1930 schrieb Adorno(114) eine kurze Kritik über eine neue Oper.[1] Das Werk wurde von den Nazis als Inbegriff der »jüdisch-bolschewistischen Bedrohung« gebrandmarkt, und sie forderten, es zu verbieten. Und tatsächlich kam man dieser Aufforderung nach, noch bevor das Jahrzehnt zu Ende war: Sämtliche Aufführungen wurden untersagt, und 1938 wurde das Stück als Teil einer Ausstellung entarteter Musik in eine Schattenexistenz verbannt. Es handelte sich um die Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny von Bertolt Brecht(18) und Kurt Weill(3), deren Premiere am Neuen Theater in Leipzig(1) am 4. März 1930 von nationalsozialistischen Braunhemden, die vor dem Theater demonstrierten, von Faustschlägen im Publikum und so lautstarkem Tumult im dritten Akt begleitet wurde, dass der Dirigent die Musiker kaum mehr hörte.[2] Adorno(115) hingegen war von dem Werk fasziniert. »Wie in Kafkas(17) Romanen«, so Adorno(116), »erscheint die mittlere bürgerliche Welt absurd … Das geltende System mit Ordnung, Recht und Sitte ist durchschaut als Anarchie; wir selber sind in Mahagonny, wo alles erlaubt ist außer dem einen: kein Geld zu haben.«
In dieser Hinsicht war Mahagonny hochaktuell: Die Uraufführung der Oper fand in Leipzig(2) zu einem Zeitpunkt statt, als Deutschland(42) sich am Rande der Anarchie befand – die Weimarer Republik(5) hatte das schlimmstmögliche kapitalistische Verbrechen begangen: Sie hatte kein Geld mehr. Am Freitag, dem 29. Oktober des vorausgegangenen Jahres, waren die Finanzmärkte in New York(3) zusammengebrochen, was eine weltweite Wirtschaftskrise zur Folge hatte, unter der Deutschland(43) am empfindlichsten zu leiden hatte. Im Frühjahr 1929 hatte der von den Amerikanern initiierte Young-Plan Deutschland(44) die Möglichkeit eröffnet, seine Schulden in Höhe von 112 Milliarden Goldmark im Laufe von 59 Jahren zurückzuzahlen, was der deutschen Wirtschaft einen Rettungsanker zu bieten schien, die bereits aufgrund der von den Alliierten geforderten Reparationszahlungen aus dem Ersten Weltkrieg stark angeschlagen war. Nach dem Börsenkrach an der Wall Street im Herbst desselben Jahres wurde der Plan allerdings verworfen, die amerikanischen Banken forderten ihr Geld zurück und kündigten Kredite auf. Deutschland(45) war wirtschaftlich bankrott und versank in politischem Chaos, das von präsidialen Notverordnungen beherrscht war, da die untereinander zerstrittenen Parteien keine funktionierende Koalition zustande brachten.
Lediglich eine Gruppe profitierte offensichtlich von der Krise des Kapitalismus: die Nationalsozialistische Partei, die die Anzahl ihrer Sitze im Reichstag bei der Reichstagswahl im September 1930 von zwölf auf 207 Sitze erhöhen konnte. Katastrophal auf die weitere Entwicklung Deutschlands wirkte sich aus, dass die beiden führenden Linksparteien – die SPD und die KPD – sich nicht zu einem Bündnis zusammenfinden konnten, um dem Aufkommen der Nazis die Stirn zu bieten. In Die Ohnmacht der deutschen Arbeiterklasse, publiziert im Jahr 1932, schreibt Horkheimer(95), die Spaltung zwischen den beiden Arbeiterparteien werde noch dadurch vertieft, dass qualifizierte Arbeiter mit Anstellung SPD wählten, arbeitslose Arbeiter hingegen KPD. Diese Kluft innerhalb des Proletariats widerlegte klar dessen von Marx(199) postulierte zunehmende Einheit.
