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Die Macht des negativen Denkens

Im Jahr nach der Premiere von Mahagonny wurde Max Horkheimer(101) Leiter des Instituts für Sozialforschung. Carl Grünberg(20) war nach einem Schlaganfall im Januar 1928 zurückgetreten, auf ihn folgte zunächst Friedrich Pollock(18). 1931 übernahm Horkheimer(102) die Position seines Freundes Pollock, der auch weiterhin einen Großteil der weitgehend unspektakulären Verwaltungsarbeit leistete, die notwendig war, um die Finanzen und die Organisation des Instituts in den Jahren seines Exils sicherzustellen. So war es beispielsweise Pollock(19), der seine Kontakte zur Internationalen Arbeitsorganisation nutzte, um in Genf(1) eine Niederlassung des Instituts zu gründen. Er und Horkheimer(103) zogen nach der Machtergreifung der Nazis im Jahr 1933 nach Genf um.

Horkheimer(104) veränderte die Ausrichtung des Instituts radikal. Es war fortan nicht mehr wie unter Grünberg(21) im Wesentlichen ein marxistisches Forschungsinstitut, in dem die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung untersucht wurde; noch weniger eine Einrichtung, deren Mitarbeiter in der Wirtschaft den Schlüsselfaktor für das Schicksal des Kapitalismus sahen. Um das Scheitern der Revolution in Deutschland(47) und das Aufkommen des Faschismus zu erklären, musste Marx’ Wirken(206) neu bestimmt werden. »Als Marx(207) die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise unternahm, war diese Produktionsweise in den Anfängen«, so Walter Benjamin(250) in seinem 1936 entstandenen Essay »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«.

Marx(208) … ging auf die Grundverhältnisse der kapitalistischen Produktion zurück und stellte sie so dar, daß sich aus ihnen ergab, was man künftighin dem Kapitalismus noch zutrauen könne. Es ergab sich, daß man ihm nicht nur eine zunehmend verschärfte Ausbeutung der Proletarier zutrauen könne, sondern schließlich auch die Herstellung von Bedingungen, die die Abschaffung seiner selbst möglich machen(251).[1]

Allerdings befand sich der Kapitalismus mittlerweile nicht mehr im Selbstzerstörungsmodus: Im weiteren Verlauf des Essays geht es um eine kapitalistische Produktionsweise, welche ihre Anfänge hinter sich gelassen hat und nun die gesamte Gesellschaft dominiert. Und eine der entscheidenden Fronten im Kampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus waren Kunst und Kultur.

Kapitalismus war nicht mehr nur eine Produktionsweise, sondern ein System, das durch Massenkultur und -kommunikation, Technologie und diverse Arten sozialer Kontrolle das Ausmaß der proletarischen Ausbeutung übertünchte. 1931 sah es ganz so aus, als sei der Kapitalismus in der Lage, seine Aufhebung – womöglich bis zum Sanktnimmerleinstag – aufzuschieben. Unter solchen Umständen, so Horkheimer(105), dürfe sich das Institut nicht länger nur mit den ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft beschäftigen, sondern müsse über deren Überbau nachdenken. Gefordert war die Entwicklung einer Kritik der ideologischen Kontrollmechanismen, die das Weiterbestehen des Kapitalismus sicherten. Während Lukács(34) in seinem 1922 entstandenen Text Geschichte und Klassenbewußtsein noch die Bedeutung des proletarischen Bewusstseins für die Revolution unterstrichen hatte, gewann Horkheimer(106) nun den Eindruck, dass die Kluft, die Lukács(35) zwischen wahrem und verdinglichtem Bewusstsein konstatiert hatte, gar nicht zu schließen war – jedenfalls nicht vom Proletariat selbst. »Die Mitglieder der Frankfurter Schule empfanden sich zunehmend als das einzige revolutionäre Subjekt«, so Thomas Wheatland(1), »weil nur sie einen Zustand bewusster Reflexion erreicht hatten, der die verdinglichte Welt der durch und durch verwalteten Gesellschaft transzendierte(2)[2] Es scheint, als sei das Proletariat für zu schwach befunden worden, weshalb es als revolutionärer Akteur durch kritische Theoretiker ersetzt werden musste.

Adorno(149) zumindest war sich im Klaren über das Paradox, Ideologiekritiker zu sein, während Ideologie als gesellschaftlich notwendig falsches Bewusstsein definiert war. Er wusste, dass die Frankfurter Schule ebenso wie Brecht(48) auf demselben Ast saß, an dem sie sägte. In Minima Moralia schreibt er über das Paradox der kritischen Theoretiker:

Indem sie überhaupt noch Denken gegenüber der nackten Reproduktion des Daseins sich gestatten, verhalten sie sich als Privilegierte; indem sie es beim Denken belassen, deklarieren sie die Nichtigkeit ihres Privilegs … Es gibt aus der Verstrickung keinen Ausweg. Das einzige, was sich verantworten läßt, ist, den ideologischen Mißbrauch der eigenen Existenz sich zu versagen und im übrigen privat so bescheiden, unscheinbar und unprätentiös sich zu benehmen, wie es längst nicht mehr die gute Erziehung, wohl aber die Scham darüber gebietet, daß einem in der Hölle noch Luft zum Atmen bleibt(150).[3]

Unter Horkheimer(107) und Adorno(151) richteten die Denker der Frankfurter Schule ihre Aufmerksamkeit auf eine Kritische Theorie, in der es darum ging, die Hölle zu verstehen, in der man lebte. Dafür musste man sich von der Art marxistischer(209) Theorie entfernen, die sich ausschließlich auf wirtschaftliche Themen konzentrierte. In seiner Antrittsvorlesung »Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung« sagte Horkheimer(108), das Institut müsse sich die Frage stellen »nach dem Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Leben der Gesellschaft, der psychischen Entwicklung der Individuen und den Veränderungen auf den Kulturgebieten im engeren Sinn, zu denen nicht nur die sogenannten geistigen Gehalte der Wissenschaft, Kunst und Religion gehören, sondern auch Recht, Sitte, Mode, öffentliche Meinung, Sport, Vergnügungsweisen, Lebensstil u. s. f.« Unter Horkheimer(109) wurde das Institut interdisziplinär. Es solle, so seine Vision, »die Philosophie als aufs Allgemeine, ›Wesentliche‹ gerichtete theoretische Intention den besonderen Forschungen beseelende Impulse … geben … und zugleich weltoffen genug [sein], um sich selbst von dem Fortgang der konkreten Studien beeindrucken und verändern zu lassen«.[4]

Der interdisziplinäre Trend wurde durch die neuen Intellektuellen betont, die sich nun im Institut einfanden: Leo Löwenthal(14) kam als Literaturwissenschaftler, Erich Fromm(28) als analytischer Sozialpsychologe, Herbert Marcuse(37) wurde als politischer Philosoph angestellt und Theodor Adorno(152) als Dozent und Autor auf den Gebieten Philosophie und Musik. Die Denker an den Rändern der Schule – Walter Benjamin(252), Ernst Bloch(2), Siegfried Kracauer(6) und Wilhelm Reich(1) – regten die Theoretiker des Instituts dazu an, sich mit Dingen zu befassen, die unter Grünbergs(22) Führung nie infrage gekommen wären, etwa nicht nur die wirtschaftlichen und politischen Grundlagen des Faschismus zu studieren, sondern auch dessen Psychopathologie und die Ästhetisierung der Politik.

