»Was Neapel(1) von allen Großstädten unterscheidet«, so Walter Benjamin(147) und seine bolschewistische litauische Geliebte Asja Lacis(1) in einem gemeinsam verfassten Essay über die Stadt aus dem Jahr 1925, »das hat es mit dem Hottentottenkral gemein: jede private Haltung und Verrichtung wird durchflutet von Strömen des Gemeinschaftslebens. Existieren, für den Nordeuropäer die privateste Angelegenheit, ist hier wie im Hottentottenkral Kollektivsache.«[1]
Das Buch des Lexikographen Charles Pettman(1) Africanderisms: A Glossary of South African Colloquial Words and Phrases and of Place and Other Names definiert Kral als: »1) eine umzäunte Fläche für Vieh. 2) Ein Hottentotten-Dorf. 3) Jede Eingeborenensiedlung oder Ansammlung von Hütten. Das Wort wurde wahrscheinlich von den Holländern eingeführt und bezog sich auf eher herablassende Weise zunächst auf die Hottentotten- und Kaffer-Grundstücke und -Dörfer.«[2] Doch wo die holländischen(2) Kolonialherren das Wort Kral gebrauchten, um anzudeuten, dass die Afrikaner(1) wie Vieh lebten, wird es von Benjamin(148) und Lacis(2) verwendet, um die Lebensweise der Neapolitaner(2) zu rühmen. Vor allem waren sie verblüfft darüber, wie diese südeuropäische Stadt als Korrektiv für die Lebensweise der Nordeuropäer diente, die unter der Herrschaft des Kapitalismus zunehmend rücksichtslos zwischen privaten und öffentlichen Welten unterschieden.
Schon lange war ja bekannt, dass des Engländers Heim sein Schloss ist. Symptomatischer für das, was Benjamin(149) und Lacis(3) als einen zunehmenden Trend beobachteten, war der Umstand, dass im sozial bereinigten Westend mit seinen luxuriösen Häusern, etwa das von Benjamins(150) Eltern, die Armen wirkungsvoll ausgeschlossen wurden und der Sohn fast nichts über deren Existenz wusste. Im Passagen-Werk legt Benjamin(151) dar, dass solcherart eifersüchtig behütete private Bereiche zuerst unter der Herrschaft des französischen Bürgerkönigs Louis Philippe(1) in den 1830er und 1840er Jahren entstanden. Das hatte seiner Meinung nach zur Folge, dass private und öffentliche Räume immer weiter voneinander getrennt wurden: Die Funktion ersterer war es, dem Bürger einen Rückzugsort vom Geschäftsleben und von sozialen Belangen zu bieten und dafür zu sorgen, dass er seine Illusionen aufrechterhalten konnte. Benjamin(152) schreibt: »Dem entspringen die Phantasmagorien des Interieurs. Es stellt für den Privatmann das Universum dar. In ihm versammelt er die Ferne und die Vergangenheit. Sein Salon ist eine Loge im Welttheater.«[3] Benjamin(153) formuliert diese prophetischen Worte vor dem Aufkommen von Fernsehen oder Internet, noch bevor die Versammlung des räumlich und zeitlich Entfernten im häuslichen Interieur technologisch möglich war, bevor die Phantasmagorien des Interieurs uns zu sozial atomisierten Zuschauern machten – von Dauerglotzern in jener Gesellschaft, die der Franzose Guy Debord, der Begründer des Situationismus,(1) als die Gesellschaft des Spektakels bezeichnet hat.
Die Städte, von denen Walter Benjamin(154) sich anregen ließ, als er in den 1920er Jahren durch Europa(12) streifte, waren alles andere als das. In Neapel(3), Marseille(1) und vor allem in Moskau(11) traf er auf eine faszinierende Vermischung des privaten und des öffentlichen Lebens – offenbar gab es endlose Möglichkeiten, auch die Klassenschranken zu überwinden. Jede Stadt bot ihm auf jeweils unterschiedliche Weise Heilung von der Krankheit des modernen Lebens im Allgemeinen und von seiner eigenen Erziehung im Besonderen. Sein Landsmann, der Soziologe Max Weber(6), hatte von dem eisernen Käfig des Kapitalismus gesprochen, in welchem die Menschen dem Diktat von Effizienz, Kalkulation und Kontrolle unterworfen waren. Städte waren ein Bestandteil dieses Kontrollsystems, das nur deswegen funktionieren konnte, weil es die Armen und die Reichen an ihren althergebrachten Plätzen festhielt. Die Städte, von denen Benjamin(155) sich angeregt fühlte, waren das genaue Gegenteil dazu.
Er beschrieb sie in einer Reihe von Aufsätzen, die häufig, vom Standpunkt des privilegierten Nordeuropäers aus betrachtet, der in den Dunstkreis des sinnlichen Anderen gerät, erotisch aufgeladen sind; so machte er in einer überfüllten Moskauer(12) Straßenbahn die Erfahrung der Frottage, begeisterte sich an der mitreißenden Gestensprache der Neapolitaner(4) oder erforschte die faszinierend schäbigen Stadtteile von Marseille(2), einer Stadt, die damals ihrem Ruf als verruchtester Hafen weltweit durchaus gerecht wurde.
1925 verließ Benjamin(156) Berlin(42) und ein zunehmend feindseliges Deutschland(37) – hier war der Antisemitismus auf dem Vormarsch, und die Aussicht auf eine sozialistische Revolution rückte in immer weitere Ferne. Benjamins(157) Eindruck eines feindseligen Deutschlands(38) wurde durch einen beruflichen Rückschlag noch intensiviert. Seine Hoffnungen, als Akademiker an der Universität wirken zu können, zerschlugen sich, als die Universität von Frankfurt(43) seine Habilitationsschrift Ursprung des deutschen Trauerspiels ablehnte und ihm so die notwendige Voraussetzung für eine Lehrtätigkeit vorenthielt. Infolgedessen lebte er von kleineren Auftragsarbeiten und gelegentlicher Zusammenarbeit mit dem Institut für Sozialforschung; der Tod seines Vaters Emil(11) im Jahr 1926 verschlechterte seine finanzielle Situation noch einmal zusätzlich.
Italien(2) war für Benjamin(158), wie schon vor ihm für andere Deutsche seit Goethe(2), Gegengift, Zerstreuung und Ort erotischer Erneuerung. Und diese Aussicht erfüllte sich tatsächlich auch für ihn, als er mit der Schauspielerin Lacis(4) in Neapel(5) eintraf – seine Ehefrau Dora(3) und den siebenjährigen Sohn Stefan(1) hatte er in Deutschland(39) zurückgelassen. Er(159) und Lacis rühmten an Neapel eine Eigenschaft, die sie als Porosität bezeichneten. Der Begriff gewann für Benjamin(160) und die Denker der Frankfurter Schule in den 1920er Jahren zentrale Bedeutung. Benjamin und Lacis(5) definierten Porosität als ein Wegschmelzen struktureller und hierarchischer Spaltungen. Anstatt dass der heimische Raum von einer lästigen Außenwelt umzäunt war – so ihre Vorstellung von Nordeuropa –, trafen sie in Neapel(6) auf die Situation, dass das Privatleben »aufgelöst« und »vermischt« war. Sie merkten hierzu an: »Wie die Stube auf der Straße wiederkehrt, mit Stühlen, Herd und Altar, so, nur viel lauter, wandert die Straße in die Stube hinein.«
Die einzigen zivilisierten, privaten, rangierten Gebäude in Neapel(7), so ihr Eindruck, waren die Luxushotels und die großen Speicherbauten der Kais; überall sonst legten die Neapolitaner(8) eine Art von städtischem Leben an den Tag, die zu Benjamins(161) Kindheit und Jugend in Berlin(43) in krassem Widerspruch stand und in der die Armut allgegenwärtig war. »Das Elend hat eine Dehnung der Grenzen zustande gebracht, die Spiegelbild der strahlendsten Geistesfreiheit ist.« Kinder, so schrieb er mit der Erschütterung des Nordeuropäers, waren zu jeder Tages- und Nachtzeit auf den Beinen. »Man sieht Kinder spät nachts, um zwölf, ja um zwei, noch auf den Straßen. Mittags liegen sie dann schlafend hinterm Ladentisch oder auf einer Treppenstufe. Dieser Schlaf, wie auch Männer und Frauen in schattigen Winkeln ihn nachholen, ist also nicht der behütete nordische. Auch hier Durchdringung von Tag und Nacht, Geräuschen und Ruhe, äußerem Licht und innerem Dunkel, von Straße und Heim.« Natürlich könnte man das als Armutstourismus des Privilegierten abtun; was allerdings an seinem(6) und Lacis(7)’ Essay über Neapel(9) bemerkenswert bleibt, ist ihre Vision, dass das Leben gemeinschaftlich geworden ist, dass Raum und Zeit nach außen gekehrt wurden und Innerlichkeit nicht mehr denkbar ist. Neapel(10) war für Benjamin(162) nicht nur eine Stadt, sondern ein katholischer Karneval, die Umsetzung eines utopischen Traumes und ein modernes Kunstwerk.
Statt des eisernen Käfigs traf Benjamin(163) in Neapel(11) auf eine Welt libidinöser Strömungen. So beobachteten er und Lacis(8) etwa die Gestensprache mit den Augen voyeuristischer Anthropologen: »Die Gebärdensprache reicht weiter als irgendwo sonst in Italien(3). Undurchdringlich ist ihr Gespräch für jeden Auswärtigen. Ohren, Nase, Augen, Brust und Achseln sind Signalstationen, die von den Fingern bezogen werden. Diese Aufteilung kehrt wieder in ihrer wählerisch spezialisierten Erotik. Hilfsbereite Gesten und ungeduldige Berührungen fallen dem Fremden durch eine Regelmäßigkeit auf, die den Zufall ausschließt(164).« Man kann dieser Passage nicht entnehmen, ob Walter Benjamin eine Wegbeschreibung gegeben hat oder ob er angemacht wurde. Wie auch immer – offenbar fühlte er sich angesprochen.