Die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen proletarischen Revolution war nun noch geringer als damals im Jahr 1919 – die Arbeiterklasse und der untere Mittelstand wurden zunehmend von der Diktatur in den Bann gezogen, die Adolf Hitler(8) als Alternative zu der schwachen demokratischen Regierung in Aussicht stellte. 1929 starteten Horkheimer(96) und Fromm(27) ein empirisch orientiertes Forschungsprojekt, mit dem sie den bewussten und unbewussten Einstellungen der deutschen Arbeiterklasse zu autoritären Figuren auf die Spur kommen wollten. Die psychoanalytisch konzipierte Studie wurde zwar nie abgeschlossen, doch kam man immerhin zu dem Schluss, dass die deutschen Arbeiter sich unbewusst danach sehnten, beherrscht zu werden.[3] Nicht für die sozialistische Revolution waren sie bereit, sondern vielmehr für das Dritte Reich.
In diesen Rahmen stellten Brecht(19) und Weill(4) ihre Oper. Die Handlung ist in einer fiktiven Stadt im amerikanischen Westen angesiedelt, die als ein modernes Sodom und Gomorrha vorgestellt wird, das an seinem Kult um Whisky und Dollars, Bestechung und Betrug zugrunde geht. Viele Künstler der Weimarer Zeit waren von Amerika(4) und seinem kreativen Potential fasziniert; so schuf Adorno(117) in den frühen 1930er Jahren etwa die unvollendet gebliebene Oper Der Schatz des Indianer-Joe, die auf Mark Twains(1) Roman Die Abenteuer des Tom Sawyer beruht. Mahagonny setzt ein mit drei Ganoven, zwei Männern und einer Frau, auf der Flucht. Als ihr Lastwagen zusammenbricht, beschließen sie, Mahagonny zu gründen – eine Stadt des Vergnügens, der Prostitution, des Glücksspiels und Alkoholkonsums. Leokadja Begbick(1) umreißt das Geschäftsmodell der Stadt:
Überall gibt es Mühe und Arbeit
Aber hier gibt es Spaß.
Denn es ist die Wollust der Männer
Nicht zu leiden und alles zu dürfen.
Vergessen kann man die marxistische(200) Vorstellung der Selbstverwirklichung durch produktive Arbeit; vergessen kann man das Elend des Achtstundenarbeitstags; sogar Produktion als solche kann man vergessen. Stattdessen winkt das Schwelgen in den Freuden des Konsumierens. In Mahagonny geht es nicht um »Ich denke, also bin ich«, noch weniger um »Ich arbeite, also bin ich«, das Motto lautete vielmehr: »Ich konsumiere, also bin ich«. Zu den Kunden, die in die Stadt gelockt werden, gehört auch Jimmy, ein Holzfäller, der meint, er könne hier machen, was er will – Sex mit Prostituierten haben, an Alkoholexzessen teilnehmen und zocken. Als er sein gesamtes Geld bei einer Wette verliert und deshalb seine Zeche nicht bezahlen kann, wird er verhaftet und zum Tod auf dem elektrischen Stuhl verurteilt. Bankrott sein – eine neue Erfahrung, an die sich die Menschen zwischen Oklahoma(1) und Oldenburg(1) während der Weltwirtschaftskrise nach dem Börsenkrach an der Wall Street gewöhnen mussten – war nicht hinnehmbar. Mahagonny trudelt ins Chaos, als Demonstranten mit Jimmys Leichnam durch die Stadt ziehen. Sie tragen Transparente mit einander widersprechenden Forderungen vor sich her: »Für die natürliche Ordnung der Dinge«, »Für die natürliche Unordnung der Dinge«, »Für die ungerechte Verteilung der irdischen Güter«, »Für die gerechte Verteilung der irdischen Güter«.
Brecht(20) hoffte, diese Vision von Anarchie würde dazu beitragen, den Ausbruch der sozialistischen Revolution zu beschleunigen. Seine Hoffnungen wurden – jedenfalls in Deutschland(46) – innerhalb von zwei Jahren zerschlagen. Stattdessen und in wesentlich größerer Übereinstimmung mit den vitalistischen Helden seiner Dramen aus den 1920er Jahren, wie etwa Baal, sollte ein starker Mann, eben jene autoritäre Figur, nach der sich die deutschen Arbeiter unbewusst sehnten, ein Mann mit dem gewalttätigen Temperament von Wagners(2) Siegfried und dem Körper von Charles Chaplin(2), die Widersprüche der deutschen Gesellschaft aufheben.