Die Mitglieder der Frankfurter Schule beschlossen also, die weißen Handschuhe abzulegen, in denen der marxistische(210) Wirtschaftswissenschaftler Henryk Grossmann(51) seine Vorlesungen gehalten hatte, und sich die Hände schmutzig zu machen. Man würde Horoskope, Filme, Jazz, sexuelle Unterdrückung, Sadomasochismus, die abstoßenden Manifestationen unbewusster sexueller Impulse studieren; man würde sich kritische Notizen über die massenkulturellen Niederungen machen und die fadenscheinigen metaphysischen Grundlagen in den Abseiten rivalisierender Philosophien erkunden. Horkheimers(110) Vision bei seiner Antrittsvorlesung sah vor, dass die Philosophie sich einer synoptischen, kritischen Betrachtung des menschlichen Lebens öffnen solle, die durch empirische Forschung und interdisziplinäre Arbeit ergänzt werden müsse. Die Kritische Theorie, so Martin Jay(3), lege den Akzent auf die Totalität dialektischer Vermittlung, die im Prozess der Gesellschaftsanalyse begriffen werden musste.

Karl Korsch(8) führt in Marxismus(211) und Philosophie an, dass die Nachfolger von Marx seine Vision verraten hätten. »Spätere Marxisten(212)«, so Korsch,

haben … den wissenschaftlichen Sozialismus tatsächlich mehr und mehr als eine Summe von rein wissenschaftlichen Erkenntnissen ohne unmittelbare Beziehung zur politischen und sonstigen Praxis des Klassenkampfes aufgefasst … Die einheitliche Gesamttheorie der sozialen Revolution ist umgewandelt in eine wissenschaftliche Kritik der bürgerlichen Wirtschaftsordnung und des bürgerlichen Staates, des bürgerlichen Erziehungswesens, der bürgerlichen Religion, Kunst, Wissenschaft und sonstigen Kultur(9).[5]

Das heißt: Der Marxismus(213) wurde zum Gegenstand der vorherrschenden Arbeitsteilung, und das untergrub sein kritisches Potential. Um dieses kritische Potential wiederzubeleben, musste die Frankfurter Schule die totalisierende marxistische(214) Vision wiederherstellen und interdisziplinär werden. Übrigens wurde sie dadurch zu einem beständigen Mahnmal gegen die Entwicklung der Universitäten im 20. Jahrhundert. Die Universitäten entwickelten sich zu einem neuzeitlichen Turm von Babel, sie spalteten sich zunehmend in spezialisierte Fakultäten auf und waren von Experten bevölkert, die nur selten zu einer gemeinsamen Sprache fanden.

Adorno(153) ging nun aber praktisch unmittelbar nach der Gründung – in einer Vorahnung der Spannungen, die auf die Frankfurter Schule zukamen – auf Distanz. Wenige Wochen nach Horkheimers(111) Antrittsvorlesung führte er in seiner ersten Vorlesung als Privatdozent aus, dass dieses Bekenntnis zur Interdisziplinarität Zeitverschwendung sei. Zwar war er, was das revolutionäre Potential der Arbeiterbewegung in Deutschland(48) betraf, ebenso skeptisch wie der Institutsleiter, doch Adorno(154) hielt es für sinnlos, angesichts des völligen Zusammenbruchs der sozialen Welt jenes Ziel anzustreben, das Horkheimer(112) als »eine Theorie des Ganzen« oder die »Totalität der Wirklichkeit« bezeichnete. Adornos Antrittsvorlesung hatte also deutlich den Charakter einer Abwendung von der Programmvision seines Vorgesetzten.

Aber wie sah Adornos(155) alternative Vision aus? Obwohl die Erstellung einer Diagnose dessen, was in der Gesellschaft falsch gelaufen war, es erforderlich machte, »Schlüssel zu konstruieren, mit denen die Wirklichkeit aufzuschließen war«, war Adorno(156) nicht der Meinung, dass die Philosophie »fähig sei«, wie Horkheimer(113) es formuliert hatte, »Einzelstudien anregende Impulse zu vermitteln«. Stattdessen, so Adorno(157), riskiere die Philosophie, rein spekulativ zu werden, wenn sich einzelne Disziplinen (einschließlich wohl der Philosophie selbst) nicht in »dialektischer Kommunikation« befänden. Er erklärte, das Denken allein sei nicht fähig, die Wirklichkeit als Ganze aufzufassen; faktisch sei die Wirklichkeit selbst ein Rätsel. Allerdings ist nicht klar, wie es möglich sein soll, ein Rätsel zu verstehen. Adorno(158) entwickelte eine dialektische Methode des Wissens, die viele seiner Zuhörer obskur fanden. Er bemerkte, »die Funktion der Rätsellösung [sei es], die Rätselgestalt blitzhaft zu erhellen«. Das erinnert an Proust(23) zu Beginn von À la recherche du temps perdu, dessen gesamte Kindheit beim Geschmack der Madeleine wiederauflebt. Eine ähnliche Vorstellung hatte Adorno(159): ein interpretierender Geist mit genauer Vorstellungskraft. Sein Biograph führte an: »Die durch das Rätsel aufgeworfenen Fragen werden durch Antwortvarianten gleichsam eingekreist, die versuchsweise Lösungen nahelegen.«[6] Was seine Erkenntnistheorie betraf, arbeitete Adorno(160) mit Modellen philosophischer Interpretationen, die in sich verändernde Konstellationen eingebracht werden, deren Wahrheitsgehalt blitzartig aufscheint und erhellt, was zuvor gedacht worden war. Die Wahrheit taucht in plötzlichen Blitzen auf. Mit dieser verblüffenden Erkenntnistheorie – ein Modell, dem er treu bleiben sollte – stellte sich Adorno(161) neben Benjamin(253) und Proust(24).

Nach Adornos(162) Vorlesung wurde Horkheimer(114) auf der Rückreise mit der Bahn gefragt, was er von dem Gehörten halte. »Er sprach in einem Ton: ›Was soll’s‹ mit den Anschauungen Adornos(163)«, so der Institutsassistent Willy Strzeliewicz(1).[7] Horkheimer(115) verfolgte seinen Kurs unbeeindruckt weiter. Mit seiner interdisziplinären Wende steuerte er sein Institut selbstbewusst zu den hegel(16)schen Wurzeln des Marxismus(215) zurück und weg von der Art eines wissenschaftlichen Marxismus(216), aufgrund dessen die proletarische Revolution im Sinne der ehernen Gesetze des historischen Fortschritts als unvermeidlich betrachtet wurde. Inspiriert wurde er dabei von der Lektüre der kurz zuvor veröffentlichten Ökonomisch-philosophischen Manuskripte von Karl Marx(217) aus dem Jahr 1844, die auch schon bestätigt hatten, was Lukács(36) 1922 ausgeführt hatte: Es war zwar nicht ausgeschlossen, dass die Entfremdung der Arbeiter ein revolutionäres Klassenbewusstsein erzeugen kann, doch es war ebenso möglich, dass sich unter den Arbeitern Enttäuschung und Resignation breitmachten.

