Am 22. Juni 1924 wurde das Institut für Sozialforschung in der Viktoria-Allee 17 in Frankfurt(16) am Main eröffnet. Es war eine (im Sinne des chinesischen Fluches) interessante Zeit und ein interessanter Ort für eine Gruppe jüdischer Intellektueller und Geschäftsmänner, die die Absicht hatten, ein marxistisches(57) Forschungsinstitut zu gründen. Damals beherbergte Frankfurt(17) die zweitgrößte jüdische Bevölkerung Deutschlands und hatte 1924 seinen ersten jüdischen Bürgermeister gewählt. Allerdings befand sich dort auch die Zentrale von IG Farben, der größten Chemiefabrik der Welt. In Frankfurt wurde Zyklon B hergestellt, das auf Zyanid basierende Giftgas, das später in den Gaskammern von Auschwitz(1) eingesetzt wurde.
Um einen Eindruck zu bekommen, wie sich die florierende Massenmordindustrie Frankfurts(18) auf die eigene Bevölkerung auswirkte, seien folgende Zahlen angeführt: Im Jahr 1933 belief sich die jüdische Bevölkerung Frankfurts auf 26 000 Menschen, vor Ende des Zweiten Weltkriegs waren 9000 Juden aus der Stadt deportiert worden.[1] Heute erinnern auf dem Jüdischen Friedhof der Stadt 11 135 kleine Stahlblöcke an der »Wand der Namen« an Frankfurter Bürger, die während des Holocaust getötet wurden. Die Frankfurter Juden, denen die Deportation in die Todeslager erspart blieb, starben häufig ebenfalls eines erbärmlichen Todes.
Bei Ludwig Landmann(1), dem ersten jüdischen Bürgermeister der Stadt, war dies der Fall. Als er 1924 sein Amt antrat, bemühte er sich, seine Stadt mit neuen Wohnungsbauprojekten wie dem Projekt »Neues Frankfurt(19)« humaner zu gestalten. 12 000 Wohnungen wurden gebaut, um dem akuten Wohnungsmangel in der Stadt abzuhelfen, außerdem gründete er die Nassauische Heimstätte, eine Organisation, die dafür Sorge tragen sollte, dass jeder Bürger Zugang zu einer angemessenen Wohnung hatte. Allerdings wurde Landmann 1933 von den Nazis seines Amtes enthoben und floh später in die Niederlande, wo er, nachdem er den Krieg im Exil bei Freunden und Verwandten verbracht hatte, während des schlimmen Winters 1945 an Unterernährung starb.[2] Eine Frankfurter Tageszeitung betitelte im Jahr 2015 einen Artikel über Landmann(2) mit der Überschrift »Der vergessene Oberbürgermeister«.[3]
Das Institut für Sozialforschung war nicht immun gegen den ständig anwachsenden Antisemitismus. Als sein erster Leiter, Carl Grünberg(7), die Eröffnungsrede im fertiggestellten Gebäude in der Viktoria-Allee hielt, sagte er, das Institut wolle eine Alternative zum deutschen Universitätssystem bieten, das als Kaderschmiede für »Mandarins« diene, denen nur daran gelegen sei, den Status quo aufrechtzuerhalten. Das waren wohl schöne Worte, doch als Grünberg(8) seine Rede hielt, realisierten weder er noch irgendein Mitglied seiner Belegschaft noch Hermann Weil(3), der Geschäftsmann, der das Institut gestiftet hatte, oder sein Sohn Felix(1), dessen Idee es gewesen war – keiner realisierte die Wahrheit über das Gebäude, in welchem diese intellektuelle Revolution stattfand. Der Bau war von Juden in Auftrag gegeben und von einem Nazi erbaut worden.
Franz Roeckle(1) hatte im Jahr 1908 seine Laufbahn in Frankfurt(20) mit dem Bau einer recht gelungenen Synagoge im ägyptisch-assyrischen Stil begonnen, 1933 war er allerdings bereits Mitglied der Nationalsozialistischen Partei und saß wegen seiner Beteiligung an einem Pogrom(1), der sogenannten Rotter-Affäre, in seinem Geburtsland Liechtenstein in Haft. 1933 waren Fritz(1) und Alfred Rotter(1), zwei bekannte jüdische Theaterbetreiber in Berlin(37), von Deutschland(17) nach Liechtenstein(2) geflohen: zum Teil, um einen Konkursskandal zu umgehen, der dazu geführt hatte, dass sie unter heftiger Kritik der Hitlerp(2)resse standen, hauptsächlich jedoch um den Nazis zu entkommen – Propagandaminister Josef Goebbels(1) bemühte sich, die von ihm sogenannte »judenverseuchte Amüsierbranche« in Berlin zu eliminieren. In Liechtenstein(3) versuchten vier Nazis, unter anderem Franz Roeckle(2), die Rotter-Brüder(2)(2) zu kidnappen, um sie nach Berlin zurückzuschaffen, wo sie sehr wahrscheinlich eingesperrt, wenn nicht sogar ermordet worden wären. Die Brüder schafften es, aus ihrem Hotel zu fliehen, doch in der anschließenden Autoverfolgungsjagd stürzten Alfred Rotter(1)(3) und seine Frau Gertrude von einem Steilhang in den Tod; Fritz(3) und sein Begleiter wurden schwer verletzt.
Man weiß nicht, ob der Tod von Alfred und Gertrude(2)(4) ein Unfall war, oder ob sie von Roeckle(3) und seinen Komplizen von der Straße gedrängt wurden. Die vier Nazis erhielten lediglich kurze Haftstrafen für ihre Verwicklung in die Todesfälle: Roeckle(4) und die anderen wurden sogar freigelassen, nachdem eine Petition mit siebenhundert Unterschriften ihre Aussage bekräftigt hatte (in dem kleinen deutschsprachigen Alpenfürstentum lebten viele enthusiastische Anhänger der Nationalsozialisten). »Es war ein politisches Attentat, vielleicht nicht das einzige, doch das schwerwiegendste in der Geschichte des kleinen Landes«, so die Liechtensteiner Historiker Norbert Haas(1) und Hansjörg Quaderer(1) später.[4] Sollte das tatsächlich der Fall sein, dann war der Architekt der Frankfurter Schule(5) ein antisemitischer Mörder. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wurde dies pointiert formuliert: »Zuerst hat er für Juden gebaut, dann hat er Juden in den Tod getrieben.«[5]
Auch gegenüber Marxisten(58) war Frankfurt(21) im Jahr 1924 nicht sonderlich aufgeschlossen. Heute ist die Stadt unter dem Namen »Mainhattan« bekannt, nicht nur wegen ihrer hoch aufragenden Skyline, sondern auch weil sie eine Welthauptstadt des Geschäfts- und Finanzmarkts ist, mit einer der weltweit größten Börsen und den Hauptverwaltungen sowohl der Deutschen Bundesbank als auch der Europäischen Zentralbank. In den 1920er Jahren war sie(22) bereits auf dem besten Weg, eine moderne Metropole und ein Drehkreuz der globalen Geldströme zu werden: Die Börse wurde 1879 eröffnet, der Hauptbahnhof 1888, die Universität 1914, der erste Flughafen 1926. Wie Berlin(38) so erlebte auch Deutschlands zweitgrößte Stadt nach der Vereinigung eine Bevölkerungsexplosion: Bereits 1861 lebten schon 71 462 Menschen in Frankfurt(23).[6]
Heute mutet Frankfurt(24) wie die am wenigsten historisch geprägte Stadt Deutschlands an, und vielleicht war das bereits im Jahr 1924 der Fall. Dabei hat sie einen ehrwürdigen Stammbaum und enge, symbolische Beziehungen zur deutschen Kultur und Geschichte aufzuweisen. Jahrhundertelang war Frankfurt(25) eine Freie Reichsstadt gewesen, in der der neue Kaiser des Heiligen Römischen Reiches sich auf einem Balkon präsentierte, der auf den zentralen Frankfurter Platz, den Römerberg, ausgerichtet ist. An diesen Akt schloss sich eine Feier mit Rinderbraten und Feuerwerk an.[7] Diese altehrwürdigen Zeremonien fanden nach der Zerstörung des Heiligen Römischen Reiches durch Napoleon im Jahr 1806 nicht mehr statt, doch wurde Frankfurt(26) im 19. Jahrhundert nach dem Sturz des Korsen zum Standort für das Parlament des Deutschen Bundes. Hier wurde Goethe(1) geboren, und Arthur Schopenhauer(21) erkor sich Frankfurt(27) zur Heimat, da er es in jeder Hinsicht für niveauvoller hielt als Berlin(39): »Gesundes Klima. Schöne Gegend. Annehmlichkeiten großer Städte. Das Naturhistorische Museum. Besseres Schauspiel, Oper und Concerte. Mehr Engländer. Bessere Kaffeehäuser. Kein schlechtes Wasser … und ein geschickter Zahnarzt.«[8]
Das alte glanzvolle Zentrum Frankfurts(28), der Römerberg, mit seinen verschiedenfarbigen Fachwerkhäusern, die höchstens dann noch deutscher, noch mehr wie Lebkuchenhäuser wirken würden, wenn Hänsel und Gretel aus dem Märchen heraustreten und sie anknabbern würden – dieses alte prächtige Zentrum wurde allerdings in den 1920er Jahren durch neue Bauprojekte in den Schatten gestellt. Jenseits der Altstadt(29) entstand ein anderes Frankfurt, eine Stadt aus nüchternen, stromlinienförmigen, kühl funktional-modernen Gebäuden, die von neuen, zukunftsorientierten Lebensweisen und von der stetig wachsenden industriellen Macht der Stadt kündeten. Die ersten Häuser, die als Teil des Projekts Neues Frankfurt gebaut wurden, standen in der Siedlung Bruchfeldstraße, dem vom Volksmund sogenannten Zickzackhausen, und sie gingen auf einen Entwurf des Architekten Ernst May(1) für den Bürgermeister Landmann(3) zurück. (30)Diese Anlage aus dreistöckigen, terrassierten Häusern, die heute noch existiert, umfasste alles: Spielplätze, Gärten, sogar ein Planschbecken; alles gehalten in einem nüchternen, funktional rechtwinkligen architektonischen Stil im Geiste der Ästhetik des zeitgenössischen Bauhausstils eines Walter Gropius(1).
(31)Und dann gab es die grandiosen neuen Gebäude für das Farbwerk Hoechst AG vom Architekten Peter Behrens(1), zu dessen Assistenten solche Titanen der Moderne wie Mies van der Rohe(1) und Le Corbusier(1) zählten. Die Gebäude wurden zwei Wochen vor dem Institut für Sozialforschung im Sommer 1924 eröffnet. Das protzige, ziegelverkleidete Äußere dieser Mischung aus Festung und Bauhaus ist schon eindrucksvoll genug, doch im Innern wird es noch außergewöhnlicher, noch symbolischer und deutlicher auf Deutschlands immer weiter um sich greifenden Kult hinweisend: nicht einem Gott geschuldeten, sondern der eigenen industriellen Tüchtigkeit geltenden Kult. (32)Die kathedralenartige Eingangshalle ist fünf Stockwerke hoch und mit gefärbten Ziegeln verkleidet, die an den Prozess des Färbens erinnern sollen – ein veritabler Businesstempel.[9]
Doch selbst die industrielle Großspurigkeit dessen, was heute den Namen Peter-Behrens(2)-Gebäude trägt, wurde überstrahlt durch die umwerfendste Neuentwicklung im Frankfurt(33) der 1920er Jahre. Erbaut auf einem Gelände, das früher einmal der jüdischen Bankiersfamilie Rothschild gehört hatte, war die Zentrale von IG Farben, als sie 1930 eröffnet wurde, das größte Bürogebäude in Europa(10) und blieb es bis in die 1950er Jahre hinein. Im Inneren wurden die Arbeiter zwischen den einzelnen Stockwerken mithilfe eines neuen technischen Wunderwerks transportiert, des Paternosters, der aus mehreren miteinander verbundenen Kabinen bestand, welche sich kontinuierlich an einer Endlosschleife aus zwei Ketten auf und ab bewegten.
