»[H]ätte Freud seine Theorien in einem anderen Lande und Sprachraum als dem deutsch-jüdischen, aus dem seine Patienten kamen, gefunden und zu erproben gehabt, so hätten wir vermutlich nie etwas von einem Ödipus-Komplex gehört.«[1] Hannah Arendt(1) wollte damit sagen, dass Freud(4) zwar eine Idee von einer patriarchal verfassten Gesellschaft und ödipaler Auseinandersetzung als naturgegebene Fakten über den Menschen an sich entwickelte, dass diese Idee jedoch auf ganz bestimmte Spannungen zwischen Vätern und Söhnen zurückging: Sie entstanden unter den höchst spezifischen Bedingungen, unter welchen die Familien einiger der materiell erfolgreichsten Juden im wilhelminischen Deutschland(9) und im Habsburgerreich in den letzten Jahren des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten. Fast alle führenden Köpfe der Frankfurter Schule – Benjamin(101), Adorno(45), Horkheimer(9), Löwenthal(1), Pollock(4), Fromm(4), Neumann(2) – waren resistent gegen die Weltanschauung, die ihnen durch die väterliche Autorität vermittelt wurde, und in unterschiedlicher Weise rebellierten viele gegen ihre Väter, die es zu großem materiellem Erfolg gebracht hatten.
Ohne diese Ödipuskämpfe hätte sich die Kritische Theorie anders entwickelt. Thomas Mann(1)s Modell der Entwicklung einer deutschen Bürgerfamilie in seinem Roman Die Buddenbrooks – »die erste Generation macht das Geld, die zweite festigt die gesellschaftliche Position und die dritte zieht sich in ästhetisches Unbehagen zurück«[2] – wurde unwissentlich von den Frankfurter Gelehrten unterlaufen. Wer den Verdiensten der Frankfurter Schule und der Kritischen Theorie skeptisch gegenübersteht, könnte argumentieren, in den Familien Benjamin(102), Adorno(46) und Horkheimer(10) sei eine Generation ausgelassen worden – man sei vom Geldverdienen direkt zum ästhetischen Unbehagen übergegangen, aber das wäre wohl ungerecht. Wenn die Frankfurter Gelehrten tatsächlich eine Generation ausließen, dann deshalb, weil sie sich unmittelbar gegen die vorangegangene Generation wandten, die den Reichtum erworben und ihren überwiegend privilegierten Söhnen ein komfortables Leben ermöglicht hatte. Insofern agierten sie nicht im Sinne von Thomas Mann(2), sondern eher von Franz Kafka(1). Peter Demetz(1) bemerkt in seiner Einführung zu Walter Benjamins(103) Essaysammlung Reflections:
In vielen jüdischen Familien im Europa(5) des ausgehenden 19. Jahrhunderts wandten sich begabte Söhne gegen die kommerziellen Interessen ihrer Väter, die sich ihrerseits – nachdem sie aus ländlichen Gegenden in die liberaleren Städte umgezogen waren – weitgehend dem bürgerlichen Erfolgsmodell angeschlossen hatten. Indem diese Söhne aus einer Haltung geistigen Protests heraus ihre Gegenwelten bauten, prägten sie entscheidend die Zukunft der Wissenschaft, der Philosophie und der Literatur.[3]
Selbst wenn Freud(5) recht hatte und jeder Sohn seinen Vater symbolisch kastrieren will – ja dies sogar um seiner seelischen Gesundheit willen und als Teil des Erwachsenwerdens tun muss –, hatten die ödipalen Auseinandersetzungen der frühreifen, kultivierten deutschsprachigen Juden des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Europa(6) doch eine sehr spezifische Ausprägung. Dazu gehörte die Abkehr von den materialistischen Werten, die sich ihre geschäftstüchtigen Väter offensichtlich zu eigen gemacht hatten – Werte, die deren Väter wiederum ihrerseits häufig in den Kämpfen gegen ihre eigenen Väter ausgebildet hatten.
Einer der Gründer des Instituts für Sozialforschung, der Literatursoziologe Leo Löwenthal(2) (1900–1993), erinnert sich daran, in welcher Form sich diese dynastischen Kämpfe und Gegenkämpfe in seinem eigenen Leben abgespielt hatten. In dem Gesprächsband Mitmachen wollte ich nie (ein Motto, das sich durchaus auf die gesamte Frankfurter Schule anwenden ließe) erzählt er, dass sein Vater Victor(1) eigentlich Rechtsanwalt werden wollte. Dessen Vater jedoch (Leos Großvater väterlicherseits) war ein strenggläubiger orthodoxer Jude, der an einer jüdischen Schule in Frankfurt(6) unterrichtete, und er weigerte sich, seinem Sohn(2) die Erlaubnis zum Jurastudium zu geben, da er annahm, dass Victor dann am Sabbath gezwungen wäre, zu arbeiten und zu schreiben. Stattdessen bestand er darauf, dass Victor(3) Medizin studierte, was dieser dann auch gehorsam tat, obwohl er mit dem Herzen nicht dabei war. »Dann aber«, so die Erinnerung Löwenthals(3), »rächte er sich – sei es bewusst oder unbewusst –, indem er später absolut ›frei‹ wurde: nicht nur areligiös, sondern dezidiert antireligiös.«
Für Leo Löwenthal(4) ist sein Vater ein typisches Beispiel für eine bestimmte Mentalität im 19. Jahrhundert, gegen die er und seine Kollegen in der Frankfurter Schule sich auflehnten, eine Mentalität, die er als »mechanistisch-materialistische, positivistische Denkweise« bezeichnete. Die Atmosphäre in seinem Elternhaus war säkular. »Ich wusste fast nichts über das Judentum … Ich erinnere mich noch daran, wie wir in der sechsten Klasse für den Religionsunterricht eingeteilt wurden. Als der Lehrer die Protestanten aufforderte, sich in einem bestimmten Bereich des Klassenzimmers aufzustellen, die Katholiken in einem anderen und die Juden in einem dritten, da blieb ich sitzen – ich wusste faktisch nicht, welcher Religion ich angehörte!«[4]
Später, in seiner Jugend eignete sich Löwenthal(5) dann – zum großen Missfallen seines Vaters(4) – einiges an Wissen über sein jüdisches Erbe an. Als Student in Marburg wurde er von Hermann Cohen(1) unterrichtet, einem liberalen überzeugten Juden, der sich blendend in jüdischer Religionsphilosophie auskannte. Für den intellektuellen deutschen Juden der damaligen Zeit gab es durchaus genügend Ersatzväter, welche altklugen Söhnen die geistige Nahrung zu geben wussten, die ihnen zu Hause vorenthalten wurde. In Heidelberg schloss sich Leo(6) einer Gruppe linksgerichteter zionistischer Studenten an, die in erbitterter Feindschaft zu einer anderen jüdischen Gruppe an der Universität standen, dem Kartell-Convent der Verbindungen Deutscher Studenten Jüdischen Glaubens, einer assimilationistischen Studentenorganisation. Löwenthal verabscheute diese letztere Gruppierung, weil ihre Mitglieder an eine vollständige Integration in die deutsche Nation glaubten. »Erst jetzt wird mir bewusst, was ich an dieser Assimilationisten-Gruppe hasste«, so Löwenthal(7) später. »Nicht, dass sie als Juden Menschen sein wollten wie alle anderen auch, sondern dass ihre Überzeugungen im Wesentlichen kapitalistischer Natur waren.«[5]
Immer wieder stoßen wir bei Mitgliedern der Frankfurter Schule auf diese Zurückweisung einer so verstandenen Assimilation, die Ablehnung einer Ideologie, die es ihren Vätern ermöglicht hatte, in der deutschen Gesellschaft erfolgreich zu sein, und die im Widerspruch zum aufkeimenden Sozialismus der intellektuellen Söhne stand. Die Söhne revoltierten gegen das Erbe der Aufklärung, zu welcher sich ihre säkular eingestellten Väter eben aus dem Grund hingezogen gefühlt hatten, weil sie ihrem materiellen Erfolg einen intellektuellen Glanz verliehen hatte.
1923 heiratete Löwenthal(8) Golda Ginsburg(1), eine Frau aus Königsberg, die aus einer relativ orthodoxen jüdischen Familie stammte. Das Paar(9) beschloss, einen koscheren Haushalt zu führen, die Synagoge zu besuchen und die jüdischen Feiertage zu begehen. »Natürlich hatte das eine katastrophale Wirkung auf meinen Vater; er(5) lehnte meine Frau(2) von Anfang an ab.« Löwenthals Vater verachtete sämtliche Juden, die östlich der Elbe lebten – er bezeichnete sie als Ostjuden (ein Standesdünkel, den die etablierten, materiell erfolgreichen Juden in deutschen Städten wie Frankfurt(7) gegen die eingewanderten Juden aus Osteuropa hegten). Gegen Ende seines Lebens erinnerte sich Löwenthal(10) daran, wie sehr sich sein Vater(6) ärgerte, dass sein Sohn beschlossen hatte, koscher zu leben. »Ich weiß es noch genau – er brach vor Wut in Tränen aus. Es war für ihn eine entsetzliche Enttäuschung, dass sein Sohn, den er, der Vater(7), ein wahrer Nachkomme der Aufklärung, so ›fortschrittlich‹ erzogen hatte, jetzt in die ›widersinnigen‹, ›obskuren‹ und ›betrügerischen‹ Klauen einer positiven Religion geraten war(11).«[6]
Diese Weigerung zu tun, was erwartet wurde, gehorsam zu sein und sich die Liebe des Vaters zu verdienen, war charakteristisch für viele jüdische Intellektuelle der Frankfurter Schule wie auch für deren Freunde und Kollegen. Wenn der Vater praktizierender Jude war, dann revoltierte der Sohn, indem er sich als Atheist zu erkennen gab; wenn der Vater ein säkularer Jude war, der sich dem deutschen Nationalismus verbunden fühlte, dann revoltierte der Sohn, indem er sich auf sein jüdisches religiöses Erbe berief oder sich der damals aufkommenden Bewegung eines politischen Zionismus anschloss.