Diese neue Richtung gab den Denkern der Frankfurter Schule dann auch das intellektuelle Arsenal für ihren Angriff auf den Positivismus, in dem Horkheimer(116) eines der intellektuellen Übel seiner Gegenwart sah. Der eigentliche Materialismus von Marx(218), so Horkheimer(117), sei dialektisch, was bedeutet, dass eine fortwährende Interaktion zwischen Subjekt und Objekt besteht. Wo auch immer er hinschaute, sah Horkheimer(118) dialektische Prozesse am Werk. Statt einer Welt von Fakten, die widerzuspiegeln, die Aufgabe der Sozialtheorie war (was er als positivistische Illusion bezeichnete), sah er Wechselwirkungen. So leiteten etwa gewisse Vulgärmarxisten Überbauphänomene, wie etwa Kultur und Politik, reduktionistisch von der ökonomischen Basis der Gesellschaft ab. Demgegenüber betonte Horkheimer, die Vermittlung(119) habe entscheidende Bedeutung für jegliche Sozialtheorie, in der es um die Veränderung der Gesellschaft gehe. Hierin folgte er Lukács(37), der geschrieben hatte: »Die Kategorie der Vermittlung ist ein Hebel, mit dem die bloße Unmittelbarkeit der Empirie überwunden werden kann.« Für Lukács(38) mussten die Objekte der empirischen Welt in hegel(17)schen Begriffen als Objekte einer Totalität verstanden werden, also »als Objekte einer totalen historischen Situation, die im Prozess des historischen Wandels begriffen ist«.[8]

Politik und Kultur waren nicht nur einfach Ausdruck von Klasseninteressen oder Phänomene, die von der sozioökonomischen Basis einer Gesellschaft abgelesen werden konnten. Sie standen vielmehr in multidimensionalen Beziehungen zur materiellen Substruktur der Gesellschaft, mittels dieser Erscheinungen reflektierte man Klasseninteressen und widersprach ihnen, ebenso wurde diese Substruktur damit zum Ausdruck gebracht und zusammengefasst. Man denke nur an Balzac(1): Engels(5) pries diesen politisch reaktionären Romancier eben aus dem Grund, weil seine Romane die konkrete Realität von Frankreich(4) im 19. Jahrhundert in all ihren Widersprüchlichkeiten darstellen. Seine Romane bringen nicht lediglich die Klasseninteressen des Autors zum Ausdruck; was sie für die Linke so wertvoll machte, war, dass darin die innere Widersprüchlichkeit dieser Interessen beschrieben wird.

Was aber bedeutete der Begriff »dialektisch« für die Frankfurter Schule? Um das zu verstehen, gehen wir auf Hegel(18) zurück. Hegels klassisches Beispiel des dialektischen Prozesses in der Phänomenologie des Geistes ist die Beziehung zwischen Herr und Knecht. Der Herr scheint alles zu besitzen, der Knecht nichts; eines fehlt dem Herrn allerdings – die Erfüllung seines Bedürfnisses nach Anerkennung. Die Anerkennung seitens des Knechtes reicht nicht aus, weil der Knecht für den Herrn nur ein Ding ist, kein unabhängiges Bewusstsein hat. Und der Knecht empfängt seinerseits keine Anerkennung von seinem Herrn, eben weil er für diesen ein Ding ist. Hier kommt es dann zum Umschlag. Der Knecht arbeitet, wohingegen der Herr die vorübergehenden Freuden des Konsums entgegennimmt. Indem der Knecht nun aber arbeitet, fertigt und formt er materielle Objekte und gewahrt durch diesen Prozess sein Selbstbewusstsein, das er als etwas Objektives ansieht, nämlich als Frucht seiner Mühen.

Hier gibt es offensichtlich einen Schnittpunkt mit der marxistischen(219) Vorstellung vom Menschen als einem von seiner Natur her produktiven Wesen, das sich durch sinnvolle Arbeit selbst definiert und zu Selbstbewusstsein, ja sogar persönlicher Erfüllung gelangt. Der Knecht, so Hegel(19), realisiere durch Arbeit – auch durch diejenige für seinen Herrn –, dass er selbst über Verstand verfügt, und ihm gehe auf, dass die Situation nicht stabil ist: Ihre inneren Spannungen erzeugen eine dialektische Bewegung, die zu einer höheren Synthese führt. Aus dieser Synthese entsteht eine weitere dialektische Spannung, dann eine weitere Synthese usw. – dies jedenfalls war Hegels Vorstellung von Geschichte. Vierzig Jahre, nachdem Hegel(20) diesen dialektischen Prozess vorgezeichnet hatte, argumentierte Marx(220), dass der Arbeiter seines objektivierten Wesens verlustig gehe, wenn das durch Arbeit hergestellte Objekt einem anderen gehört (sei dieser Andere nun der Herr des Knechtes oder ein Kapitalist). Darin liegt die Essenz entfremdeter Arbeit.

Hegel(21) verstand Geschichte als die Entfaltung solcher dialektischen Prozesse hin zu der Selbsterkenntnis, die er als absoluten Geist bezeichnete. Horkheimer(120) verzichtete auf hegelschen Mystizismus und sich fortschreitend entwickelnde Logik, behielt allerdings die hegelsche(22) Dialektik bei und setzte sie in Kontrast zum unheilvollen, konservativen Einfluss des Positivismus. Das sollte eine konstante intellektuelle Grundhaltung der Frankfurter Schule bleiben. Dreißig Jahre später schreibt Marcuse(38) im Vorwort zu seinem Werk Reason and Revolution: Hegel and the Rise of Social Theory:

Das dialektische Denken … wird selbst negativ. Seine Funktion besteht darin, die Selbstsicherheit und Selbstzufriedenheit aufzubrechen, das unheilvolle Vertrauen in die Macht und Sprache der Fakten zu untergraben, zu zeigen, dass Unfreiheit so sehr zum Wesenskern der Dinge gehört, dass die Entwicklung ihrer inneren Widersprüche notwendig zu einem qualitativen Wandel führen muss: zur Explosion und Vernichtung des bestehenden Status quo(39).[9]

In seiner Antrittsvorlesung kritisierte Horkheimer(121) den Positivismus, weil dieser »nur das Partikulare sieht, im Reich der Gesellschaft sieht er nur das Individuelle und die Beziehungen zwischen Individuen; für den Positivismus erschöpft sich alles in reinen Fakten«.[10] Im Positivismus, einer im 19. Jahrhundert von dem französischen Philosophen Auguste Comte(1) entwickelten gesellschaftstheoretischen Methode, ging man davon aus, dass die Gesellschaft ebenso wie die physische Welt nach Gesetzen funktioniert. In der Philosophie liegt dem logischen Positivismus die Auffassung zugrunde, alles, was wir vernünftigerweise zu wissen behaupten können, müsse auf Daten aus sinnlicher Erfahrung in Verbindung mit logischen und mathematischen Operationen beruhen. Aussagen, die nicht auf solchen Daten oder Operationen gründen, sind metaphysisch und insofern unsinnig, und sogar ästhetische oder moralische Urteile sind im eigentlichen Sinn keine Urteile, sondern mehr oder weniger ausgefeiltes zustimmendes oder ablehnendes Grunzen.