In jenem Sommer des Jahres 1925, den Benjamin(165) und Lacis(9) am Golf von Neapel(12) verbrachten, gesellten sich weitere deutsche Kritiker und Philosophen zu ihnen, so etwa Siegfried Kracauer(4) und der 22-jährige Komponist, Musikkritiker und aufstrebende Philosoph Theodor Adorno(88), der seine Studien in Wien(6) bei dem Komponisten Alban Berg(2) abgebrochen hatte. Alle waren sie angetan – nicht nur von der Stadt, sondern auch von deren Umgebung: dem idyllischen Capri(1), von Besuchen des Vesuvs und ein Stück nördlich entlang der Küste von den Klippen von Positano(1). Martin Mittelmeier(1) formuliert in seinem Buch Adorno(89) in Neapel(90) die Hypothese, dass die Philosophen der Frankfurter Schule in Neapel(13) ihre Schulung erhielten – dass nämlich einige der interessantesten von ihnen entwickelten Ideen hier ihren Ursprung hatten, und dass sie ebenso wie Goethe(3) berückt waren von dem »Land wo die Zitronen blühn«. Während der Marxismus(152) in Frankfurt(44) verknöcherte, wallte er in Neapel(14) zum Leben auf.[4]
Zwischen 1924 und 1926 war der Vesuv für die Öffentlichkeit zugänglich. Mittelmeier(2) verfolgt den Ursprung einer Unterscheidung, die Adorno(91) in einem Essay über Schubert(1) aus dem Jahr 1928 getroffen hat – der Unterscheidung zwischen der chthonischen Gewalt Beethovens(2) und den gespaltenen Landschaften bei Schubert(2) –, und sieht diesen Ursprung im Vesuv. Mittelmeier(3) legt auch dar, dass Adornos(92) häufig auftauchende Redeweise von Hohlräumen einen ganz konkreten Vorläufer hat: Er traf auf dieses Phänomen an den Klippen von Positano(2). Dort verbrachte der Schweizer Futurist Gilbert Clavel(1) einen Großteil der 1920er Jahre damit, unter Zuhilfenahme von Dynamit riesige Löcher in die Felsfassade zu sprengen. »Jedesmal, wenn ich diese Löcher erschaffe«, so Clavel im Jahr 1923, »habe ich das Gefühl, Lufteinschlüsse von Energie zu erobern, komprimierte Räume, in denen dann etwas Geistiges explodieren kann(2).«[5] Wenn Adorno(93) festhält, Beethoven(3) sprenge »Hohlstellen« in die bürgerliche Musik, dann, so die Interpretation Mittelmeiers(4), gehe dieses Bild ganz konkret auf seine Eindrücke an den Klippen von Positano zurück.
Vielleicht lernte Adorno(94) das Philosophieren ja in Positano(3). Nietzsche(3) philosophierte mit dem Hammer, Adorno(95) steigerte diesen zu Dynamit. Als Dekonstruktionist, noch bevor es den Begriff gab, begann Adorno(96) seine Schriftstellerkarriere in den 1920er Jahren mit vernichtenden Musikkritiken und hörte später nie damit auf, Löcher in die lange und sorgsam gehüteten, intellektuellen Gebäude anderer Denker zu sprengen. Auf dem Höhepunkt der Philosophie des reifen Adorno(97), der Negativen Dialektik, jagte er beispielsweise Hegels(7) Philosophie der Geschichte in die Luft. Geschichte hatte für Hegel etwas von einer Felsformation – es war ein langsamer Werdeprozess. Und es war außerdem eine Geschichte mit einem Happy End; ja mehr noch: eine Heilsgeschichte, in der alles, sogar die Sackgassen der Evolution, sogar die Menschenleben, die unter dem unerbittlichen Fortschritt der Geschichte hin zum Absoluten niedergedrückt worden waren, eine Bedeutung, einen sinnvollen Ort in der Geschichte hatten. Wenn Hegel(8) sagte: »Das Wirkliche ist das Vernünftige«, dann meinte er genau das. Wenn er sich der paradoxen Formulierung einer »Identität von Identität und Nicht-Identität« bediente, dann behauptete er auch damit, dass alles, was geschieht, auf irgendeine Art und Weise zum Wirken des Absoluten beitragen müsse(9).
Heraklit(1) hatte die Welt als ständiges Strömen und Wandel, als die dem Sein zugrunde liegende Wahrheit begriffen. Unter Hegels(10) Blick war das heraklitische(2) Fließen der Welt zu etwas geronnen, das einfacher zu verstehen war – als seien aus vesuvischem Magma die Felswände von Positano(4) geworden. Geschichte wurde zu etwas Paradoxem: Im Zuge eines Entwicklungsprozesses wurden die Gesetze, die diesen Prozess erklärten, in Stein gehauen. Adorno(98) machte mit Hegel(11) das, was Beethoven(4) mit der bürgerlichen Musik gemacht hatte – er zerschmetterte die hegelsche(12) Ganzheit. Er sagte, es gebe eine »Nicht-Identität von Identität und Nicht-Identität«, womit er zum Ausdruck brachte, dass das Sein unvollständig sei, dass es darin eine Lücke an der Stelle gebe, an der das Ganze sein sollte, dass die Geschichte nicht einfach nur die Entfaltung eines vorherbestimmten geistigen Reiches und dass das Sein somit »ontologisch unvollkommen(99)« sei.[6]
Adornos(100) Dekonstruktion der abendländischen Philosophie wurde in den 1920er Jahren in seinen Texten über Musik vorbereitet. »Sein Diskurs war voller melancholischer Anspielungen, die auf den Zerfall aller traditionellen Werte hindeuten«, so der Komponist Ernst Krenek(1), der den jungen Adorno(101) 1924 traf. Adorno(102), damals Kritiker und Anfänger im Fach Komposition, wohnte den Proben zu Kreneks komischer Oper Der Sprung über den Schatten bei. »Eines seiner Lieblingsworte war ›zerfallende Gehalte‹, und er gebrauchte es so oft, dass wir uns schließlich darüber lustig machten.«[7]
Für einige standen moderne und modernistische Kunst für den Fortschritt; für Adorno(103) ging es darin um einen Zersetzungsprozess. In den 1920er Jahren zerfielen alte Werte und ästhetische Vorstellungen: Schönbergs(1) Entwicklung der Zwölftonmusik, die Abstraktion in der Malerei, der Dadaismus, all diese neuen Formen des künstlerischen Ausdrucks sprengten die überkommenen Werte in die Luft. Deshalb wurden sie auch durchweg von den Nazis gehasst, die sich bemühten, vormoderne künstlerische Werte wiederzubeleben. In diesem Kulturkampf stand die Frankfurter Schule auf der Seite der Modernisten.
In seinem Essay mit dem Titel »Über Zwölftontechnik« aus dem Jahr 1928, einer Analyse des schönberg(2)schen atonalen Systems, stellt Adorno(104) die Geschichte der Musik als einen Prozess der Auflösung dar. Die Fuge und die Sonate waren keine maßgeblichen musikalischen Bezugsrahmen mehr. Später zerfiel dann zusammen mit den harmonischen Strukturen und Kadenzen die Tonalität. Adorno(105) erklärt daher, es sei reaktionär, solche musikalischen Formen und Techniken zu verwenden, wie die neoklassizistisch orientierten Komponisten Strawinsky(1) oder Honegger es taten.
Was Adornos(106) Philosophieren über Musik zufolge jedoch am nachhaltigsten zerfiel, war die Vorstellung, dass Musik ein neutrales Naturphänomen sei, das von historischem Wandel nicht betroffen sei. Vielmehr verhalte es sich so, dass auch die Musik von der Dialektik des historischen Prozesses geprägt werde. Es konnte also gar keine universell gültige Kompositionsmethode geben. Damit stieß seine Kritik nicht nur den Bürger, dem atonale Musik nicht gefiel und der harmonische Melodien forderte, und nicht nur den neoklassizistischen Komponisten, sondern auch Krenek vor den Kopf(2), der entgegnete, nicht die Harmonie, sondern die atonale Musik sei zuerst dagewesen.
So wie der destruktive Impuls, der sich Adorno(107) während seiner neapolitanischen Ferien in den 1920er Jahren vermittelte, für seine späteren Schriften inspirierend gewesen war, so befeuerten Benjamins(166) Streifzüge durch die Fremde während derselben Zeit ihn mit Enthusiasmus. Zwei Jahre nach seinem Aufenthalt in Neapel(15) besuchte Benjamin Moskau(13), wo Lacis(10), die große, wenn auch unglückliche Liebe seines Lebens, mittlerweile nach einem Nervenzusammenbruch in einem Sanatorium behandelt wurde. Auch hier war er(167) wieder begeistert von einer Stadt, die sich ähnlich wie Neapel(16) von der Trennung zwischen dem privaten und dem öffentlichen Leben verabschiedet hatte und die sich darüber hinaus auf ein kommunistisches Gesellschaftsexperiment einließ. Während Horkheimer(86), wie wir im vorangegangenen Kapitel gesehen haben, 1927 die Ohnmacht des deutschen Proletariats beklagte, hyperventilierte Benjamin(168) im selben Jahr angesichts des sowjetischen(12) Experiments fast vor Enthusiasmus. »Jeder Gedanke, jeder Tag und jedes Leben liegt hier wie auf dem Tisch eines Laboratoriums«, schrieb er.[8] Die Fahrt in einer Straßenbahn war für Benjamin(169) ein Ausdruck en miniature für die vollständige Durchdringung technologischer und primitiver Lebensweisen. Der Fremde genoss die Höflichkeit, die in dem ganzen Gedränge herrschte: »Ein zähes Stoßen, Drängen, Gegenstoßen bei dem Besteigen eines meistenteils schon bis zum Bersten überfüllten Wagens geht lautlos und in aller Herzlichkeit vonstatten. (Nie habe ich bei der Gelegenheit ein böses Wort vernommen.)« Eine weitere Form des Moskauer(14) öffentlichen Personentransports, der Schlitten, faszinierte Benjamin(170) sogar noch mehr, vor allem weil er soziale Unterschiede zum Verschwinden brachte.