(34)Ein Jahr vor der Eröffnung des riesigen Forschungslabors schrieb Walter Benjamin(134) einen hellsichtigen kleinen Aufsatz, in dem er den Chemiekonzern und den offensichtlich unaufhaltbaren Aufstieg des Militär- und Industriesektors ins satirische Visier nimmt. Der Essay trägt den Titel »Sürrealismus«, und Benjamin nimmt darin (wenn auch unabsichtlich) sowohl die Grauen des Holocaust als auch die Bombenangriffe der Luftwaffe auf englische Städte vorweg.[10] Es war, als würden die Verehrung der Industrie und der Glaube der Deutschen an deren technologische Leistungsfähigkeit das, worauf es einem Kommunisten wie Benjamin ankam – die sozialistische Revolution nämlich –, vollkommen verdrängen. Vor diesem Hintergrund, so Benjamin(135), ziehe er sich zurück auf
Pessimismus auf der ganzen Linie … Mißtrauen in das Geschick der Literatur, Mißtrauen in das Geschick der Freiheit, Mißtrauen in das Geschick der europäischen Menschheit, vor allem aber Mißtrauen, Mißtrauen und Mißtrauen in alle Verständigung: zwischen den Klassen, zwischen den Völkern, zwischen den Einzelnen. Und unbegrenztes Mißtrauen in I. G. Farben und die friedliche Vervollkommnung der Luftwaffe. Aber was nun, was dann?(136)[11]
Diese zutiefst verbitterten, sarkastischen Worte haben auch nach Jahrzehnten nichts von ihrer Wucht eingebüßt: Das Ausmaß von Benjamins(137) düsterer Prognose ist sogar noch gewaltiger als das zentrale Gebäude der IG Farben. Allüberall mangele es an den notwendigen Bedingungen für eine Revolution, so sein trostloser Schluss; in einer gefallenen Welt, in welcher es keine Klassensolidarität und fast keine gemeinsamen menschlichen Werte gab, war das Einzige, wovon sich die Menschen noch überzeugen ließen, der Vormarsch des technischen Fortschritts. Und was würde als Nächstes kommen? Im Rückblick können wir Benjamins(138) Frage aus dem Jahr 1929 beantworten. Als Nächstes kam die Unterstützung für Hitlers(3) Völkermord durch Frankfurts(35) führenden Industriebetrieb.
In einer solchen Stadt war es für ein marxistisches(59) Forschungsinstitut – das überwiegend von Juden betrieben und mit jüdischem Geld finanziert wurde – klug, sich bedeckt zu halten. David Ryanzow(1), Leiter des Marx(60)-Engels(1)-Instituts in Moskau(1), mit dem die Frankfurter Schule in den 1920er Jahren eng verbunden war, drängte darauf, dass das Institut unter Grünberg(9) makellos bürgerlich auftreten sollte, etwa indem es eine klare Verbindung mit der Universität Frankfurt(36) herstellte, sich nach innen jedoch in den Dienst kollektiver marxistischer(61) Forschung stellen sollte. So wurde daraus einerseits ein marxistischer Kuckuck im Kapitalistennest Frankfurt, andererseits ein den Studien des Marxismus(62) verschriebenes Kloster.
Das spiegelte sich in der Anlage des Institutsgebäudes wider: Der Schweizer Architekt Sascha Roesler(1) bezeichnete es kürzlich als »Festung der Wissenschaft«, ein Gebäude, das in seiner Architektur eine »Symbolik des Rückzugs« zum Ausdruck gebracht habe.[12] Das 1924 eröffnete Gebäude war ein asketischer Kubus, der Raum für eine Bibliothek mit 75 000 Büchern, für einen Leseraum mit sechsunddreißig Plätzen, außerdem für vier Seminarräume mit einhundert Plätzen und für sechzehn kleine Arbeitsräume bot. Es habe, so Roesler(2), aus einem »Gefüge homologer Gegensätze« zwischen Innen und Außen, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Soziologie und Gesellschaft bestanden.
Der Frankfurter(37) Kulturkritiker Siegfried Kracauer(2), Freund und Mentor vieler Angehöriger des Instituts, bemerkte anlässlich seines Besuchs im neu eröffneten Gebäude, die zellenartigen Leseräume würden an einen klösterlichen Rückzugsort erinnern, so als ob das Studium des Marxismus(63) im Deutschland(18) der 1920er Jahre die alten mönchischen Tugenden der Askese, der Demut und der Disziplin erforderlich mache; oder als sei der Marxismus(64) eine empfindliche Orchidee, die vor der stürmisch-feindseligen Umgebung draußen geschützt werden müsse. Diese orchideenhafte Empfindlichkeit blieb für einen Großteil der Geschichte der Frankfurter Schule bezeichnend: Während der Jahre im amerikanischen Exil bestand Horkheimer(72) beispielsweise darauf, dass das M-Wort und das R-Wort (Marxismus(65) und Revolution) in den Aufsätzen nicht erwähnt wurden, um die amerikanischen Geldgeber nicht zu verschrecken, und in den ausgehenden 1950er Jahren weigerte er sich, einen Text des jungen Jürgen Habermas(5) zu veröffentlichen, in welchem dergleichen Wendungen vorkamen, da er befürchtete, damit die finanziellen Grundlagen des Instituts zu gefährden, und nicht zuletzt weil er einen lukrativen Forschungsvertrag mit dem westdeutschen Verteidigungsministerium aufs Spiel setzte.
Der schmucklose, von Roeckle(6) entworfene Kubus war zwar nicht das revolutionärste Gebäude im Frankfurt(38) der 1920er Jahre, aber doch immerhin eine für die Bewohner der großbürgerlichen Villen in der Viktoria-Allee erfrischende Erweiterung. In seiner Besprechung im »Stadt-Blatt« der Frankfurter Zeitung stellt Kracauer(3) fest, dass »diese schmucklose Architektur etwas befremdend« auf den Betrachter wirke.[13] Damit hatte er sicherlich recht. Roeckle(7) baute einen fünfstöckigen Block im nüchternen Stil der Neuen Sachlichkeit. Neue Sachlichkeit wird ins Englische häufig als »New Objectivity« [Neue Objektivität] oder »New Sobriety« [Neue Nüchternheit] übersetzt, allerdings trifft das nicht ganz den Kern des deutschen Begriffs: »Sache« kann Ding, Faktum, Gegenstand oder Objekt bedeuten; »sachlich« bedeutet dementsprechend tatsachengerecht, vorurteilsfrei oder präzise; »Sachlichkeit« wäre im Englischen also am besten als »matter of factness« wiederzugeben. Diese Neue Sachlichkeit war eine künstlerische Bewegung, die im Deutschland(19) der Weimarer Republik(2) in klarer Abkehr vom Überschwang des Expressionismus entstand. An die Stelle zügelloser romantischer Sehnsucht traten Nützlichkeit und Business; an die Stelle von Träumen traten Fakten; an die Stelle des heroischen Revolutionsmoments trat die komplett durchgetaktete, nach dem 24 / 7-Prinzip verwaltete Gesellschaft; an die Stelle der Hysterie à la Nietzsche(2) trat eine pragmatische Grundhaltung, eine Mischung aus Max Webers(2) und William James’ Einstellung(1). Man könnte die Neue Sachlichkeit zum Teil als ein amerikanisch werdendes Deutschland(20) verstehen.[14]
Allerdings war die Neue Sachlichkeit durchaus nicht nur amerikanisch: Sie war auch eine deutsche Antwort auf ein deutsches Problem, zumindest auf eine deutsche ästhetische Richtung. Sei es nun der Minimalismus des gropius(2)schen Bauhauses oder die Schroffheit der frühen Dramen von Bertolt Brecht(2) wie Baal oder Trommeln in der Nacht – die Neue Sachlichkeit war einerseits eine Reaktion auf eine gefühlte Hohlheit und Hemmungslosigkeit, eine für den Expressionismus typische Überbewertung der subjektiven Erfahrung; andererseits auch – nach den Gemetzeln des Ersten Weltkriegs – ein Ruf zur Ordnung. In dieser Hinsicht griff die Architektur sicherlich Grünbergs(10) Auffassung von Marxismus(66) auf: Er sah im Marxismus(67) eher eine wissenschaftliche Methode und weniger den politischen Kampf; in seine Arbeit bezog er die Theorie nur bedingt mit ein, sie basierte eher auf harten Fakten.[15] Zu Beginn bestand Grünbergs(11) Kernbelegschaft aus Friedrich Pollock(12) und Max Horkheimer(73), die eng miteinander befreundet waren, und mit denen zusammen er die Idee entwickelte, dass das Institut sich mit dem »Wissen und Verstehen des gesellschaftlichen Lebens in seiner ganzen Bandbreite« befassen sollte. Später gesellte sich noch der im Exil lebende polnische Wirtschaftswissenschaftler Henryk Grossmann(28) hinzu sowie der deutsche Historiker und Sinologe Karl August Wittfogel(1).
Die Zielsetzung des Instituts, so Grünberg(12), beinhalte »eine neue Art der Organisation wissenschaftlichen Arbeitens«, die insofern marxistisch(68) sein sollte, als sie sich am Marxismus(69) als wissenschaftlicher Methode orientiere. Während der ersten Jahre beschäftigten sich Grünberg und seine(13) Institutsmitarbeiter mit Forschungen zur Geschichte des Sozialismus und zur Wirtschaftstheorie, und man arbeitete mit dem Marx(70)-Engels(2)-Institut in Moskau(2) bei der Erstellung der ersten Marx(71)-Engels(3)-Gesamtausgabe zusammen, allgemein bekannt unter dem prätentiösen Akronym MEGA. Diese nüchterne, faktenorientierte, ja bürokratische Grundausrichtung der Frankfurter Schule wurde nach 1928 abgelöst, als Pollock(13) und später Horkheimer(74) die Leitung des Instituts übernahmen und eine Phase spekulativen, neomarxistischen(72) Theoretisierens einleiteten, dem Grünberg und ältere Marxisten wie Grossmann(29) kritisch gegenüberstanden. Während der 1920er Jahre war das marxistische(73) Forschungsinstitut aber offensichtlich noch gänzlich vom Ethos der Neuen Sachlichkeit eingenommen.
Erst in den 1930er Jahren wandte sich dann die Frankfurter Schule unter der Leitung von Horkheimer(75), Pollock(14) und Adorno(85) verächtlich von dem Geist ab, den die Architektur des Gebäudes, in dem sie arbeiteten, zum Ausdruck brachte. Für die Männer, die die Kritische Theorie in diesem kargen, monastischen Gebäude entwickelten, bevor die Nazis sie 1933 zwangen, Frankfurt(39) und Deutschland(21) zu verlassen, wurde Gesellschaft, ja sogar das Denken unter der neuen Form von Kapitalismus, die sich in Deutschland(22) herausbildete, immer maschinenähnlicher, funktionaler. »Denken verdinglicht sich zu einem selbsttätig ablaufenden Prozeß, der Maschine nacheifernd, die er selbst hervorbringt, damit sie ihn schließlich ersetzen kann.«[16] Dies umschreibt den Umschlag vom schwärmerischen Zauber des Expressionismus in jenes Phänomen, das Max Weber(3) als Entzauberung der Welt bezeichnet hatte – er verstand unter Entzauberung eine Rationalisierung sämtlicher Bereiche menschlichen Strebens (und Adorno(86) und Horkheimer(76) leiteten von diesem Begriff dann die Herrschaft des Menschen über die Natur mittels der Wissenschaft ab) –, und von der Entzauberung zur ultimativen Vergegenständlichung: Es handelte sich um einen Prozess der Verwandlung von Ding in Mensch und von Mensch in Ding mit dem Ergebnis, dass Menschlichkeit letztlich überflüssig wird. Der Geist jener Zeit war geprägt von der Neuen Sachlichkeit.