Der deutsche jüdische Autor Ernst Bloch(1) (1885–1977), dessen esoterisch-utopische marxistische(29) Philosophie auf die Denker der Frankfurter Schule großen Einfluss ausübte und mit dem Walter Benjamin(104) in den 1920er Jahren Haschisch geraucht hatte, unternahm seinen ersten, etwas linkischen Rebellionsakt gegen die Religion seines Vaters bei seiner Bar Mitzwa, indem er sich zum Atheisten erklärte.[7] Benjamins(105) enger Freund, der in Deutschland(10) geborene israelische Philosoph und Historiker Gershom Scholem(1) (1897–1982), war einer von drei Söhnen, die gegen ihren Vater Arthur(1) rebellierten, einen assimilierten Berliner(30) Juden und deutschen Nationalisten, der eine erfolgreiche Druckerei betrieb. Werner Scholem(1) wurde Kommunist und Reinhold(1) Mitglied der Nationalistischen Deutschen Volkspartei, während Gershom(2) die politische Haltung seines Vaters(2) ablehnte, Zionist wurde, Hebräisch lernte und den Talmud sowie sämtliche kabbalistischen Schriften studierte, die er auftreiben konnte. Es kursiert sogar die Geschichte, dass ein Porträt von Theodor Herzl, des Gründers des modernen politischen Zionismus(1), das Gershom(3) von seiner Mutter bekommen hatte, im selben Raum aufgehängt wurde, in welchem der Weihnachtsbaum stand – das sieht ganz nach einer symbolischen Zurechtweisung eines assimilationistischen Vaters durch seinen zionistischen Sohn aus.[8]
Max Horkheimer(11), der 1930 Leiter des Instituts für Sozialforschung wurde und es von einer orthodox-marxistischen(30) Institution in eine interdisziplinäre, psychoanalytisch orientierte und revisionistisch-marxistische(31) Einrichtung umwandelte, ist das prototypische Beispiel eines deutschen jüdischen Intellektuellen dieser Jahre, der die Wünsche seines(12) Vaters durchkreuzte. Moritz Horkheimer(1) war ein erfolgreicher und angesehener Geschäftsmann, der mehrere Textilfabriken im Stuttgarter(2) Stadtbezirk Zuffenhausen besaß. Er erwartete von seinem Sohn, dass dieser später in seine Fußstapfen treten würde. »Seit meinem ersten Lebensjahre war ich dazu bestimmt, in der Leitung der industriellen Werke meines Vaters dessen Nachfolger zu werden«, schrieb Max(13) später.[9] Er besuchte kein humanistisch ausgerichtetes Gymnasium, sondern ein Realgymnasium, dessen Zweck darin bestand, die Schüler auf praktische Berufe vorzubereiten. Aufgrund väterlichen Wunsches verließ Max(14) die Schule im Jahr 1910 im Alter von 15 Jahren, um im Familiengeschäft zu arbeiten; später wurde er zum Juniorchef befördert. Sein Vater(2) organisierte für ihn unbezahlte Praktikumsstellen in Brüssel(1) und Manchester(1), auf dass der junge Max(15) nicht nur das Geschäft kennenlernte, sondern auch Französisch- und Englischkenntnisse erwarb. Diese Reisen ins Ausland wirkten sich dann jedoch durchaus befreiend auf Horkheimer(16) aus: Nachdem er die elterlichen Fesseln und die erstickend bürgerliche Stuttgarter(3) Atmosphäre hinter sich gelassen hatte, schrieb er an einen Freund: »Wir sind der Welt entkommen, in der du leidest, und unsere Erinnerung daran besteht in einer anhaltenden Freude darüber, dass wir sie losgeworden sind.«[10]
In Brüssel(2) schloss sich ihm Friedrich Pollock(5) (1894–1970) an. Friedrich war wie Max(17) der Sohn eines reichen Industriellen und auch er sollte in einer Fabrik in der belgischen(1) Hauptstadt praktische Erfahrungen im Wirtschaftssektor sammeln. »Fritz«, später Ökonom und Sozialwissenschaftler und Horkheimers(18) Vorgänger als Leiter des Instituts für Sozialforschung in den ausgehenden 1920er Jahren, wurde ein lebenslanger Freund(6), ja ein Seelengefährte von Max. »Ich hatte das Glück, einen Freund zu haben, mit dem ich alles teilen konnte, was mir wichtig war«, erinnerte er sich später in seinem Leben.[11] In diesem Grüppchen, das Horkheimer(19) als eine île heureuse bezeichnete – eine intellektuell, emotional und erotisch aufgeladene Zone jenseits der Zwänge bürgerlicher Normen –, gab es noch ein drittes Mitglied: Horkheimers Kusine Suze Neumeier(1). Max(20) kannte Suze von den Besuchen, die ihre in Paris(8) lebende Familie alljährlich der Familie Horkheimer(21) abstattete. Allerdings veränderte sich ihre Beziehung, als Suze zu einem Mitglied der Clique wurde. Horkheimer(22) besuchte sie in Paris, und sie(2) folgte ihm nach Calais. Seines Vaters(3) Plan sah vor, dass Max nach seinem Aufenthalt in Brüssel(3) nach Manchester(2) gehen sollte, um sich mit den neuesten Produktionstechniken vertraut zu machen. Stattdessen mieteten Horkheimer(23) und Pollock(7) eine Wohnung in London(1), und Suze gesellte sich bald zu ihnen. Mittlerweile hatte Max sich in seine Kusine(3) verliebt und sie sich in ihn: »Je suis à vous«, schrieb sie mit ihrem Blut an Horkheimer(24), »corps et âme«. Die Familien Neumeier und Horkheimer(25) waren entsetzt und alarmierten die englische Polizei. Suzes(4) Vater, ausgerüstet mit einer Pistole, eilte nach England(1). In London stellten die Eltern fest, dass Pollock(8) sich bereits in polizeilichem Gewahrsam befand. Die Familien brachen das von John Abromeit(1) sogenannte bateau ivre des Trios auf, Max(26) und Fritz(9) wurden nach Stuttgart(4) zurückverfrachtet, Suze(5) nach Paris(9).[12]
Horkheimer(27) kehrte zwar nach Stuttgart(5) zurück, doch er hörte nicht auf, sich gegen die väterliche Autorität aufzulehnen. Er begann für die Familienfirma zu arbeiten, ging jedoch bald eine weitere erotische Beziehung ein, dieses Mal mit der Privatsekretärin seines Vaters. In den Augen seiner Eltern war Rose Riekehr durchaus keine passende Partie für den einzigen Sohn der Horkheimers: Sie war acht Jahre älter als Max(28), stand klassenmäßig unter ihm und war keine Jüdin. Man hatte sie nur aus dem Grund in die Belegschaft der Firma aufgenommen, weil ihr eigener Vater, ebenfalls ein Geschäftsmann, in Insolvenz geraten war, weshalb sie nach Abschluss der Handelsschule eine Stelle als Sekretärin annehmen musste. Als die Eltern durch Max(29) jedoch von der Affäre erfuhren, wurde sie(1) entlassen.
Von Anfang an waren Horkheimers(30) romantische Beziehungen eng mit seiner aufkeimenden Sozialkritik verknüpft. Das drückte sich in den Kurzgeschichten aus, die er während des Ersten Weltkriegs verfasste. In einer dieser Geschichten – sie trägt den Titel Frühling – verlässt ein junger Student seine wohlhabenden Eltern wegen einer Frau aus einem nahegelegenen Ort, in die er sich verliebt hat. Sie unternehmen einen Spaziergang zu einer auf einem Hügel gelegenen Kapelle. Auf dem Weg kommen sie an einem Landstreicher vorbei, den die Frau kennt und vor dem sie sich fürchtet. In der Kapelle versuchen sie, Gedanken über jenen verarmten Mann, die ihr romantisches Glück ruinieren könnten, beiseitezuschieben. Da taucht dieser jedoch auf der Kanzel auf und hält eine Predigt über Ungerechtigkeit, die das Paar empört. Dann kommt er zu ihnen und sagt: »Du tust mir leid, Du kennst nun die Wahrheit … doch Du mußt nicht allein die Brille ablegen und nun verwirrt und hilflos stehenbleiben. Du mußt Deine Augen benützen und gehen lernen in der kälteren Welt … Berauscht Euch und lobt jede Minute, die Ihr ohne Bewußtsein verbringt, denn das Bewußtsein ist furchtbar: nur Götter können es ungetrübt und klar besitzen und noch lächeln.«[13] Die Religion der Liebe, auf die sich der junge Student als Ersatz für die Religion seiner Eltern verlegte, an die er wiederum nicht mehr glauben konnte, ist in einer ungerechten Welt ihrerseits unzulänglich.
In Leonhard Steirer, einer weiteren Novelle aus dieser Zeit, malt sich Horkheimer(31) eine Form von Rebellion gegen diese Ungerechtigkeit aus. Der Titelheld, ein Arbeiter, findet darin seine Geliebte Johanna Estland in den Armen des Sohnes des Firmenbosses und tötet diesen. Er stiehlt das Geld des Sohnes und flieht mit Johanna. »Wenn Menschen wie er gut sein können«, erklärt er Johanna verbittert,
Menschen, deren Vergnügen und Bildung, deren Tage mit soviel Unglück anderer erkauft sind, dann kann auch meine Tat nicht schlecht sein. Der Unterschied zwischen ihm und mir ist nur der, daß ich handeln mußte und Mut und Kraft besaß, während er bequem sein und genießen durfte und nicht erfuhr, was der Genuß kostet und wie blutig er ist … Johanna, wenn Du nicht unmenschlich grausam bist, mußt Du mir gehören, wie Du ihm gehört hast![14]
(32)Sie verbringen einen unheilvoll-seligen Tag miteinander, geben das Geld des Ermordeten in Boutiquen und Restaurants aus, bis schließlich die Polizei eintrifft und Leonhard verhaftet, der dann später zum Tod verurteilt wird.
(33)Leonhard ist weniger eine Einzelperson als vielmehr ein Typus, der in der fiktionalen Welt im Europa(7) zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht alleine dasteht: ein intellektuell, ökonomisch und sexuell enttäuschter Arbeiter in einem kapitalistischen System mit rigiden Klassenschranken, einem System, das seine Hoffnungen und Träume gnadenlos zerstört. Leonhard ist ein Seelenverwandter des verarmten Versicherungsangestellten Leonard Bast in E. M. Forster(1)s Roman Wiedersehen in Howards End aus dem Jahr 1910. Während sich jedoch Bast in lähmender Traurigkeit und Ressentiment suhlt («Ich will Ihre Unterstützung nicht. Ich will Ihren Tee nicht. Ich war vollkommen glücklich«, so Bast zu den unabsichtlich gönnerhaften Schlegel(1)-Schwestern, die ihn zu sich nach Hause eingeladen hatten, um »ihm zu helfen«),[15] wird Steirer aktiv. Für Leonhard ist – in der Gestalt seines verweichlichten Rivalen – der barbarische Charakter der Zivilisation immerhin offensichtlich, jedoch handelt es sich um eine Art von Barbarei, der mit Mut und Stärke – in diesem Fall mit Mord – Paroli geboten werden kann.
(34)Und Johanna? Sie denkt über das »unbestimmte, geheimnisvolle Schuldbewußtsein« ihres toten Geliebten nach, das »sie nie verstanden und stets als eine Wirkung seiner Krankheit betrachtet hatte«. Sie begreift, dass Leonhard ihre Liebe nicht mehr und nicht weniger verdient hatte als der Sohn des Fabrikanten, »und sie schauderte bei dieser Erkenntnis … Einen Augenblick lang sah sie in die Welt hinein – mit großen, entsetzten Augen –, sah sie die unersättliche, grausame Gier alles Lebendigen, das unentrinnbare, harte Schicksal der Geschöpfe, die Sucht nach Lust, die ewig brennt und quält, die alle Übel schafft und nie gelöscht wird.«[16] Ein verblüffender Abschnitt, der wirkt, als sei er direkt aus Schopenhauers(4) Werk geborgt, dessen Philosophie so viele deutsche Künstler und Intellektuelle vor Horkheimer(35) fasziniert hatte.
Es ist, als lauere hinter dem beherzten Kampf gegen eine unmenschliche Gesellschaftsordnung, die Horkheimer(36) hier beschreibt, ein hässliches Schreckgespenst: der unzerstörbare, unersättliche Wille, der sämtliche Kreaturen beherrscht und unausweichlich als Geiz und Grausamkeit zum Ausdruck kommt, jener Wille, dessen Sklaven wir alle sind, ob Marxisten(32) oder nicht: Wir seien, so Schopenhauer(5), an das Rad des Ixion gekettet, der Strafknechtschaft des Wollens unterworfen – ihr könnten wir nur entkommen durch Auseinandersetzung mit Kunst oder durch die buddhistische Methode, dem Wollen zu entsagen. Nun war Schopenhauer(6) allerdings politisch gesehen ein Reaktionär – ein deutscher Philosoph des Idealismus, der den marx(33)schen Glauben nicht teilte, dass der Sinn der Philosophie nicht darin bestehe, die Welt zu interpretieren, sondern sie vielmehr zu verändern, also Ungerechtigkeit und Ungleichheit, die Grundpfeiler des Kapitalismus, zu beseitigen.
Diese Kurzgeschichte, die – zusammen mit anderen Texten aus jener Zeit in einem Band mit dem Titel Aus der Pubertät – erst ein Jahr nach Horkheimers(37) Tod im Jahr 1973 veröffentlicht wurde, ist deswegen so faszinierend, weil sie die Zwangsehe eines hinsichtlich seiner Temperamente höchst ungleichen Paares thematisiert und damit eine proto-marxistische(34) Gesellschaftskritik und schopenhauer(7)sche Verzweiflung einbezieht. Leonhard steht für eine Kritik an den kapitalistischen Werten eines Vaters und Fabrikbesitzers und dessen privilegiertem, ebenfalls vom System profitierenden, also mitschuldigen Sohnes (deren Entsprechungen in der Realität Moritz(4) und Max Horkheimer(38) sind). Johanna vertritt die pessimistische Einstellung, dass der Kampf gegen Ungerechtigkeit zum Scheitern verurteilt ist, weil man dem Bösen nicht entkommen kann und das unausweichliche menschliche Schicksal darin besteht, vom Verlangen besessen und erniedrigt zu sein. Man darf vermuten, dass diese Ehe nicht von Dauer ist.
