericht nicht nur die Schichten angeben muß, aus denen seine Fundobjekte stammen, sondern jene anderen vor allem, welche vorher zu durchstoßen waren.[32]

Als Benjamin(96) sich grabend in seine Vergangenheit vorarbeitete, enthüllte er sich selbst: Er schrieb nicht nur das Vergangene auf, sondern aktualisierte das Gegenwärtige. Doch es ist wichtig anzuerkennen, dass er tatsächlich die Vergangenheit aufzeichnete, vor allem eine Vergangenheit, in welcher in den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs privilegierte Knaben in Familien materiell erfolgreicher, überwiegend säkularisierter jüdischer Geschäftsmänner zur Welt kamen und erzogen wurden. Von dieser privilegierten Position aus strebten Walter Benjamin(97) und die Mitglieder der Frankfurter Schule dann die Verurteilung dessen an, was diese privilegierte Position ermöglicht hatte. Indem sie die interdisziplinäre intellektuelle Strömung gesellschaftskritischen Denkens namens Kritische Theorie entwickelten, verurteilten sie gleichzeitig die Werte, für die ihre Väter standen.

In einer Besprechung des Kritikers T. J. Clark(1) über Benjamins(98) postum veröffentlichtes, unvollendetes Passagen-Werk – einen gewaltigen Steinbruch von Buch, ein überbordendes Sammelsurium von Daten über die phantasmagorische Natur des Verbraucherkapitalismus im Paris(7) des 19. Jahrhunderts, das Benjamin(99) umständlich auf Karteikarten in der Bibliothèque Nationale in der französischen Hauptstadt abgefasst hatte – heißt es: »Von Anfang an hing ein Schatten über den Karten, der Schatten einer größeren, großartigeren Studie, in welcher all die grandiosen Träume der Generation seines Vaters und auch der Generation des Vaters seines Vaters zusammenhängend dargestellt und angeprangert werden sollten.«[33] Dieses Buch wurde von Benjamin(100) nie geschrieben, doch der Impuls, es zu schreiben, überdauerte. Benjamin fordert im Passagen-Werk: »Wir haben aus dem Dasein unserer Eltern zu erwachen.«[34] Aber aus welchem Grund? Doch wohl nur deshalb, weil einige der glühendsten Anhänger des Kapitalismus die Väter der führenden Frankfurter Denker gewesen waren. Infolgedessen sind die Probleme, die Benjamin und viele Wissenschaftler der Frankfurter Schule mit ihren Vätern während ihrer Kindheit und Jugendzeit hatten und mit denen wir uns im folgenden Kapitel auseinandersetzen wollen, von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung der Kritischen Theorie im 20. Jahrhundert.