Ein Letztes wäre noch über die Architektur des Gebäudes anzumerken. Roesler(3) entdeckte darin nicht nur den Geist der Neuen Sachlichkeit, sondern auch andeutungsweise einen Vorgriff auf jenen heroischen Stil, der sich in den Arbeiten Albert Speers(1) manifestieren sollte.[17] Ein faszinierender Aspekt: Womöglich antizipierte Franz Roeckle(8) in seinem Bau für das Institut für Sozialforschung Vorstellungen des Dritten Reiches. Mit Sicherheit steht sein letztes deutsches Bauwerk, ein Denkmal für den Geschäftsmann und Mäzen Karl Kotzenberg(1) aus dem Jahr 1940 auf dem Frankfurter Friedhof, für diesen faschistischen, heroisch-starren Stil(9). Doch dürfte der Gedanke, dass der wirtschafts- und unternehmensfreundliche Stil der Neuen Sachlichkeit faschistische Vorstellungen zum Ausdruck bringt, eigentlich keine Überraschung sein. Die Mitglieder der Frankfurter Schule sollten, wie wir sehen werden, in ihren Studien über den Nationalsozialismus zu dem Schluss kommen, dass die Verbindung Hitlers(4) zur Geschäftswelt keine Zwangsehe war, sondern vielmehr durchaus eine Liebesbeziehung zweier füreinander bestimmter Partner.
Die karge akademische Anmutung dieses Baues für ein marxistisches(74) Forschungsinstitut und die Kompromisse im Zusammenhang mit seiner Gründung wurden später von Hanns Eisler(1) gehässig aufs Korn genommen. Während eines Mittagessens im Exil in Hollywood(3) im Jahr 1941 eröffnete der Komponist und Liedtexter seinem Freund Bertolt Brecht(3) einen Plan für einen satirischen Roman: »Ein reicher alter Mann (Weil(4), der Weizenspekulant) stirbt, beunruhigt über die weltweite Armut. Testamentarisch verfügt er, dass eine große Summe für die Gründung eines Instituts verwendet wird, das Forschungen über die Ursache dieser Armut anstellen soll. Welche er natürlich selber ist.«[18]
Eisler(2) hatte nicht die Absicht, eine gute Story durch Fakten zu verunstalten. Tatsächlich hinterließ Hermann Weil(5) das Geld zur Gründung des Instituts nicht testamentarisch (er starb im Jahr 1928). Er machte vielmehr eine erste Schenkung, durch die ein jährliches Einkommen von 120 000 Mark sichergestellt war, was später durch Zuschüsse von ihm und anderen Geldgebern ergänzt wurde. Damit waren die Unabhängigkeit und Zahlungsfähigkeit der Frankfurter Schule in der Zeit des finanziellen Zusammenbruchs, der Wirtschaftsdepression und der bedrohlichen Jahre des Exils während der dreizehn Jahre des Dritten Reiches und des Holocaust garantiert.
Der Mann, der die Frankfurter Schule ermöglicht hatte, war jedenfalls eine sehr viel interessantere Gestalt als das kapitalistische Schreckgespenst, als das Eisler(3) ihn darzustellen versuchte. Hermann Weil(6) stammte aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie aus Baden[19] und hatte im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts für eine holländische(1) Getreidehandelsfirma in Argentinien(1) gearbeitet, wo er 1898 zusammen mit seinen Brüdern ein eigenes Unternehmen gründete. Er war damit so erfolgreich, dass er, als er ein Jahrzehnt später nach Deutschland(23) zurückkehrte und sich in Frankfurt(40) niederließ, der bedeutendste Getreidehändler weltweit war.
Sein Sohn Felix(2) kehrte diesem Ethos den Rücken – wie so viele andere jüdische Söhne geschäftstüchtiger Väter, die wir im letzten Kapitel kennengelernt haben. Hier wandte sich ein weiteres Mal der marxistische(75), jüdische und intellektuelle Sohn gegen die kapitalistischen Werte, mit deren Hilfe sich sein geschäftstüchtiger Vater seinen materiellen Erfolg erarbeitet hatte. Und auch hier war dieser Sohn(3) von Papas(7) Geld abhängig, um dem offenkundigen Ruf seines Schicksals zu folgen – nämlich das Wirtschaftssystem, die Grundlage des väterlichen Erfolgs, zu geißeln und über seinen Sturz zu theoretisieren. Felix(4) entwickelte sich, wie er selbstironisch anmerkte, zu einem »Salon-Bolschewiken«, der sich an die Seite derer stellte, die das kapitalistische System zerstören wollten, in welchem sein Vater(8) sein Vermögen gemacht hatte. Seine Doktorarbeit schrieb Felix(5) über die praktischen Probleme der Einführung des Sozialismus, veröffentlicht von dem deutschen Marxisten(76) und Theoretiker Karl Korsch(2).
Und in den frühen 1920er Jahren ging Felix(6) seinen Vater(9) dann um Geld an. Er hätte ihn um alles Mögliche bitten können – eine Jacht, ein Landgut, einen Porsche. Stattdessen bat er Hermann(10), ein marxistisches, multidisziplinäres, akademisches Institut zu gründen. Er wünschte, dass dieses Institut von unabhängiger Seite finanziert würde, sodass es von niemandem abhängig war, vor allem nicht vom rigiden deutschen Universitätssystem.[20] Felix(7) hoffte, seine marxistische(77) Ideenschmiede könne bei der Beantwortung der Frage helfen, warum die Revolution in Deutschland(24) gescheitert war und wie sie vielleicht in der Zukunft doch noch erfolgreich umgesetzt werden konnte.
Dass Hermann(11) sich auf den Vorschlag seines Sohnes(8) einließ, lässt sich durch zwei Umstände erklären: Erstens wollte er seinen Reichtum dafür einsetzen, Institutionen in seiner Wahlheimatstadt zu unterstützen (für die Universität hatte er bereits beträchtliche Summen gestiftet); und zweitens waren jüdische Väter seiner Generation gegenüber den Ambitionen und Projekten ihrer Söhne sehr häufig durchaus aufgeschlossen. Trotzdem ist sein Einverständnis natürlich auch etwas sonderbar: Hermann(12) war bereit, Geld für ein Institut zu investieren, das dazu beitragen sollte, eine Theorie zu erarbeiten, die auf den Sturz des ökonomischen Systems abzielte, das ihn wiederum reich gemacht hatte. Die Frankfurter Schule wurde also von demselben Wirtschaftssystem unterstützt, das zu entlarven und anzuklagen, sie angetreten war, und der Geschäftsmann und Vater(13), der es finanzierte, stand für die Werte, die sein Sohn(9) zerstören wollte. Wie auch immer: Hermann Weils(14) großzügige Finanzausstattung ermöglichte es der Frankfurter Schule, ihre Unabhängigkeit zu bewahren und den finanziellen Zusammenbruch, das Exil und den Holocaust zu überleben.
Das Bildungsministerium hatte als Namen Felix-Weil(10)-Institut für Sozialforschung vorgeschlagen, was Weil(11) jedoch in aller Bescheidenheit ablehnte. Die ursprüngliche Idee – Institut für Marxismus(78) – wurde als zu provokant verworfen. So kam es also zu der Bezeichnung »Institut für Sozialforschung«, und Weil(12) bat Carl Grünberg(14), Gründungsdirektor zu werden. Grünberg war nicht die erste Wahl: Weil(13) hatte sich ursprünglich an einen sozialistischen Wirtschaftswissenschaftler, Kurt Albert Gerlach(1), gewandt, der jedoch bereits 1922 im Alter von 36 Jahren verstarb. Grünberg(15) war Professor für Rechts- und Politikwissenschaft an der Universität Wien(5); er hatte einen guten Ruf als Spezialist für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, am bekanntesten war er für sein wissenschaftliches Journal Grünbergs Archiv. Die ersten Forschungsfelder des Instituts umriss Grünberg(16) wie folgt: internationale Gewerkschaften, Streiks, Sabotage, Revolution als Lohnbewegung, Antisemitismus als soziologisches Problem, die Beziehung zwischen Bolschewismus und Marxismus(79), Partei und Masse, Lebensstandard der Bevölkerung, der Fortschritt Deutschlands. In seiner Eröffnungsrede betonte er, dass das Institut marxistisch(80) sein werde, insofern als es sich des Marxismus als wissenschaftlicher Methode bedienen werde; und die Leitung werde nicht kollegial strukturiert sein, sondern es solle sich, wie Grünberg(17) es formulierte, um eine Diktatur handeln.[21]
Es gab auch keine offizielle Linie in Bezug auf die Frage, ob die Sowjetunion(1) Verrat an den sozialistischen Hoffnungen begehe oder deren Erfüllung sei, obwohl das Institut enge Beziehungen zu seiner Schwesterorganisation in Moskau(3) unterhielt. So vermied beispielsweise Friedrich Pollock(15) bei der Abfassung seiner Habilitationsschrift Die planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion 1917–1927 sorgfältig, Sympathie für das sowjetische System zum Ausdruck zu bringen. Er(16) nahm vielmehr eine objektivere Perspektive ein, indem er darauf verwies, dass es der Sowjetunion(2) im Hinblick auf die technische Rückständigkeit des Landes und das Ausbleiben internationaler Unterstützung natürlich schwerfiel, ihre revolutionären Ziele und ökonomischen Prognosen umzusetzen.
Die Frankfurter Schule war also bereits seit ihren Anfängen in Widersprüche verwickelt: marxistisch(81), aber nicht so marxistisch, dass sie den Marxismus in ihren Namen aufnahm. Marxistisch, aber nicht so marxistisch(82), dass sie sich dem entsprechend verhalten hätte, was Marx(83) in seinen Thesen über Feuerbach(2) formuliert hatte, Worte, die als so entscheidend für sein Gesamtwerk angesehen wurden, dass sie auf seinen Grabstein auf dem Highgate Cemetery in London(3) eingemeißelt sind: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert. Es kommt aber darauf an, sie zu verändern.« Marxistisch, aber von einem Kapitalisten finanziert. Marxistisch(84), aber ohne parteiliche Bindung – das Institut gehörte vielmehr zur Universität Frankfurt(41) und nahm auch Studenten auf, blieb dabei aber autonom und finanziell unabhängig.
Im Hinblick auf die Bedenken, die wegen der Gründung des Instituts und seines Daseinszwecks bestanden, traf Eislers(4) satirische Vision allerdings den Nagel auf den Kopf. Für Brecht,(4) vor allem, war die Frankfurter Schule ein Taschenspielertrick der Bourgeoisie: Sie gebärdete sich als marxistisches Institut, ihre Vertreter aber behaupteten gleichzeitig, dass Revolution sich nicht länger auf einen Aufstand der Arbeiterklasse verlassen könne, und weigerten sich, am Sturz des Kapitalismus aktiv mitzuwirken. Natürlich gab es Ausnahmen: In den späteren 1920er Jahren entwickelte der vom Straßenkämpfer und Revolutionär zum Akademiker aufgestiegene Henryk Grossmann(30) eine von Lenin(2) inspirierte Wirtschaftstheorie vom Untergang des Kapitalismus; er vertrat die Auffassung, dass Krisen im Kapitalismus und eine gleichzeitige Erweiterung des proletarischen Bewusstseins für eine bevorstehende Revolution notwendig seien.
Doch Grossmanns Einstellung entsprach nicht der Regel(31): Als Grünberg(18) in den späten 1920er Jahren die Leitung an Pollock(17) und dieser später an Horkheimer(77) weitergab, breitete sich in der Frankfurter Schule ein neuer, pessimistischerer Marxismus(85) aus, ein Marxismus(86), für den die Revolution nicht unmittelbar bevorstand, weil die Zunahme an Bewusstsein, die Grossmann(32) dafür vorausgesetzt hatte, unter den veränderten Bedingungen der Moderne nicht möglich war. Unter Grünberg(19) wurde das Institut bürokratisch und agnostisch; unter seinen Nachfolgern ging es in eine hinsichtlich der Theorie aufregende Periode spekulativer, multidisziplinärer Arbeit über, die mit der Gründungsphilosophie des Instituts, einem wissenschaftlichen Marxismus(87), nicht mehr viel zu tun hatte.