Aber untergräbt der schopenhauer(8)sche Pessimismus die Berechtigung des marxistischen(35) Kampfes tatsächlich? Alfred Schmidt(1) argumentiert im Zusammenhang mit diesen frühen Kurzgeschichten in seinem Text »Die geistige Physiognomie Max Horkheimer(39)s« wie folgt:
Die Verstricktheit des Menschen in ewige Natur und unbeirrter Kampf gegen zeitliches Unrecht bilden schon damals Hauptmomente seines Denkens. So unerläßlich es für ihn ist, daß die »Ungerechtigkeit der Verteilung der Güter« beseitigt werde, so fragt er sich doch zugleich, ob nicht selbst die »Erfüllung der kühnsten Utopien« die »große Qual« unberührt ließe, »weil der Kern des Lebens … Qual und Sterben ist«.[17]
Doch trotz seines hegelianisierten(1) Marxismus(36) trennte Horkheimer(40) sich nie von seiner düsteren schopenhauer(9)schen Braut. Der erste philosophische Text, den er las, waren Schopenhauers(10) Aphorismen zur Lebensweisheit, auf die er 1911 in Brüssel(4) gestoßen war. 1968, gegen Ende seines Lebens, veröffentlichte er einen Essay mit dem Titel »Schopenhauer(11) heute«, in welchem er schreibt: »[D]ie Beziehung zur Lehre von Hegel(2) und Marx(37), der Wille zum Verständnis wie zur Veränderung sozialer Realität haben, trotz dem politischen Gegensatz, meine Erfahrung seiner [sc. Schopenhauers(12)] Philosophie nicht ausgelöscht.«[18] Schmidt(2) erklärt, die gesamte Kritische Theorie sei von dieser Widersprüchlichkeit durchdrungen – oder vielleicht könnte man auch sagen, durch sie erweitert: einer Widersprüchlichkeit, in welcher »Marxsche(38) und Schopenhauersche(13) Denkmotive – diese stehen fürs malum metaphysicum, jene fürs malum physicum – … sich in der Kritischen Theorie auf allen ihren Stufen aneinander ab[arbeiten], weil die ›richtige Gesellschaft‹ stets auch ›ein Ziel‹ ist, ›das mit der Vorstellung von Schuld sich verschränkt‹ – nicht nur mit der eines wissenschaftlich beherrschbaren Gesamtprozesses«.[19] So wie die Zivilisation für Benjamin(106) notwendig eine barbarische Seite hatte, so ist für Horkheimer(41) sogar noch die Utopie einer gerechten Gesellschaft notwendig mit Schuld befleckt.
Schopenhauers(14) Eschatologie, die Horkheimer(42) übernahm, war nicht diejenige von Marx(39). Für Schopenhauer(15) gibt es letztlich keine Erlösung, keine Strafe, keinen Himmel – sei es auf der Erde oder im Jenseits. Das Ausmaß der Sinnlosigkeit ist vielmehr kosmisch: »… alles Lebende [arbeitet] mit äußerster Anstrengung seiner Kräfte auf etwas hin …, das keinen Wert hat. Allein bei genauerer Betrachtung werden wir auch hier finden, dass er [sc. der Wille zum Leben] vielmehr ein blinder Drang, ein völlig grundloser, unmotivierter Trieb ist.«[20] Es gibt allerdings in Schopenhauers(16) Philosophie die Vorstellung von menschlichem Mitleid als Movens, welches das Leiden lindern kann – eine Idee, die Horkheimer(43) durchaus ansprach. Schopenhauer(17) hielt Identifikation für einen wesentlichen Bestandteil von Mitleid: »Dies aber setzt voraus, daß ich mich mit dem andern gewissermaßen identifiziert habe, und folglich die Schranke zwischen Ich und Nicht-Ich, für den Augenblick, aufgehoben sei: nur dann wird die Angelegenheit des andern, sein Bedürfnis, seine Not, sein Leiden, unmittelbar zum meinigen.«[21]
Das entspricht in gewisser Weise dem, was Horkheimer(44) mit Leonhard Steirer unternimmt – er erschafft eine fiktionale Welt, in der er sich mit einem anderen Menschen identifizieren kann, aber nicht mit irgendeinem Menschen, sondern ausgerechnet mit dem Mann, der den privilegierten, dekadenten Sohn des Vaters / Chefs umbringt, wobei dieser außerdem – noch schlimmer – der Geliebten des Helden Avancen gemacht hat. Mitleid zu empfinden für jemanden, der Sie ermorden will (selbst wenn das Verbrechen lediglich auf Ihr Abbild zielt, das in einer fiktionalen Welt unter- und umgebracht wird), ist als Akt der Identifikation doch eine bemerkenswerte Leistung. Allerdings sollte uns das kein Anlass sein zu bezweifeln, dass sich trotz Horkheimers(45) Ängsten vor der Irrationalität der Unterschicht sein Schuldgefühl wegen seiner eigenen privilegierten Stellung als Sohn eines reichen Stuttgarter(6) Geschäftsmanns mit seinem Wunsch nach sozialem Wandel verband: »Ich möchte die Grenzen zwischen Ländern und gesellschaftlichen Klassen niederreißen«, schrieb er in sein Tagebuch, »obwohl ich weiß, dass dieser Kampf verrückt ist.«[22] Schuld und Identifikation trieben Max Horkheimer(46) später tatsächlich an den Rand des Wahnsinns.
In der Philosophie seiner späteren Jahre ging Horkheimer(47) über eine derartige Identifikation und das schopenhauer(18)sche Mitleid hinaus: In seinem Essay aus dem Jahr 1933 »Materialismus und Metaphysik« merkt er an, die Existenz des gegenwärtigen geteilten Leidens könne zu revolutionärem sozialem Wandel führen.[23] Hier bedeutet geteiltes Leiden allerdings um einiges mehr, als dass sich der reiche Sohn eines Fabrikanten in die Lage eines unterdrückten Arbeiters hinein fantasiert, mehr als den schopenhauer(19)schen Akt einer Identifikation mit dem Leiden des Nächsten.
Dabei enthält die Fiktion des jugendlichen Horkheimer(48) noch etwas sehr viel Markanteres als proto-marxistische(40) Kritik und schopenhauer(20)schen Pessimismus, ist hier doch ein kaum sublimierter Ödipuskomplex am Werk, bei dem Kämpfe gegen einen erfolgreichen kapitalistischen Vater ihren Ausdruck in einer Revolution finden. Durch diese Eigenart seiner prägenden Erfahrungen stand Horkheimer(49) in enger Verwandtschaft mit anderen führenden Köpfen der Frankfurter Schule, die zur selben Zeit erwachsen wurden.
(50)In einer weiteren Kurzgeschichte aus dieser Zeit, Arbeit (1916), wendet sich ein junger Fabrikdirektor, Franz Lehndorf, gegen seinen Vater, der die Firma leitet. Franz stachelt die Arbeiter zur Revolution an, weil er an »den Aufstand des Volkes für Daseinsbedingungen, die ihm den Zugang zu wahrer Kultur ermöglichen«, glaubt.[24] Der Ausdruck »wahre Kultur« lässt darauf schließen, dass das Ziel der Revolution gar nicht so sehr materieller, sondern vielmehr kultureller Natur ist, wobei Kultur einen normativen Charakter hat – formuliert im zugleich aristokratisch-elitären und marxistischen(41) Bewusstsein, das uns in unserer Auseinandersetzung mit der Geschichte der Frankfurter Schule immer wieder begegnen wird, vor allem in Adornos(47) Essays über die Kulturindustrie: Wenn die Arbeiter dermaleinst vom Joch der Unterdrückung befreit sind, würden sie sich auf die sonnenumglänzten Hochebenen Beethovens(1) in Marsch setzen, statt sich in den Gossen Hollywoods(2) zu suhlen.[25]
(51)Man kann diese Novellen kaum anders denn als Schlüsseltexte lesen. Der von Schuldgefühlen geplagte Fabrikantensohn in Leonhard Steirer oder der Revolutionär aus gutem Hause in Arbeit sind Projektionen des Autors, und ihre Dramen sind Widerspieglungen der sehr realen Probleme, die Horkheimer(52) mit seinem Vater hatte. Arbeit war »Maidon« zugeeignet – diesen Kosenamen hatte er seiner damaligen Geliebten und zukünftigen Frau Rose(1) Riekehr gegeben. Rose war die Liebe seines Lebens; das Paar heiratete im Jahr 1926 und blieb bis zu Roses Tod im Jahr 1969 zusammen. Seine Weigerung, diese unpassende, nichtjüdische Frau aus einer niedrigeren Schicht aufzugeben, bringt Horkheimers(53) Kampf mit seinen Eltern, vor allem mit seinem Vater klar zum Ausdruck.
Im September 1916 erhielt Horkheimer(54) seinen Einberufungsbescheid. Zuvor war er freigestellt gewesen, weil er in der Fabrik seines Vaters arbeitete. Ebenso wie Pollock(10) sollte er dann später nicht wieder in den Betrieb seines Vaters zurückkehren: Nach dem Krieg gingen beide einer intellektuellen Ausbildung an denselben drei Universitäten nach: München(1), Frankfurt(8) und Freiburg(2). Erst 1926, als Horkheimer(55) seine akademischen Abschlüsse geschafft und sich selbst erfolgreich in einer Welt jenseits der Geschäftswelt betätigt hatte, in der sein Vater ihn gern erfolgreich gesehen hätte, brachten seine Eltern es über sich, Rose(2) in ihre Familie aufzunehmen. Es hatte ganz den Anschein, als sei der Ödipuskampf in der Familie Horkheimer(56) damit beendet gewesen. Womöglich war dieser Kampf Beleg für eine von Hannah Arendt(2) formulierte Regel: »Sie [sc. diese Konflikte] wurden doch in der Regel dadurch beigelegt, dass die Söhne den Anspruch machten, Genies zu sein oder auch, wie im Falle der zahlreichen Kommunisten aus begütertem Hause, Menschheitsbeglücker, auf jeden Fall etwas Höheres, und die Väter nichts lieber glauben wollten.«[26]
Das illustriert der Fall Walter Benjamin(107). Er weigerte sich wiederholt, eine Stelle in jener Geschäftswelt anzutreten, die Emil Benjamin(6) ein reiches, erfülltes und von vielen respektiertes Leben ermöglicht hatte. Benjamin forderte noch Geld von seinen Eltern, als er schon weit über dreißig war, und in seinen Briefen bezeichnete er ihre Hartnäckigkeit, mit der sie darauf bestanden, dass er sich seinen Lebensunterhalt selbst verdiente, als »unsäglich«. Nach dem Ersten Weltkrieg verschlechterte sich jedoch die finanzielle Lage der Familie Benjamin(108) rapide. Emil(7) forderte seinen Sohn nachdrücklich dazu auf, einen Beruf zu ergreifen, mit dem er Geld verdienen konnte, und er erklärte sich nur unter der Bedingung damit einverstanden, die akademischen Bemühungen seines Sohnes zu unterstützen, wenn Walter und seine junge Familie sich darauf einließen, in eine Wohnung im väterlichen Haus einzuziehen. Das Ergebnis war eine Katastrophe; Walter behauptete, das Leben bei seinen Eltern sei »eine lange, schreckliche Periode der Depression« gewesen.
Walter(109), seine Ehefrau Dora(1) und ihr kleiner Sohn flohen aus dem elterlichen Heim, um im Haus eines Freundes zu leben. Bei seinem Auszug erhielt Walter eine Einmalzahlung in Höhe von 30 000 Mark aus seinem Erbe und weitere 10 000 Mark zur Gründung eines eigenen Hausstands – das reichte aber immer noch nicht aus, um auf eigenen Beinen zu stehen. Mit ihrer Arbeit als Übersetzerin wurde Dora(2) zur Hauptverdienerin. Statt sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, verhielt sich Benjamin so(110), als wären ihm die Eltern etwas schuldig, er jedoch war auf monatliche Unterstützung von Emil(8) und Pauline(3) angewiesen, während er funktional arbeitsunfähig blieb. Es fällt schwer, ihn sich nicht als unglaublich verweichlicht und anspruchsvoll vorzustellen – beispielsweise wenn man erfährt, er habe seiner angeblich herrischen Mutter(4) für den Umstand die Schuld gegeben, dass er(111) mit vierzig Jahren noch unfähig war, eine Tasse Kaffee zuzubereiten.[27]
Eine Art Vorbote von Benjamins(112) ungelöstem Ödipuskonflikt war derjenige von Franz Kafka(2). Benjamin war einer der einfühlsamsten frühen Leser Kafkas, und sein tiefes Verständnis für dessen Werke war vor allem auf die Vater-Sohn-Kämpfe in Kafkas Geschichten zurückzuführen; sie wirkten auf Benjamin(113) wie Präfigurationen seiner eigenen Auseinandersetzungen. Hermann Kafka(1), der Vater von Franz Kafka(3), war der vierte Sohn eines Schochet, eines rituellen Schlachters in einem Dorf mit großem jüdischem Bevölkerungsanteil in Südböhmen. Er hatte als Handlungsreisender gearbeitet und wurde später Galanteriewarenverkäufer in Prag mit fünfzehn Angestellten. Hermann(2) und seine Frau Julie(1) hatten sechs Kinder, Franz(4) war der Älteste.