Eine solche Philosophie wurde fast zeitgleich zur Frankfurter Schule entwickelt. Der sogenannte Wiener Kreis des logischen Positivismus, gegründet 1922 von Moritz Schlick(1), setzte sich aus einer Gruppe von Philosophen und Wissenschaftlern zusammen, die sich bis 1936 an der Universität Wien(7) trafen. Einige ehemalige Mitglieder des Kreises gingen von Österreich(7) aus nach dem Anschluss Österreichs an Nazideutschland 1938 ins Exil, und der Kreis übte einen bedeutenden Einfluss auf philosophische Fakultäten in England(3) und den USA aus, was teilweise daran lag, dass seine intellektuelle Zielrichtung (man ging davon aus, dass Hegels Ideen(23) zum größten Teil metaphysisch, will sagen unsinnig waren) an den englischsprachigen Universitäten besser ankam.

Horkheimer(122) hingegen vertrat die Ansicht, hinter der für die positivistische Sozialtheorie typischen angeblichen Konzentration auf neutrale Fakten, hinter dem scheinbar gesetzmäßigen Ablaufen formaler Prozeduren, hinter den anscheinend neutralen Operationen formaler Logik verberge sich eine andere Geschichte: Früher einmal seien Positivisten progressiv gewesen, mittlerweile jedoch sorgten sie für die Aufrechterhaltung eines infernalischen Status quo. So hatte beispielsweise Kant(2) sein Moralsystem auf dem kategorischen Imperativ gegründet (dem Prinzip, dass man »nur nach derjenigen Maxime handeln solle, durch die man zugleich wollen kann, dass sie ein allgemeines Gesetz werde«), was in der Geburtsstunde der Aufklärung zur Entwicklung einer uneigennützigen, individualistischen Moralität führte, die eine Herausforderung für das droit de seigneur des Ancien Régime dargestellt hatte. Mittlerweile jedoch diente das kant(3)sche Moralsystem dazu, den Status quo aufrechtzuerhalten, indem die bürgerliche Moral nicht mehr nur als natürlich, sondern geradezu als ewig gültig angesehen wurde. Auf ähnliche Weise setzte der deutsche Rechtsstaat juristische Allgemeingültigkeit voraus, ohne die politischen Ursprünge des Rechts auf die Verteidigung des Privateigentums zu beziehen, und vertuschte seine gegenwärtige Funktion als Hüter des existierenden kapitalistischen Systems und der existierenden Besitzverhältnisse. Dieser umfangreiche Angriff auf den Positivismus sollte zu einer lebenslangen Hauptbeschäftigung für Horkheimer(123) und seine Kollegen werden. Er kulminierte im Positivismusstreit, in den die Frankfurter Schule während der 1960er Jahre verwickelt war.

Im Unterschied dazu sprengte dialektisches Denken diese Ordnung auf. Wo Hegel(24) eine Vision historischen Wandels als dialektische Bewegung bot, als einem endlosen Wechselspiel von Kräften und Konstellationen, legten die Positivisten – zumindest diejenigen, die Horkheimer(124) als solche charakterisierte – die Fakten in Aspik und verewigten unangemessenerweise den Status quo. In Wahrheit gab es für die Theoretiker der Frankfurter Schule keinen Abschluss des ewigen Werdeprozesses, keinen Stillstand des Ixionrads – Horkheimer(125) kannte diese metaphysische Wahrheit, er hatte genug von Schopenhauer(23) gelesen.

Der andere Impuls des Positivismus jedoch, so eine zentrale Überzeugung der Frankfurter Theoretiker, sei politischer Natur: Indem er die Welt auf empirisch überprüfbare Fakten reduzierte, trug der Positivismus dazu bei, eine autoritäre herrschende Gesellschaftsordnung zu kaschieren. In seinem 1937 erschienenen Essay Der neueste Angriff auf die Metaphysik gibt Horkheimer zu bedenken(126), die Vertreter des logischen Positivismus hielten »sich an das, was in angemessener Form zu Protokoll gegeben wird« und fungierten damit als Knechte des Kapitalismus, da er die einzelnen Wissenschaften vor umfassenderer Interpretation abschirmen wolle.[11] Dieses Argument vertrat Horkheimer(127) bereits seit längerem: Schon in seiner Doktorarbeit Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie hatte er die Auffassung von Wissenschaft und Technik zur Zeit der Renaissance mit gesellschaftlicher und politischer Herrschaft verknüpft.[12]

In den 1930er Jahren entwickelte Horkheimer(128) diese Perspektive weiter. Am klarsten formuliert er sie in seinem Essay »Traditionelle und Kritische Theorie« aus dem Jahr 1937. Unter dem Begriff »traditionell« fasst Horkheimer(129) jene Ismen zusammen, die die Denker der Frankfurter Schule ablehnten – Positivismus, Behaviorismus, Empirismus und Pragmatismus. Er versieht den Vertreter traditioneller Theorie sogar mit einem eigenen Begriff, indem er ihn als »Savant« bezeichnet: Das war in seinen Augen derjenige, der nicht anerkennt, dass die ökonomische (das heißt damals kapitalistische) Struktur der Gesellschaft die wissenschaftliche Arbeit prägt. Er wirft dem Savant vor, dass dieser sich die Vorstellung anmaße, einen objektiven Standpunkt vor einer Welt von Tatsachen innezuhaben(130): »Die Beziehung von Hypothesen auf Tatsachen vollzieht sich schließlich nicht im Kopf der Gelehrten, sondern in der Industrie.«[13] Der Savant erkennt nicht, dass er kein freischwebender Intellektueller ist, sondern ein Lakai des Kapitalismus, und dass er – wenn auch häufig unbewusst – an dem durch kapitalistische Ausbeutung verursachten Leiden mitschuldig ist. Von der traditionellen Theorie grenzt Horkheimer(131) die Kritische Theorie ab: Letztere, so sein Gedanke, sei sich darüber im Klaren, dass es keine Facette der gesellschaftlichen Wirklichkeit gab, die vom Beobachter als endgültig oder vollständig in sich selbst angesehen werden durfte.