Während die Denker der Frankfurter Schule nun zunehmend Klarheit darüber gewannen, warum die deutsche Revolution gescheitert war, überwanden sie jedoch nie ihre Skepsis bezüglich einer möglichen zukünftigen Revolution. Zwar wurde das Institut spöttisch als »Café Marx(88)« bezeichnet, doch das gibt kaum die von seinen Mitarbeitern erzeugte nüchterne Grundstimmung wieder, die sich besser in der Architektur ausdrückte: Die Neomarxisten(89) der Frankfurter Schule waren Mönche der Moderne, die ihrer Arbeit in der Zurückgezogenheit von einer Welt, die sie nicht ändern, von einer Politik, die sie nicht beeinflussen konnten, nachgingen. Gillian Rose(1), Fachmann für Kritische Theorie, formulierte später:
Statt dass sie die akademische Welt politisierten, akademisierten sie die Politik. Diese Umstellung wurde zur Grundlage für ihre späteren Leistungen. Doch die Geschichte der Frankfurter Schule bringt diese Spannung wieder und wieder unverhüllt zum Ausdruck: Als Institution bestätigte und verstärkte sie diejenigen Aspekte des Lebens in Deutschland(25), die sie kritisierte und ändern wollte; ebenso wie sie diejenigen Aspekte des intellektuellen Bereichs bestätigte und verstärkte, die sie kritisierte und ändern wollte.[22]
Wenn es stimmt, was Rose(2) hier konstatiert, dann war die Frankfurter Schule weniger ein marxistisches Institut als vielmehr eine organisierte Heuchelei, ein konservatives Schaf im Pelz eines radikalen Wolfes.
Die Männer, die Brecht(5) verächtlich als die »Frankfurturisten« bezeichnete, verhielten sich gegenüber den Parteien reserviert und machten sich ihre Hände nie in politischen Auseinandersetzungen schmutzig (wahrscheinlich hätte Brecht(6) gesagt, dass Grossmann(33) die Ausnahme gewesen sei, die die Regel bestätigte); sie waren einfach Männer mit bequemen Jobs, die es sich im amerikanischen Exil gut gehen ließen. Jedenfalls war das die Geschichte, die sich Eisler(5) und Brecht(7) im kalifornischen(1) Exil erzählten, als sie an ihrer Satire bastelten.
Das Institut für Sozialforschung hatte seine Wurzeln in einem Ereignis, das in der Stadt Ilmenau(1) in Thüringen(2) stattfand, ein Jahr vor der tatsächlichen Gründung. Im Sommer 1923 versammelte sich eine Gruppe marxistischer(90) Intellektueller zur Ersten Marxistischen Arbeitswoche – einem Sommersymposium, das von Felix Weil(14) organisiert wurde und die praktischen Probleme der Umsetzung des Sozialismus zum Thema hatte. Im Sommer 1923 wollten die in Ilmenau(2) Versammelten wissen, warum die alten Kräfte erneut an die Macht gekommen waren; die Gesetze des als Geschichtswissenschaft verstandenen Marxismus(91) ließen vorhersagen, die Arbeiter hätten – nach der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg und der Hyperinflation, die darauf folgte – in der Überwindung des Kapitalismus erfolgreicher sein müssen. Dieses Symposium führte dann ein Jahr später zur Gründung des Instituts für Sozialforschung.
Das Problem der praktischen Umsetzung des Sozialismus war vertrackt. Das Symposium von Ilmenau(3) fand im Gefolge der deutschen Revolution der Jahre 1918 und 1919 statt, die teilweise wegen der Zerwürfnisse innerhalb der Linken gescheitert war. Man hatte den gleichen Triumph wie bei der Revolution der Bolschewiken im Jahr 1917 erringen wollen, war dann aber von sozialdemokratischen Führern und rechtsgerichteten Weltkriegsveteranen, den Anhängern der sogenannten Freikorps, niedergedrückt worden. Felix Weil(15) hegte »die Hoffnung, die verschiedenen marxistischen(92) Strömungen könnten, wenn man ihnen nur Gelegenheit gab, ihre Differenzen auszudiskutieren, zu einem ›wahren‹ oder ›reinen‹ Marxismus(93) gelangen«.[23] Eine schöne, allerdings illusionäre Hoffnung: Intellektuelle kommen nur selten zu einer Einigung, wenn sie miteinander diskutieren, und wie die neuere Geschichte zeigt, spaltete sich der Marxismus(94) in der Folge in noch zahlreichere sich befehdende Lager als selbst der Protestantismus auf.
Der deutsche Marxismus(95) ähnelte bereits im Jahr 1923 der Volksfront von Judäa in Das Leben des Brian. Da gab es zunächst und vor allem einmal den sogenannten Papst des Marxismus(96) Karl Kautsky(1), den führenden theoretischen Kopf der Sozialdemokratischen Partei. Er war der Hauptakteur der Zweiten Internationale, des weltweiten Zusammenschlusses sozialistischer Organisationen, die 1881 gegründet wurde und im Jahr 1916 wegen der Notwendigkeit einer sozialistischen Revolution und abweichender Haltungen zum Ersten Weltkrieg schmählich zusammenbrach. Abgelöst wurde sie 1919 von der Dritten Internationale oder Komintern, die im selben Jahr von Lenin(3) gegründet worden war und sich für eine weltweite kommunistische Revolution einsetzte. Kautsky(2) betonte zwar formal die Notwendigkeit einer revolutionären Überwindung des Kapitalismus, argumentierte jedoch, Marx(97) habe gezeigt, dass die Geschichte eine Abfolge unterschiedlicher Gesellschaftsformen sei und dass innerhalb jeder Gesellschaftsform die Produktion bis zu einem bestimmten Punkt zunehme, an dem sie nicht weiterwachsen könne, und dann käme es zur Revolution. So verstandene Revolutionen verlangten vom Proletariat, dass es die Geduld von Menschen, die in einer Warteschlange an einer Bushaltestelle stehen, aufbringe. Die Arbeiter müssen auf das warten, was unvermeidlich kommen wird, und dann auf den fahrenden Zug aufspringen.
1916 hatte Eduard Bernstein(1), ein Abgeordneter des Reichstags, die Unabhängige Sozialdemokratische Partei gegründet. Diese sprach sich gegen den Krieg aus, den Kautsky(3) – was ihm noch heute in marxistischen(98) Kreisen zur Schande gereicht – unterstützt hatte. Bernsteins(2) Marxismus(99) war insofern vergleichbar mit demjenigen Kautskys(4), als er die grundsätzliche Passivität des Proletariats angesichts ökonomischer Kräfte mitenthielt, die irgendwann die Bourgeoisie zerstören und die Arbeiter an die Macht bringen würden. Letztlich erklärte Bernstein(3) aber sogar die formale Verpflichtung zu einer gewaltsamen Überwindung der bürgerlichen Ordnung für überflüssig, wie Kautsky(5) sie noch forderte – Bernstein(4) war überzeugt, eine Revolution sei gar nicht notwendig.
Dann gab es Rosa Luxemburg(13) und Karl Liebknecht(10), die spartakistischen Rebellen. Es war fatal für den deutschen Marxismus(100), dass sie 1923 schon lange tot waren – ermordet, jedenfalls geht man davon aus, mit stillschweigender Duldung der SPD (wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben), die von Kautsky(6) und später auch von Bernstein(5) unterstützt wurde.
Vor allem aber, alle überragend, gab es Lenin(4), der im Oktober 1917 Kerenskis(1) provisorische sozialdemokratische Regierung in Petrograd(1) verdrängt und Russlands(10) Beteiligung am Krieg beendet hatte. Während Rosa Luxemburg(14) revolutionäre Politik als Ausdruck der Spontaneität des Proletariats verstand, sah Lenin(5) in der Partei die Führungsinstanz für das Proletariat. Die Ereignisse hatten ihm recht gegeben – die Bolschewiken führten nicht nur erfolgreich die Revolution in Russland(11) an, sie waren auch im sich anschließenden Bürgerkrieg so hervorragend organisiert, dass sie eine konzertierte internationale Aktion abwehren konnten, durch die sie verdrängt werden sollten. 1920, bei der zweiten Konferenz der Dritten Internationale, wandte sich Lenin(6) an andere Marxisten und forderte sie heraus(101): »Die revolutionären Parteien müssen jetzt mittels konkreter Taten ›beweisen‹, dass sie hinreichend intelligent und organisiert sind, dass sie einen hinreichenden Kontakt zu den ausgebeuteten Massen haben, dass sie hinreichend entschlossen und geschickt sind, diese Krise für eine erfolgreiche, siegreiche Revolution zu nutzen.«[24]
Die marxistischen(102) Intellektuellen in Ilmenau(4) und auch die Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung nahmen den von Lenin(7) hingeworfenen Fehdehandschuh nicht auf. Statt Deutschland(26) zu revolutionieren, revolutionierten sie die marxistische(103) Theorie. Zwei der bedeutendsten Teilnehmer in Ilmenau, Karl Korsch(3) und Georg Lukács(9), beide Leninisten(8), publizierten im Jahr 1923 Bücher, die mit Blick auf diese Revolution im marxistischen(104) Denken zu Schlüsselwerken wurden. In seinem Werk Marxismus(105) und Philosophie greift Korsch(4) sowohl Kautsky(7) als auch Bernstein(6) an: Ihr wissenschaftlicher Sozialismus könne weiterhin nicht mehr als eine Theorie sozialer Revolution gelten. Für Korsch war Marxismus(106) eine Form von revolutionärer Aktion, für die theoretische Diskussion und Praxis erneut zusammengeführt werden mussten. Und Korsch(5) war alles andere als ein Lehnstuhlintellektueller: Er war zweimal mit dem Eisernen Kreuz für außergewöhnliche Tapferkeit ausgezeichnet worden, obwohl er gegen den Krieg war und obwohl er sagte, er habe nie einen Säbel oder ein Gewehr in Uniform erhoben. 1919 schloss er sich der Kommunistischen Partei Deutschlands an und wurde 1923 Justizminister in der Thüringer(3) Regierung, einer Koalition aus SPD und KPD. Damals hofften einige, dieser militärische Kopf könne zum sechsten Jahrestag der sowjetischen(3) Revolution des Jahres 1917 einen Aufstand anführen. Doch der Ruf zu den Waffen erklang nie, und Korsch(6) wurde nie zum Lenin(9) Thüringens(4).
Auch Lukács(10) nimmt in seinem 1922 erschienenen Hauptwerk Geschichte und Klassenbewußtsein, in dem er eine philosophische Rechtfertigung des Bolschewismus versuchte, Korschs(7) leninistische(10) Perspektive ein.[25] Lukács(11) geht davon aus, das Proletariat werde, wenn es sich nur erst seiner historischen Rolle bewusst geworden sei, die kapitalistische Gesellschaft zerstören. Klassenbewusstsein resultierte für Lukács(12) daraus, dass das Proletariat das Produkt von Widersprüchen in der Geschichte war, allen voran der Ausbeutung der Arbeit im Kapitalismus. Dann stellt Lukács(13) jedoch eine wichtige Unterscheidung zwischen dem wahren und dem verdinglichten Bewusstsein des Proletariats an – das höhere, richtige Bewusstsein verkörpere sich in der Revolutionspartei, während das verdinglichte Bewusstsein möglicherweise gar nicht in der Lage sei, seine historische Rolle zu begreifen. Die Partei weiß also gewissermaßen, was für das Proletariat gut ist – wie es handeln muss und welche historische Bedeutung sein Leiden im Kapitalismus hat. In dieser Kluft zwischen dem wahren und dem verdinglichten Bewusstsein verortete sich dann später auch, wie wir sehen werden, die Frankfurter Schule, indem sie zu verstehen versuchte, was die vom Kapitalismus unterdrückten Individuen daran hinderte, aufzustehen und die Fesseln ihrer Unfreiheit zu sprengen – und was sie veranlasste, sich sogar stattdessen freudig mit eben jenen Fesseln abzufinden.