»Seit jeher machst Du mir zum Vorwurf«, so der 36-jährige Franz(5) in seinem berühmten, hundert Seiten umfassenden »Brief an den Vater«,
daß ich dank Deiner Arbeit ohne alle Entbehrungen in Ruhe, Wärme, Fülle lebte. Ich denke da an Bemerkungen, die in meinem Gehirn förmlich Furchen gezogen haben müssen, wie: »Schon mit sieben Jahren mußte ich mit dem Karren durch die Dörfer fahren.« »Wir mußten alle in einer Stube schlafen.« »Wir waren glücklich, wenn wir Erdäpfel hatten.« »Jahrelang hatte ich wegen ungenügender Winterkleidung offene Wunden an den Beinen.« … »Aber trotzdem, trotzdem – der Vater war mir immer der Vater. Wer weiß das heute! Was wissen die Kinder! Das hat niemand gelitten!«[28]
Gegen Ende des Briefes stellt Kafka(6) sich vor, wie sein Vater auf die nicht abgeschickte vernichtende Beurteilung seines Charakters reagieren würde:
Lebensuntüchtig bist Du; um es Dir aber darin bequem, sorgenlos und ohne Selbstvorwürfe einrichten zu können, beweist Du, dass ich alle Deine Lebenstüchtigkeit Dir genommen und in meine Taschen gesteckt habe. Was kümmert es Dich jetzt, wenn Du lebensuntüchtig bist, ich habe ja die Verantwortung, Du aber streckst Dich ruhig aus und läßt Dich, körperlich und geistig, von mir durchs Leben schleifen.«[29]
Es war eine chronische Sorge in Kafkas(7) Schriften, eine Sorge, die Benjamin(114) wohl durchaus persönlich nachvollziehen konnte: dass im Ödipuskampf zwischen Vater und Sohn der Sohn nicht dem entsprach, was von ihm erwartet wurde, wohingegen die Potenz des Vaters unbeeinträchtigt blieb. Kafka(8) beschreibt seinen Vater(3) als »einen wirklichen Kafka an Stärke, Gesundheit, Appetit, Stimmkraft, Redebegabung, Selbstzufriedenheit, Weltüberlegenheit, Ausdauer, Geistesgegenwart, [und] Menschenkenntnis«.[30] Das waren die Tugenden – wenn man sie denn als Tugenden bezeichnen kann –, die die Väter an ihre Söhne weitergeben wollten, dabei handelte es sich jedoch ganz überwiegend um weltliche Tugenden, die die Söhne entweder verschmähten oder für deren Aneignung sie zu schwach waren. Weltfremd, neurotisch, schlecht angepasst an das Ethos des Sozialdarwinismus, das ihre Väter zu erfolgreichen Geschäftsleuten gemacht hatte: Söhne wie Franz Kafka(9) und Walter Benjamin(115) waren lebensuntüchtig, jedenfalls nicht tüchtig für ein Leben, wie es den Erfordernissen der modernen kapitalistischen Welt entspricht. Daraus erklärt sich die Figur des Gregor Samsa in Kafkas(10) Verwandlung, des Sohnes, der sich in ein riesiges Insekt verwandelt, das den Eltern Schande bereitet und unfähig ist, finanziell auf eigenen Beinen zu stehen. Daraus erklärt sich auch Kafkas(11) erste große Novelle Das Urteil, die Benjamins(116) Aufmerksamkeit erregte: Auch darin geht es um die Darstellung einer Vater-Sohn-Beziehung. Am Ende wird die Ödipusgeschichte gegen die natürliche Ordnung gewendet, wenn der scheinbar hinfällige, zahnlose, senile alte Vater seine Bettdecke von sich wirft, sich auf dem Bett hinstellt und seinen Sohn zum Tod verurteilt. In seinem Essay für die Jüdische Rundschau zu Franz Kafkas(12) zehntem Todestag im Jahr 1934 bezieht sich Benjamin ausführlich auf diesen Abschnitt; man gewinnt den Eindruck, er sei ganz fasziniert von den Parallelen zwischen Kafkas Drama über den rächenden Vater, der seinen undankbaren Schwächling von einem Sohn bestraft, und seinen(117) eigenen Kämpfen gegen Emil Benjamin(9), der 1926 verstorben war. (13) »Du wolltest mich zudecken, das weiß ich, mein Früchtchen, aber zugedeckt bin ich noch nicht«, sagt der Vater zum Sohn. Der Vater spricht, als sei die Bettdecke das Grab, und seine wiedergewonnene aufrechte Körperhaltung bringt – wenn auch mit kläglicher, Kafka-typischer Tragikomik – die überraschende phallische Macht zum Ausdruck, die zuvor in seinem Morgenrock gelauert hatte. »Und ist es auch die letzte Kraft, genug für Dich, zuviel für Dich … Aber den Vater muß glücklicherweise niemand lehren, den Sohn zu durchschauen.«[31]
Man spürt aus Benjamins(118) Text über diese Zeilen deutlich seine Erschütterung und Faszination: »Weltalter muß er in Bewegung setzen, um das uralte Vater-Sohn-Verhältnis lebendig, folgenreich zu machen. Doch reich an welchen Folgen! Er verurteilt den Sohn zum Tode des Ertrinkens. Der Vater ist der Strafende. Ihn zieht die Schuld wie die Gerichtsbeamten an.«[32] Benjamin(119) konstruiert hier eine bezeichnende Parallele: Der patriarchale Bürokratenstaat bestraft genau wie sein Prototyp, der Vater, ungerecht und ohne Einwände zuzulassen: Gegen beide ist kein Einspruch möglich. Georg flieht aus dem Zimmer, die Treppen hinunter, springt von einer Brücke und ertränkt sich.
Die natürliche Ordnung, innerhalb welcher der Vater dem Sohn das Feld räumt, ist auf den Kopf gestellt, die Drehung des kosmischen Rades in der Richtung umgekehrt – so jedenfalls stellt sich Kafka(14) das in seiner verstörenden, unheimlichen Geschichte vor. Es ist eine Geschichte für seine Zeit, eine Geschichte von kraftstrotzenden, weltgewandten Vätern, die ihrem Schicksal die Stirn bieten; und von hypersensiblen, äußerst aufgeweckten, auf dialektische Weise erfinderischen Söhnen, die, in Schuld erstarrt, sich mit ihren Projektionsfähigkeiten selbst im Weg stehen. Das ist nun einmal die Krux mit sensiblen Genies: Tatmenschen sind sie nur selten. Die führenden Köpfe der Frankfurter Schule hatten alle dieses Problem, ein Problem, das, von einer anderen Warte aus betrachtet, auch ein Stück weit ihren Reiz ausmacht.
Allerdings fällt es schwer, für ihre in Grund und Boden geschriebenen, nur auf den schnöden Mammon fixierten Väter kein Verständnis aufzubringen. In gewisser Weise wollten diese ja nur das Beste für ihre altklugen, privilegierten, und man darf wohl ruhig sagen, verzogenen Söhne. Väterliche Großzügigkeit dem Sohn gegenüber begegnet uns häufig in den Biographien von Mitgliedern der Frankfurter Schule. Herbert Marcuse(10) etwa war genauso ein begünstigter Sohn. Nach seinem Militärdienst während des Ersten Weltkriegs (an den sehr anschaulich sein Enkel Harold(1) erinnert:[33] Kämpfe hätten nicht dazugehört; der Dienst habe überwiegend – in diesem noch nicht automobilisierten Zeitalter – darin bestanden, in Berlin(31) für die Infanterie »Pferdeärsche zu wischen«) und seiner Teilnahme an der deutschen Revolution im Jahr 1918 promovierte er 1922 in Freiburg(3) im Fach Deutsche Literatur, dann arbeitete er sechs Jahre lang als Buchhändler in Berlin(32). Bezeichnend ist allerdings, dass Marcuses Vater seinen Sohn(11) mit einer Wohnung und einer Beteiligung an einem Verlags- und Antiquariatsunternehmen versorgte.[34]
Dergleichen väterliche Großzügigkeit und Duldsamkeit kommt am deutlichsten im Fall von Theodor Adorno(48) zum Ausdruck. Ohne sein materiell abgesichertes Frankfurter(9) Elternhaus, das ihm sein Vater ermöglichte, obwohl es in der Welt draußen drunter und drüber ging, wäre Teddie wohl kaum zu einem so anregend selbstsicheren Intellektuellen herangewachsen. Selbst Marcuse(12) erinnerte sich in hohem Alter mit gewisser Ehrfurcht (während einer Fernsehsendung in den späten 1970er Jahren), Adorno(49) habe sich mündlich in derart geschliffenen Sätzen geäußert, dass man diese geradewegs zum Druck weitergeben konnte.[35] Adornos Vater Oscar Alexander Wiesengrund(3) war ein jüdischer Weinhändler in Frankfurt(10), der seine eigenen Kämpfe gegen väterliche Erwartungen hinter sich ließ, nachdem er eine Sängerin geheiratet hatte, die nicht nur den sensationellen Namen Maria Calvelli-Adorno(2) della Piana trug, sondern auch noch katholisch war. Oscar(4) entledigte sich seiner jüdischen Identität, ja entwickelte geradezu eine Feindseligkeit dagegen; diese Abneigung kam in seinen Gefühlen gegenüber den osteuropäischen Juden zum Ausdruck, die vor den Pogromen in Russland(2) und Polen(1) geflohen waren und sich in den östlichen Stadtvierteln Frankfurts angesiedelt hatten. Für den gesellschaftlich gewandten und anerkannten, anglophilen Geschäftsmann Oscar(5) waren – ebenso wie für den Vater von Leo Löwenthal(12) – die neu eingetroffenen Juden mit ihren wallenden Bärten und Kaftanen ein Affront. Siegfried Kracauer(1) (1889–1966), später einer von Theodor Adornos(50) Mentoren, beschreibt in seinem Roman Georg diese »Juden, die wie Imitationen wirkten, so echt sahen sie aus«.[36]
Der Snobismus gegenüber den erst kürzlich immigrierten Ostjuden, der für die erfolgreichen, verwestlichten Juden bezeichnend war, wurde von Adorno(51) durchaus scharfsichtig diagnostiziert; in dem zusammen mit Max Horkheimer(57) verfassten Schlüsseltext der Frankfurter Schule, der Dialektik der Aufklärung, heißt es dazu:
Die aufgeklärte Selbstbeherrschung, mit der die angepaßten Juden die peinlichen Erinnerungsmerkmale der Beherrschung durch andere, gleichsam die zweite Beschneidung, an sich überwanden, hat sie aus ihrer eigenen, verwitterten Gemeinschaft vorbehaltlos zum neuzeitlichen Bürgertum geführt, das schon unaufhaltsam zum Rückfall in die bare Unterdrückung, zu seiner Reorganisation als hundertprozentige Rasse vorwärts schritt.[37]
Für Adorno(52) und Horkheimer(58), die während des Zweiten Weltkriegs im amerikanischen Exil lebten und hier aus der Rückschau schreiben, entpuppten sich die Hoffnungen auf eine sichere Position in der bürgerlichen Gesellschaft Deutschlands, die Männer wie Oscar Alexander Wiesengrund(6) gehegt hatten, als gefährliche Illusion. Mit Sicherheit waren die gerade erst immigrierten osteuropäischen Juden, die den Pogromen entkommen waren, für Juden wie Oscar(7) Alexander eine verstörend sichtbare Erinnerung an das, was sie im Zusammenhang mit den Leiden ihrer Vorfahren lieber vergessen und verdrängen wollten.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass Oscar(8)s erster Sohn, Theodor Ludwig Wiesengrund Adorno(53), nicht als Jude erzogen, sondern katholisch getauft wurde. Der Name lasse die beiden Wesenszüge anklingen, die Adorno(54) geerbt hatte, so sein Biograph: »… auf der einen Seite das Sicherheitsstreben des auf Dauerhaftigkeit und Berechenbarkeit setzenden väterlichen Kaufmanns, auf der anderen Seite die Einfühlungsgabe des auf Kreativität und Spontaneität vertrauenden Künstlertums der Mutter.«[38] Man könnte Oscars(9) Rolle ohne Weiteres auf die Funktion reduzieren, die ökonomischen Grundlagen für den Upper-Class-Lebensstil seiner Familie zu sichern, sodass der mehr von der mütterlichen Seite stammende musikalische und kreative Bereich des Familienlebens, von dem sein geliebter Sohn profitierte, sich besser entfalten konnte.