Das cartesianische Cogito (Ich denke, also bin ich) war nach Horkheimer(132) ein Beispiel für die Fehltritte der traditionellen Theorie: Es erweckte den Eindruck, faktengestützt, vernünftig, selbstverständlich zu sein, war jedoch in Wahrheit alles andere als das, da es alle möglichen philosophischen Unterstellungen mit sich brachte. So unterstellte es beispielsweise, dass es etwas gibt, was als »Ich« bezeichnet werden kann und was in Raum und Zeit fortbesteht. Schlimmer: Die Methode von Descartes löste das Subjekt aus jeglicher Art gesellschaftlicher Bestimmtheit heraus und machte es zu einem eher passiven Beobachter der Realität, der weniger (idealerweise dialektisch) an der Konstruktion von Realität beteiligt ist.

Die Rückkehr zu Hegel(25) und zur dialektischen Methode brachte für die Institutsmitglieder ein Abstreifen der intellektuellen Handschellen mit sich, die sie an den wissenschaftlichen Marxismus(221) banden, wie ihn einer aus ihren Reihen, Henryk Grossmann(52), vertrat – einen Marxismus(222), den allerdings andere Mitglieder, vor allem Horkheimer(133), als untauglich für die Moderne einstuften. Durch die Beschäftigung mit Hegels(26) Werk und dem des frühen von Hegel geprägten Marx(223) konnte man über Entfremdung, Bewusstsein, Verdinglichung nachdenken und darüber, wie diese Faktoren einer Revolution in der spätkapitalistischen Gesellschaft im Wege standen. Außerdem ermöglichte sie die Wiederbelebung des zentralen Stellenwerts des hegel(27)schen Vernunftbegriffs. Die deutschen Idealisten hatten zwischen (kritischer) Vernunft und (instrumentellem) Verstand unterschieden, und sowohl Kant(4) als auch Hegel verwiesen darauf, dass die Vernunft über die bloßen Erscheinungen der Wirklichkeit hinausreicht. Die Vernunft dringt zu den dialektischen Zusammenhängen unter der Oberfläche durch, wohingegen der Verstand sich mit der Strukturierung der Welt der Erscheinungen gemäß dem gesunden Menschenverstand befasst. Vernunft hat mit Zielen zu tun, Verstand lediglich mit Mitteln. Für Herbert Marcuse(40), den überzeugtesten Hegelianer(28) der Frankfurter Schule, war Verstand zum Werkzeug des Kapitalismus geworden, Vernunft hingegen zum Mittel, mit dem es möglich ist, den Kapitalismus in die Schranken zu weisen.[14]

In dieser hegel(29)schen Wende, die die Frankfurter Schule vollzog, war Marcuses(41) Aufnahme in das Institut ein Schlüsselfaktor. Marcuse war derjenige, der noch vor Adorno(164) die Macht des negativen Denkens erkannte und in eine Theorie fasste. Er kontrastierte das negative Denken nicht nur mit dem Positivismus, sondern auch mit einer Tradition des empiristischen Denkens, die nach Marcuses(42) Auffassung in der englischsprachigen Welt vorherrschte, in welcher die Denker der Frankfurter Schule nach der Flucht vor den Nazis Zuflucht suchten. Der Empirismus nahm auf naive Art die Dinge so hin, wie sie sind, er beugte das Knie vor der bestehenden Ordnung der Fakten und Werte. Marcuses(43) von Hegel(30) geprägte Vorstellung bestand darin, dass die Vernunft das Wesen der seienden Dinge erkenne. »Wesen« ist in diesem Zusammenhang ein philosophischer Fachbegriff, mit dem Marcuse die vollkommen verwirklichte Potentialität eines Seienden bezeichnete. Wenn es beispielsweise einer Gesellschaft an Freiheit mangelte, an materiellem Wohlstand und an Gerechtigkeit, die ihr erlauben würden, ihr Potential auszuschöpfen, dann bestünde die Aufgabe des kritischen Theoretikers, der seine Vernunft einsetzte, darin, diese Gesellschaft als »eine ›schlechte‹ Form von Wirklichkeit, ein Reich der Beschränkung und Knechtschaft« zu verdammen.[15] Der Empirismus als philosophisches Programm war dazu nicht in der Lage.

Etwas seltsam mutet an, dass der hegel(31)sche Idealismus, von Marcuse(44) als kritisch und revolutionär eingestuft, ursprünglich die Philosophie eines Denkers gewesen war, der in Preußen den Status quo verteidigt hatte. Damals waren es die führenden Köpfe des Empirismus, die man in gewisser Hinsicht durchaus als sozial radikale Denker bewerten konnte. So stellte etwa John Locke(1) das göttlich legitimierte Königtum infrage, während David Hume(1)s(2) skeptische Bewertung des religiösen Glaubens sicher keine gute Grundlage für die Hinnahme der existierenden Gesellschaftsordnung war. Ebenfalls interessant: Der Empirismus war in England(4) und Amerika(6) sehr erfolgreich, also in eben jenen Ländern, in denen so viele Exildeutsche, unter ihnen auch Marcuse(45), Zuflucht vor den Nazis suchten. Dieser Umstand machte Marcuses Versuch in Reason and Revolution, Hegel von seinem ungerechten Ruf in jenen Ländern zu befreien, ein Stammvater des Faschismus zu sein, zu einem gelinde gesagt interessanten Unternehmen.

Der Hegel(32)-Spezialist Marcuse(46) trug zur Renaissance des deutschen idealistischen Philosophen in Europa(15) während der 1930er Jahre bei – seine Habilitationsschrift Hegels Ontologie und die Grundlegung einer Theorie der Geschichtlichkeit erschien 1932. Von ähnlichem Gewicht war eine von ihm verfasste Studie über die gerade erst entdeckten Ökonomisch-philosophischen Manuskripte von Karl Marx(224), die, wie wir gesehen haben, einen frühen von Hegel beeinflussten Marx(225) aus der Vergessenheit zurückholten; einen Marx(226), für den Entfremdung, Warenfetischismus und Verdinglichung eine wichtige Rolle spielten und sich der notwendige Zusammenbruch des Kapitalismus noch nicht aus wissenschaftlichen Gesetzen herleitete. Marcuse(47) kam teilweise deswegen an das Institut, weil ihm bewusst war, dass seine Berufsaussichten ansonsten begrenzt waren. »Wegen der politischen Situation wollte ich mich unbedingt dem Institut anschließen. Ende 1932 war vollkommen klar, dass ich mich unter dem Naziregime niemals für eine Professur würde qualifizieren können.«[16] Als er seine Arbeit am Institut aufnahm, war man bereits nach Genf(2) umgesiedelt, um sich der existentiellen und beruflichen Bedrohung durch die Nationalsozialisten zu entziehen.