Revolutionsführer wie Lenin(11) litten nicht unter diesem falschen Bewusstsein; sie waren Revolutionsexperten und hatten die historische Rolle des Proletariats begriffen, das, wie Lukács(14) es in hegel(4)schen Begriffen formulierte, das Subjekt-Objekt der Geschichte sein sollte. Damit wollte er sagen, das Proletariat solle, anstatt wie zum gegenwärtigen Zeitpunkt in einer Art Kontemplation oder Passivität zu verharren, zu einem aktiven Subjekt werden, das sich an der Gestaltung einer Welt beteiligte, in der es sich weiterentwickeln konnte. Aber warum gab es überhaupt eine Kluft zwischen verdinglichtem und wahrem Klassenbewusstsein? Und eben die Antwort, die Lukács(15) auf diese Frage gab, war es, die sein Buch für die Theorie des Marxismus(107) revolutionär machte und einen tiefen Einfluss auf die Frankfurter Schule haben sollte. Um die Kluft zu erklären, entwickelte Lukács(16) den Begriff der Verdinglichung, mit dem er die marx(108)sche Analyse des Warenfetischismus im Kapital erweiterte. Die gesellschaftlichen Probleme, ja möglicherweise sogar der Grund für das Scheitern der Revolution in Deutschland(27), konnten auf ein Rätsel der Warenform zurückgeführt werden, das Marx(109) zu Beginn seines Hauptwerks thematisiert hatte.
Lukács(17) setzt sich in seinem Buch mit einer neuen Form der Entfremdung auseinander, mit der Industriearbeiter in den 1920er Jahren konfrontiert wurden. Industrienationen wie Deutschland(28), Großbritannien(2) und die USA traten jetzt in die sogenannte fordistische Ära ein, die Zeit der Massenproduktion. 1913 hatte Henry Ford(1) in Detroit(1) das erste Fließband für die Massenproduktion von Autos eingerichtet, mit dem er die Zeit, die benötigt wurde, um ein Ford Modell T zu bauen, von zwölf auf zweieinhalb Stunden reduzierte. Die neue industrielle Revolution des Fordismus veränderte die Produktion, den Konsum, die Kultur – was es bedeutete, Mensch zu sein. Indem er seine Arbeiter auf jeweils einen der vierundachtzig Schritte einlernte, die für die Autoherstellung nötig waren, und indem er Frederick Taylor(1), einen Spezialisten für Bewegungsstudien, hinzuzog, um diese Aufgaben noch effizienter zu gestalten, hob Ford(2) die Arbeitsleistung auf der Ebene der Produktion an. Dies ermöglichte ihm, nicht nur die Preise der fertigen Autos zu senken, sondern auch – und das war entscheidend – die Beziehung zwischen den Arbeitern und dem Produkt ihrer Arbeit zu verändern.[26] Für Philosophen wie bereits Spinoza(1), vor allem aber für Karl Marx(110) waren Menschen produktive Wesen, die sich nur in dem Ausmaß lebendig fühlten, wie sie durch den Einsatz ihrer spezifischen Kräfte auf die Außenwelt einwirken konnten. Massenproduktion vereitelte durch Arbeitsteilung zunehmend die Möglichkeit dieser Art von Erfüllung. Die Vorstellung von persönlich erfüllender Arbeit, in der sich handwerkliches Können ausdrückte und die anständig bezahlt wurde, war das Thema der in der Abwendung vom Maschinenzeitalter gründenden, sozialistisch-mittelalterlichen Phantasien eines William Morris(1).
Fließbänder beschleunigten die Produktionsprozesse und gleichzeitig schwächten sie die Arbeiter: Diese wurden zunehmend zu Rädchen in einer Maschine, oder – noch schlimmer – sie wurden als Arbeiter durch Maschinen ganz überflüssig. So gab es etwa in Henry Ford(3)s Autofabriken Maschinen, die Einzelteile weitaus schneller ausstanzen konnten als Menschen. Menschen passten nicht mehr in die Zielsetzung der Produktivität, ein Umstand, der auf Marxisten(111), die im Menschen ein wesenhaft produktives Wesen sahen, hätte zutiefst tragisch wirken müssen, wenn solche Begriffe in ihr theoretisches Vokabular gepasst hätten. »Wenn ich das zu Ende gebracht habe«, sagte Ford(4) über seine Autos, »dann wird jeder eins haben.«[27] Menschen wurden nicht nur zu Maschinen oder durch Maschinen ersetzt, vielmehr wollten sie selbst Maschinen besitzen – ihre Identität definierte sich durch den mehr oder weniger passiven Konsum von Massenprodukten.
Was die Kultur betrifft, so hat der Fordismus die Welt modern gemacht. Zu den in Masse produzierten Gütern gehörten nicht nur die Automobile des Modells T, sondern auch die Filme von Charlie Chaplin. Die Mechanisierung revolutionierte nicht nur die Industrie, sondern industrialisierte auch die Künste, indem sie die Möglichkeiten der Produktion und Verteilung beschleunigte. Im Vergleich mit den neuen Kunstformen – Kino, Fotografie – wirkten die alten – Romane, Gemälde, Theateraufführungen – träge und schwerfällig. Geschwindigkeit, Wirtschaftlichkeit, das Ephemere und das Unterhaltende waren die Kennzeichen der Massenkultur. Während italienische Futuristen sich in Lobeshymnen über die Entfesselung der Geschwindigkeit im Zeitalter der Maschinen ergingen, und während, wie wir sehen werden, Walter Benjamin(139) in neuen Kunstformen revolutionäres Potential witterte, lamentierten andere über das Tempo der kulturellen Produktion. »Es ergibt sich also, dass in allen Künsten, sowohl absolut wie verhältnismäßig gesprochen, die Produktion von Abhub größer ist als sie es früher war«, schrieb Aldous Huxley(1) im Jahr 1934.[28]
Doch es waren nicht nur konservative Dystopier, die sich wegen der Kultur der Massenwaren Sorgen machten. Für Denker der Frankfurter Schule wie Horkheimer(78) und Adorno(87), wenn auch nicht für Benjamin(140), hatte dieser Ausstoß an »Abhub« – an Schund – eine Funktion: Er sollte die Massen befrieden. Sogar Benjamin konnte sich über diese Zeiten mitunter kritisch äußern: »Die Erfahrung ist im Kurse gefallen. Und es sieht aus, als fiele sie weiter ins Bodenlose.«[29] Webers(4) eiserner Käfig des Kapitalismus unterwarf die Menschen während der Stunden der Arbeit; nun unterwarf sie die Kulturindustrie in ihrer Freizeit – verwandelte sie zunehmend von produktiven Wesen zu Konsumenten, machte aus von den Marxisten(112) erträumten kreativ vitalen Menschen verdummte Kinobesucher, die alle über dasselbe kichern.
In dieser vom Fordismus geprägten Moderne veränderte sich die Auffassung vom Menschsein radikal. Wie ein zudringlicher Liebhaber war der Monopolkapitalismus mit seinem protzigen neuen Motor zu schnell gekommen und führte den Massen alle möglichen ruinösen Versuchungen vor. »Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper«, merkte Benjamin an(141).[30] Unter diesen Umständen Mensch zu sein, brachte es mit sich, dass man sich, metaphysisch betrachtet, als obdachlos empfand – so die Formulierung von Lukács(18) aus dem Jahr 1920 – und sich nostalgisch nach dem zurücksehnte, was verloren war. Zum Menschsein gehörte die Entfremdung von dem maschinenartigen, funktionalen, ersetzbaren Ding, in das man sich verwandelt hatte. 1927 schrieb Brecht(8) ein Gedicht für seinen Zyklus Lesebuch für Städtebewohner, das dieses moderne Gefühl der Selbstentfremdung, die moderne Angst, überflüssig geworden zu sein, zum Ausdruck bringt:
Die Wäsche, im Hof zum Trocknen aufgehängt
Ist meine Wäsche, ich erkenne sie gut
Näher hinblickend, sehe ich
Allerdings
Nähte darinnen und angesetzte Stücke
Es scheint
Ich bin ausgezogen, jemand anderes
Wohnt jetzt hier und
Sogar in
»Es scheint / Ich bin ausgezogen« – damit umschreibt Brecht(10) nicht nur das unheimliche moderne Gefühl, von einem Doppelgänger heimgesucht zu sein, der eine verbesserte Version des eigenen Selbst ist, der moderne Mensch, der von seiner Wäsche sozusagen ausgelöscht wird, sondern auch die damit zusammenhängende Passivität. Tatsächlich war Brecht(11) in den 1920er Jahren zunehmend daran interessiert, sich mit den für die Moderne typischen passiven Charakteren in seinen Theaterstücken auseinanderzusetzen, die, wie sein Biograph Stephen Parker(1) es formulierte, »sich nach bestem Vermögen an die verwirrend wechselhaften Bedingungen der modernen Welt anpassen«.[32] Mit Mann ist Mann, einer Parabel aus dem Jahr 1926, die Brecht(12) im kolonialen Indien ansiedelte, brachte er die erzwungene Verwandlung eines Zivilisten, Galy Gay, in den perfekten Soldaten auf die Bühne. Persönlichkeit erschien als etwas, das umgebaut werden kann wie eine Maschine, eine Vision, in der ein Kritiker eine Vorahnung von Methoden der Gehirnwäsche erkannte. Das Drama ist teilweise auch eine Satire auf die Neue Sachlichkeit, deren funktionalistisches Ethos mit den Fließbändern in den Ford(5)-Werken und der Bürokratie à la Max Weber(5) perfekt zusammenpasste.
Im Kapital von 1867 reflektiert Marx(113) über den Warenfetischismus und darüber, wie das menschliche Bewusstsein verdinglicht wird und wie das Klassenbewusstsein, das für eine proletarische Revolution notwendig ist, erstickt werden kann. Jener Kapitalismus, in dem die in Ilmenau(5) versammelten Marxisten(114) lebten, war im Vergleich mit demjenigen, den Marx(115) beschrieben hatte, weiter fortgeschritten. Warum aber wurde in den 1920er Jahren angesichts dessen eine sozialistische Revolution zunehmend unwahrscheinlicher? Weil(15) die verdinglichte Struktur der Gesellschaft, die Entfremdung der Arbeiter und der Warenfetischismus der modernen Welt sich so vollständig ausgebreitet hatten, dass sie das Klassenbewusstsein verdrängten, das für eine solche Revolution notwendig gewesen wäre.
Aber was bedeuten diese Begriffe? Entfremdung? Verdinglichung? Klassenbewusstsein? Warenfetischismus? Nehmen wir als Beispiel den Stuhl, auf dem Sie sitzen. Oder das iPhone, mit dem Sie wie durch eine Nabelschnur verbunden sind. Ein Stuhl ist eine Ware – nicht, weil Sie darauf sitzen können, sondern weil er von Menschen zum Zweck des Handels hergestellt wurde. Das heißt: Er hat einen Wert, nicht, weil Wertigkeit eine natürliche Eigenschaft des Stuhles wäre, sondern weil jede Ware einen Gebrauchswert hat, der sich nach ihrer Nützlichkeit hinsichtlich der Befriedigung von Bedürfnissen bemisst. Das ist alles ganz sinnvoll und leicht nachvollziehbar, dann aber wird es gespenstisch. Im Kapitalismus nehmen die Dinge, die von Menschen hergestellt werden, ein eigenes, phantasmagorisches Leben an. Das Kapital von Marx(116) ist nicht nur ein furchteinflößendes Buch philosophischen und ökonomischen Denkens, sondern auch eine echte Gruselgeschichte, ein an Frankenstein erinnerndes Märchen darüber, wie wir ein Monster (den Kapitalismus) erschaffen und uns von ihm entfremdet haben, und mittels Klassenkampf werden wir es dermaleinst zur Strecke bringen.
Der Riss, den die Menschen in der Welt verursacht haben und der all diesen monströsen Dingen ermöglichte, einzudringen, ist die Kluft zwischen Gebrauchswert und Tauschwert. Durch diese Kluft kam die verheerende Flut der Konsumwaren über uns. Beispielsweise in folgender Form: Apple bringt ein albernes neues iPhone auf den Markt, das sich von seinem Vorgänger nur in winzigen Details unterscheidet. Wenn ein Stuhl oder ein iPhone verkauft werden, dann werden sie gegen eine andere Ware (beispielsweise Geld) eingetauscht. Der Tausch berücksichtigt nicht die Arbeit, die auf die Herstellung des Stuhles verwendet wurde, und noch weniger jene der überforderten, unterbezahlten Arbeiter von Apple, unter denen es einige gibt, die über Selbstmord nachgedacht haben, um der Strafarbeit zu entkommen, für Sie und mich scheinbar unbedingt notwendiges Zeug zu produzieren.