Bei der Premiere in Leipzig(3) ergoss sich das Drama von der Bühne ins Publikum, als die vierte Wand im brecht(21)schen Theater – nicht zum letzten Mal – in Stücke ging. Während Braunhemden gegenüber ihren Gegnern im Neuen Theater handgreiflich wurden, fand auf der Bühne eine Leichenprozession statt – zuerst sang der Chor »Einem toten Mann ist nicht zu helfen!« und anschließend die letzten, trostlosen Worte der Oper: »Den Lebenden ist nicht zu helfen.« Mahagonny war zum Untergang verdammt – ebenso wie die Weimarer Republik(6).
»Die Stadt Mahagonny ist eine Darstellung der sozialen Welt, in der wir leben, entworfen aus der Vogelperspektive einer real befreiten Gesellschaft«, so Adorno(118). »Keine klassenlose Gesellschaft wird als positives Maß des verworfenen Gegenwärtigen in Mahagonny offenbar. Sie schimmert kaum zuweilen durch, so undeutlich wie eine Kinoprojektion, die von einer anderen überblendet ward.«
Die Oper spielt insofern eine wichtige Rolle für die Geschichte der Kritischen Theorie, als sie die Welt so zeigt, wie die Denker der Frankfurter Schule sie sahen, in einer High-Definition-Fassung, die die Hölle der Gegenwart in extremer Scharfeinstellung vorführt. Gewalt, deren (weitgehend) unausgesprochene Drohung die Grundfeste der kapitalistischen Ordnung darstellt, ist in Mahagonny allgegenwärtig. Jeder kann gekauft und verkauft werden, und Prostitution liefert das Vorbild für menschliche Interaktion, während, wie Adorno(119) säuerlich bemerkte, »jegliche hier mögliche Form von Liebe nur aus den rauchenden Trümmern der Phantasien Heranwachsender von sexueller Kraft aufsteigen kann«.
Es ist schwer, Adornos(120) Kritik zu lesen, ohne auf den Gedanken zu verfallen, dass wir noch heute in Mahagonny leben, das heute nicht mehr auf eine Stadt beschränkt ist, sondern die gesamte Weltwirtschaft umgreift, in der im Prinzip für Geld alles zu haben ist. »Die Anarchie der Warenproduktion, die die marxistische(201) Analyse trifft, kommt projiziert als Anarchie der Konsumtion vor, verkürzt bis zum krassen Entsetzen, das die ökonomische Analyse so nicht zeitigen könnte«, fügte Adorno(121) hinzu. Diese Verschiebung des Hauptaugenmerks von der Produktion auf den Konsum erwies sich als zentral bei der Umgestaltung der marxistischen(202) Theorie für eine neue Ära des Monopolkapitalismus, wie die Frankfurter Philosophen sie vornahmen. In Mahagonny sind die Vergnügungshungrigen auf ein Ixionrad gefesselt, auf dem eine Begierde zur nächsten führt, in einer entwürdigenden, neurotischen Wiederholung, wie sie in Brechts(22) Liedtext anklingt:
Oh, show us the way to the next whiskey bar
Oh don’t ask why!
Oh don’t ask why
For we must find the next whiskey bar
For if we don’t find the next whiskey bar,
I tell you we must die!
I tell you we must die.
I tell you. I tell you. I tell you we must die!
Und jede Ware ist durch jede andere Ware ersetzbar – Whisky, Dollar, kleine Mädchen. Damit ist die Logik des marx(203)schen Tauschprinzips zu Ende gedacht.
Im Jahr der Premiere von Mahagonny veröffentlichte Samuel Beckett(1) einen Essay über Proust(22), in welchem er schreibt: »Gewohnheit ist der Ballast, der den Hund an sein Erbrochenes kettet.«[4] Offenbar stellten im Jahr 1930 sowohl Brecht(23) als auch Beckett(2) fest, wie sehr sich Rousseau(1) doch getäuscht hatte: Man wird nicht als freier Mensch geboren und erst durch seine Umwelt in Ketten gelegt, wie der Philosoph in seinem Contrat sociale postuliert hatte; vielmehr kommt der Mensch bereits in Ketten auf die Welt.