Marcuse(48) hatte die 1920er Jahre mit Studien bei Heidegger(1) verbracht, und er war stark beeinflusst von der Kritik seines Lehrers an der westlichen Philosophie und dessen Versuch, sie in einer Welt neu zu formulieren, in der das technische Denken im Alltag die Oberhand gewonnen hatte und die Individuen ihrer Freiheit beraubte. Um allerdings eine Kritik dieser vollständig verwalteten Gesellschaft entwickeln zu können, deren Entstehen er um sich herum allüberall beobachtete, wandte Marcuse(49) sich von Heidegger(2) ab und Hegel(33) zu. Heidegger(3) wurde seinerseits 1933 Mitglied der NSDAP, war also als intellektueller Mentor eines sozialistischen Denkers wie (50)Marcuse wenig geeignet. Hegel war vergleichsweise vielversprechender. Marcuse(51) sah in ihm nicht den konservativen Philosophen, sondern einen Denker, der eine Kritik der irrationalen Formen sozialen Lebens entwickelt hatte. Im Gefolge von Hegel(34) verstand Marcuse seine Rolle als Intellektueller – in der Formulierung von Douglas Kellner(1) – unter anderem darin, »Kritiknormen zu postulieren, die auf vernünftigen Potentialen für das Glück und die Freiheit des Menschen beruhen, und die eingesetzt werden, um bestehende Zustände zu negieren, welche Individuen unterdrücken und menschliche Freiheit und menschliches Wohlbefinden einschränken«.[17]

Was aber geschieht, so Marcuses(52) Sorge in seinem Essay »Philosophie und Kritische Theorie« aus dem Jahr 1937, »wenn die von der Theorie skizzierte Entwicklung nicht eintritt? Was, wenn die Kräfte, die zum Wandel führen sollen, unterdrückt und allem Anschein nach zunichtegemacht werden?«[18] Durchaus nachvollziehbare Fragen – immerhin wurde im selben Jahr die Frankfurter Schule ins Exil auf die andere Seite des Globus getrieben, der Nationalsozialismus war offensichtlich nicht aufzuhalten, und der Sowjetmarxismus(227) artete zu stalinistischen(5) Schauprozessen und Gulags aus. Da mag es durchaus überraschen, dass Marcuse(53) nicht zum Pessimisten wurde.

Während der 1930er Jahre verloren allerdings einige der Kollegen Marcuses(54) ihren Glauben an die gesellschaftsverändernde Macht des kritischen Denkens. Vor allem Horkheimers(134) Hoffnungen schlugen in Verzweiflung um. Zu Beginn des Jahrzehnts hatte er noch geschrieben: Es »ist die Aufgabe des kritischen Theoretikers, die Spannung zwischen seiner Einsicht und der unterdrückten Menschheit, für die er denkt, zu verringern.«[19] Das Problem war: Er konnte diese Spannung nicht reduzieren, konnte also nicht auf eine Weise denken, mit der er der unterdrückten Menschheit hätte helfen können. 1937 äußerte Horkheimer(135) den verzweifelten Gedanken, dass die »Warenwirtschaft« womöglich eine Periode des Fortschritts einleitete, der letztlich, »nach einer enormen Ausweitung der Kontrolle des Menschen über die Natur, weitere Entwicklung behindert und die Menschheit in eine neue Barbarei treibt«.[20]

Worin – so die Sorge von Horkheimer(136) und Marcuse(55) – könnte die Rolle von Intellektuellen wie den Mitgliedern der Frankfurter Schule in einer Zeit, da die sozialistische Revolution zum Stillstand gekommen war, der Faschismus sich dagegen im Aufwind befand, noch bestehen? Karl Mannheim(1), ein an der Universität Frankfurt(46) wirkender Soziologe, der allerdings nicht zum Institut für Sozialforschung gehörte, formuliert in seinem Werk Ideologie und Utopie die Vorstellung des »freischwebenden Intellektuellen«: Eine sozial unabhängige Intelligentsia sei dafür prädestiniert, eine Führungsrolle zu übernehmen. Sein Intellektueller war der »Wächter in einer allzu finsteren Nacht«, abgehoben von den praktischen Sorgen der Gesellschaft und daher fähig, das Leben von einer höheren Warte aus zu beurteilen.[21] Brecht(49) und Benjamin(254) wandten sich gegen Mannheims(2) Vision: Die Schicht der Intellektuellen sei durchweg von materiellen Interessen geprägt, nicht nur hinsichtlich der Themenwahl, sondern auch in der Art und Weise, wie Themen wissenschaftlich untersucht wurden. Der Intellektuelle unterstützte den Kapitalismus entweder, oder er sprengte dessen Grundlagen – den Standpunkt eines neutralen Beobachters gab es auf diesem Schlachtfeld nicht.

Frühere Marxisten(228) hatten sich bereits produktiv mit der Idee auseinandergesetzt, dass die Intellektuellen eine Klasse für sich waren. In den 1920er Jahren hatte beispielsweise der italienische Denker Antonio Gramsci(1) zwischen einerseits traditionellen Intellektuellen, die durchaus die Tendenz haben, sich im Sinne von Mannheims(3) freischwebenden Intellektuellen als selbständige Gruppe zu verstehen, und andererseits organischen Intellektuellen unterschieden, die durch ihre Verwurzelung in einer bestimmten sozialen Gruppe definiert sind. In dieser Gruppe werden ihnen Erfahrungen vermittelt, die sie dazu befähigen, den kollektiven Willen dieser Gruppe zum Ausdruck zu bringen und sich für deren Interessen einzusetzen. Henryk Grossmann(53), der sich an den Straßenkämpfen der Jüdischen Sozialdemokratischen Partei Galiziens beteiligte, kann durchaus als Beispiel für einen organischen Intellektuellen im g(2)ramscischen Sinn dienen; allerdings wäre es schwierig, unter den führenden Köpfen der Frankfurter Schule einen zweiten zu finden, der sich so charakterisieren ließe.

Mannheim(4) war Jude, der 1933 von seiner Professur verdrängt wurde und nach England(5) floh, wo er als Soziologiedozent an der London(6) School of Economics tätig war. Wie die ebenfalls jüdischen Intellektuellen am Institut für Sozialforschung wurde Mannheim von einem Sturm hinweggefegt, ins Exil getrieben. »Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen«, so Benjamin(255) in seinem Essay »Über den Begriff der Geschichte«, den er im Frühjahr 1940 fertigstellte. »Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.«[22]

Möglicherweise mutet es seltsam an, Benjamins(256) berühmte Worte in diesem Zusammenhang zu lesen: Mannheim(5) war ein Wissenschaftssoziologe, kein Engel der Geschichte, und der Sturm, über den Benjamin schreibt, war auch nicht lediglich das Dritte Reich. Außerdem war Mannheim von seinem Temperament her anders veranlagt als Benjamins(257) Engel: Er wandte sich durchaus um und wagte den Blick in die Zukunft und er stellte sich vor, dass dort ein Utopia enthalten sein könnte. Die Macht, die herrschenden Verhältnisse durch eine Vorstellung zukünftiger idealer Verhältnisse zu verändern, bildete für ihn die Antriebskraft der Geschichte und war entscheidend für das Wohlbefinden der Gesellschaft.