Aber das ist nur der eine Teil der Gruselgeschichte. Der andere Teil hat mit der Frage zu tun, was passieren würde, wenn der Arbeiter für seine Arbeit entlohnt wird. Für Marx(117) werden beim Lohnverhältnis zwischen dem Kapitalisten und dem Arbeiter deren jeweilige gesellschaftliche Stellung oder ihre gesellschaftlichen Beziehungen nicht in Betracht gezogen.[33] Die Arbeit, mittels der ein Mantel hergestellt wurde, wird als eine abstrakte Ware behandelt, die mit jeder anderen Ware äquivalent ist, so wie auch der Tauschwert des Stuhles den Stuhl von seinem Gebrauchswert ablöst. Und diesen Umstand bezeichnete Marx(118) als Warenfetischismus.
Verblüffenderweise leiteten sowohl Marx(119) als auch spätere Theoretiker der Psychoanalyse ihre Darstellungen des Phänomens Fetischismus von im 19. Jahrhundert aufkommenden europäischen Vorstellungen über afrikanische Religionen ab.[34] So wie in einigen Religionen ein mit übernatürlichen Kräften ausgestattetes Objekt zum Fetisch für diejenigen wird, die es verehren, so werden den Waren im Kapitalismus magische Kräfte und eine illusionäre Autonomie zugeschrieben. Nicht nur eine, sondern zahlreiche absonderliche Illusionen würden, so Marx(120), im Kapitalismus freigesetzt: Manchmal werden die Beziehungen zwischen Menschen zu einer Beziehung zwischen Dingen; manchmal erscheint der Wert als etwas, das keine natürliche Eigenschaft des Dinges ist; manchmal nimmt die Ware ein Eigenleben an und wird zu einer Art Person.[35]
Lukács(19) führte an diesem Punkt an, dass dieser Warenfetischismus, den Marx(121) für seine Gegenwart konstatiert hatte, in der Moderne alles durchsetze. Im Kapitalismus würden die Eigenschaften von Objekten, Subjekten und sozialen Beziehungen in besonderer Weise verdinglicht. Lukács(20) zufolge fragmentierte die Mechanisierung und Spezialisierung industrieller Arbeitsabläufe die menschliche Erfahrung und führte zu einer Haltung der »Kontemplation«, in der man sich lediglich passiv einem gesetzähnlichen System gesellschaftlicher »zweiter Natur« anpasst und eine objektivierende Haltung zu den eigenen geistigen Befindlichkeiten und Fähigkeiten einnimmt. Er(21) schrieb über die Warenform:
Sie drückt dem ganzen Bewußtsein des Menschen ihre Struktur auf: seine Eigenschaften und Fähigkeiten verknüpfen sich nicht mehr zur organischen Einheit der Person, sondern erscheinen als »Dinge«, die der Mensch ebenso »besitzt« und »veräußert«, wie die verschiedenen Gegenstände der äußeren Welt. Und es gibt naturgemäß keine Form der Beziehung der Menschen zueinander, keine Möglichkeit des Menschen, seine physischen und psychischen »Eigenschaften« zur Geltung zu bringen, die sich nicht in zunehmendem Maße dieser Gegenständlichkeitsform unterwerfen würden(22).[36]
Verdinglichung wirkt sich auf die Beziehungen zwischen Personen aus, ja sogar auf das Innenleben der einzelnen Individuen: Man wird sich selbst zum Objekt, entfremdet von sich selbst wie von anderen Menschen, vor allem von jenen, mit denen wir eigentlich Klassensolidarität zum Ausdruck bringen sollten.
Damit geht einher, dass Objekte in Subjekte verwandelt werden und Subjekte zu Objekten werden, was zur Folge hat, dass Subjekte passiv oder determiniert, Objekte hingegen zu aktiven, determinierenden Faktoren werden. Hypostasierung, ein Begriff, der sich wie ein roter Faden durch die Texte der Frankfurter Denker zieht, bezieht sich auf eine Auswirkung der Verdinglichung, die aus der falschen Annahme resultiert, dass alles, was benannt oder abstrakt gefasst werden kann, auch tatsächlich existiert.
Das Wort taucht häufig in Schriften der Frankfurter Theoretiker auf und gab Anlass zu spöttischen Bemerkungen über weniger bedeutende Denker. Die Vorstellung hängt zwar mit anderen Begriffen aus dem marx(122)schen fachsprachlichen Arsenal zusammen, lässt sich aber auch davon unterscheiden. Der Oberbegriff zu Hypostasierung ist Entfremdung als allgemeiner menschlicher Zustand. Verdinglichung ist eine spezifische Form der Entfremdung und Warenfetischismus wiederum ist eine spezifische Form der Verdinglichung.[37]
Die Philosophen der Frankfurter Schule zogen daraus den Schluss, dass wir im Kapitalismus weniger eine reale Welt bewohnen als vielmehr eine Phantasmagorie, eine auf den Kopf gestellte Welt, in welcher Dinge zu Personen werden und Personen zu Dingen, und in der Dinge (sowohl menschliche als auch nichtmenschliche Dinge) ein geisterhaftes Eigenleben annehmen. Dieses geisterhafte Leben der Dinge treibt in den Schriften Walter Benjamin(142)s sein Unwesen. Es erklärt die Verschiebung von seinem ersten Versuch in den 1920er Jahren, sich in seiner »Berliner Chronik« an seine Kindheit zu erinnern, zu der obsessiv überarbeiteten Schrift »Berliner Kindheit um Neunzehnhundert« in den 1930er Jahren. In diesem Prozess wird Benjamins(143) Erinnerung, wie wir oben gesehen haben, immer entvölkerter, seine Aufmerksamkeit richtet sich immer stärker auf Dinge und nicht mehr so sehr auf Menschen. In einer phantasmagorischen, unter der Herrschaft des Warenfetischismus stehenden Gesellschaft konnten Dinge für Personen stehen und umgekehrt; ja vielleicht konnten sogar Dinge, die den proustschen Stempel von schmerzlich wieder erinnerten Vergangenheiten tragen, einen besseren Dienst als Fetisch-Führer in unsere vergangene Kindheit leisten als Menschen, an die man sich lediglich erinnert. Benjamin(144) lenkt aber vor allem die Aufmerksamkeit wiederholt auf die Tatsache, dass die endlose Ersetzbarkeit von Waren (sowohl von Dingen als auch von Menschen) und – in einer kapitalistischen Welt – unser vollständiges Aufgehen in einer Phantasiewelt materiellen Wohlstands uns dazu verleiten, den Klassenkampf aus den Augen zu verlieren, der dieser Phantasmagorie zugrunde liegt. Dieser Zusammenhang spielt vor allem in seinem immer wieder umgearbeiteten und unvollendet gebliebenen Passagen-Werk eine zentrale Rolle. Es scheint so, als habe der Kapitalismus, nachdem er die wahre Natur des Klassenkampfs ausgelöscht und die historische Kontingenz wegretuschiert hatte, die Spuren seiner Auswirkungen übertüncht und uns mit der ach so reizvollen Verführungskraft der Waren von unserer Detektivarbeit abgelenkt. Dieser vorgegaukelte Himmel wird von Benjamin jedoch als eine Art unerkannter Verdammnis entlarvt – ein Kreis der Hölle, in welchem der konsumierende Gläubige endlos kauft und verkauft und auf Ewigkeit in dem Irrglauben belassen wird, dass ihn diese Tätigkeit selig macht.
Und das war genau jene Hölle, die Benjamin(145) in seinem Passagen-Werk erforscht, ein Paris(11), das nach seiner Auffassung die moderne Welt schuf, indem es die Bedingungen der eigenen Existenz auslöschte. Im Passagen-Werk wird durchgängig eine verführerische Oberfläche mit marxistischer(123) Realität kontrastiert. Das Paris(12) des 19. Jahrhunderts, das Benjamin in diesem Buch beschreibt, war weniger eine Stadt als eine betörende Phantasmagorie, vergleichbar mit jener, die er als Kind in Berlin(40) im Kaiserpanorama erlebt hatte. Paris(13) war für Benjamin(146) selbst eine »Folge der verdinglichte[n] Vorstellung von Kultur«.[38] Wie würde die Welt aussehen, wenn es den Fetischcharakter der Ware nicht gäbe? Wenn Dinge primär für den Gebrauch und nicht vor allem für den Verkauf hergestellt würden? Man konnte sich das schon fast nicht mehr vorstellen, weil der Kapitalismus es geschafft hatte, dass der Fetischcharakter der Ware wie eine unveränderbare Naturgegebenheit wirkte. Slavoj Žižek(1) schrieb später: »Die Logik des Tauschwerts folgt ihrem eigenen Pfad, ihrem eigenen verrückten Tanz, ohne Rücksicht auf die realen Bedürfnisse realer Menschen.«[39] Für Lukács(23) bestand die Verrücktheit darin, dass die Menschen ihre realen Bedürfnisse nicht kannten: daher machte er den Unterschied zwischen dem verdinglichten und dem wahren Bewusstsein.
Klassische Wirtschaftswissenschaftler wie Smith(1) und Ricardo(1) sahen in der kapitalistischen Wirtschaft eines freien Marktes nichts Verrücktes; sie behandelten Preise, Gewinne und Zinsen, das Gesetz von Angebot und Nachfrage als naturgegebene Phänomene. Marx(124) hingegen hatte die aufrührerische Idee formuliert, dass es sich dabei um historisch spezifische Eigenschaften eines ganz bestimmten Wirtschaftssystems handelte. Zur Zeit des Feudalismus hatte es sie nicht gegeben; und im Kommunismus würde es sie ebenfalls nicht geben.
Das zentrale marxistische(125) Credo lautet also, dass es ein Ende haben muss mit dieser Horrorgeschichte. So weist beispielsweise Eric Hobsbawm(1) in seinem Vorwort zum Kommunistischen Manifest von Marx(126) und Engels darauf hin(4), Marx(127) habe mit seinem Argument recht gehabt, dass
die immanenten »Widersprüche« eines Marktsystems, dem »kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch [zugrunde liegt] als das nackte Interesse, als die gefühllose ›bare Zahlung‹« eines Systems der Ausbeutung und der grenzenlosen »Akkumulation«, niemals überwunden werden können; dass die Entwicklung dieses in höchstem Maße zur Instabilität neigenden Systems zu einem Zustand führen wird, den man nicht mehr als Kapitalismus bezeichnen kann(2).[40]
Die große Preisfrage lautet nun natürlich: Wann wird dieser Zustand eintreten? Henryk Grossmann(34), der allgemein als jener Denker der Frankfurter Schule gilt, welcher eine Theorie dafür ausgearbeitet hatte, wann dieser verrückte Tanz enden werde, argumentiert in Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems (1929): Weil der Kapitalismus die Produktivität menschlicher Arbeit steigert und die Produktion von Gebrauchswerten beschleunigt, gibt es eine Tendenz, dass die Profitrate sinkt und der Kapitalismus so letztlich die Bedingungen für seinen Zusammenbruch selbst schafft.
Man hat sich das folgendermaßen vorzustellen: Was Marx(128) Arbeitskraft nannte (grob gesprochen: die Fähigkeit zu arbeiten), wirft für den Kapitalisten Mehrwert ab, der die Lohnkosten übersteigt. Kapitalisten reduzieren Warenpreise, um Konkurrenten zu unterbieten, indem sie häufig neue Technologien oder Maschinen einsetzen und so die Arbeitsproduktivität erhöhen. Während nun aber die Produktionsleistung ansteigt, steigt das konstante Kapital (Maschinen, Ausstattung, Rohmaterialien) schneller an als das variable Kapital (das in Arbeitslöhne investiert wird). Und was heißt das? Nun ja, da ein größerer Anteil der Investitionen in Maschinen und Fabrikanlagen gesteckt wird und nicht in die menschliche Arbeitskraft, die den Mehrwert produzierte und in der marxistischen(129) Wirtschaftswissenschaft die Quelle der kapitalistischen Gewinne darstellt, geht die Gewinnrate im Verhältnis zum investierten Gesamtkapital zurück.