Adorno(122) sah in Mahagonny ein Paradebeispiel für die moderne Kunst. Die Kunst sollte sich beim Kapitalismus nicht einschmeicheln, sondern ihn angreifen. Brecht(24) verstand seine Arbeit mit Sicherheit als einen Angriff. »Eine Funktion der Oper besteht darin, die Gesellschaft zu verändern«, hält er in einem Essay fest, der zur Erstaufführung erschien. »Das kulinarische Prinzip wird zur Diskussion gestellt.« Mit »kulinarisch« meinte er, dass die herkömmliche Oper abgestumpfte bürgerliche Gaumen mit narkotisierender Unterhaltung bediene. »Eine Oper wird von ihrem Publikum eben aus dem Grund geschätzt«, so Brecht(25), »weil sie überlebt ist«.[5]
Ein solcher Hunger nach vergangenen musikalischen Formen stellt eine Flucht vor der Moderne dar, vor der rationalisierten, verwalteten, unheroischen funktionalen Gegenwart. Diese Beobachtung machte sowohl Brecht(26) als auch Adorno(123). In seinen musikwissenschaftlichen Schriften der 1930er Jahre für das Institutsjournal griff Adorno(124) das Publikum klassischer Musik dafür an, dass es nur solche Musik goutierte, die die Zuhörer aus den tatsächlichen gesellschaftlichen Umständen herausholte und ihnen eine heuchlerische Versöhnung zwischen ihrer kulturellen Bildung und ihrem Eigentum bot. Dagegen führt Adorno(125) in seiner in den frühen 1930er Jahren entstandenen Habilitationsschrift Kierkegaard(2): Konstruktion des Ästhetischen an, dass die Suche nach einer solchen Form der Innerlichkeit eine Schimäre bleiben müsse, obwohl sie als Reaktion der Reichen und Privilegierten angesichts einer unerträglich gewordenen Welt der Maschinen und funktionalisierter Menschen – der Welt der Neuen Sachlichkeit – nachvollziehbar war(126).
In T. S. Eliot(1)s Gedicht Portrait of a Lady aus dem Jahr 1915 äußert die Lady, die der kritische Autor in ihrer falschen Innerlichkeit entlarven will, dass die Kommunion mit der künstlerischen Seele des 19. Jahrhunderts besser im Salon und nicht im Konzertsaal stattfinden solle, da es sich um eine so kostbare Ware handle.[6] Adorno(127) war der Meinung, die Besucher von klassischen Konzerten würden diese »Seele« im Konzertsaal und dort vor allem in der Gestalt des Dirigenten suchen, dessen herrische Gesten als Ausdruck jener Seele empfunden würden, die allerdings, da ihnen jegliche echte Spontaneität abgehe, in Wahrheit das musikalische Äquivalent des autoritären Diktators seien. Man könnte meinen, dass der Dirigent auf dem Konzertpodium in den anbrechenden 1930er Jahren für Adorno(128) ein Prototyp des Führers auf den später im selben Jahrzehnt stattfindenden Nürnberger Reichsparteitagen war.
Marcuse(34), der ebenfalls über die große Seele der Kultur des 20. Jahrhunderts nachdachte, unterscheidet in seinem Essay »Über den affirmativen Charakter der Kultur« zwischen dem Universalmenschen der Renaissance, der Glück in weltlichem Wirken suchte und nach Macht und sinnlicher Erfüllung strebte, und dem spiritualisierten Charakter der bürgerlichen Kultur.[7] Letzterer, so Marcuse(35), suche eine höhere Erfahrung durch Rückzug von der Welt in ein vergeistigtes Milieu anspruchsvoller ästhetischer Erfahrung, so als hätte die bürgerliche Kultur die »große Seele« des 19. Jahrhunderts durch lebenserhaltende Maßnahmen ins 20. Jahrhundert gerettet, da ihr fortgesetzter Einsatz wirkungsvoll dafür verwendet werden konnte, die Antagonismen und Widersprüchlichkeiten der Gesellschaft gnädig zu verwischen. Die große Seele vermittelte sich – mit parfümiertem Taschentuch vor der Nase, um sich den Gestank der Armen vom Leib zu halten, und taub für Maschinenlärm und Nazistiefel – über Chopins Werke(1).