Adornos(55) emotionale und materielle Sicherheit war für die Entwicklung seiner Persönlichkeit als Erwachsener entscheidend – einer völlig anderen Persönlichkeit als die seines intellektuellen Mentors Walter Benjamin(120). Benjamin hielt sich selbst für einen, der nur mühsam zurechtkam, einen Pechvogel, unfähig, sich in der Welt zu behaupten; und auch andere sahen ihn so. »Wie Proust(19)«, so Arendt(3), »war er völlig unfähig, etwas an seinen Lebensumständen zu verändern, selbst wenn unmittelbar die Gefahr bestand, dass er von ihnen zermalmt wurde.«[39] Adorno(56) bildete dazu das genaue Gegenteil: Er war, selbst wenn er möglicherweise nicht einmal brillanter war als Benjamin, dazu in der Lage, die Qualitäten auszunutzen, die ihm, dem privilegierten Kind, zuteil geworden waren – seinen Fleiß, sein souveränes Auftreten, sein Selbstvertrauen –, und mit dem Pfund seiner Herkunft zu wuchern, das ihm dazu verhalf, dorthin zu kommen, wo er hinwollte. Er etablierte sich in der akademischen Welt mit wissenschaftlichen Auseinandersetzungen über Husserl(1) und Kierkegaard(1); und er begab sich in das Epizentrum der modernen Musik und studierte im Wien(1) der 1920er Jahre bei Alban Berg(1) Komposition.
Nicht alles lässt sich seiner Erziehung zuschreiben, doch die Umstände von Adornos(57) gut abgesicherter Jugend trugen wesentlich zu seinem Charakter und seinen Leistungen bei. Leo Löwenthal(13) beschrieb den 18-jährigen Adorno(58) als »verwöhnten Herrn aus wohlhabendem Hause«,[40] und andere Freunde bemerkten, während Deutschland(11) im Allgemeinen und das Handelszentrum Frankfurt(11) im Besonderen während der Hyperinflation des Jahres 1922 in Armut und Elend versanken, als die Kaufkraft der Mark nicht nur von Woche zu Woche, sondern von Stunde zu Stunde herabgesetzt wurde, dass sich Adorno(59) und seine Familie in dieser Zeit Reisen nach Italien(1) leisten konnten und weiterhin ihren üppigen Lebensstil pflegten. Vieles verdankte sich der Umsicht von Oscar Wiesengrund(10), der einen Teil seines Vermögens in Sachwerten angelegt hatte und so von den Geschäftsschließungen und finanziellen Zusammenbrüchen verschont blieb, die so viele andere betroffen hatten, unter ihnen auch Emil Benjamin(10). Teddie(60) profitierte außerdem davon, dass er der einzige Sohn, mithin der Hauptnutznießer des relativen familiären Wohlstands war.
Das heißt nicht, dass er nicht ebenfalls Probleme mit seinem Vater gehabt hätte. Als Jugendlicher sah er ihn als eine Verkörperung bürgerlicher Werte; die auf Effizienz und Gewinn gerichteten Interessen des Geschäftsmanns empfand er als Gegensatz zu seinen eigenen Prioritäten, doch gibt es insgesamt keine Hinweise darauf, dass er Oscar(11) nicht respektiert oder seine Leistungen nicht anerkannt hätte.[41]
Allerdings gehörte sein Vater eher nicht zu seinen(61) wichtigsten Bezugspersonen, sondern die beiden Frauen, die für seine frühen Lebensjahre prägend waren: seine Mutter Maria(3) und deren jüngere Schwester Agathe(1), die er seine zweite Mutter nannte. Seine Mutter war Opernsängerin, seine Tante Pianistin. Liest man seine Biographie, dann vermittelt sich der Eindruck, Adorno(62) sei ein Wunderkind gewesen, das nie erwachsen wurde (weil er es nicht musste), das aber paradoxerweise im Unterschied zu Benjamin(121) in der Erwachsenenwelt sehr gut zurechtkam. Adorno(63) konnte eine erfolgreiche akademische Laufbahn einschlagen, verfügte immer über die nötigen finanziellen Mittel, ja er erfand sich, nachdem er sich von seiner Heimat und Kultur entfremdet hatte, im Exil neu – mit einer Zuversicht, die dem älter gewordenen Mann später nicht mehr vergönnt war.
Adorno(64) machte also hinsichtlich ödipaler Auseinandersetzungen nicht so bittere Erfahrungen wie seine zukünftigen Kollegen am Institut für Sozialforschung. Erstaunlicherweise war es dann ausgerechnet Sache eines bestimmten Mitglieds dieser Frankfurter Gelehrtengruppe, der seinerseits einen Kampf gegen seinen Vater bestritten hatte, sich gegen die freud(6)sche Orthodoxie aufzulehnen (wobei die Auflehnung gegen die freud(7)sche Orthodoxie ja selbst einen ödipalen Kampf gegen die Autorität des Vaters der Psychoanalyse darstellt): Der Psychoanalytiker Erich Fromm(5) argumentierte, nicht alle menschlichen Gesellschaften, vor allem nicht die vorkapitalistischen, würden zu dieser Art von Kämpfen neigen. Fromm(6) fühlte sich in den für ihn prägenden Jahren in Frankfurt(12) vom Geschäftsgeist seiner Geburtsstadt im Allgemeinen und im Besonderen von der Tätigkeit seines geschäftstüchtigen Vaters abgestoßen. Weitaus mehr interessierte er(7) sich für das ikonoklastische, spirituelle, gelehrte Milieu zweier Männer, die ihm früh zum Ersatz für den Vater wurden: seines Onkels Emmanuel(1), der den jungen Erich(8) in die Reichtümer der europäischen Hochkultur einführte, und seines Großonkels Ludwig(1), der ihn mit den Freuden des Talmudstudiums vertraut machte.[42]
Als Erwachsener versenkte sich Fromm(9) in die Arbeiten des Schweizer lutheranischen Juristen Johann Jacob Bachofen(1), der im 19. Jahrhundert gewirkt hatte. Fromms(10) Biograph Lawrence Friedman(1) wies darauf hin, dass Bachofens 1861 erschienenes Buch Das Mutterrecht: Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur die erste Herausforderung der allgemein vorherrschenden Meinung bildete, die patriarchale Gesellschaft sei ein Naturzustand und legitimiere daher Kapitalismus, Unterdrückung und männliche Vorherrschaft.
Die Lektüre Bachofens(2) brachte Fromm(11) auf den Gedanken, dass die Mutter-Kind-Bindung die Wurzel des sozialen Lebens sein müsse und dass es in einer matriarchalen Gesellschaft keinen Streit, keine Konflikte, ja nicht einmal Privateigentum gegeben habe – Überlegungen, die für die Herausbildung seines sozialistischen Humanismus entscheidend waren. In Bachofens Beschreibung der matriarchalen Gesellschaften funktionierten diese als eine Art »primitiver sozialistischer Demokratien«, so Fromms(12) Bezeichnung, die geprägt waren von Geselligkeit, Großzügigkeit, Zärtlichkeit, Religiosität und Gleichheit.
Dann geschah jedoch etwas Unseliges. Fromm(13) interpretierte Bachofen(3) dahingehend, dass die Frauen das Unheil des Patriarchats auf die Menschheit losgelassen hätten. Die Frauen führten die monogame Ehe ein, um sich von der Verdrießlichkeit mehrerer Partner und zügellosen sinnlichen Anforderungen zu befreien. Bald entwickelten sich patriarchale Gesellschaften, in denen sich Männer die Herrschaft über Frauen und Schwache erkämpften. Während Mutterliebe für das Neugeborene frei und bedingungslos gewesen war und so das Selbstvertrauen des Kindes genährt hatte, war die Vaterliebe im Patriarchat von der Pflichterfüllung abhängig, und wenn das Kind in dieser Hinsicht enttäuschte, war psychische Instabilität die Folge. Rationalität, Privateigentum, abstrakte, im Rechtsdenken verankerte Vorstellungen und die Macht des Staates ersetzten die Prioritäten der matriarchalen Gesellschaft: Sinnlichkeit, Emotionalität, Lust und Glück. Nun wurden Emotionen unterdrückt und Konflikte und Schuldgefühle hielten Einzug in die Gesellschaft.
Der deutsche Soziologe Max Weber(1) knüpfte mit seinem 1904 erschienen Buch Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus eng an Bachofens(4) Sichtweise an. Für Weber war es die protestantische Arbeitsethik, die den Kapitalismus ermöglicht hatte. Für ihn stellte der Protestantismus die Bedingungen bereit, unter denen viele Nordeuropäer ihre eigenen Unternehmen gründen und Reichtum für weitere Investitionen ansammeln konnten. Das mündete in das Wachstum des modernen Kapitalismus und die rapide Industrialisierung in mehreren nordeuropäischen Ländern. Allerdings entfremdeten die fortschreitenden technischen Entwicklungen in den kapitalistischen Gesellschaften den Arbeiter von der Natur und trugen zur Unterwerfung der Schwachen bei. In einer patriarchalen Kultur konnte der von Schuldgefühlen gepeinigte Sohn den Wünschen seines Vaters nie vollständig gerecht werden. Er wurde sozusagen zum Symbol der Verfassung jener kapitalistischen Gesellschaften, die sich in Europa(8) herausbildeten – seine Schuld, seine Entfremdung, seine Distanz zu sich selbst, seine Anfälligkeit für Konflikte und emotionale Unterdrückung: all das waren nützliche Triebmittel, die das effiziente Funktionieren des Kapitalismus sicherstellten.
Mit dem Patriarchat entstand der Ödipuskonflikt zwischen Vater und Sohn. In seiner Kunst des Liebens schreibt Fromm(14): »Als das Privateigentum aufkam und dieses Privateigentum von einem der Söhne ererbt werden konnte, fing der Vater an, sich nach dem Sohn umzusehen, dem er seinen Besitz vererben konnte.« Das habe dazu geführt, so Fromm(15), dass väterliche Liebe im Unterschied zur bedingungslosen Mutterliebe an Bedingungen geknüpft sei – was einen negativen und einen positiven Aspekt habe:
… Der negative Aspekt ist, daß man sich die väterliche Liebe verdienen muß, daß man sie verlieren kann, wenn man sich nicht so verhält, wie es von einem erwartet wird. Bei der väterlichen Liebe wird der Gehorsam zur höchsten Tugend und der Ungehorsam zur schwersten Sünde, die mit dem Entzug der väterlichen Liebe bestraft wird. Ihre positive Seite ist nicht weniger wichtig. Da die väterliche Liebe an Bedingungen geknüpft ist, kann ich etwas dazu tun, sie mir zu erwerben, ich kann mich um sie bemühen, sie steht nicht wie die mütterliche Liebe außerhalb meiner Macht(16).[43]
Dieser Aspekt ist allerdings nur für diejenigen positiv, die unter dem Einfluss des durch die protestantische Arbeitsethik geprägten Kapitalismus stehen. Für sie war die väterliche Liebe ein Lohn, den man sich durch Arbeit verdienen konnte. Wer sich weigerte, für diese Liebe Arbeit zu leisten, brach den Arbeitsvertrag. Sehnte man sich stattdessen nach dem Paradies einer bedingungslosen mütterlichen Liebe, dann stellte man sich quer zum Zeitgeist, quer zum patriarchalen Gesetz – man wurde zum Utopisten. Es kann kaum überraschen, dass zwei Mitglieder der Frankfurter Schule, Erich Fromm(17) und Theodor W. Adorno(65), sich beide bei allen Unterschieden nach einem solchen Utopia sehnten.