Wenn g die Gewinnrate ist, m der Mehrwert, k das konstante Kapital und v das variable Kapital, dann lautet die marx(130)sche Formel wie folgt:
g’ = m / k+v
Wenn also k im Verhältnis zu v ansteigt, dann wird die Gewinnrate, selbst wenn der Mehrwert zunimmt, abnehmen. Grossmann(35) pflegte bei seinen Vorlesungen weiße Handschuhe zu tragen und einen Zeigestock zu benutzen. Man kann sich vorstellen, wie er mit einer schwungvollen Bewegung seines Stockes und dem »Abrakadabra!« eines Zauberers die Schlussfolgerungen aus seiner Gleichung zog.
Aber natürlich werden Sie bereits festgestellt haben, dass der Kapitalismus nach wie vor fortbesteht. Warum ist das so? Weil Kapitalisten Möglichkeiten fanden, den fatalen Rückgang von g und damit ihren Untergang abzuwenden – etwa durch den Export von Fremdkapital oder die verrückte Spekulation, die Žižek(2) erwähnte. Solche Spekulationen konnten den Untergang des Kapitalismus in eine ferne Zukunft aufschieben, ihn also in jenen funktional irrelevanten zeitlichen Horizont rücken, wenn wir, wie John Maynard Keynes(1) es formulierte, alle tot sein werden. Tatsächlich kritisiert Grossmann(36) in seinem Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz Rosa Luxemburg(15)s Darstellung eines notwendigen Zusammenbruchs des Kapitalismus: Sie hatte die Auffassung vertreten, dass der Kapitalismus erst dann untergehen werde, wenn es keine nichtkapitalistischen ausbeutbaren Märkte mehr gäbe. Das, so Grossmann(37), könne ewig dauern. Für Grossmann(38) »ist ihr [Luxemburgs](16) Beweis der absoluten ökonomischen Grenzen des Kapitalismus gleichbedeutend mit der Idee, dass das Ende des Kapitalismus ein zeitlich entferntes Projekt ist, weil sich die Kapitalisierung nicht kapitalistischer Länder über Jahrhunderte hinziehen wird«.[41] Jahrhunderte? So lange können wohl nur die entspanntesten Marxisten(131) warten.
Im selben Jahr, da Henryk Grossmanns(39) Hauptwerk erschien, kam es zu der möglicherweise größten Krise des Kapitalismus im 20. Jahrhundert, als die Spekulationsblase an der New York(2)er Börse platzte und eine Weltwirtschaftskrise auslöste, die den »Glauben der Amerikaner an schnelle, mühelose Bereicherung am Aktienmarkt« (so die Formulierung von John Kenneth Galbraith(1)) erschütterte.[42] Aber der Kapitalismus ging nicht unter. Stattdessen klopften die Kapitalisten sich den Staub von den Anzügen, richteten sich in ihrem Glauben an schnelle, anstrengungslose Bereicherung wieder auf und stürzten sich erneut in den verrückten Tanz.
Grossmann(40) machte keine genauen zeitlichen Angaben zum Ende des Kapitalismus. Er plädiert in Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz vielmehr dafür, die Revolution überhaupt nicht zu datieren, sondern jene Mythen zu entlarven, die uns suggerieren, der Kapitalismus könne im Prinzip bis zum Sanktnimmerleinstag fortbestehen, sei also nicht anfällig für Krisen, die ihn letztlich zum Zerfall bringen würden – den Mythos, dass der wirtschaftliche Zusammenbruch lediglich ein Problem der Unverhältnismäßigkeit zwischen einzelnen Bereichen der Wirtschaft sei oder dass die Verbraucherausgaben der Arbeiter nicht ausreichten, um überproduzierte Waren zu kaufen. Die Grenze für die kapitalistische Akkumulation, so die Erklärung von Marx(132) und die Interpretation Grossmanns(41), sei das Kapital selbst.
Insofern ist es mehr als bedauerlich, dass Grossmanns(42) Analyse belächelt wurde, weil sie angeblich den automatischen Zusammenbruch des Kapitalismus voraussagte. »Wir brauchen auf seine Beweisführung und die auf ihr beruhenden Voraussagen, die sich offensichtlich nicht bewahrheitet haben, in ihren einzelnen Verästelungen hier nicht weiter einzugehen; es sei nur angemerkt, daß die quietistischen Implikationen der (43)Grossmannschen These, wie sie ähnlich in allen Marxinterpretationen enthalten sind, welche die Betonung auf die objektiven Kräfte legen, im Gegensatz zu subjektiver revolutionärer Praxis, einigen seiner Zeitgenossen durchaus nicht entgingen.«[43] Das ist ein besonders ungerechter Vorwurf ausgerechnet gegen einen Denker der Frankfurter Schule, der im Unterschied zu seinen im Lehnstuhl philosophierenden Kollegen aktiv am sozialistischen Kampf mitgewirkt hatte. Wahr ist vielmehr, dass Grossmann(44) die lenin(12)sche Vorstellung von einer dialektischen Verfasstheit des revolutionären Prozesses teilte, dass am Untergang des Kapitalismus also die Arbeiter als Akteure beteiligt sein würden und nicht nur als Zuschauer, die die ökonomischen Kräfteverschiebungen beobachteten.
Es trifft zwar durchaus zu, dass sich Grossmann(45) mit seiner Arbeit gegen diejenigen richtete, die davon ausgingen, eine Revolution könne ungeachtet der konkreten Umstände erfolgreich in Gang gebracht werden. So schrieb er beispielsweise im Jahr 1928, für einen Revolutionsausbruch reiche es nicht aus, dass die Arbeiterklasse »nicht [auf die gewohnte Weise weiterleben] will, es ist außerdem notwendig, dass die Oberschicht außerstande ist, [auf die gewohnte Weise weiterzuleben], daß es also für die herrschende Klasse objektiv unmöglich wird, ihre Herrschaft unverändert aufrechtzuerhalten«.[44] Grossmann(46) argumentierte – durchaus unquietistisch –, eine Revolution könne nur dann stattfinden, wenn die objektiven Umstände von einer revolutionären Partei ausgenutzt werden können, die sich der historischen Rolle des Proletariats bewusst ist. Der revolutionäre Prozess, den er anvisierte, war dialektisch: Der Kapitalismus schuf die Arbeiterklasse sowie die Umstände, durch die die Arbeiterklasse gezwungen war, gegen den Kapitalismus zu kämpfen. Im Zuge dieses Kampfes konnte dem Proletariat bewusst werden, dass die Zerstörung des Kapitalismus für die eigene Befreiung notwendig war.
Die ernüchternden Worte in diesem Zusammenhang sind »konnte werden« und sie bringen uns zurück zu jenen Bedenken, welche die in Ilmenau(6) im Jahr 1923 versammelten Marxisten(133) umtrieben. Lukács(24) legt in seinem im Jahr zuvor erschienen Geschichte und Klassenbewußtsein dar, dass die kapitalistische Gesellschaft eine verdinglichte Gesellschaft sei. Diese Verdinglichung der kapitalistischen Gesellschaft ließ den Marxismus(134) vom unruhestiftenden Optimismus des Kommunistischen Manifests in die melancholische Resignation abkippen, die sich in der Frankfurter Schule ausgebreitet hatte: Man hatte den Eindruck, dass das Proletariat im modernen Kapitalismus, mit dem sich die Marxisten(135) im Deutschland(29) der 1920er Jahre konfrontiert sahen, zum Totengräber nicht der Bourgeoisie, sondern der eigenen Hoffnungen und Sehnsüchte geworden war – die Arbeiter waren von ihrer Arbeit und von sich selbst so entfremdet, dass sie sich gar nicht mehr an das erinnern konnten, was sie zu Grabe trugen.
Um diese Entfremdung zu verstehen, beschäftigten sich Lukács(25) und die Philosophen der Frankfurter Schule mit einer frühen Darstellung dieser Problematik in Marx(136)’ Ökonomisch-philosophischen Manuskripten aus dem Jahre 1844. Darin knüpft Marx(137) an den Begriff des »unglücklichen Bewußtseins« in Hegels(5) Phänomenologie des Geistes aus dem Jahr 1807 an, in der von der entfremdeten, in sich gespaltenen Seele die Rede ist, deren Streben nach Universalität vereitelt werde. »Das unglückliche, in sich entzweite Bewußtsein«, so Hegels These »muß, weil dieser Widerspruch seines Wesens sich ein Bewußtsein ist, in dem einen Bewußtsein immer auch das andere haben«.[45] Für den jungen Marx(138) war der Arbeiter auf ähnliche Weise entfremdet – er fand keine Befriedigung in seiner Arbeit, sondern nur Knechtschaft innerhalb eines Warensystems, das jene Faktoren, die die Arbeit zu einer erfreulichen, erfüllenden Tätigkeit machen konnten, ausnutzte oder ablehnte.
Dieses hegel(6)sche Thema der Selbstentzweiung und -entfremdung wurde von Feuerbach(3), dem Vorgänger von Marx(139), aufgegriffen, der in seinem Werk Das Wesen des Christentums zu der Auffassung gelangt, dass der christliche Gott eine Projektion einer Seinsweise sei, die der Menschheit anderweitig verweigert werde. Für Feuerbach(4) wird das, wovon wir als Menschen entfremdet wurden, von uns in ein Objekt verwandelt und als Gott bezeichnet. Für Marx(140) hingegen war Entfremdung die notwendige Folge des Kapitalismus, sodass sich der Arbeiter schließlich von sich selbst und von seiner Arbeit entfremdete. Der Arbeiter wird Teil eines Systems, das ihn und die anderen Arbeiter ausbeutet. Das hat zur Folge, dass die Arbeiterklasse unfähig ist, die Bedingungen zu verändern, unter denen sie lebt; stattdessen aber verfällt sie angesichts des anscheinend autonom sich vollziehenden Warenaustauschs in einen Zustand der Passivität. Die Arbeiterklasse wird in letzter Konsequenz unfähig, die Bedingungen für ihre Selbstbefreiung zu schaffen.
Wenn sich nun all diese Gedanken über Entfremdung, Warenfetischismus und Verdinglichung bereits bei Marx(141) finden, warum war dann Lukács(26)’ Geschichte und Klassenbewußtsein so einflussreich, vor allem für die Frankfurter Schule? Zum einen wurden die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte, in denen Marx(142) diese Theorie der Entfremdung entwickelt, erst in den ausgehenden 1920er Jahren in Moskau(4) veröffentlicht, sodass der ein Jahrzehnt zuvor von Lukács(27) »hegelianisierte Marxismus(143)« prophetisch wirkte – jedenfalls war Lukács(28) zu demselben Schluss gekommen wie Marx(144) in seinen frühen, bis dato kaum beachteten Schriften. Außerdem argumentiert Lukács(29), der Warenfetischismus, den Marx(145) im Kapital analysiert, sei in primitiveren Wirtschaftssystemen lediglich eine vorübergehende Erscheinung gewesen. Jetzt hingegen durchdringe er die Gesellschaft als Ganze:
Mit der modernen, »psychologischen« Zerlegung des Arbeitsprozesses (Taylor(2)-System) ragt diese rationelle Mechanisierung bis in die »Seele« des Arbeiters hinein: selbst seine psychologischen Eigenschaften werden von seiner Gesamtpersönlichkeit abgetrennt, ihr gegenüber objektiviert, um in rationelle Spezialsysteme eingefügt und hier auf den kalkulatorischen Begriff gebracht werden zu können(30).[46]
Infolgedessen war eine Revolution so unwahrscheinlich wie nie zuvor, vor allem in einer fortgeschrittenen, rational verwalteten Gesellschaft wie der deutschen. So jedenfalls sah mit Sicherheit das Bild aus, welches die Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung in den 1920er Jahren von Deutschland(30) hatten – Deutschland(31) war kein Ort, an dem in absehbarer Zeit eine Revolution stattfinden konnte; eine geruhsame Studientätigkeit war hier den Umständen angemessener.