Aber das hatte nicht lange Bestand. Für den Monopolkapitalismus und den faschistischen Staat war diese autonome Sphäre des Lebens inakzeptabel, da sie eine potentielle Bedrohung der bestehenden Ordnung darstellte; diese beiden Phänomene machten also mit der exklusiven bürgerlichen Kultur dasselbe wie mit der Familie – sie fielen in sie ein, vernichteten ihre Autonomie und vereinnahmten jegliche noch übrig gebliebene Macht dazu, die gegenwärtige gesellschaftliche Ordnung zu stützen. So sah nach Marcuse(36) die »vollständige Mobilmachung« aus, durch welche das Individuum gezwungen wurde, sich in sämtlichen Bereichen seiner Existenz der Disziplin des autoritären Staates zu unterwerfen.[8]
Adorno(129) war von Mahagonny begeistert, weil die Oper die Widersprüche der Gesellschaft bloßstellt. Kunst, in der es um unbeschwerte Harmonie geht oder darum, die große Seele der bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts heraufzubeschwören, war für ihn eine betrügerische Form der Unterhaltung, die sich der eigentlichen Aufgabe der Kunst verweigerte, nämlich die Lüge im Herzen des Kapitalismus zu entlarven, die da lautete, dieses Wirtschaftssystem sei dazu in der Lage, Freiheit und Glück zu geben.
In dem Aufsatz »Zur gesellschaftlichen Lage der Musik«, den er 1932 für die Zeitschrift des Instituts abfasste, vergleicht Adorno(130) zwei zeitgenössische Komponisten, Schönberg(3) und Strawinsky(2), die er als entgegengesetzte Pole dessen darstellt, was Musik im Monopolkapitalismus sein und nicht sein durfte.[9] Er geht davon aus, dass die Musik, vorgeblich die abstrakteste und daher am wenigsten gesellschaftlich beeinflusste, mithin autonomste Kunstform, faktisch in ihrer Struktur ebenfalls gesellschaftliche Widersprüchlichkeiten enthält. Schönberg(4) – das Ethos von dessen zweiter Wiener Schule hatte Adorno(131) sich angeeignet, während er Mitte der 1920er Jahre mit Alban Berg(3), dem Schüler des großen Komponisten, zusammenarbeitete – hatte sich in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts vom Expressionisten zu einem Komponisten weiterentwickelt, dessen Musik sich harmonischer Auflösungen enthielt und bereits gar keine eingängigen Melodien mehr lieferte: Er entwickelte das musikalische Zwölftonsystem, in welchem die Wiederholung einer Note aus einer Zwölftonreihe untersagt war, bis nicht sämtliche anderen Noten verwendet worden waren. Die harmonische Auflösung etwa in seinem Streichsextett Verklärte Nacht aus dem Jahr 1899 war für den Komponisten Schönberg später nicht mehr denkbar, der in den frühen 1930er Jahren von der ästhetischen Reinheit und Logik seiner Zwölftonmethode so angetan war, dass er im Titel seines unvollendet gebliebenen Meisterwerks Moses und Aron aus dem Jahr 1932 eines der beiden »A« aus Aarons Namen tilgte, auf dass der Titel aus zwölf statt dreizehn Buchstaben bestehe(5).
Strawinsky(3) hingegen hatte sich in den zehn Jahren zwischen der Premiere von Le Sacre du Printemps, einem der grundlegenden Werke der musikalischen Moderne, und der Premiere seiner Oper Pulcinella vom musikalischen Revolutionär in einen konservativen Wiedererwecker alter Formen verwandelt. In den 1920er Jahren grub Strawinsky(4) alte musikalische Formen für eine neue Zeit aus – das Concerto Grosso, die Fuge, die Symphonie. So wie Brecht(27) die Oper als kulinarisch verurteilte – eine köstliche Ablenkung von den Realitäten des modernen Lebens –, so klagt Adorno(132) Strawinsky(5) an, er komponiere Musik, die falsche Versöhnung vorgaukle, indem sie alte Formen wiederbelebte, welche dem dekadenten Bedürfnis seines Publikums entgegenkamen, aus der Gegenwart in eine eingebildete Vergangenheit zu fliehen. Er erkennt sogar eine Beziehung zwischen Strawinskys(6) Neoklassizismus und dem Faschismus: Die Irrationalität des kompositorischen Systems, so Adorno(133), liege auf derselben Linie wie die willkürliche Herrschaftsausübung eines Führers. Möglicherweise ging er damit etwas zu weit, andererseits war Adorno(134) dazu in der Lage, Nazismus in nahezu allem zu entdecken, was er nicht mochte – verständlich im Hinblick darauf, was die Nationalsozialisten ihm, seinen Kollegen und seiner Familie später noch alles antun sollten.