Wo Europäer in geschwinder Fahrt Überlegenheit, Herrschaft über die Menge genießen, ist der Moskowiter(15) im kleinen Schlitten dicht unter Menschen und Dinge gemischt. Hat er dann noch ein Kistchen, ein Kind oder einen Korb mitzuführen – für all dies ist der Schlitten das erschwinglichste Beförderungsmittel – so ist er wahrhaft eingekeilt ins Treiben der Straße. Kein Blick von oben herab: ein zärtliches, geschwindes Streifen an Steinen, Menschen und Pferden entlang. Man fühlt sich wie ein Kind, das auf dem Stühlchen durch die Wohnung rutscht.
Wie rührend übrigens, dass Benjamin(171) hier die Schlittenfahrt mit der verlorenen Unschuld seiner Kindheit verbindet und sich durch das bolschewistische Experiment zu einer Träumerei à la Proust(20) bewegen lässt.
Der Essay ist hitzig aufgeladen mit sinnlicher Erregung und politischem Engagement. Die Straßen der sowjetischen(13) Hauptstadt waren ein Bereich neuer Möglichkeiten, dort wurden alte Traditionen verworfen, man eignete sie sich auf neue Weise an, erfand neue. Benjamin(172) erlebte die kurze Ära, bevor die Sowjetunion(14) zu einem Monstrum erstarrte – einer stalinistischen(4) Tyrannei aus Gulags und Schauprozessen, in der Avantgardekunst wie Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk in der Prawda, dem offiziellen Sprachrohr der Kommunistischen Partei, im Jahr 1936 unter der Schlagzeile »Chaos statt Musik« gnadenlos verrissen wurde: Die Oper »kitzle den perversen Geschmack der Bourgeoisie mit ihrer zappeligen, schreiend neurotischen Musik«.[9] Benjamin(173) erhoffte sich von der modernen Kunst – vor allem dem Kino, der Bildenden Kunst und der Art literarischen Experimentierens, wie er es selbst in den 1920er Jahren praktizierte –, dass sie als Bestandteil der Revolution den Geist der Unterdrückten befreien würde.
Benjamin(174) war nicht leicht aus der Fassung zu bringen. Während eines Besuchs in München(3) kaufte er für 1 000 Mark Klees(1) Aquarellzeichnung Angelus Novus. Seine Freundin Charlotte Wolf(1)f erinnerte sich, wie sich dieser »linkische und verklemmte Mann benahm, als hätte er etwas ganz Wunderbares geschenkt bekommen«.[10] Etwas Ähnliches geschah 1927 in Moskau(16). Die Sowjetunion(15) war ein kulturelles Experiment, das auf Benjamin(175) ähnlich inspirierend wirkte wie Gemälde von Kandinsky(1) und Klee(2) oder andere Werke moderner Kunst, die er in seinen Schriften aus den Weimarer Jahren rühmend erwähnte – Prousts(21) Roman, Brechts(13) Episches Theater, das Avantgardekino, Surrealismus und Fotografie. Aber nicht nur die Themen seiner Texte eröffneten eine neue Front im politischen Kampf, sondern auch die Art, wie er schrieb.
In den 1920er Jahren war Benjamins(176) Stil in der Tat sein politischster Akt. Er begann, »unscheinbare Formen« der »überheblichen, allumfassenden Geste des Buchs« vorzuziehen, und so kam es, dass Essays wie beispielsweise derjenige über Moskau(17) das Schreiben revolutionierten, bürgerliche Normen zersetzten und den für die Moderne typischen Schock des Neuen verkörperten. Sein Schreibstil ist lapidar, knapp, improvisiert; eine narrative Ordnung wird zugunsten stilistischer Riffs aufgegeben, die sich in Variationen wiederholen, Konstellationen bilden, Bedeutung erzeugen. Benjamins(177) Stil ist ähnlich subversiv wie Jazz, wobei Benjamin in seinem Essay über Moskau allerdings erwähnt, dass es in der Sowjetunion verboten war, zu Jazz zu tanzen (für die Autoritäten war diese Musikform ein Symbol westlicher Dekadenz). Und als Ergebnis hält er fest: »Man hat ihn wie ein buntes, giftiges Reptil gewissermaßen hinter Glas verwahrt.« Benjamins(178) Schreiben in dieser Phase ist ähnlich schlangenartig, unberechenbar in seinen Bewegungen, es hastet durch Labyrinthe, untergräbt rastlos die literarische Ordnung.
»Von Anfang bis Ende«, so seine Biographen über diesen Spieler, »ging Benjamin(179) mit den Themen, die er behandelte, und mit Form und Stil seines Schreibens Risiken ein.«[11] Das beste Beispiel dafür ist Einbahnstraße, seine Sammlung von Aphorismen, philosophischen Fragmenten und Gedanken über das moderne Leben; das Buch ist eine Montage, vergleichbar dem, was Dsiga Wertow(1) für den sowjetischen(16) Film und die deutsche dadaistische Künstlerin Hannah Höch(1) während der Weimarer Republik(4) mit ihren Scheren schufen; vergleichbar auch mit den Werken der von Benjamin(180) bewunderten französischen Surrealisten – sie arbeiteten mit Papierschnitzeln, Stücken bemalter Leinwand, Zeitungen, Fahrscheinen, Zigarettenkippen und Knöpfen. Aus dergleichen gefundenen Objekten stellten sie irritierende Montagen her. Benjamins(181) Schreiben machte einen dekadenten, befremdlichen Eindruck, der sowohl auf die nationalsozialistischen als auch auf die sowjetischen(17) Ideologen verstörend wirkte. Benjamin forderte der Grundstruktur seines Stils nach eine Vision von Kunst und Schreiben, die jener diametral zuwiderlief, wie sie Georg Lukács(32) in seinen kritischen Lobpreisungen des realistischen Romans vor Augen hatte. Allerdings sind Benjamins(182) beste Texte in den 1920er Jahren bei aller modernen Genialität nicht von einer Qualität, die ihm eine Festanstellung eingebracht hätte. Vielmehr brach er in Einbahnstraße und in jenen vorsätzlich fragmentarischen impressionistischen Porträts der Städte, die seine Phantasie angestachelt hatten, bewusst aus den Formaten aus, mit denen er(183) sich akademisch hätte andienen können, und widmete sich mit seinen analytischen Techniken solchen Phänomenen, die herkömmliche Professoren gar nicht als der näheren Betrachtung wert angesehen hätten: den Phantasmagorien des modernen Stadtlebens, wozu auch diese verdächtige neue Sache, das Kino, zählte.[12]
Trotzdem sollte sich das, womit Benjamin(184) in den 1920er Jahren in Deutschland(40) anfing – ein Schreibstil, der sich formal bei den ausgefeiltesten journalistischen Vignetten bediente (vor allem jenen Siegfried Kracauer(5)s, dem Freund und Mentor von Benjamin(185) und Adorno(108)) und bei deren aus dem Avantgardekino, der Fotografie und der bildenden Kunst stammenden Techniken –, als eine der dauerhaftesten literarischen Formen bei späteren europäischen Intellektuellen etablieren (wie beispielsweise in den Mythen des Alltags von Roland Barthes(1) oder Wenn die Postmoderne zweimal klingelt von Gilbert Adair(1)).
Trotz seiner Leidenschaft für die Moderne war Benjamin(186) durchaus kein unkritischer Beobachter der Moskauer(18) Situation. Er war fasziniert, dabei aber gleichzeitig besorgt über die Richtung, die dieses Experiment einschlug. »Der Bolschewismus hat das Privatleben abgeschafft«, schrieb er. Während er jedoch in Neapel(17) diese Abschaffung durchaus zu schätzen wusste, machte er sich in Moskau(19) Gedanken über deren Folgen(187): »Das Ämterwesen, der politische Betrieb, die Presse sind so mächtig, dass für Interessen, die mit ihnen nicht zusammenfließen, gar keine Zeit bleibt.« Und er überlegte, welche Auswirkungen diese sich herausbildende totalitäre Gesellschaft auf das intellektuelle Leben haben würde: »Wie sieht der Literat in einem Lande aus, in dem sein Auftraggeber das Proletariat ist?«, so seine besorgte Frage. Für freischaffende Intellektuelle wie Benjamin, aber auch für die Gelehrten der Frankfurter Schule, die in ihrem nüchternen Institut für Sozialforschung vor sich hinarbeiteten, war das eine besonders vertrackte Frage. Benjamins(188) Einschätzung zufolge war die Uhr für beide Typen von Intellektuellen bereits abgelaufen:
Denn früher oder später muss mit dem Mittelstande, der im Ringen von Kapital und Arbeit zerrieben wird, auch der »freie« Schriftsteller untergehen. In Rußland(12) ist der Vorgang abgeschlossen: der Intellektuelle ist vor allem Funktionär, arbeitet im Zensur-, Justiz-, Finanzdepartement, ist, wo er nicht dem Untergang verfällt, Teilhaber an der Arbeit – das heißt aber, in Rußland(13), an der Macht. Er ist ein Angehöriger der herrschenden Klasse.
Es bekümmerte ihn(189), dass man all die von ihm so hochgeschätzte grandiose moderne Kunst ausgesondert hatte, weil sie für den revolutionären Endzweck nicht zuträglich war, und ihre Schöpfer waren entweder in die Gulags verschickt oder in behäbige Funktionäre verwandelt worden: »Längst sind die Konstruktivisten, Suprematisten, Abstraktivisten, die während des Kriegskommunismus ihre graphische Propaganda in den Dienst der Revolution gestellt haben, entlassen. Heute verlangt man nur banale Deutlichkeit.« Man kann geradezu spüren, wie es ihn(190) hier schauderte – fast als habe er sich vorgestellt, selbst in die albtraumhaften bürokratischen Fiktionen seines geliebten Kafka(16) versetzt zu werden: Der freie Schriftsteller riskiert, zu einem Josef K. und – »wo er nicht dem Untergang verfällt« (eine wahrhaft schaudererregende Formulierung) – zu einem Funktionär in der neuen Führungsschicht gemacht zu werden. Banale Deutlichkeit? Funktionär der Regierung? Mitglied der Führungsschicht? Benjamin(191) kehrte nie nach Moskau(20) zurück.