Wirkte sich der Ödipuskonflikt in der Weise, wie Fromm ihn hier beschreibt, auch auf seinen eigenen Konflikt mit seinem Vater Naphthali aus(1)? Nicht ganz. Fromm(18) zog sich von einem Vater zurück, den er als neurotisch und schwach empfand. »Ich stand unter dem Einfluß eines krankhaft ängstlichen Vaters, der mich mit seiner Ängstlichkeit niederdrückte, mir zugleich keinerlei Orientierung gab und keinerlei positiven Einfluß auf meine Erziehung hatte.«[44] Stattdessen schaute er sich andernorts nach einem Ego-Ideal, nach einem Ersatzvater um. Er fand eine solche Figur in seinem Onkel Emmanuel(2) und er vertraute seiner Kusine Gertrud(1) an, dass er ihren Vater seinem eigenen vorzog.
Nicht alle Angehörigen des Frankfurter Instituts fochten derartige Kämpfe mit ihren leiblichen Vätern aus. Der Vater des marxistischen(42) Wirtschaftswissenschaftlers und führenden Politikers Henryk Grossmann(5) starb 54-jährig, als Henryk erst fünfzehn Jahre alt war, und man ist versucht zu sagen, dass sich sämtliche Kämpfe, die er gegen das Patriarchat austrug, in der Form jugendlicher politischer Aktion gegen symbolische Väter konkretisierten – dem patriarchalen Habsburgerreich und den konservativen zionistischen Ältesten in seinem Heimatland Galizien. Allerdings verlief sein Leben eher außerhalb der Norm der Frankfurter Schule. Geboren wurde Grossmann(6) in der galizischen Stadt Krakau(3) und in seinen frühen Jahren betätigte er sich mit derartiger Vehemenz als politischer Aktivist, dass der erste Teil seiner von Rick Kuhn(2) verfassten Biographie ohne Weiteres als Grundlage für das Drehbuch zu einem Politthriller dienen könnte.[45] Als junger Mann(7) organisierte er Streiks jüdischer Arbeiter, war in der Führung der Jüdischen Sozialdemokratischen Partei aktiv, prahlte mit Freundinnen, die als Waffenschieberinnen für die Bolschewiken tätig waren und Waffen in ihren Seidendessous versteckten; gleichzeitig theoretisierte er eingehend über spezifische Probleme des Marxismus(43), die von seinen künftigen Kollegen in Frankfurt(13) verachtet wurden – vor allem die Tendenz sinkender Profitraten im Kapitalismus.
Grossmann(8) war ein überzeugter Jude, der den Zionismus als bürgerliche Verweichlichung ablehnte. Er hatte das intellektuelle Selbstbewusstsein eines Adorno(66) und er war bereit, seine Theorien gegen die Widerstände anderer Juden zu verteidigen, die sich von seinen sozialistischen Prinzipien angegriffen fühlten, und zwar auf eine Art und Weise, die anderen Frankfurter Wissenschaftlern fremd war. Wenn der Kapitalismus die ökonomische Umsetzung der patriarchalen Gesellschaft war und die europäischen Großreiche (vor allem das russische(3), das deutsche und das Habsburgerreich) deren düsterer Schwanengesang waren, dann war Grossmann(9) ein Diener ohne Herr, ein Revolutionär ohne Vater, der sich keiner anderen Autorität als ausschließlich der Theorie des Marxismus(44) beugte, wie sie durch die Schriften von Lukács(7) und Lenin(1) vermittelt wurde.
Ein Zwischenfall im Jahr 1906 war typisch für Grossmann(10). Er kam zu einer Ansprache nach Chrnazów(1), einer kleinen Stadt im heutigen Südwestpolen(2), in der seine Jüdische Sozialdemokratische Partei die damals überwiegend jüdische Bevölkerung dazu motivieren wollte, sozialistische Vereine und Gewerkschaften als Gegengewicht zu den chassidischen Anführern zu gründen. Das Unternehmen ging gründlich schief. Der Mittelklassestudent aus Krakau(4) und seine adrett gekleideten Begleiter fielen im Schtetl auf wie bunte Hunde. »Chassidische Fanatiker«, so Kuhn(3), hätten eine große Menschenmenge dazu angestachelt, Grossmann(11) zu verprügeln und ihn und seine Kameraden aus der Stadt zu jagen. »Die Geldverleiher und Kapitalisten von Chrnazów (2)hatten die Sozialisten diffamiert und ihnen die Absicht unterstellt, Pogrome wie in Russland(4) zu organisieren.« Dabei hieß es auf Grossmanns(12) Parteiflugblatt, das in der Stadt verteilt worden war: »Wir wollen nur die Situation der Arbeiter verbessern, wollen ihnen die Augen öffnen und sie aufklären.«
Damit war die Sache allerdings noch nicht abgetan. Grossmanns(13) Partei warnte: »Wir werden sehen, wer stärker ist – Hunderttausende organisierter Arbeiter oder eine Bande von Schwindlern und Geldverleihern.«[46] Elf Monate nachdem man ihn zusammengeschlagen hatte, verklagte Grossmann(14) die Angreifer erfolgreich vor einem Gericht in Chrnazów(3). Die Geschichte zeigt, dass Grossmann(15) in der Frankfurter Schule eine Ausnahmeerscheinung war: ein waschechter Intellektueller aus der Arbeiterklasse und einer, der für den Sozialismus und das Wohl der Juden auf die Straße ging – auch wenn das bedeutete, dass er sich mit anderen Juden anlegen musste.
Grossmanns(16) biographischer Hintergrund ähnelt teilweise demjenigen von Carl Grünberg(1) (1861–1940), einem in Rumänien geborenen, marxistischen(45) Philosophen, der, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, 1924 der erste Leiter des Instituts für Sozialforschung wurde. Beide waren vaterlose Juden aus den Randbereichen des Habsburgerreichs. Beide waren deutlich älter als ihre Kollegen in Frankfurt(14), die dann später die interdisziplinäre, intellektuelle Strömung namens Kritische Theorie entwickelten, für welche diese beiden Marxisten(46) mit wissenschaftlichen Neigungen von ihrer Veranlagung her nicht empfänglich waren. Grünberg(2) war zum Katholizismus konvertiert – teilweise, um seine Stelle als Professor für Rechts- und Politikwissenschaft an der Universität Wien(2) nicht zu gefährden; und während Grossmann(17) sein Judentum nie definitiv ablegte, waren beide doch im Grunde materialistisch eingestellt und lehnten religiöse Vorstellungen eher ab. Man darf sicher sagen, dass Grünberg(3) für Grossmann(18) zu einem Ersatzvater wurde – jedenfalls mit Sicherheit zu einem Ego-Ideal, denn er war der erste bekennende marxistische(47) Professor an einer deutschsprachigen Universität. Er zeigte dem Jüngeren, dass eine respektable akademische Laufbahn durchaus nicht ausgeschlossen war. Als Grünberg(4) in Wien(3) im Jahr 1906 als junger Professor tätig war, hatte der junge Grossmann(19) seine Seminare besucht.
Später wurde Grünberg(5) Grossmanns akademischer Förderer, er unterstützte und beriet ihn in seiner Entscheidung für ein Habilitationsthema, das Grossmann(20) den Eintritt in die akademische Welt ermöglichen sollte. (Noch 1925 – Grossmann(21) war damals 44 Jahre alt und Professor in Warschau(1); er musste nach Polen(3) fliehen, wo es ihm aus Furcht vor politischer Verfolgung schwerfiel, akademisch zu arbeiten – war es Grünberg, der für Grossmann(22) eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter an dem vielversprechenden marxistisch(48) orientierten Institut in Frankfurt(15) organisierte. Grünberg(6) war im Jahr zuvor zum Leiter der Frankfurter Schule ernannt worden.)
Nun erscheint Grossmann(23) zwar in der Darstellung seiner frühen Jahre als Straßenkämpfer als Held der Revolution, allerdings wird diese Geschichte von seiner Tätigkeit während des Ersten Weltkriegs diskreditiert: Der Mann mit den bis dato tadellosen radikalen Referenzen wurde Funktionär im habsburgischen Kaiserreich. Während seines Versuchs, sich in Wien(4) eine akademische Karriere aufzubauen, erhielt er im Februar 1915 den Einberufungsbefehl zum 5. Feldartillerieregiment der österreichischen(2) Armee und war im Jahr darauf an Kämpfen gegen russische(5) Streitkräfte beteiligt. In der flachen, bewaldeten, morastigen Region Wolhynien in der heutigen Ukraine(1) war seine Einheit in die Abwehr der russischen(6) Offensive verwickelt. Grossmanns(24) Biograph bemaß den Verlust der österreichisch(3)-ungarischen(1) Armee in diesem russischen(7) Feldzug auf eine Million Männer. Grossmann(25) gehörte nicht zu den Gefallenen.
Man schätzte ihn mehr aufgrund seiner intellektuellen als seiner kriegerischen Fähigkeiten, er wurde von der Front abberufen und einer militärischen Ideenschmiede im Kriegsministerium zugeordnet. Dort arbeitete er sich zum Rang eines Leutnants hoch; er war verantwortlich für die Abfassung von Berichten über die Koordination der Kriegswirtschaft. So berechnete er beispielsweise, welche Kosten es dem österreichisch(4)-ungarischen(2) Reich verursachen würde, seine Kriegsgefangenen zu behalten und zu versorgen, und wie hoch der entsprechende Aufwand für habsburgische Kriegsgefangene in anderen Ländern war. Der marxistische(49) Ökonom wirkte außerdem an der Ausarbeitung von Papieren für den habsburgischen Außenminister Graf Czernin(1) mit, zur Vorbereitung auf die Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk(1), wo er mit der von Leo Trotzki(1) und Karl Radek(1) angeführten bolschewikischen Delegation zusammentraf. Trotz seiner Referenzen als Radikaler arbeitete Grossmann(26) also für die falsche Seite, und es gibt auch keinen Hinweis darauf, dass er an der gescheiterten Revolution des Jahres 1918 in Österreich(5) beteiligt gewesen war. Erst im folgenden Jahr wandte er sich im Zuge seiner Rückkehr nach Warschau(2) auch der aktiven kommunistischen Politik wieder zu.[47]
Viele Mitglieder jener Vereinigung, aus der wenige Jahre später die Frankfurter Schule hervorgehen sollte, waren überwiegend zu jung, hatten zu viel Glück oder zu viel Chuzpe, um in welcher Funktion auch immer Kriegsdienst zu leisten. So war etwa Adorno(67) bei Kriegsende erst fünfzehn Jahre alt; während des Krieges sammelte er Modelle diverser Kriegsschiffe aus dem Schreibwarengeschäft in der Nähe seiner Schule, las ein Taschenbuch über Kriegsflotten und träumte davon, Kapitän auf einem Kriegsschiff zu sein. Sein jüdischer Vater Oscar(12) hingegen empfing seinen Einberufungsbescheid und wurde später für seine Leistungen im Krieg ausgezeichnet – eine Ehre, welche allerdings den Nazis, die ihn dann in den 1930er Jahren ins Exil trieben, nichts bedeutete.[48]
Horkheimer(59) blieb bis 1916 eine Einberufung erspart, doch auch dann wurde er nicht an die Front geschickt. Und das war wohl gut so, denn damals war er Pazifist, durch seine Reisen geheilt vom nationalistischen Furor so vieler seiner Landsleute. »Ich hatte Paris(10) und London(2) gesehen und konnte nicht glauben, daß die Menschen dort so viel kriegslustiger waren als unser friedliebender Kaiser«, schrieb er(60) später, »so viel schlechter als ich, daß ich nun auf sie schießen sollte … Mein Glaube an die Lehren des Vaterhauses über das Deutsche Reich geriet ins Wanken, und ich hatte das Gefühl, daß etwas Furchtbares, etwas nie wieder Gutzumachendes in Europa(9), ja in der Menschheit sich ereignete.« 1914 hielt er fest: »Ich haße die Armeen, die vorwärtsmarschieren, um Eigentum zu schützen … Ihre Waffen werden von bestialischen Motiven geführt – Motiven, die überwunden werden müssen durch unseren Drang nach Aufklärung, die zerstört werden müssen, wenn wir wirklich Menschen sein wollen.« In einer Jochai betitelten Kurzgeschichte stellte er(61) sich den Ausbruch eines Einzelnen aus dem Kampfgeschehen vor: »Nicht zu morden zwang ihn, den Juden, die Empörung, sondern die Verzweiflung aller Sklaven hinauszuschreien zu den Ohren der Herren, selbstzufriedenen Gleichmut, gewissenstrügende Scheinwelt zu zerstören, Lügen totzuschlagen, mit unentrinnbaren Gründen zu überreden: geistig zu siegen.«[49] Horkheimer(62) selbst floh nie schreiend aus der Schlacht, allerdings kann man diesen Absatz schwerlich anders denn als eine Projektion lesen, in welcher Horkheimer(63) sich selbst in den Wahnsinn des Krieges hinein fantasiert, von dem er sich mit allen Mitteln distanzierte.