Für Adorno(135) war Schönberg(6) – ein Jude, der wie Adorno(136) gezwungen war, mit der Machtergreifung Hitlers(9) aus Europa(14) zu fliehen, und der in Los Angeles(2) in den 1940er Jahren ein Nachbarn von Adorno(137) war – ein Repräsentant alles dessen, was in der Musik progressiv war. Anerkennend bemerkt er, Schönbergs(7) Musik sei nicht Verführung durch Harmonie und Melodie, sondern »eine Anhäufung von Bruchstücken«. Allerdings gab es, wie er später feststellte, ein Problem mit dem musikalischen System seines Idols: Dessen an ein Schachspiel erinnernde faszinierende Logik befreite den Komponisten von der gesellschaftlichen Befindlichkeit, für die sie einen passenden Soundtrack lieferte. Und schlimmer noch: Später erkannte Adorno, dass Schönbergs(8) Zwölftonsystem verabsolutiert wurde – die revolutionäre Kompositionsform entwickelte sich zur einzig möglichen Form für Avantgardekomponisten und wurde damit paradoxerweise selbst konservativ. Ein System, das zunächst einen Ausbruch aus der bürgerlichen Musik zu verheißen schien, wurde seinerseits verdinglicht(9).
Und wie passte Weills(5) Musik für Mahagonny in diese musikalische Standortbestimmung? Weill sagte einmal, er wäre glücklich, wenn jeder Taxifahrer seine Melodien pfeifen könnte. Man könnte nun annehmen, Adorno(138) hätte Weills Kompositionen als Teil der Kulturindustrie verdammt, die dem Kapitalismus ein geschmeidigeres Funktionieren ermöglichte, doch faktisch mochte er dessen Musik für Mahagonny. Er sah darin das, was Benjamin(249) an der surrealistischen Kunst schätzte, in der häufig Montagen aus historischen Trümmern hergestellt und daraus potentiell befreiende »Konstellationen« produziert wurden. Adorno(139) bezeichnete Mahagonny als die erste surrealistische Oper. Er schrieb darüber: »Diese Musik ist zusammengesetzt aus Dreiklängen und off notes mit dem bewährten Rhythmus alter Music Hall-Songs, die wir kaum mehr erkennen, die aber doch als ein Erbe erinnert werden, und die mit dem stinkenden Schleim eines faden Opernpotpourris zusammengeleimt sind. Diese Musik, konstruiert aus den Rückständen vergangener Musikstücke, ist vollständig zeitgenössisch(140).«
Auch Brecht tat in seinem(28) Libretto alles, um zu vermitteln, dass die bürgerliche Welt absurd und anarchisch war. »Um das überzeugend darzustellen«, so Adorno(141) über die Dramatisierung der bürgerlichen Welt als absurd und anarchisch, »ist es nötig, die geschlossene Welt des bürgerlichen Bewußtseins zu transzendieren, die davon ausgeht, daß die bürgerliche soziale Realität unveränderbar ist. Außerhalb dieses Rahmens existiert allerdings kein Standpunkt, den man einnehmen könnte – zumindest für das deutsche Bewußtsein gibt es keinen Ort, der nicht kapitalistisch wäre.«
Das sollte eines der großen Themen der Kritischen Theorie werden: Es gibt keine Außenseite, nicht in der heutigen durchrationalisierten, durch und durch versachlichten, vom Warenfetischismus dominierten Welt. Als Marx(204) Mitte des 19. Jahrhunderts das Kapital verfasst hatte, ließ das primitive kapitalistische System, das er diagnostizierte, den Warenfetischismus als reine Episode erscheinen; nun aber war er überall und vergiftete alles. »Transzendenz muß daher«, fügte Adorno(142) hinzu, »innerhalb des Rahmens der bestehenden Verhältnisse stattfinden.« Brechts(29) Angriff auf die kapitalistische Gesellschaft in Mahagonny kam also paradoxerweise gleichzeitig sowohl von innen als auch von außen, war sowohl immanent als auch transzendent.