Im selben Jahr, als Benjamin(192) seinen Essay über Moskau(21) abfasste, begann er mit der Arbeit an dem Buch, das er als »das Theater meiner sämtlichen Kämpfe und all meiner Ideen« bezeichnete und nicht mehr vollenden konnte. Das Passagen-Projekt war ursprünglich als Zeitungsartikel über die Passagen geplant, mit deren Bau man in Paris(14) Anfang des 19. Jahrhunderts begonnen hatte. Das Projekt erweiterte sich dann zu einem Essay unter dem Titel »Pariser(15) Passagen: Eine dialektische Feerie«. Letztlich schwoll es zu einem Buch an. Aber warum Paris? Gab es in seiner Geburtsstadt Berlin(44) keine Einkaufspassagen? Teilweise sei sein Interesse an der Kultur Frankreichs(1) auf seine Entfremdung von zeitgenössischen deutschen Autoren zurückzuführen, so Benjamins(193) Übersetzer in ihrem Vorwort zur englischen Ausgabe des Passagen-Werks.[13]
Benjamin(194) hatte schon lang einen ausgeprägten Hang zur französischen Kultur. Sein Vater Emil(12) lebte mehrere Jahre in Paris(16), bevor er in den 1880er Jahren nach Berlin(45) umzog, und zur Dienerschaft im benjaminschen Haus gehörte eine französische Gouvernante. Als Walter(195) also 1913 erstmals nach Paris kam, sprach er bereits fließend Französisch, und seine erwachende Frankophilie wurde noch durch den Umstand angestachelt, dass die Erinnerung an seine jugendlichen Streifzüge durch das französisch beeinflusste Berlin durch die unmittelbare Erfahrung des Vorbilds übertrumpft wurde. Er fühlte sich »im Louvre und auf dem Grand Boulevard fast mehr zu Hause als im Kaiser Friedrich-Museum oder auf den Straßen Berlins(196)(46)«.[14]
Kein Wunder: Paris(17) war die Vorlage für seine(197) Kindheitswelt. Später in den 1930er Jahren, als er wegen der Nationalsozialisten gezwungen war, ins Exil zu gehen, ließ er sich in Paris nieder; in gewisser Weise war die Stadt schon seit langem seine geistige Heimat gewesen. Das hatte zur Folge, dass sich dieser Kritiker mit dem Spürsinn des Archäologen, als er am Passagen-Werk über Paris schrieb, durch die Schichten der Vergangenheit grub, und eine der Schichten, auf die er stieß, war sein Werk »Berliner(47) Kindheit um Neunzehnhundert«.
Allerdings war Das Passagen-Werk alles andere als ein Liebesbrief an Paris(18). Vielmehr ist es eine Darstellung der Geburt der kapitalistischen Moderne in Gestalt der Eisen- und Glaskonstruktionen der Pariser(19) Passagen. Diese Passagen »schufen in der Stadt Innenräume, in denen die neue soziale Welt des modernen Kapitalismus Gestalt annahm«, so Douglas Murphy(1) in Last Futures: Nature, Technology and the End of Architecture.[15] Benjamin(198) reagierte so einfühlsam wie vielleicht noch kein Autor vor ihm auf die Art und Weise, in der neu aufkommende Raumgestaltungsformen für die Kultur des Kapitalismus Bedeutung gewannen. Wie die privaten Innenräume bürgerlicher Behausungen erfüllten für Benjamin(199) auch die Pariser(20) Passagen die Funktion, die Wirklichkeit auszuschließen. »Passagen sind Häuser oder Gänge, die keine Außenseite haben – wie der Traum.«[16]
Einzigartig an Benjamins(200) Projekt ist, dass er die Passagen sowohl als Metapher für die Widersprüchlichkeit des Kapitalismus versteht als auch gleichzeitig als Vorschein einer besseren Welt. In einem der letzten Texte, die er verfasste, der Einführung (beziehungsweise dem Exposé, so seine Bezeichnung) zu seinem Buch aus dem Jahr 1939, leuchtet ein Hoffnungsschimmer auf: »Das Jahrhundert hat den neuen technischen Möglichkeiten nicht mit einer neuen gesellschaftlichen Ordnung zu entsprechen vermocht.«[17] So sah die dialektische marxistische(153) Bewegung bei Benjamin(201) aus: Eben diese Tempel des Kapitalismus selbst enthielten Ahnungen vom Untergang des Kapitalismus zugunsten eines Sozialismus, der die Technik in den Dienst der Massen stellte.
Spätere deutsche Philosophen zeigten sich von diesem Schachzug wenig beeindruckt. Am deutlichsten bezieht Peter Sloterdijk(1) mit seinem 2005 erschienen Buch Im Weltinnenraum Stellung. Er teilt Benjamins(202) Auffassung, dass der Kapitalismus sein Funktionieren teilweise der Schaffung exklusiver Räume verdanke, mit denen die Unerwünschten, Mittellosen draußen gehalten werden – seien es nun ummauerte Grundstücke, Einkaufspassagen, in denen Sicherheitskräfte patrouillieren, oder die Festung Europa(13) –, doch streitet er ab, dass die grandiosen Innenräume des Kapitals irgendeine Hoffnung auf eine bessere Welt enthalten könnten. Sloterdijk(2) führt einen anderen, noch stattlicheren Kapitalistentempel aus Glas und Stahl an: den Crystal Palace Joseph Paxtons(1), der für die Londoner Industrieausstellung des Jahres 1851 erbaut wurde. Dieser sei eine zutreffendere, allerdings auch weniger hoffnungsfrohe Metapher des Kapitalismus. »Die Passagen bildeten ein überdachtes Intermezzo zwischen Straßen und Plätzen«, so Sloterdijk, »der Kristallpalast hingegen beschwor bereits die Idee eines Gehäuses herauf, das geräumig genug wäre, um es vielleicht nie mehr verlassen zu müssen(3).«[18] Im Palastinneren waren unter einem Dach in temperaturkontrollierter Atmosphäre und unter zuträglichen sanitären Bedingungen die attraktivste Flora und Fauna und die interessantesten Industrieprodukte ausgestellt, es war also nicht mehr nötig zu reisen, und alles, was außen vor gelassen wurde (Krieg, Völkermord, Sklaverei, unerfreuliche Tropenkrankheiten), schrumpfte bis zur Bedeutungslosigkeit. In dieser Hinsicht waren nicht so sehr die Pariser(21) Passagen, sondern der Kristallpalast(2) eine Blaupause für die Entwicklung des Kapitalismus, wie sie seitdem stattgefunden hat. Sloterdijk(4) schreibt weiter: »Wer könnte leugnen, dass die westliche Welt – insbesondere die Europäische Union … – in ihren wesentlichen Eigenschaften heute genau ein solches großes Interieur verkörpert?«[19] Im Passagen-Werk bezeichnet Benjamin(203) das bürgerliche Wohnzimmer als Symbol für die Privatsphäre im Frühkapitalismus, einen Raum, in dem der private Bürger sich vor der lästigen Außenwelt verkriechen konnte. Im Spätkapitalismus, so Sloterdijk, habe sich die Sperrzone von der Wohnzimmergröße auf die Größe eines Kontinents ausgedehnt.
Als Benjamin(204) erstmals in Erwägung zog, über die Pariser(22) Passagen zu schreiben, teilte er seinem Freund Gershom Scholem(8) mit, er wolle die Collagetechniken, die er am Surrealismus so bewunderte, auf seine Bücher übertragen. Er setzte sie in seinen Zeitungsartikeln, in dem Montagebuch Einbahnstraße und in seinen Stadtskizzen ein; am ehrgeizigsten jedoch im Passagen-Werk. Statt Geschichte als eine Studie der großen Männer zu schreiben, ging es ihm(205) darum, die Geschichte vermittels ihrer Abfallprodukte und Trümmer zu erschließen, das Übersehene, Wertlose, Kitschige zu studieren – genau jene Dinge also, die in der offiziellen Version sinnlos schienen, in denen aber, so Benjamins(206) Behauptung, die Wunschträume des kollektiven Bewusstseins verschlüsselt seien.
Benjamin(207) wollte eine Art Schockeffekt auslösen, der uns aus unseren Illusionen aufwecken sollte. Der Effekt sollte dem ähneln, was Kinobesucher fühlten – beziehungsweise wovon Benjamin annahm, dass sie es fühlten –, wenn sie eine Bildermontage sahen, in der mehrere Zeiten übereinandergeschichtet waren. Er bezeichnete sein Verfahren als eine Übertragung des »Montageprinzips in die Geschichte«. Das Buch wurde unaufhaltsam immer dicker. Nach 1933, als er sich nach Hitlers(7) Machtergreifung in Paris(23) niederließ, konnte man ihn(208) täglich an seinem Schreibtisch in der Bibliothèque Nationale antreffen, wo er Karteikarten mit detaillierten Notizen über die Geburt des Kapitalismus füllte. Er wurde zum Lumpensammler, der Zitate und Motive zusammenklaubte – beispielsweise aus Werbeplakaten, Schaufensterauslagen, Bekleidungsmoden. Das Projekt schien von der Idee getrieben, dass alles eine verborgene Botschaft enthielt und dass es die Aufgabe des Autors war, diese Botschaft zu entschlüsseln. Das Passagen-Werk war, als Benjamin(209) starb, unvollendet, doch wenn ihm eine solche Philosophie zugrunde lag, dann war es möglicherweise überhaupt unvollendbar.