Das war in gewissem Sinne nicht sonderlich jüdisch. Eine bekannte Schwachstelle des Marxismus(229) besteht darin, dass sich seine Vertreter die kommunistische Zukunft, die das Proletariat angeblich anstrebte, schlecht vorstellen konnten. Möglicherweise hat dieser Mangel an Phantasie – wenn man es so bezeichnen will – sehr alte Ursprünge. »Bekanntlich war es den Juden untersagt, der Zukunft nachzuforschen«, so Benjamin(258) nur wenige Seiten nach seiner Beschreibung des Engels. »Die Thora und das Gebet unterweisen sie dagegen im Eingedenken. Dieses entzauberte ihnen die Zukunft, der die verfallen sind, die sich bei den Wahrsagern Auskunft holen.« Benjamins(259) Marxismus(230) verlieh den traditionellen jüdischen Trauerritualen und der Erinnerung an die Leiden der Vorfahren eine neue Dimension. Allerdings erschöpfte sich sein Marxismus(231) darin nicht: »Den Juden wurde die Zukunft aber darum doch nicht zur homogenen und leeren Zeit. Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte.«

Mannheim(6) sah die Aufgabe des Intellektuellen darin, eine inspirierende Hoffnung in diese homogene, leere Zeit hinein zu entwerfen, sich ein Utopia auszumalen und dadurch einen Schritt in Richtung seiner Verwirklichung zu tun. In scharfem Kontrast verwarfen die Angehörigen der Frankfurter Schule diese Haltung und wandten sich während der 1930er und 1940er Jahre dezidiert von jeglicher Vorstellung ab, die Gesellschaft zu verändern, eine Vorstellung, die sie vielleicht zuvor noch gehegt haben mochten. Horkheimer(137) und Adorno(165) beschäftigten sich zunehmend mit einer philosophischen und kulturellen Kritik der westlichen Zivilisation (die ihren Niederschlag in ihrem Buch Dialektik der Aufklärung findet). Nicht einmal Marcuse(56) ließ sich bei der Abfassung seines Werkes Der eindimensionale Mensch, seiner Kritik der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, die ihn in den 1960er Jahren zum Liebling der Neuen Linken machte, auf Utopievorstellungen ein. »Die kritische Theorie der Gesellschaft besitzt keine Begriffe, die die Kluft zwischen dem Gegenwärtigen und seiner Zukunft überbrücken können; indem sie nichts verspricht und keinen Erfolg zeigt, bleibt sie negativ.«[23] Aber Pessimismus ist nicht dasselbe wie Hoffnungslosigkeit. Die letzten Worte des Eindimensionalen Menschen sind ein Zitat von Walter Benjamin(260): »Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben.«[24]

Die zweite Schlüsselfigur in der Entwicklung der Frankfurter Schule in den 1930er Jahren war Erich Fromm(29), ein junger Psychoanalytiker, der auch Soziologie studiert hatte. Horkheimer(138) holte Fromm(30) unter anderem deswegen an das Institut, weil er von seiner Sozialtheorie beeindruckt war, in der Freuds(23) Darstellung der psychosexuellen Entwicklung mit der These von Marx(232) kombiniert wird, dass es die ökonomischen und technischen Entwicklungen seien, die das Individuum prägen. Typisch in dieser Hinsicht ist Fromms(31) Essay »Die Entwicklung des Christusdogmas« aus dem Jahr 1930, in dem er sich kritisch mit der Darstellung Theodore Reik(1)s auseinandersetzt, einem seiner Lehrer am Berliner(50) Psychoanalytischen Institut. Dieser hatte eine ausschließlich an Freud(24) orientierte Abhandlung publiziert, laut der das Dogma des gekreuzigten Gottessohns im ödipalen Hass des Sohnes auf den Vater wurzelte.

Fromm(32) hingegen argumentiert, dieser ödipale Konflikt habe auch mit der zugrunde liegenden ökonomischen Situation zu tun gehabt: Die unteren Gesellschaftsschichten wandelten Jesus in einen Revolutionär ab, der ihnen Gerechtigkeit zu bringen vermochte. Dann jedoch, so Fromm(33), habe im Christentum die Gegenrevolution eingesetzt – die Reichen, Gebildeten übernahmen das Steuer in der christlichen Kirche, schoben den Tag des Jüngsten Gerichts ins Unendliche hinaus und setzten sich mit ihrer Auffassung durch, Christi Opfer am Kreuz, da es ja bereits stattgefunden habe, bedeute, dass die gesellschaftliche Veränderung, nach der die unterdrückten früheren Christen sich gesehnt hatten, nicht mehr notwendig sei. Fromm(34) schreibt weiter: »Die Veränderung der wirtschaftlichen Situation und der sozialen Zusammensetzung der christlichen Gemeinde, kurz die Veränderung des Lebensschicksals, veränderte die psychische Verfassung der Christgläubigen.«[25] Die Unterdrückten verloren ihren Glauben an die Möglichkeit eines sozialen Wandels, den sie sich von Christus, dem Messias, erhofft hatten. Stattdessen richteten sie ihre emotionale Aggression gegen sich selbst.

Fromm(35), den Horkheimer(139) kurz nach der Veröffentlichung dieser Arbeit auf einen Lehrstuhl beförderte, verfasste in den frühen 1930er Jahren weitere Artikel, in denen er die Erkenntnisse von Marx(233) und Freud(25) miteinander kombinierte. In zwei Aufsätzen über die Strafjustiz verwies er darauf, dass der Staat sich unbewusst als Vaterfigur präsentiere, mithin seine Herrschaft auf die Angst vor väterlicher Bestrafung begründe; darüber hinaus diagnostizierte Fromm(36) eine klassenorientierte Voreingenommenheit: Indem man sich auf Verbrechen und Strafe konzentriere, statt die unterdrückerischen sozialen Umstände anzupacken, die einige dazu veranlassten, Verbrechen zu begehen, würden die Kriminellen als Sündenböcke für gesellschaftliche Ungerechtigkeit und wirtschaftliche Ungleichheit abgestempelt. Das Bild des bestrafenden Vaters wurde auf die staatliche Autorität übertragen. Fromm(37) stellte sogar die These auf, dass das System der Strafjustiz die Kriminalitätsrate nicht reduziere; seine Funktion bestehe vielmehr darin, Unterdrückung zu verstärken und Opposition zunichtezumachen.