Darin wies er Ähnlichkeiten mit Adornos(143) Auffassung von der Rolle eines ernstzunehmenden Musikkritikers auf. In seinem Essay »Motive« aus dem Jahr 1929 merkt Adorno an(144), damit Kritik nicht zu einer spießbürgerlichen Allianz zwischen Dilettantismus und Selbstgefälligkeit verkomme, sei es »für den Kritiker notwendig, immanent so weit zu hören, wie es nur angeht, und zugleich radikal von außen. Die Zwölftontechnik zusammenzudenken mit dem Kindergefühl von der Butterfly im Grammophon: darum müßte musikalische Erkenntnis ernsthaft sich bemühen.«[10] Und was Adorno(145) dem Musikkritiker empfiehlt, traf auch auf die Kritische Theorie zu, die in Frankfurt(45) entstand, während die Nazis die Oper von Brecht(30) und Weill(6) angriffen: Sie musste von denen betrieben werden, die sich dessen bewusst waren, dass es keine nichtkapitalistische Perspektive gab, von der aus man den Kapitalismus hätte kritisieren können, und dass ihre Vertreter Teil dessen waren, was sie kritisierten.
Auf ähnliche Weise war die Oper von Brecht(31) und Weill, dadurch dass darin die Aufmerksamkeit auf die selbstwidersprüchliche Natur der Kunstform gelenkt wird, (7)ein Insiderjob. »Die Oper Mahagonny zollt der Sinnlosigkeit der Opernform Tribut«, schrieb Brecht(32). Insofern erinnert ihre Technik an die von den Denkern der Frankfurter Schule angewandten Verfahren während der 1930er Jahre, die die Kritische Theorie als Reaktion auf ein Sammelsurium von Ismen entwickelten, welche Horkheimer(97) unter dem Oberbegriff »traditionelle Theorie« zusammenfasste: unter anderem Positivismus und Vulgärmarxismus. Für Horkheimer(98) war jede dieser Disziplinen nicht hinreichend dialektisch, und ihre Anhänger gingen von dem Irrtum aus, sich vorzustellen, es existiere eine transzendente Position, von der aus sie eine objektive Welt der Fakten beobachten und analysieren könnten. Eine solche Position gab es nicht, daher riskierte der kritische Theoretiker in gewissem Sinn die Art von Absurdität, auf die Brecht(33) sich beim Verfassen von Mahagonny munter eingelassen hatte. Mahagonny »sitzt noch prächtig auf dem alten Ast«, kommentiert er in seinen »Anmerkungen zur Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny«, »aber es sägt ihn wenigstens schon (zerstreut oder aus schlechtem Gewissen) ein wenig an(99).«
Fast kann man Brechts(34) manisch gackerndes Lachen hören, während der Ast, auf dem er sitzt, in die Tiefe rauscht; allerdings hatte die Wahl des Ortes, den er sich für die Platzierung seines Hinterns ausgesucht hatte, nichts mit Geistesabwesenheit zu tun. Er verlangte, die Musiker, Sänger und Zuschauer sollten realisieren, dass sie Teil der Kulturindustrie waren: Die ersten beiden Gruppen bedienten herrschende wirtschaftliche Interessen und betrogen sich selbst, wenn sie annahmen, sie würden interesselose Kunst schaffen, die von den Zwängen des Kapitalismus unberührt blieb, lieferten sie doch der dritten Gruppe eine Oper, die den Gesetzen des Warenfetischismus gehorchte. Brecht(35) griff sogar bemerkenswerterweise seinen musikalischen Partner Kurt Weill(8) dafür an, dass dieser sich als Avantgardekomponist darstellte, der in seiner Naivität annahm, er sei selbst nicht Sklave wirtschaftlicher Interessen. Indem sich Brecht(36) gegen die traditionelle »dramatische« Form des Theaters wandte, hoffte er, dessen saturierte Zuschauer in kritische Beobachter zu verwandeln, die nach politischer und gesellschaftlicher Betätigung hungerten(37).