Einige haben das Werk, das in Deutschland(41) postum im Jahr 1982 und in englischer Sprache erst fast zwanzig Jahre später veröffentlicht wurde, als Trümmerhaufen bezeichnet. Andere hingegen, vor allem der italienische Philosoph Giorgio Agamben(1), sind der Meinung, es hätte einer der großen kulturkritischen Texte des 20. Jahrhunderts daraus werden können, wenn die Nazis, indem sie Benjamins(210) fatale Flucht erzwangen, seine Fertigstellung nicht verhindert hätten.[20] Mit Sicherheit kann man jedenfalls sagen, dass das Buch, mit dem Benjamin versuchte, uns aus dem kapitalistischen Traum aufzuwecken, die Hoffnungen seines Autors nicht erfüllt hat.
Mit der Abfassung des Passagen-Werks verfolgte Benjamin(211) eine äußerst ehrgeizige politische Zielsetzung: Er wollte den Marxismus(154) für eine neue Ära des Konsumdenkens umgestalten, eine Ära, in der wir in einer Art und Weise von Waren abhängig sind, die sich Marx(155) noch gar nicht vorstellen konnte. Marx(156) hatte den Warenfetischismus als Wiedereinführung eines vormodernen religiösen Bewusstseins in die Moderne, in das Wesen des Kapitalismus beschrieben. Um die fetischistische Macht von Waren zu verstehen, »müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand.«[21] Aus der Entfremdung von freier Arbeit resultierte eine unbewusste Reaktivierung einer Art kollektiven religiösen Bewusstseins – oder anders formuliert, einer Verblendung der Massen. Das, so Marx(157), sei unvermeidlich gewesen, damit die Entfremdung natürlich und unausweichlich wirkte.
Waren sind für Marx(158) sowohl ökonomische als auch symbolische Formen gewesen und setzten sich primär aus hergestellten Gütern und Rohmaterialien zusammen. Benjamins(212) Neuinterpretation des marx(159)schen Warenfetischismus bestand darin, dass er das Gewicht eher auf Verbrauchsobjekte, nicht so sehr auf Produktionsobjekte richtete. »Man könnte sagen, dass Marx(160) die theologische Komplexität der Ware verstanden hat«, so der Benjamin-Spezialist Max Pensky(1), »allerdings nicht den Status der Ware als einer Phantasmagorie, also eines wahnhaften Ausdrucks kollektiver utopischer Phantasien und Sehnsüchte, deren Ausdruckscharakter selbst, als ein wahnhafter, sicherstellt, dass diese Sehnsüchte rein utopische Phantasien bleiben.«[22]
Benjamin(213) flüchtete wie Marx(161) in die Nebelregion der religiösen Welt, indem er sich die moderne Welt als eine Art Hölle vorstellte. »Die ›Moderne‹, die Zeit der Hölle«, heißt es im Passagen-Werk. Wenn Benjamin(214) obsolete Stücke historischen Abfalls untersuchte wie beispielsweise das Kaiserpanorama oder die Pariser(24) Passagen, dann fand er nicht nur Hoffnungen und Träume, sondern auch die Vernichtung dieser Hoffnungen und Träume. Er wollte uns bewusst machen, dass Verbrauchsgüter, käuflich erworbene Kinkerlitzchen, technische Innovationen, die uns heute bezaubern, in absehbarer Zeit überholt sein werden; sie halten uns in der an Sisyphus erinnernden Suche nach etwas Anderem, Neuen gefangen, das unsere deformierten Sehnsüchte befriedigen kann. So sah das höllische Schicksal der Opfer des Kapitalismus aus. Benjamin(215) wollte, seine Leser würden sich bewusst machen, dass vergangene kollektive Hoffnungen zerschlagen wurden, und durch diese Kontemplation sollen wir uns klarmachen, dass die Hoffnungen, an die wir uns heute klammern, in Zukunft letztlich genauso unerfüllt bleiben werden. Nach Max Pensky(2) ging es Benjamin um Folgendes: »Die von jeder neuen Ware versprochene Phantasiewelt materiellen Wohlbefindens wird als eine Hölle der Nichterfüllung entlarvt; das Versprechen ewiger Neuheit und unbegrenzten Fortschritts, das in die Imperative des technischen Wandels und der Verbrauchszyklen eingeschrieben ist, erscheint nun als deren Gegenteil, als Urgeschichte, als der mythische Zwang zu ewiger Wiederholung.«[23]
Das Mittel, mit dem Benjamin(216) uns im Passagen-Werk aus unseren Träumen reißen will, ist das von ihm sogenannte dialektische Bild. Es handelt sich dabei um einen Schlüsselbegriff der benjaminschen Philosophie der 1930er Jahre. Im folgenden Abschnitt versucht er, schlüssig darzulegen (womit er nach Meinung vieler Leser allerdings scheiterte), was ein dialektisches Bild ist:
Nicht so ist es, daß das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern das Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit anderen Worten: Bild ist Dialektik im Stillstand. Denn während die Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit eine rein zeitliche, kontinuierliche ist, ist die des Gewesnen zum Jetzt dialektisch: ist nicht Verlauf, sondern Bild, sprunghaft. – Nur dialektische Bilder sind echte (d.h.: nicht archaische) Bilder; und der Ort, an dem man sie antrifft, ist die Sprache(217).[24]
Diese esoterische Definition macht Benjamin-Forscher(218) nach wie vor ratlos. So schrieb beispielsweise Pensky(3) ironisch, dass der »›Blitz‹ des dialektischen Bildes bis heute eher ein dunkler Stern geblieben ist, geradezu eine Art theoretisches und methodisches Schwarzes Loch, eine ›Singularität‹, die nur ihren eigenen, besonderen Gesetzen folgt und ganz offensichtlich dazu in der Lage ist, sämtliche Versuche einer kritischen Durchleuchtung zu verschlucken«.[25]
Bereits der Terminus »dialektisches Bild« klingt wie ein Oxymoron: »Dialektisch« meint üblicherweise eine Beziehung von Begriffen oder Argumenten zueinander; ein Bild ist im Unterschied dazu normalerweise etwas Einzelnes, Unmittelbares. Man fühlt sich versucht, an dieser Stelle am Verständnis Benjamins(219) zu verzweifeln. Allerdings, wie Pensky(4) richtig bemerkte, sei Verzweiflung keine Option, wenn wir dem zentralen Gedanken der ausgereiften marxistischen(162) Philosophie des wohl originellsten mit der Frankfurter Schule verbundenen Denkers gerecht werden wollen.
Für Benjamin(220) waren es die fehlgeschlagenen Versuche, die erbärmlichen, aus den Fortschrittsnarrativen getilgten Misserfolge, die seine Aufmerksamkeit anzogen und mithilfe derer er die Hölle darstellte. Solche historischen Objekte aus ihrem üblichen Kontext (also entweder als Teil des triumphalistischen Fortschrittsnarrativs oder als eliminiertes Element) herauszusprengen, sollte als eine Art marxistischer(163) Schocktherapie wirken mit dem Ziel, das Bewusstsein zu reformieren. 1843 hatte Marx(164) geschrieben, die Reform des Bewusstseins bestehe darin, dass man »die Welt ihr Bewußtsein innewerden läßt, daß man sie aus dem Traum über sich selbst aufweckt, daß man ihre eignen Aktionen ihr erklärt«.[26] Benjamins(221) Begriff des dialektischen Objekts ist in diesem Sinne marxistisch(165): Er impliziert, Objekte aus ihrem Kontext zu reißen, sie mit anderen Objekten aus unterschiedlichen Zeiten zusammenzubringen und sie in einen anderen Kontext zu versetzen – in das, was Benjamin(222) als eine Konstellation bezeichnete. Die Zielvorstellung war, dass diese neu angeordneten Objekte sich gegenseitig beleuchten und in einem plötzlichen, schockierenden Bild den Lügentraum des Kapitalismus entlarven sollen.
Dieses schwer definierbare Ding, das dialektische Bild, ist also nicht primär ein Bild, das man anschauen könnte, sondern etwas, das lediglich in Sprache darstellbar ist, dabei aber Vergangenheit und Gegenwart in dialektische Beziehung zueinander setzt. Benjamin(223) bemerkte hierzu: »Die neue, die dialektische Methode der Historik: die Kunst, die Gegenwart als die Wachwelt zu erfahren, auf die der Traum, den wir als Vergangenheit bezeichnen, sich in Wahrheit bezieht.«[27] Der Methode liegt die Auffassung zugrunde, dass die Gegenwart von den Ruinen der Vergangenheit heimgesucht werde, von eben jenem Abfall, den der Kapitalismus aus seiner Geschichte herausretuschieren wollte. Diese einigermaßen esoterische Methode prägte entscheidend die Philosophie Theodor Adorno(109)s in den 1930er Jahren und wurde zu einer wichtigen Seitenlinie der Kritischen Theorie, wenn auch möglicherweise zu einer Sackgasse. Benjamin(224) bediente sich nur ganz selten der freud(17)schen Terminologie einer Rückkehr des Verdrängten, aber genau das wurde durch sein Projekt in Gang gebracht.
Insofern wollte Benjamin(225) ein Erlöser sein, der die Opfer des Kapitalismus aus der Hölle befreit. Und das dialektische Bild sollte diese Befreiungsaktion unterstützen. Allerdings fiel die Rezeption unterschiedlich aus; Pensky(5) erwog besorgt die Möglichkeit, dass womöglich keiner außer Benjamin selbst dialektische Bilder finden oder herstellen kann. Andere Kritiker fragten sich, ob es überhaupt etwas dergleichen gäbe.[28] Sehr wahrscheinlich verdunkelt der Begriff »dialektisches Bild« eine schlichtere Wahrheit, die Benjamin zu vermitteln suchte. Er war der Auffassung, dass wir im Kapitalismus aus Konsumgütern Fetische machten – dass wir uns der Illusion hingäben, sie könnten unsere Glückshoffnungen erfüllen und unsere Träume wahr werden lassen. Indem wir uns über alte Fetische für heute obsolete Produkte oder Innovationen Gedanken machen, könnte es sein, dass wir uns von unseren gegenwärtigen Fetischen und damit von unserem trügerischen Glauben befreien, der Kapitalismus könne uns Erfüllung oder Glück bringen. Indem wir über vergangene Enttäuschungen nachdenken, beugen wir womöglich zukünftigen Enttäuschungen vor. Diese Befreiung bezöge die Reform des Bewusstseins mit ein, um die es Marx(166) ging. Benjamin(226) wurde damit jedoch nicht fertig – teilweise, weil seine Texte in den 1930er Jahren in ein terminologisches Schwarzes Loch eingesaugt wurden. Das bringt eine allgemeinere Wahrheit zum Ausdruck: Walter Benjamin und die Denker der Frankfurter Schule befreiten die Opfer des Kapitalismus durchaus nicht aus ihrer Hölle, sie wurden vielmehr zunehmend spöttische und gewandte Kritiker dieses Zustands.