Horkheimers(64) Gedanken spiegeln das skeptische Verhältnis der deutschen Linken zum Krieg im Jahr 1914 wider. Die SPD, die führende Kraft der deutschen Arbeiterbewegung und größte politische Partei, organisierte als Reaktion auf die Ermordung des österreichischen(6) Erzherzogs Franz Ferdinand(1) im Juli 1914 Antikriegsdemonstrationen. Im darauffolgenden Monat jedoch, nachdem Deutschland(12) dem Russischen(8) Reich den Krieg erklärt hatte, wurde auch die SPD von der nationalen Kriegsbegeisterung eingeholt. Im Dezember wurde Karl Liebknecht(2), der einzige Abgeordnete, der sich gegen Kriegsanleihen aussprach, daran gehindert, in der Fraktion zu sprechen, um seine Entscheidung zu erklären; er ließ daher ein Flugblatt verteilen, mit dem er forderte, deutsche Soldaten sollten ihre Waffen lieber gegen ihre eigene Regierung richten und sie stürzen. Er gab zu Protokoll: »Es handelt sich um einen imperialistischen Krieg, einen Krieg um die kapitalistische Beherrschung des Weltmarktes, um die politische Beherrschung wichtiger Siedlungsgebiete für das Industrie- und Bankkapital(3).«[50] Er wurde wegen Hochverrat inhaftiert, so wie später auch Rosa Luxemburg(2), die Sozialistin, mit der er in den Jahren 1918 und 1919 die schließlich gescheiterte deutsche Revolution anführte.
Walter Benjamin(122), damals ein 23 Jahre alter Student, teilte Liebknechts(4) und Luxemburgs(3) sozialistische Bewertung des Krieges und beschloss daher, sich der Einberufung zu entziehen. Im Oktober 1915 besiegelten Benjamin(123) und Gershom Scholem(4) ihre Freundschaft, indem sie die ganze Nacht aufblieben und bis um sechs Uhr morgens immense Mengen schwarzen Kaffee in sich hineinschütteten. Das Kaffeetrinken – wenn auch nicht die Konversation über Themen der Kabbala, des Judentums und der Philosophie – war »eine Praxis, derer sich damals viele junge Männer vor ihrer militärischen Musterung bedienten«, so Scholem(5) in seinem Erinnerungsbuch Walter Benjamin(124) – die Geschichte einer Freundschaft.[51] Der Trick bestand darin, mittels übermäßigen Kaffeekonsums eine Herzschwäche zu simulieren – und er funktionierte. Später am selben Tag stellte sich Benjamin zur medizinischen Untersuchung vor, und seine Einberufung wurde aufgeschoben.
Benjamin(125) konnte sich der nationalistischen Stimmung in seiner Heimat ebenso wenig anschließen wie Horkheimer(65). Zu Beginn des Krieges hatte Benjamin sogar einen schmerzhaften Bruch mit einem seiner ersten geistigen Mentoren vollzogen, dem Reformpädagogen Gustav Wyneken(1), und zwar eben, weil dieser den Krieg befürwortete. Wyneken hatte im Jahr 1905 den jungen Benjamin(126) in dem fortschrittlichen Privatinternat Haubinda in Thüringen(1) unterrichtet. Dort war der junge Walter(127) sehr eingenommen von Wynekens Lehre einer Jugendkultur, wobei der Reformpädagoge von einer moralischen Überlegenheit der Jungen über die Alten ausging. Von Wyneken(2) lernte er, dass die Jugend, die Menschheit von morgen, dazu erzogen werden konnte, als Ritter den »Geist« zu beschützen, die geistigen Werte der Kunst. Wir wissen nicht, was Walters Vater, der für Wyneken(3) wahrscheinlich die alte, korrupte Ordnung repräsentierte, gedacht haben mag, wenn er die Rechnungen für die Erziehung seines Sohnes zur Kenntnis nahm; und auch seine Ansichten über die späteren Ausflüge seines Sohnes in die studentische Politik kennen wir nicht, die unter dem Vorzeichen standen, dass sich die Jugend für das »heiligste Werk der Menschheit« einsetzen solle.
Als dann aber der Krieg begann, verließ Benjamin(128) Wynekens(4) Freien Schulverband anlässlich eines Essays seines früheren Lehrers mit dem Titel »Der Krieg und die Jugend«, in dem der Krieg als ethisches Erlebnis für die Jugend dargestellt wurde. In einem Schreiben an Wyneken(5) beschuldigte Benjamin(129) ihn, die Jugend auf dem Altar des Staates zu opfern. Im Jahr darauf las er auf Scholems(6) Anregung hin Die Internationale: Zeitschrift für Theorie und Praxis des Marxismus(50), die theoretische Monatsschrift der »Gruppe Internationale« von Luxemburg(4) und Liebknecht(5). Aus dem Anhänger einer ethisch geprägten Jugendkultur wurde ein reifer, wenn auch eklektizistischer marxistischer(51) Philosoph(130).[52]
Für einige der führenden Köpfe der Frankfurter Schule war der Erste Weltkrieg so etwas wie ein Sturm, der aus sicherem Abstand beobachtet wurde – eher der Erfahrungsmodus, den Kant(1) mit dem Erhabenen verbindet. Nachdem sich Benjamin(131) der Einberufung entzogen hatte, begab er sich nach München(2). Er schrieb an Scholem(7) im Oktober 1915: »Bei meiner letzten Musterung erhielt ich ein Jahr Aufschub, und obwohl ich kaum hoffen kann, daß der Krieg in einem Jahr zu Ende ist, plane ich, zumindest für einige wenige Monate in München friedlich zu arbeiten.« Er sollte dann später die letzten Kriegsmonate in der Schweiz(1) mit Studien für sein Doktorat an der Universität Bern verbringen(132).[53]
Benjamins(133) Einstellung zum Krieg steht im Kontrast zu derjenigen eines anderen deutschsprachigen, jüdischen, mystisch veranlagten Philosophen. Ludwig Wittgenstein(1) arbeitete an seinem großen philosophischen Text, dem Tractatus logico-philosophicus, während er 1916 als Freiwilliger an der Ostfront für die österreichische Armee diente – unwissentlich ein Kriegskamerad Henryk Grossmanns(27). Während er auf seinem Beobachtungsposten saß, schrieb Wittgenstein(2), er fühle sich »wie der Prinz in einem verzauberten Schloss«, während er voller Spannung den nächtlichen Artilleriebeschuss erwartete. Am Morgen danach hielt er fest: »Hin und wieder hatte ich Angst. Das ist der Fehler einer falschen Lebenseinstellung(3).«[54] Keiner der Denker der Frankfurter Schule, die wir bislang kennengelernt haben, hätte solche Sätze schreiben können: Für die meisten war der Krieg kein aufregendes Abenteuer, in dem sich die eigene Entschlossenheit und persönliche Philosophie austesten ließen, sondern eine Katastrophe, die es zu vermeiden galt, koste es, was es wolle.
Herbert Marcuse(13), der zukünftige Held radikaler Studenten, verfügte nur über beschränkte Kriegserfahrungen.[55] Er war im Jahr 1916 zu einer Reservedivision einberufen worden, nachdem er seine letzte Prüfung am Gymnasium abgelegt hatte, allerdings blieb er aufgrund seiner Sehschwäche in Deutschland(13). Er hatte nur wenig zu tun, sodass er während seines Einsatzes bei der Zeppelin-Reserveeinheit nebenher noch Vorlesungen besuchen konnte. Trotzdem gab er an, durch seine Erfahrungen in der Armee und während der deutschen Revolution des Jahres 1918 politisch maßgeblich geprägt worden zu sein. Fest steht, dass er(14) 1917 aus Protest gegen den Krieg in die SPD eintrat – eine sonderbare Entscheidung, zumal im selben Jahr die USPD (die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschland(14)) gegründet wurde, und zwar weil die SPD eine so positive Einstellung zum Krieg vertrat; Marcuse(15) erwog auch nicht, sich der Spartakistenfraktion von Rosa Luxemburg(5) und Karl Liebknecht(6) anzuschließen.
Erst spät im Jahr 1918 begann der junge Marcuse(16), sich zu radikalisieren. Deutschlands sich rapide verschlechternde militärische Situation und die immer häufiger werdenden Streiks erhöhten die Möglichkeit einer deutschen Revolution im Gefolge der bolschewikischen Revolution des vergangenen Herbstes. Im Oktober rebellierten Matrosen in Kiel; eine sozialistische Republik nach sowjetischem Vorbild wurde, wenn auch nur für kurze Zeit, in Bayern gegründet – Horkheimer(66) und Pollock(11) beobachteten sie, wie Rolf Wiggershaus bemerkte(1), »eher aus vornehmer Distanz«.[56] Die revolutionäre Energie breitete sich nach Berlin(33) aus, wo Marcuse sich einem Soldatenrat anschloss. Im November wurden Liebknecht(7) und Luxemburg(6) aus dem Gefängnis entlassen und riefen einen Tag später in Berlin eine Freie Sozialistische Republik aus. Marcuse(17), ergriffen vom revolutionären Furor, wurde Mitglied der kommunistischen Bürgerverteidigungswehr von Berlin(34). Eines Tages befand er sich auf dem Alexanderplatz, er hatte den Auftrag, auf rechtsstehende Scharfschützen zu zielen, die ihrerseits linksgerichtete Demonstranten und Revolutionsagitatoren ins Visier nahmen.
In den letzten Tagen des Jahres 1918 hielten der Spartakusbund, die USPD und die Internationalen Kommunisten Deutschlands (IKD) einen Kongress ab, der am Neujahrstag 1919 in die Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands unter der Führung von Luxemburg(7) und Liebknecht(8) mündete. Damals sagte Luxemburg:
Siebzig Jahre der großkapitalistischen Entwicklung haben genügt, um uns so weit zu bringen, dass wir heute Ernst damit machen können, den Kapitalismus aus der Welt zu schaffen. Ja noch mehr: Wir sind heutzutage nicht nur in der Lage, diese Aufgabe zu lösen, sie ist nicht bloß unsere Pflicht gegenüber dem Proletariat, sondern ihre Lösung ist heute überhaupt die einzige Rettung für den Bestand der menschlichen Gesellschaft(8).[57]
Doch diese Hoffnungen wurden schnell zunichtegemacht. Der SPD-Führer Ebert(1) trommelte rechtsgerichtete Kriegsveteranen zusammen, die die Revolution zerschlagen sollten, und am 15. Januar wurde der entscheidende Schlag ausgeführt. Luxemburg(9) und Liebknecht(9) wurden gefangen genommen und ermordet. Rosa Luxemburg(10)s Leiche wurde vom Freikorps in den Berliner(35) Landwehrkanal geworfen. In seinem Gedicht Epitaph 1919, verfasst ein Jahrzehnt nach ihrem Tod, schreibt Brecht(1):
Die rote (11)Rosa nun auch verschwand.
Wo sie liegt, ist unbekannt.
Weil(2) sie den Armen die Wahrheit gesagt,
Nach den Morden trat Marcuse(18) aus der SPD aus. Die Sozialdemokraten hatten für ihn wie für so viele andere linksgerichtete Deutsche damals die Hoffnungen auf ein neues Nachkriegsdeutschland verraten und stattdessen gemeinsame Sache mit dem preußischen Militärestablishment gemacht, indem sie diesem unter der neuen Regierung von Friedrich Ebert(2) erlaubten, seine Hierarchien aufrechtzuerhalten. Die Weimarer Republik(1) wurde aus dem Blut der sozialistischen Märtyrer geboren.