Da war es natürlich kein Wunder, dass der sowjetische Spion, der in der Bibliothek des Instituts für Sozialforschung beschäftigt war, sehr bald nach dessen Gründung abreiste. Richard Sorge(1) (1895–1944) hatte an dem Seminar in Ilmenau(7) teilgenommen und wurde später eingestellt, um bei der Organisierung der Institutsbibliothek in Frankfurt zu helfen. Während dieser ganzen Zeit schickte er Berichte über die mehr oder weniger günstigen Bedingungen für eine Revolution in Deutschland nach Moskau(5)(32). Seine Aufzeichnungen wurden nicht veröffentlicht.[47] Der in Baku(1) geborene, in Berlin(41) aufgewachsene Sorge hatte das Eiserne Kreuz erhalten, als er im Ersten Weltkrieg für die Deutschen kämpfte. Während er sich von Schrapnellverwundungen erholte – beide Beine waren gebrochen, und er hatte drei Finger verloren –, las Sorge(2) Marx(146); später schloss er sich der Kommunistischen Partei Deutschlands an und erwarb in Hamburg(1) einen Doktorgrad in Wirtschaftswissenschaften. Nach seiner Flucht aus dem Nachkriegsdeutschland, wo er als Lehrer wegen seiner politischen Ansichten entlassen worden war, ging er nach Moskau(6) und wurde Junioroffizier für die Komintern. Diese Körperschaft, auch als Dritte Internationale bezeichnet, wurde im Jahr 1919 von Abgeordneten aus der ganzen Welt, unter ihnen auch Lenin(13), gegründet, um »mit allen Mitteln, auch mit der Waffe in der Hand, für den Sturz der internationalen Bourgeoisie und für die Schaffung einer internationalen Sowjetrepublik als Übergangsstufe zur vollen Vernichtung des Staates zu kämpfen«. Stalin(2) hob die Komintern im Jahr 1943 auf.
1921 schickte die Komintern Sorge(3) mit einer Mission nach Deutschland(33). Er arbeitete vordergründig als Journalist, tatsächlich jedoch sammelte er Informationen über die Frankfurter Geschäftswelt. In Frankfurt(42) heiratete er Christiane Gerlach(1), vormals Ehefrau von Kurt Gerlach(2), und war eine Zeitlang in der Bibliothek des Instituts tätig. Seine(4) Ansichten über das marxistische(147) Forschungsinstitut sind nicht überliefert; und es ist auch nicht klar, ob seine Kollegen wussten, dass in ihrer Mitte ein sowjetischer Spion arbeitete. Sorge(5) wurde aber jedenfalls bald nach Moskau(7) zurückbeordert und führte anschließend ein abenteuerliches Leben als Spion, das sich seine früheren Kollegen, die Lehnstuhlphilosophen, nicht einmal im Traum hätten vorstellen können. In den 1930er Jahren trat er, während er nach wie vor für die Sowjets(4) arbeitete, der NSDAP bei und schaffte es, mit journalistischen Aufträgen nach Japan(1) geschickt zu werden, von wo aus er für Zeitungen schrieb, die er ideologisch verachtete. Tatsächlich wurde Sorge(6) nach Japan(2) gesandt, um ein Informantennetzwerk aufzubauen, durch welches er sich Informationen über die japanische Außenpolitik verschaffen konnte.
Während des Zweiten Weltkriegs waren die von ihm eingeholten Informationen für die Sowjets(5) von entscheidender Bedeutung. Er informierte Moskau(8) über den Deutsch-Japanischen Pakt und warnte vor dem japanischen Angriff auf den US-amerikanischen Marinestützpunkt Pearl Harbour(1). 1941 lieferte Sorge(7) einen Bericht über Hitlers(5) Absichten, die Sowjetunion(6) zu überfallen, an Moskau(9). Später im selben Jahr informierte er den Kreml, dass Japan(3) nicht plane, die Ostgrenze der Sowjetunion anzugreifen. Die Information ermöglichte es dem Generalstabschef der Roten Armee Georgi Schukow(1), rechtzeitig achtzehn Divisionen, 1700 Panzer und über 1500 Flugzeuge von Sibirien an die Westfront zu verlegen und so dem Vormarsch der Nazis auf Moskau(10) Widerstand zu leisten. Diese Verlagerung war einer der Wendepunkte des Zweiten Weltkriegs; dadurch gelang es der Roten Armee, Hitlers(6) Wehrmacht zu besiegen, die zuvor englische und französische Streitkräfte in Westeuropa vernichtend geschlagen hatte. Allerdings schlug vermutlich bereits damals Sorges(8) letztes Stündlein: Nicht genug damit, dass der japanische Geheimdienst seine Nachrichten an Moskau abfing; man vermutete außerdem, Stalin(3) hätte es sich nicht leisten können, dass auch später bekannt wurde, er habe die Warnung Sorges(9) vor der Operation Barbarossa, dem Angriff der Nazis auf die Sowjetunion(7) im Jahr 1941, ignoriert. Da konnte es ihm also nur recht sein, dass Sorge(10) nicht mehr am Leben war, also auch die Unentschlossenheit des sowjetischen(8) Führers nicht mehr enthüllen konnte, die so viele Russen das Leben gekostet hatte.
Am 7. November 1944 wurde Richard Sorge(11) in einem Gefängnis in Tokio erhängt. Ian Fleming(1), der Schöpfer von James(1) Bond, selbst britischer Geheimdienstoffizier während des Zweiten Weltkriegs, bezeichnete Sorge(12) als »den großartigsten Spion der Weltgeschichte«. Sorge musste die postume Schmach erdulden, dass Veit Harlan(1) einen Film über sein Leben drehte, der berüchtigte Regisseur von Jud Süß (1940), einem der antisemitischsten Filme, die je produziert wurden; Harlan(2) war einer der Lieblingsregisseure des nationalsozialistischen Propagandaministers Joseph Goebbels(2). Der Film über Sorges(13) Spionagetätigkeit in Japan(4) aus dem Jahr 1955 trug den Titel Verrat an Deutschland;(34) er wurde bereits zwei Tage nach der Uraufführung in Westdeutschland verboten. Ein weiterer Film – Qui êtes-vous, Monsieur Sorge? (Wer sind Sie, Herr Sorge(14)?) – erschien 1961 und wurde in vielen Ländern gezeigt; vor allem in der Sowjetunion(9) genoss er große Popularität. Doch erst 1964 erkannte die Sowjetunion offiziell an, dass Richard Sorge(15) als sowjetischer Spion tätig gewesen war. Er wurde in jenem Jahr zum Helden der Sowjetunion ernannt. Schade, dass er schon zwanzig Jahre tot war, als ihm diese Ehre widerfuhr: Nicht viele Menschen können sich den Orden Held der Sowjetunion(10) neben das deutsche kaiserliche Eiserne Kreuz an die Brust heften(16).
Es lohnt sich, Sorges(17) Lebensgeschichte zu erwähnen – nicht nur, weil sich die Vita dieses Actionhelden so markant von den Biographien anderer Angehöriger der Frankfurter Schule abhebt (wobei drei prominente Mitglieder der Schule – Franz Neumann(3), Herbert Marcuse(25) und Otto Kirchheim – als Geheimdienstanalysten für das Office of Strategic Services, den Vorläufer der CIA während des Zweiten Weltkriegs, arbeiteten), sondern auch weil seine von politischem Engagement geprägten Aktivitäten dem Ethos der Frankfurter Schule diametral zuwiderliefen. Während Sorge(18) durch die Grenzkontrollen in Europa(11), Amerika(3) und Asien(1) schlüpfte, unermüdlich im Dienst der Förderung einer weltweiten proletarischen Revolution durch die Komintern und von der Sowjetunion(11) mit der Aufgabe betraut, deren Widerstand gegen die Invasion der Nazis zu stützen, hielten sich die Mitarbeiter des Instituts auch weiterhin auf Distanz zum aktiven Kampf, genossen ihre intellektuelle Unabhängigkeit, und die Leitung sah es lieber, wenn die Gelehrten keiner politischen Partei angehörten. Abgesehen von Grossmann(47) bezweifelte man, dass es sich lohne, den Handschuh aufzuheben, den Lenin(14) allen Marxisten(148) hingeworfen hatte. Die Umstände, mit denen man sich in den 1920er Jahren konfrontiert sah, unterschieden sich sehr von jenen, die für den Erfolg der bolschewistischen Revolution maßgeblich gewesen waren. »Neue Sachlichkeit« wurde teilweise auch als Neue Resignation übersetzt, was einen Aspekt der Stimmung in der Frankfurter Schule in diesem Jahrzehnt einfängt: Man hatte den Eindruck, die große Zeit sozialistischer Revolutionen sei vorüber, linksgerichtete Intellektuelle täten also gut daran, sich mit der Gesellschaftsordnung der Weimarer Republik(3) zu arrangieren, die aus einem fatalen Kompromiss zwischen der sozialdemokratischen Regierung und dem preußischen Adel geboren worden war.
1927 verfasste Horkheimer(79) einen Aufsatz unter dem Titel »Die Ohnmacht der deutschen Arbeiterklasse«. Darin gibt dieser Vertreter einer neuen Variante des marxistischen(149) Intellektuellen endlich die – pessimistische – Antwort auf die Frage, wie der Sozialismus umgesetzt werden könnte, die man sich in Ilmenau(8) vier Jahre zuvor gestellt hatte. Horkheimer(80) argumentiert, die Integration der Arbeiterklasse in den kapitalistischen Produktionsprozess mache es ihr unmöglich, als Akteur für den Sozialismus zu überleben. Das Klassenbewusstsein und die Solidarität unter den Proletariern, die Lukács(31) als notwendige Voraussetzungen für eine sozialistische Revolution konstatiert hatte, fehlten in Deutschland(35). Das lag teilweise daran, dass die Arbeiterklasse in eine ins System integrierte Arbeiterelite, zu der diejenigen gehörten, die das Glück hatten, einen Arbeitsplatz zu haben, und in frustrierte Arbeitslose aufgespalten war. Teilweise lag es aber auch daran, dass die beiden sozialistischen Parteien – die SPD und die KPD – diese antagonistische Teilung auf der politischen Ebene abbildeten. Die Spaltung war in der Tat tragisch, denn, so Horkheimer(81): »In beiden Parteien existiert ein Teil der Kräfte, von denen die Zukunft der Menschheit abhängt.«[48] Das Fehlen dieser vereinten Stärke verhinderte nicht nur die Möglichkeit einer sozialistischen Revolution in Deutschland(36), sondern untergrub auch, wie die Mitglieder der Frankfurter Schule dann später feststellen mussten, den Widerstand gegen den Nationalsozialismus.
Horkheimer(82) merkte hierzu an, dass die Aussichten, die beiden Positionen zu versöhnen, »in der letzten Analyse des Verlaufs des wirtschaftlichen Prozesses« kontingent seien. Es wäre jedoch angemessener diese spitze Bemerkung, die unfairerweise gegen Henryk Grossmann(48) gerichtet war – da dieser nämlich die Revolution als Produkt wirtschaftlicher Kräfteverhältnisse verstand und daher eine Politik des Quietismus vertrat –, gegen Horkheimer(83) selbst anzuführen: Er war derjenige, der die Arbeiter als Zuschauer darstellte, die die Entwicklung der wirtschaftlichen Kräfte lediglich beobachteten, wohingegen sie für den unkomplizierten Leninisten(15) alter Schule, Henryk Grossmann,(49) eigenständige historische Akteure waren. Das heißt nicht, dass Horkheimer(84) mit seiner pessimistischen Auffassung nicht recht hatte, dass aber seine Auffassung doch radikal die Zielsetzung jener marxistischen(150) Ideenschmiede veränderte, die er ab dem Jahr 1931 leitete. In seiner Geschichte der Frankfurter Schule schließt Rolf Wiggershaus(2): »Keiner von ihnen setzte Hoffnungen auf die Arbeiterklasse.«[49] Sie entwickelten sich vielmehr zu virtuosen Kritikern einer Welt, die sie nicht verändern konnten; die Ohnmacht der Arbeiterklasse, die Horkheimer(85) thematisierte, hatte ihre Parallele in den marxistischen(151) Intellektuellen, die im Institut für Sozialforschung tätig waren.