Zwei Jahre nach dem Beginn der Arbeit am Passagen-Werk hielt sich Benjamin(227) in Marseille(3) auf und dort schrieb er über eine Stadt, die – wie Neapel(18) und Moskau(22) – ein Gegengift gegen seine Berliner(48) Heimat war.[29] »Marseille(4) – gelbes, angestocktes Seehundsgebiß, dem das salzige Wasser zwischen den Zähnen herausfließt«, stellte er genüsslich fest. »Schnappt dieser Rachen nach den schwarzen und braunen Proletenleibern, mit denen die Schiffkompanien ihn nach dem Fahrplan füttern, so dringt ein Gestank von Öl, Urin und Druckerschwärze daraus hervor.« Benjamin brachte diese Sätze für einen Zeitungsartikel im selben Jahr zu Papier, als Marseille(5) in dem Fremdenführer From Deauville to Monte Carlo: A Guide to the Gay World of France vernichtend verrissen wurde. Dessen Autor Basil Woon(1) warnt seine ehrbaren Leser, dass sie, egal was sie sonst unternähmen, auf gar keinen Fall Frankreichs(2) zweitgrößte Stadt aufsuchen sollten. »Diebe, Halsabschneider und anderes Gelichter drängen sich in den engen Gassen, und Töchter der Sünde sitzen in den Türdurchgängen an ihren Arbeitsplätzen und packen einen am Ärmel, wenn man vorübergeht. Hier begegnet man ungefiltertem Abschaum aus aller Welt … Marseille(6) ist der verruchteste Hafen der Welt.«[30]
Im Unterschied zu Woon(2) schwärmte Benjamin(228) jedoch von der Stadt – und zwar genau aus dem Grund, weil sie verrucht, laut, arm, sexy und dreckig war. Eine andere französische Stadt, Toulouse(1), bezeichnete sich selbst als la ville rose, die rosafarbene Stadt, für Benjamin hingegen war Rosa eher die Farbe von Marseille(7). »Im Gaumen aber sieht es rosa aus. Das ist hier die Farbe der Schande, des Elends. Bucklige kleiden sich so und Bettlerinnen. Und den entfärbten Weibern der rue Bouterie gibt das einzige Kleidungsstück die einzige Farbe: rosa Hemden.«
Seit 1929 hat sich vieles verändert. Heute bedeutet gay nicht mehr dasselbe wie damals. Marseille(8) ist nicht der verruchteste Hafen der Welt, sondern Schauplatz von einem der gewaltigsten architektonischen Veränderungsprojekte Europas. Die Stadt wurde so respektabel, dass sie im Jahr 2013 als Europäische Kulturhauptstadt herhalten konnte. Der Hafen wurde sandgestrahlt und durchzivilisiert. In der ganzen Stadt gibt es neue Straßenbahnen, Designerhotels, Luxuswohnungen und ehrgeizige Hochhausprojekte. Die Werbung für die neue Eurostar-Bahnverbindung von London(4) möchte offenbar nahelegen, dass Marseille,(9) wenn schon nicht ethnisch, dann doch auf jeden Fall symbolisch gesäubert wurde, um für Besucher gerüstet zu sein. »Berühmt für ihre Seifenfabriken«, so die Werbung, »genießt die zweitgrößte Stadt Frankreichs(3) im Schnitt 300 sonnige Tage pro Jahr, was Marseille(10) zu einem sympathischen (und darüber hinaus wohlriechenden) Ort macht, den man das ganze Jahr über besuchen kann.«[31] Die Stadt läuft Gefahr, genauso freundlich, zuvorkommend und wohlriechend wie jede andere Stadt zu werden. Man könnte darauf wetten, dass Benjamin(229) sie gehasst hätte.
Benjamins(230) Begeisterung für Städte wie Marseille(11) – dreckige und verruchte Städte mit Sex-Appeal – wirkt fast einhundert Jahre später ansteckend, vor allem weil so viele der führenden Metropolen der Welt sklerotisch geworden sind – sozial stratifizierte Käfige, die das Gesindel draußen halten, und wir übrigen polieren unsere absolut unentbehrlichen Nespresso-Maschinen. In Paris(25) werden die Armen in die Stadtviertel außerhalb der Viertel am Stadtrand verbannt, damit sie, wenn sie revoltieren, ihre eigenen Vororte zerstören und nicht die penibel gepflegten Quartiere der französischen Hauptstadt. Londons(5) Arbeiter drängen sich in lächerliche Züge aus entfernten Trabantenstädten, um den Reichen zu dienen, bevor sie jeden Abend in ihre Wohnungen zurücktransportiert werden, was faktisch einer Ausgangssperre gleichkommt. Manhattan Island ist mittlerweile ein makellos funkelndes Schaufenster, dem die Unterschichten nicht einmal so nahekommen, dass sie die Abdrücke ihrer dreckigen Pfoten hinterlassen könnten; und innen dürfen die Reichen mit beispielloser Freiheit ihren uninteressanten Begehrlichkeiten frönen. Ich übertreibe natürlich – aber nicht allzu sehr.
Viele der heutigen Metropolen ähneln dem Berlin(49), das Benjamin(231) als Gefängnis bezeichnete und dem er so oft wie möglich entfloh. Was er in seinen Zeitungsessays aus den 1920er und frühen 1930er Jahren sowie im Passagen-Werk schrieb, ist auch heute noch faszinierend und aufschlussreich, und das nicht nur, weil er einer der ersten Denker war, der erkannte, dass Städte sich in Zonen der Segregation, der Ausschließung und der Kontrolle verwandelten. Seine Texte sind überzeugend, weil er auch das Gegenteil dazu fand – blitzartig aufleuchtende Utopien im Elend –, und weil er(232) darauf hinwies, dass Städte also das Problem der Entfremdung nicht nur verursachen, sondern auch lösen konnten.
Vor allem wenn man, wie Benjamin(233) es von Zeit zu Zeit zu tun pflegte, eine Stadt wie Marseille(12) erlebte, nachdem man Haschisch konsumiert hatte. »Aber die Ereignisse kamen eben so zustande, daß die Erscheinung mich wie mit einem Zauberstab berührte und ich in einen Traum über sie versank«,[32] so Benjamin(234) in »Haschisch in Marseille«. »Die Menschen und Dinge verhalten sich in solchen Stunden wie jene Holundermark-Requisiten und Holundermark-Männchen im verglasten Stanniolkasten, die durch Reiben des Glases elektrisch geworden sind und nun bei jeder Bewegung in die allerungewöhnlichsten Beziehungen zu einander eintreten müssen.« Benjamin findet hier, was sein geliebter Baudelaire(1) gefunden hatte, als er siebzig Jahre zuvor in Paris(26) Haschisch geraucht hatte – ein künstliches Paradies. Benjamin(235) erinnert sich, dass er sich während seines Rausches so glücklich gefühlt hat wie Ariadne(1), die ihren Knäuel abrollt:
Welche Lust in dem bloßen Akt: einen Knäuel abzurollen. Und diese Lust ganz tief verwandt mit der Rauschlust wie mit der Schaffenslust. Wir gehen vorwärts: wir entdecken dabei aber nicht nur die Windungen der Höhle, in die wir uns vorwagen, sondern genießen dieses Entdeckerglück nur auf dem Grunde jener anderen rhythmischen Seligkeit, die da im Abspulen eines Knäuels besteht. Eine solche Gewißheit vom kunstreich gewundenen Knäuel, das wir abspulen – ist das nicht das Glück jeder, zumindest prosaförmigen, Produktivität? Und im Haschisch sind wir genießende Prosawesen höchster Potenz(236).
Doch noch in seiner drogeninduzierten Träumerei bleibt Benjamin(237) Marxist: Im Herzen seiner Vision leben die Freude an der Produktivität und die Würde der Arbeit. Die tranceartige Arbeit, den Faden abzuwickeln, erinnert an D. H. Lawrence(1)s fast zeitgleich entstandene Gedichte aus den späten 1920er Jahren.
Arbeit hat keinen Sinn,
wenn sie dich nicht wie ein fesselndes Spiel
ganz in Anspruch nimmt.
Wenn sie dich nicht in Anspruch nimmt,
wenn sie nie die geringste Freude macht,
mach sie nicht.
Wenn ein Mann zur Arbeit geht,
ist er lebendig wie ein Baum im Frühjahr,
er arbeitet nicht nur, er lebt.[33]
Die Art von Arbeit, die Benjamin(238) und Lawrence(2) hier in höchsten Tönen preisen, ist aber nun genau die Arbeit, die im kapitalistischen Maschinenzeitalter keinen Platz mehr hat: Der Arbeiter ist vielmehr von seiner Arbeit entfremdet, von dem, was er herstellt, und mithin auch von sich selbst. Die von Benjamin(239) und Lawrence beschriebene Art von Arbeit ist darüber hinaus ein Gegengift für jene passive Verbrauchermentalität, die Adorno(110) und Horkheimer(87) später als Kulturindustrie bezeichnen sollten.
In den ausgehenden 1920er Jahren gab es ein Benjamin(240) und Lawrence(3) verbindendes Element. Lawrence schrieb:
Was der Mensch macht, was er zum Leben erweckt,
das lebt wegen dieses hineingelegten Lebens.
Ein Stück indischer Musselin enthält Hinduleben.
Und eine Navajo-Frau, die ihren Teppich
im Muster ihres Traums webt,
muss das Muster in einem kleinen Bruch am Ende auslaufen lassen,
damit ihre Seele wieder herauskommen kann, zurück zu ihr(4).