Erstaunlich bei Marcuse(19) ist nun allerdings – und seine Erfahrung steht symbolisch für diejenige der Mitglieder der Frankfurter Schule –, dass er sich nach dem Scheitern der Revolution in Bücher vergrub und herauszufinden versuchte, warum eine Neuauflage der Russischen Revolution(9), die für ihn so inspirierend gewesen war, in Deutschland(15) nicht gelang. Jahre später wurde er gefragt, warum er sich nicht wie seine marxistischen(52) Genossen Georg Lukács(8) und Karl Korsch(1) der Kommunistischen Partei angeschlossen habe. »Ich weiß es einfach nicht«, sagte er(20) in einem Interview aus dem Jahr 1972:
Als ich von Berlin(36) nach Freiburg(4) ging, das war schon 1919, war das Leben in Freiburg völlig unpolitisch … Ich bin jedoch immer mehr politisch geworden in dieser Zeit. Es war deutlich, daß der Faschismus kommen würde, und das hat mich zu einem intensiven Studium von Marx(53) und Hegel(3) gebracht. Freud(8) kam etwas später. Alles in der Absicht zu verstehen, warum eigentlich zu einer Zeit, wo wirklich die Bedingungen einer authentischen Revolution gegeben waren, diese Revolution zusammengebrochen ist oder niedergeschlagen worden ist, die alten Mächte wieder an die Gewalt kamen und die ganze Sache in schlimmerer Form wieder von vorne anfing(21).[59]
Jahrzehnte später kam es zu einer schmerzlichen Coda jener von den führenden Frankfurter Gelehrten in ihrer Jugend ausgetragenen Ödipuskonflikte. Viele von ihnen hatten vormals gegen die väterliche Autorität rebelliert, nun aber gelangten sie dahin, dass sie – im Zusammenhang mit der Zerstörung der bürgerlichen Familie in der totalitären Gesellschaft unter den Nazis – den Untergang eben jener Autorität bedauerten. Horkheimer(67) schrieb im Jahr 1941 im amerikanischen Exil, in einer Phase, da die Nazis auf dem Höhepunkt ihrer Macht standen:
Während der Blütezeit der Familie repräsentierte der Vater für das Kind die Autorität der Gesellschaft, und die Pubertät war der unausweichliche Konflikt zwischen diesen beiden. Heute dagegen ist das Kind mit der Gesellschaft unmittelbar konfrontiert, und der Konflikt ist gelöst, bevor er auch nur aufkommen kann. Die Welt ist so besessen von der Macht des Gegebenen und den Anstrengungen, sich daran anzupassen, daß die Rebellion des Heranwachsenden, der sich einst gegen den Vater auflehnte, weil dessen Handlungsweisen seiner eigenen Ideologie zuwiderliefen, gar nicht mehr entstehen kann(68).[60]
Der Vater als Patriarch, der zuvor ein Diener des protestantischen kapitalistischen Staates gewesen war und sichergestellt hatte, dass dessen Werte an die kommende Generation weitergegeben wurden, war so gesehen nicht länger notwendig. Vater und Familie waren die Weichensteller für die kapitalistische Kultur gewesen, ähnlich wie die Schreiber in den Klöstern Macht gehabt hatten, weil sie über das Monopol auf die Weitergabe des Wortes Gottes verfügten. Doch ebenso wie die Einführung der Druckerpresse diese Schreiber überflüssig gemacht hatte, so hatte auch der Aufstieg der totalitären Gesellschaft die Macht des Vaters und die Institution Familie überflüssig gemacht. Der Ödipuskonflikt, den Freud(9) noch als Naturgegebenheit der menschlichen Gesellschaft angesehen hatte, musste offenbar mit einem Verfallsdatum versehen werden. Erich Fromm(19) hatte vermutet, dass der Ödipuskonflikt einen Anfang hatte, und nun konstatierte Horkheimer(69) dessen Ende. »Seit Freud(10) hat sich die Beziehung zwischen Vater und Sohn umgekehrt«, hielt er fest. »Das Kind, nicht der Vater steht für die Realität. Die Ehrfurcht, die dem Hitlerjungen von seinen Eltern entgegengebracht wird, ist lediglich der politische Ausdruck eines allgemeinen Zustands(70).«[61]
Diese melancholischen, bedauernden, fast schon konservativen Gedanken wurden wenige Jahre später von Adorno(68) in Minima Moralia aufgegriffen, einer Schrift, die er aus Anlass der Feier von Horkheimers(71) fünfzigstem Geburtstag am 14. Februar 1945 verfasst hatte, also zu einer Zeit, als beide Männer sowie das Institut selbst sich im amerikanischen Exil befanden. In einem frühen Abschnitt des Buches schreibt Adorno(69): »Das Verhältnis zu den Eltern beginnt traurig, schattenhaft sich zu verwandeln. Durch ihre ökonomische Ohnmacht haben sie ihre Schrecken verloren. Einmal rebellierten wir gegen ihre Insistenz auf dem Realitätsprinzip, die Nüchternheit, die stets bereit war, in Wut gegen den Nicht-Entsagenden umzuschlagen.«[62] Diese Bemerkung erinnert an die Schuld des kläglichen Sohnes in Kafkas(15) Das Urteil, der hofft, dass die väterliche Potenz wiederhergestellt werde (wenn auch nicht an den kafkaesken Albtraum, der sich anschließt, als sich diese Hoffnung erfüllt).
Das Realitätsprinzip, das Adorno(70) hier anspricht, wurde von Freud(11) in seinem Werk Das Unbehagen in der Kultur in Kontrast zum Lustprinzip gesetzt. Letzteres, so die Annahme Freuds(12), leite uns durch die Kindheit – wir folgen unserem Es, indem wir unseren Drang nach Genuss befriedigen. Das Realitätsprinzip ist das erwachsene Korrektiv dieser kindlichen Lässigkeit, die Kraft des Ego, das sicherstellt, dass wir uns auf gesellschaftlich akzeptable Art verhalten, und das daher mit dem Verzicht – oder der Unterdrückung –, die Adorno(71) beschreibt, einhergeht. Freud(13) sah in der Kultur einen ständig zunehmenden Unterdrückungsprozess am Werk, aus dem es offenbar kein Entkommen gibt. Wir werden sehen, dass Marcuse(22) auf diesen Pessimismus mit seinem 1955 erschienenen Buch Triebstruktur und Gesellschaft: Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud(14) antwortete, in welchem er argumentiert, dass zur Befreiung auch die Freisetzung des unterdrückten Lustprinzips gehöre. In seiner Analyse, in der Marcuse die Gedanken von Marx(54) und Freud(15) verknüpft, legt er die Befreiung des Lustprinzips als eine Aushöhlung des Realitätsprinzips aus: »Die Menschen leben nicht ihr eigenes Leben, sondern erfüllen schon vorher festgelegte Funktionen. Während sie arbeiten, befriedigen sie damit nicht ihre eigenen Bedürfnisse und Fähigkeiten, sondern arbeiten entfremdet(23).«[63]
Marcuses(24) Cocktail aus Marx(55) und Freud(16) gehörte allerdings der Zukunft an, er war eine der theoretischen Unterfütterungen der libidinös geprägten, radikalen Rebellion gegen eine repressive Gesellschaft in den 1960er Jahren – mit anderen Worten, gegen »den Mann« oder die Macht des symbolischen Vaters. Adorno(72) ging es, als er in den 1940er Jahren Minima Moralia verfasste, nicht so sehr um patriarchale Macht als vielmehr um die elterliche Ohnmacht, eine Ohnmacht, die geboren war aus der Aufweichung der gesellschaftlichen Rolle der Familie in kollektivistischen Gesellschaften allgemein und besonders in Nazideutschland(16). In der Tat: Der Tod der väterlichen patriarchalen Macht war einerseits – jedenfalls früher einmal – ein auf das Innigste zu wünschendes Ziel gewesen. Andererseits formulierte Adorno(73): »Noch die neurotischen Absonderlichkeiten und Mißbildungen der alten Erwachsenen repräsentieren den Charakter, das menschlich Gelungene, verglichen mit der pathischen Gesundheit, dem zur Norm erhobenen Infantilismus.«[64] Man gewinnt den Eindruck, Adorno(74) schreibe hier mit der zärtlichen Einfühlsamkeit eines Sohnes für seine geliebten Eltern und hebe sie von dem ab, was ihre Macht verdrängte: die von den Nazis eingeführten Organe gesellschaftlicher Kontrolle(75).
Pathische Gesundheit? Zur Norm erhobener Infantilismus? Hier fallen einem fast automatisch die Hitlerjugend in ihren kurzen Hosen oder Leni Riefenstahl(1)s faschistischer Körperkult ein. Als Adorno(76) diese Zeilen niederschrieb, war seine Tante Agathe(2) bereits gestorben, doch sowohl Oscar(13) als auch Maria(4) lebten mittlerweile – nicht zuletzt aufgrund der großen Anstrengungen Adornos(77), seine Eltern aus Nazideutschland fortzuschaffen – in New York(1). Sie verkörperten die Erinnerung an eine idyllische Kindheit und an eine Welt vor den Nazis. Der Titel dieses Kapitels der Minima Moralia – »Rasenbank« – spielt auf ein bekanntes deutsches Volkslied an: »Der liebste Platz, den ich auf Erden hab, / Das ist die Rasenbank am Elterngrab.« Pietät gegenüber den Eltern hatte den ödipalen Kampf ersetzt: »Es gehört zu den symbolischen Untaten der Nazis, uralte Leute umzubringen. In solchem Klima stellt ein spätes und wissendes Einverständnis mit den Eltern sich her, das von Verurteilten untereinander, gestört nur von der Angst, wir möchten, selber ohnmächtig, einmal nicht fähig sein, so gut für sie zu sorgen, wie sie für uns sorgten, als sie etwas besaßen(78).«[65]
Unter solchen Umständen können wir Adorno(79) vielleicht seine Verteidigung der Familie verzeihen, einer Einrichtung, die in der Vergangenheit wie eine Bastion des Patriarchats gewirkt hatte, eine Maschinerie, in der Kinder zu Knechten des Kapitalismus geschmiedet wurden. Adorno(80) war mittlerweile zu der Auffassung gelangt, dass die Familie durchaus nicht eine Instanz sei, gegen die man unbedingt rebellieren musste, sondern vielmehr der Hort des Widerstands gegen eine totalitäre Gesellschaft(81):
Mit der Familie zerging, während das System fortbesteht, nicht nur die wirksamste Agentur des Bürgertums, sondern der Widerstand, der das Individuum zwar unterdrückte, aber auch stärkte, wenn nicht gar hervorbrachte. Das Ende der Familie lähmt die Gegenkräfte. Die heraufziehende kollektivistische Ordnung ist der Hohn auf die ohne Klasse: im Bürger liquidiert sie zugleich die Utopie, die einmal von der Liebe der Mutter zehrte(82).[66]
Diese Beschwörung mütterlicher Liebe ist heilsam. Sie evoziert nicht nur das verlorene Paradies von Adornos(83) Kindheit, sondern auch die von Fromm(20) beschriebene präpatriarchale, präkapitalistische Utopie. Würde es der Menschheit je vergönnt sein, diese Utopie umzusetzen? Allem Anschein nach war das unwahrscheinlich – oder jedenfalls lag dieses Utopia Welten entfernt. Das Leben selbst war komplizierter, die intellektuellen Anforderungen waren anspruchsvoller als utopisches Tagträumen. Adornos Biograph(1) schrieb hierzu:
Adornos(84) Erwartung, in einer humanen Welt des gegenseitigen Respekts und der Solidarität zu leben, wurde im Laufe seines Erwachsenenlebens oft enttäuscht, ohne dass er sich deshalb gegen potentielle Desillusionierung gepanzert hätte. Im Gegenteil, sich illusionslos auf die Realität einzustellen und ihre Zwänge zu antizipieren, gehört von Anfang an zu seinem Denken.[67]
Dieser Aufgabe mussten sich auch seine Kollegen am Institut für Sozialforschung stellen. Statt mit utopischen Träumen mussten sich die Denker der Frankfurter Schule mit einer Realität auseinandersetzen, die schrecklicher war, als sie es sich als Kinder oder junge Marxisten(56) in den 1920er Jahren hätten vorstellen können.