Adorno(146) hatte zwar nie näher mit Brecht(38) zu tun, war allerdings ein verwandter Geist, ein Kritiker im Stil von Agent Orange, der alles und jedes niederbrannte, was ihm in den Weg kam. Manchmal sogar sich selbst. Allerdings teilte der Philosoph nie die Agitprophoffnungen des Dramatikers. Brecht(39) wünschte, es werde zwischen der Grandezza des Opernhauses und der herben Botschaft zu einer produktiven Reibung kommen. Stattdessen wurde Mahagonny zu einem weiteren kulinarischen Leckerbissen im Opernrepertoire, der von seinem Publikum falsch interpretiert und dann munter konsumiert wurde wie Whiskey. Als die Oper 2015 im Royal Opera House in Covent Garden aufgeführt wurde, schrieb der englische Romancier Will Self(1):
Dieses Museumsstück – eine Art Diorama gescheiterten Utopismus – lehrt uns gar nichts. Wir können die satt durchkomponierte Musik von Weill(9) genießen; wir können über die unverblümte Darstellung menschlicher Gier entzückt sein; wir können die Umfunktionierung des Brecht(40)’schen Epischen Theaters zu Unterhaltungszwecken bewundern. Aber von uns zu erwarten, dass wir uns auf eine kritische Auseinandersetzung mit den grundlegenden Bedingungen unserer gesellschaftlichen Realität einlassen, wäre offen gestanden doch ein bisschen viel verlangt.[11]
Etwas Ähnliches dürfte wohl für das Institut für Sozialforschung und seine Entwicklung in den 1930er Jahren gelten. Es war insofern brechtisch, als die ätzende Kritik in umgekehrtem Verhältnis zu dem Veränderungsgrad stand, der am kritisierten Objekt erzielt wurde. Wie Brechts(41) Theater wurde auch die Kritische Theorie zwar anders dargestellt, es konnte aber nicht verhindert werden, dass sie zu einer weiteren fetischisierten Ware wurde: das philosophische Äquivalent zu einem erregend »schockierenden« Opernabend, das noch an Reizpotential dadurch hinzugewann, dass es mit dem Faschismus aneinandergeriet – eine mehr oder weniger harmlose Zerstreuung für plauderfreudige liberale Intellektuelle. Lukács(33) wies in seiner vernichtenden Kritik an den deutschen Intellektuellen allgemein und an der Frankfurter Schule im Besonderen darauf hin, dass Denker wie Adorno(147) – ähnlich wie Opernbesucher auf den Logenplätzen, die sich Mahagonny ansahen – sich im Grand Hotel Abgrund komfortabel niedergelassen hätten.[12] Brecht(42) erfand sogar einen Namen für die Bewohner dieses Hotels. Er nannte sie Tuis (ein Akronym, das sich aus der Umstellung der Silben des Wortes »Intellektuell« – »Tellekt-Uell-In« ergibt). Die Tuis waren Parteigänger, aber nicht Mitglieder in einer Partei, sie waren nicht abhängig von öffentlichen Institutionen, aber durchaus gewandt im Umgang mit ihnen. Solche Tuis, zu denen Brecht(43) auch die Theoretiker der Frankfurter Schule zählte, hätten durch Unterweisung der Massen in der marxistischen(205) Lehre einen Beitrag zur Überwindung des Kapitalismus leisten können. Da sie das nicht getan hatten, trugen sie stattdessen faktisch zum Zusammenbruch der Weimarer Republik(7) und dem Aufstieg von Hitler(10) bei. Für Brecht(44) waren die Angehörigen der Frankfurter Schule Verräter an der Revolution, die sie scheinbar befürworteten.[13] Adorno(148) und Horkheimer(100) waren um eine Retourkutsche nicht verlegen: In ihren Augen war Brecht(45) ein kleinbürgerlicher Angeber und Verteidiger des Stalinismus. Man könnte behaupten, dass auch Brecht(46) Züge eines Tui hatte: Ebenso wie die Schriften der Frankfurter Schule florierte sein Theater während der Zuspitzung der kapitalistischen Widersprüchlichkeiten; statt die Oper als bürgerliche Kunstform zu zerstören, verlängerte er ihre Lebensdauer.
In den 1930er Jahren trug Brecht(47) Material zu einem Tui-Roman zusammen, der als Satire auf die Intellektuellen im Deutschen Reich und in der Weimarer Republik(8) angelegt war, den er allerdings nicht fertigstellte. Während seines Exils in Kalifornien(2) schuf er den Ausdruck Tuismus als seine Bezeichnung für die Frankfurter Schule. Mittlerweile nahm er die Frankfurter Wissenschaftler als etwas Schlimmeres als nur Verräter der Revolution wahr. Sie seien, so seine beißende Kritik, während ihres amerikanischen Exils in ihren Bemühungen um Gründungsgelder zu Prostituierten geworden: Sie verkauften ihre Fähigkeiten und Meinungen als Waren, um die herrschende Ideologie der repressiven US-Gesellschaft zu unterstützen.