Benjamin(241) bemerkt in Einbahnstraße: »Arbeit an einer guten Prosa hat drei Stufen: eine musikalische, auf der sie komponiert, eine architektonische, auf der sie gebaut, endlich eine textile, auf der sie gewoben wird.«[34] Für beide Autoren war die freudige Versenkung in die Arbeit dialektisch, ein Prozess der Selbstverwirklichung, durch den man nicht nur ein Stück Text oder Textil ins Dasein webt, sondern auch sich selbst.
Der Gedanke, den Benjamin(242) hier entwickelt – dass man sich durch kreative produktive Arbeit selbst verwirklicht –, war besonders wichtig, weil die vom Taylorismus geprägten Produktionsprozesse und die kapitalistischen Träume von einem endlosen technischen Fortschritt dieser Form von Selbstverwirklichung diametral zuwiderliefen. Damals wurde die Frage nach dem Wesen von Arbeit sehr kontrovers diskutiert.
Und während Arbeit im Kapitalismus immer weniger die Möglichkeit bot, sich selbst zu verwirklichen, trat gleichzeitig eine minderwertige Alternative – Warenkonsum oder auch Shopping – auf. Wenn wir uns nicht im Rahmen des Arbeitsprozesses selbst verwirklichen können – vielleicht funktioniert es ja durch Einkaufen? Das war die Möglichkeit, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, die Benjamins(243) Freund Bertolt Brecht(14) in seiner und Kurt Weill(1)s Oper Mahagonny durchspielte. Die kapitalistische Gesellschaft war offenbar während der ausgehenden 1920er und der 1930er Jahre hinsichtlich der Frage, wie Menschen Erfüllung finden und ihr Potential verwirklichen konnten, an einem entscheidenden Wendepunkt angelangt. So unterschiedliche Schriftsteller wie D. H. Lawrence(5) und Simone Weil(1) dachten darüber nach, was Arbeit in einem Zeitalter bedeuten konnte und sollte, in dem sie offenbar zunehmend zu einem Gehirn, Geist und Seele zerstörenden Albtraum geworden war und sich als einzige Alternative zum marxistischen(167) Cogito (Ich arbeite, also bin ich) das Konsum-Cogito anzubieten schien (Ich kaufe ein, also bin ich).
Der marx(168)sche Begriff von Arbeit sollte sich besonders für die Denker der Frankfurter Schule als kontrovers herausstellen. Er impliziert, dass der Mensch arbeiten musste, um sich harmonisch entwickeln und würdig leben zu können. Auch in einem kommunistischen Paradies müssen wir also noch arbeiten. Von daher befand sich das, was Benjamin(244) in dem Text über seine Haschischerfahrung in Marseille(13) und in Einbahnstraße zum Thema Arbeit schrieb, völlig in Übereinstimmung mit dieser marxistischen(169) Lehre, dass Menschen ihr Selbstverständnis von ihrer Arbeit ableiteten; problematisch war einfach, dass die zunehmend mechanisierte, routinemäßige und ausbeuterische Natur der Arbeit im Kapitalismus jede Aussicht auf Selbstverwirklichung durchkreuzte.
Allerdings wurde eine skeptische Einstellung hinsichtlich dieses Diktums, dass sich Menschen über ihre Arbeit definieren und durch sie befreien, zu einem signifikanten Merkmal der Kritischen Theorie in ihrer Entwicklung seit den 1930er Jahren. Die Frankfurter Schule wurde teilweise als neomarxistisch(170) bezeichnet, aber in dieser Hinsicht wäre die Bezeichnung antimarxistisch(171) sicher angemessener. Der Mann, der in den 1930er Jahren eine neue Grundausrichtung der Frankfurter Schule vornahm, sträubte sich gegen diese marxistische(172) Perspektive. In Dämmerung, einem Aphorismenband, der nicht lange nach Benjamins(245) Beschreibung seines drogenberauschten Bummels durch Marseille(14) veröffentlicht wurde, hält Max Horkheimer fest(88): »Die Arbeit zum Oberbegriff menschlicher Betätigung zu machen, ist eine asketische Ideologie … Indem die Sozialisten diesen Allgemeinbegriff beibehalten, machen sie sich zu Trägern der kapitalistischen Propaganda.«[35] Nach Horkheimers Auffassung, der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Dämmerung Leiter der Frankfurter Schule und ihr wichtigster intellektueller Impulsgeber war, hatte Marx(173) durch diese Kategorisierung aus Arbeit einen Fetisch gemacht.
Wenn das zutraf, dann bewegte Marx(174) sich in einer ehrwürdigen Tradition des deutschen Denkens. Erich Fromm(21) legt in seinem Buch Das Menschenbild bei Marx(175) aus dem Jahr 1961 dar, bereits vor Marx(176) seien Spinoza(2), Hegel(13) und Goethe(4) der Ansicht gewesen, dass – in Fromms(22) Formulierung(23) –
der Mensch nur insoweit lebendig [ist], als er produktiv ist, nur insoweit, als er die Welt außerhalb seiner selbst ergreift, indem er seine eigenen, spezifisch menschlichen Kräfte ausdrückt und sich die Welt mit ihrer Hilfe aneignet. Wenn ein Mensch nicht produktiv, wenn er rezeptiv und passiv ist, dann ist er nichts, ist er tot. Durch diesen produktiven Prozeß verwirklicht der Mensch sein eigenes Wesen, er kehrt zu seinem eigenen Wesen zurück, was in theologischer Sprache nichts anderes ist als die Rückkehr zu Gott(24).[36]
Hegel(14) schreibt in der Phänomenologie des Geistes, dass sich der produktive Mensch die Welt aneigne, indem er sie produktiv ergreife, »indem er sich aus der Nacht der Möglichkeit ins Tageslicht der Wirklichkeit übersetzt«.[37] Die Arbeit, den Faden abzuwickeln, hilft einem auf ähnliche Weise, aus der Höhle ins Tageslicht zu finden – sich selbst zu verwirklichen und nicht den verblendeten Gefangenen in Platons(1) Höhle oder dem Zwerg Alberich in Wagners(1) Ring-Zyklus zu gleichen, der in endloser unterirdischer Nacht nach Gold gräbt. Unter Horkheimer(89) rebellierte die Frankfurter Schule gegen diese im deutschen Denken vorherrschende Auffassung vom Wert der Arbeit und vor allem gegen das marxistische(177) Credo, dass wir unsere Erfüllung durch Arbeit finden. Für Männer wie Horkheimer(90) und Adorno(111), wenn auch nicht für Fromm(25), der Marx(178) treuer blieb als seine Kollegen, war Arbeit nicht die grundlegende Kategorie menschlicher Selbstverwirklichung.
Und als Horkheimer(91) in den frühen 1930er Jahren die damals erst kurz zuvor veröffentlichten Ökonomisch-philosophischen Manuskripte aus dem Jahre 1844 las, in denen diese Lehre von der Arbeit dargelegt wird, stieß er auch tatsächlich auf einen Zusammenhang, der ihm beträchtliches Unbehagen bereitete. Sogar Benjamin(246), der sich so positiv über kreative, produktive Arbeit geäußert hatte, erkannte darin eine Vorahnung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Die vulgäre marxistische(179) Vorstellung von Arbeit, so Benjamin, »weist schon die technokratischen Züge auf, die später im Faschismus begegnen werden … Die Arbeit, wie sie nunmehr verstanden wird, läuft auf die Ausbeutung der Natur hinaus, welche man mit naiver Genugtuung der Ausbeutung des Proletariats gegenüber stellt.«[38] Das war nicht die Art kreativer produktiver Arbeit, über die Benjamin in Einbahnstraße oder in dem Text über seine Haschischerfahrungen in Marseille(15) so begeistert geschrieben hatte, sondern lediglich die sozialistische Kehrseite der kapitalistischen Münze. Dieses Unbehagen angesichts der Zerstörung der Natur durch ein von Benjamin(247) sogenanntes vulgärmarxistisches Denken sollte in der Folge immer stärker in den Mittelpunkt des Denkens der Frankfurter Intellektuellen rücken. Tatsächlich sagte Adorno(112) zu Martin Jay(2) im Jahr 1969, Marx(180) habe die Welt in ein gigantisches Arbeitshaus verwandelt.[39]
Aber das ist möglicherweise doch ungerecht. Liest man unvoreingenommen, so impliziert die marx(181)sche Vorstellung menschlicher Produktivität nicht die Zerstörung der Natur, sondern vielmehr, vermittels kreativer Arbeit, die Beherrschung des eigenen Selbst. Allerdings distanzierten sich die Mitglieder der Frankfurter Schule immer wieder von diesem Aspekt ihres marxistischen(182) Erbes. Zwei Jahrzehnte nachdem Horkheimer(92) Marx(183) vorwarf, aus Arbeit einen Fetisch gemacht zu haben, erweitert Herbert Marcuse(26) diesen Vorwurf in seinem 1955 erschienen Buch Eros und Kultur: Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud(18). Marcuse bedient sich des marx(184)schen kulturellen Lieblingshelden Prometheus für einen verdeckten Angriff: »Prometheus [ist] der Kulturheld der Mühsal, der Produktivität und des Fortschritts durch Unterdrückung«, so Marcuse, »der schlaue Betrüger und (leidende) Rebell gegen die Götter […], der die Kultur um den Preis dauernden Leids schafft. Er symbolisiert Produktivität, die rastlose Anstrengung das Leben zu meistern … [Prometheus] ist der Archetypus des Helden des Leistungsprinzips(27).«[40]
Das Leistungsprinzip war eine spezielle Variante von Freuds(19) Realitätsprinzip, durch welches Sinnesfreuden unterdrückt werden, auf dass man in der Zivilisation besser funktioniere. Doch, so Marcuse(28), es gebe auch andere Prinzipien. Gegen Prometheus bringt er daher anders geartete griechische Helden in Stellung – Orpheus, Narziss und Dionysios: Sie »stehen für eine sehr andere Wirklichkeit … ihre Imago ist die der Freude und der Erfüllung, ist die Stimme, die nicht befiehlt, sondern singt; die Geste, die gibt und empfängt; die Tat, die Friede ist, und das Ende der Mühsal der Eroberung ist die Befreiung von der Zeit, die den Menschen mit Gott, den Menschen mit der Natur eint … die Erlösung der Lust, der Stillstand der Zeit, das Ende des Todes: Stille, Schlaf, Nacht, Paradies – das Nirwanaprinzip nicht als Tod, sondern als Leben.«[41] Marcuses(29) utopische Darstellung stand im Widerspruch nicht nur zur deutschen philosophischen Tradition eines Hegel(15), Marx(185) und Schopenhauer(22), sondern auch zur Lehre Freuds(20). Freud(21) war es gewesen, der das Nirwanaprinzip als einen angeborenen seelischen Trieb oder als Todestrieb definiert hatte, welcher darauf aus sei, der unvermeidlichen Spannung des Lebens ein Ende zu setzen. Wir alle sehnen uns vielleicht danach, der Tretmühle der Arbeit zu entkommen, doch unser menschliches Los zwingt uns, bis zu unserem Tod darin zu bleiben: Thanatos und Eros sind nach Freud(22) einander entgegengesetzte Prinzipien. Marcuse(30) weigerte sich, das zu akzeptieren.
Aber hatten Horkheimer(93), Adorno(113) und Marcuse(31) überhaupt recht mit ihrer Behauptung, dass Marx(186) die Arbeit zu einem Fetisch gemacht habe? Man könnte einwenden, Marx(187) habe nicht die Arbeit, sondern die menschliche Entwicklung fetischisiert, und es ist genau dieser Fetisch, den Fromm(26) in Das Menschenbild bei Marx(188) übernimmt, den Marcuse(32) wiederum zu überwinden versucht, indem er das Nirwanaprinzip irgendwie ins Leben integriert. Tatsächlich hatte die Idee einer kommunistischen Gesellschaft für Marx(189) das »Vergehen« des Staates impliziert, da dieser nicht länger notwendig sei; faktisch würde sein Fortbestehen die freie Entwicklung der gesellschaftlichen Kräfte geradezu behindern. Allerdings sei eine derartige Gesellschaft, so Hannah Arendt(4), so beschaffen gewesen, dass sich Individuen darin frei selbst verwirklichen konnten, was weniger nach einer kommunistischen Gesellschaft klingt, die Solidarität und gemeinsame Aktivitäten voraussetzt, sondern nach einem paradiesischen Zustand vor dem Sündenfall, in welchem sämtliche materiellen Bedürfnisse befriedigt sind.
Wie sieht dann aber das Paradies aus, zu dem Marx(190) zufolge die Revolution des Proletariats den Weg bahnen sollte? Der amerikanische marxistische(191) Autor Marshall Berman(1) erläuterte hierzu: »Marx(192) wollte Prometheus und Orpheus miteinander versöhnen: Er hält den Einsatz für den Kommunismus für sinnvoll, weil es dadurch erstmals in der Geschichte möglich sein würde, beide Prinzipien zu verbinden. Er könnte auch argumentieren, dass erst vor dem Hintergrund des prometheischen Strebens der orphische Rausch moralischen oder psychischen Wert gewinnt: ›Luxe, Calme et Volupté‹ an sich sind – was Baudelaire(2) genau wusste – nur langweilig.«[42] Und wer würde eine Revolution wollen, die lediglich in eine langweilige Ewigkeit mündet? Allerdings scheint Marcuse(33) mit seinem Eros und Kultur genau das anzustreben, wenn er meint, das Nirwanaprinzip lasse sich in der menschlichen Existenz verwirklichen. Eine wohlwollendere Lesart würde Marcuse vielleicht unterstellen, dass er sich für eine Work-Life-Balance im Sinne einer Verkürzung des Arbeitstags einsetzt und so eine Möglichkeit eröffnet, wenn vielleicht nicht gerade für orphischen Taumel, dann doch wenigstens für eine Rettung des Vergnügens und den Stillstand der Zeit.
Marx(193) war es jedoch darum gegangen, dass zum Freisein die Freiheit gehört, Arbeit zu verrichten, die nicht entfremdend wirkt, und durch die man sich zu einem sich selbst verwirklichenden Subjekt entwickelt, was nach seiner Meinung im Kapitalismus zunehmend unwahrscheinlich wurde. Die französische Philosophin Simone Weil(2) (nicht verwandt mit den Gründern der Frankfurter Schule) fordert in ihrem Essay Unterdrückung und Freiheit, der Begriff einer Befreiung des Menschen müsse weiter gefasst werden.[43] Der Text erschien im selben Jahr – 1934 – wie Horkheimers(94) Buch Dämmerung, in dem er sich kritisch mit dem marx(194)schen Begriff von Arbeit auseinandersetzt.
Für Simone Weil(3) durften menschliche Beziehungen nicht mit Arbeit vermischt werden: Arbeit ist lediglich ein Mittel, da sie auf der Beziehung eines Subjekts zu einem Objekt beruht. Menschliche Interaktionen müssen ebenso revolutioniert werden wie die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse, wenn die Menschen wirklich befreit werden sollen. Weils(4) Gedanken spielten eine große Rolle für Jürgen Habermas(6), ein späteres Mitglied der Frankfurter Schule, der schrieb: »Die Befreiung von Hunger und Mühsal konvergiert nicht notwendig mit der Befreiung von Knechtschaft und Erniedrigung, denn ein entwicklungsautomatischer Zusammenhang zwischen Arbeit und Interaktion besteht nicht(7).«[44] Diese Unterscheidung zwischen Arbeit und Interaktion zieht sich durch das 1981 erschienene monumentale Werk von Habermas Die Theorie des kommunikativen Handelns, in welchem er sich systematisch für die Befreiung aus Knechtschaft und Entwürdigung ausspricht, allerdings nicht durch eine Revolutionierung der Produktionsarbeit, sondern durch Interaktion.
Axel Honneth(3), Nachfolger von Habermas(8) als Leiter des Instituts, wies darauf hin, dass die Entwertung der Arbeit in taylorisierten Produktionsprozessen die Denker der Frankfurter Schule dazu veranlasst habe, den marxistischen(195) Begriff von Arbeit als Selbstverwirklichung aufzugeben. Sie ersetzten ihn durch einen anderen: Statt Industriearbeit zu fetischisieren, könne man sagen, dass die Frankfurter Schule aus Kommunikation einen Fetisch gemacht habe, was nun nicht als Alternative zur produktiven Arbeit, sondern als die Form produktiver Arbeit interpretiert werden konnte, die dem Temperament dieser Denker am ehesten entsprach. William Outhwaite(1) bemerkt in seinem Buch über Habermas(9): »Das könnte als willkommene Demythologisierungsübung im Blick auf die Männer dienen, deren bevorzugte Arbeit das Lesen war, wozu ab und an Sprechen und Schreiben hinzukamen«[45] – was zweifellos auf Menschen wie marxistische(196) Lehnstuhlphilosophen und Sozialtheoretiker zielt. Für sie ist – ebenso wie für viele von uns, die wir heute im überwiegend postindustriellen Westen leben – Arbeit gleichbedeutend mit Interaktion, und eine der Freuden des Menschseins sowie eine der Voraussetzungen menschlicher Würde besteht darin, sich in Freiheit austauschen zu können. (Die alternative Interpretation sähe so aus, dass kommunikatives Handeln ein professoraler Traum davon wäre, was die Revolutionierung einer entwürdigten Menschheit bedeutete – ein Traum, den kaum jemand außerhalb der akademischen Welt teilt.) Die taylorisierte Form von Arbeit, die die Denker der Frankfurter Schule so scharf missbilligten, wurde mittlerweile ganz massiv in andere Erdteile ausgelagert, wo die Arbeiter sich bereitwilliger ausbeuten lassen – ein Umstand, der es dem Kapitalismus ermöglichte, seinen Untergang aufzuschieben, worauf Henryk Grossmann(50), wäre er noch am Leben, mit Sicherheit hingewiesen hätte.
Das habermas(10)sche Utopia, in welchem menschliche Beziehungen durch repressionsfreies, vernünftiges Gespräch revolutioniert werden, erinnert an das von Milton(1) imaginierte Entzücken Adams in »Reason in the Garden of Eden«:
Yet not so strictly hath our Lord impos’d
Labour, as to debarr us when we need
Refreshment, whether food, or talk between,
Food of the mind, or this sweet intercourse
Of looks and smiles, for smiles from Reason flow,
To brute deni’d, and are of Love the food,
Love not the lowest end of human life.
For not to irksom toile, but to delight
Das Paradies auf Erden also. Doch statt, dass paradiesische Zustände herrschten, ging es Ende der 1920er Jahre in den westlichen Industriegesellschaften höllisch zu. Walter Benjamin(248) empfand das so, als er an seinem Arbeitstisch in der Bibliothèque Nationale an seinem Passagen-Werk arbeitete, und diese Gefühle teilte sein Freund Bertolt Brecht(15), als er zusammen mit Kurt Weill(2) eine marxistische(197) Oper verfasste. Wir werden im folgenden Kapitel sehen, dass das, was Brecht(16) und Weill auf die Bühne brachten, nicht die traditionelle marxistische(198) Hölle ausbeuterischer Produktionsverhältnisse war, sondern die Hölle eines völlig entfesselten Konsumverhaltens. Statt die Welt in ein gigantisches Arbeitshaus zu verwandeln, schien der Kapitalismus aus der Welt ein gigantisches Shoppingcenter zu machen, in dem jede Vorliebe, und sei sie noch so schmutzig oder gemein, bedient werden konnte – vorausgesetzt, man konnte es sich leisten.
Anfang der 1930er Jahre sollte sich Brechts(17) Vision von dieser Hölle einflussreich auf die Denker der Frankfurter Schule auswirken, die sich die Frage stellten, was in der modernen Gesellschaft schiefgelaufen sei und warum die Revolution nicht stattgefunden habe.