Diese Gedanken klingen gegenwärtig bei der amerikanischen Aktivistin und Professorin Angela Davis(1) an, einer ehemaligen Studentin Marcuses(57). Was sie und andere linke Intellektuelle als den »Gefängnis-Industrie-Komplex« bezeichneten, eine perfide, unausgesprochene Allianz zwischen Kapitalismus und einem strukturell rassistischen Staat, resultiert nicht in einer Reduktion der Kriminalitätsrate, sondern in Gewinnen für die Wirtschaft und einem Entzug demokratischer Rechte bei den ganz überwiegend schwarzen und hispanischen Gefängnisinsassen in den USA. 2014 stellte Davis(2) mir gegenüber fest: »Der Umstand, dass in den USA sehr viel mehr farbige Menschen in Gefängnissen einsitzen, führt zum Verlust des Zugangs zu demokratischen Verfahren und Freiheiten. Gefangene dürfen nicht wählen, auch ehemalige Gefangene dürfen in vielen Bundesstaaten nicht wählen. Die Menschen sind von Jobs ausgeschlossen, wenn sie eine Gefängnisstrafe abgesessen haben.«[26] Für Davis(3) ist der Gefängnis-Industrie-Komplex nicht lediglich eine rassistische amerikanische Geldmachmaschine, sondern ein Mittel, die Ohnmächtigsten zu kriminalisieren, zu dämonisieren und von ihnen zu profitieren. Fromm(38) hatte in seinem Artikel von 1931 das Strafjustizsystem seines Heimatlandes in strukturell ähnlichen Begriffen umschrieben.

Die Zwangsehe von Freud(26) und Marx(234), die von Horkheimer(140) und Fromm(39) offensichtlich vertreten wurde, war für orthodoxe Marxisten(235) im Allgemeinen und für die Komintern im Besonderen empörend, denn für orthodoxe Freudianer waren die Hoffnungen, die die Marxisten(236) in eine Revolution zur Veränderung der Gesellschaft setzten, nicht mehr als ein Luftschloss. So legt Freud(27) etwa in seinem 1930 veröffentlichten Das Unbehagen in der Kultur pessimistisch dar, dass eine nichtrepressive Gesellschaft unmöglich sei. Ungehinderte sexuelle Befriedigung war unvereinbar mit den Anforderungen von Kultur und Fortschritt: Disziplin und Verzicht. Arbeit, monogame Fortpflanzung, moralische Rechtschaffenheit und sozialer Zwang waren mit dem Opfer der Lust und der Unterdrückung kulturwidriger Impulse notwendig verbunden. Erst im Jahr 1955, als Marcuse(58) Eros und Kultur: Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud(28) verfasste, stellte ein Mitglied der Frankfurter Schule den freud(29)schen Pessimismus infrage, ohne Freuds(30) Einsichten oder den marx(237)schen Glauben an die Erreichbarkeit einer nicht unterdrückten kommunistischen Gesellschaft aufzugeben.

Fromm(40) war nicht in dem Ausmaß Freudianer, wie es das bisher Gesagte eventuell nahelegt. Horkheimer(141) bemühte sich um gute Beziehungen zu Freud(31), Fromm(41) hingegen entledigte sich bei der Weiterentwicklung seiner Sozialpsychologie eines Großteils der freud(32)schen Lehre, während andere Mitglieder des Instituts, vor allem Horkheimer(142) und Adorno(166), daran festhielten. Was den Anschein erweckte, eine Kombination aus den Überlegungen von Freud(33) und Marx(238) zu sein – eine Kombination, für die Horkheimer(143) empfänglich war, als er den Marxismus(239) dahingehend erweiterte, dass auch subjektive Faktoren aufgenommen werden konnten und man sich nicht nur auf objektive ökonomische Gesetze stützen musste –, war etwas durchaus Eigenartigeres.

Fromm(42) vereinte nicht Marx’ Theoreme(240) mit denjenigen Freuds,(34) vielmehr vereinte er die Sichtweise von Marx(241) mit seiner – Fromms(43) – eigenen sich allmählich entwickelnden psychosozialen Auffassung jener subjektiven Faktoren, einer Auffassung, die sowohl orthodoxe Freudianer als auch zunehmend seine Kollegen der Frankfurter Schule gegen ihn aufbrachte. Fromm(44) war also ein Abtrünniger gleich im doppelten Sinne. Erstens wagte er es, den Marxismus(242) mit der Psychoanalyse zu besudeln. Zweitens stellte er Freuds(35) Auffassung infrage, dass die libidinösen Triebe die alles entscheidende Rolle spielen und dass individuelle Neurosen in frühen Kindheitserfahrungen wurzeln. In einem Aufsatz für die Institutszeitschrift aus dem Jahr 1931, »Über Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie«, schreibt er(45), der Triebapparat des Individuums (wozu auch die libidinöse Struktur gehört, die das Zentrum der freud(36)schen Darstellung psychosexueller Entwicklung bildet) sei »weitgehend modifizierbar; den ökonomischen Bedingungen kommt die Rolle der primär formenden Faktoren zu«. Wenn diese libidinösen Kräfte durch die ökonomischen Strukturen verändert würden, dann »hören [sie] gleichsam auf, Kitt zu sein, und werden Sprengstoff«. Libidinöse Kräfte und gesellschaftliche Kräfte sind nicht in Stein gehauen, keine ewigen Wahrheiten, sondern sie stehen in einer dialektischen Beziehung zueinander.[27]

Man nehme nur beispielsweise die Analerotik. Im Mittelalter, so Fromm(46) in »Die psychoanalytische Charakterologie«, einem Text aus dem Jahr 1931, hätten die Menschen die weltlichen Freuden genossen, die sich ihnen an Festtagen, in Kostümen, Gemälden, herrlichen Gebäuden und Bildern boten.[28] Dann seien Reformation, Calvinismus und Kapitalismus gekommen. Die Freuden des Hier und Jetzt seien immer weiter zurückgedrängt worden – so die Argumentation Fromms(47) – zugunsten von Sparsamkeit, Disziplin, Hingabe an die Arbeit und Pflichterfüllung; Freundlichkeit, Sinnlichkeit, liebevolles, bedingungsloses Miteinanderteilen seien zu überflüssigen, ja sogar sozial fragwürdigen Merkmalen geworden.

Es ist einfach, aus Fromms(48) Darstellung der geschichtlichen Umstände eine Parodie zu basteln (man kann sich geradezu die Menschen vorstellen, wie sie die Glöckchen von ihren Stiefeln entfernen und die bunten Festtagsgewänder ablegen, bevor sie in den Stahlkäfig des Kapitalismus eintreten, die Tür abschließen und durch die Gitter hindurch artig ihren Herren die Schlüssel durchreichen). Fromm(49) ging es jedoch darum, dass ein analer sozialer Charakter, der seine Gefühle unterdrückt, sein Geld eher spart als ausgibt und sich jegliches Vergnügen und jegliche Lust versagt, als Produktivkraft nützlich ist, die bei der Aufrechterhaltung des Kapitalismus mitwirkt. In diesem Stadium seiner intellektuellen Entwicklung war sich Fromm(50) noch nicht darüber im Klaren, dass dieser wertvolle anal-soziale Charakter eine Anpassung an die Erfordernisse des Kapitalismus darstellte, wie auch über den Sachverhalt, dass eine zugrunde liegende Analerotik als Produktivkraft in der Entwicklung des Kapitalismus eine Rolle gespielt hatte. Völlig klar war jedoch, dass er(51) sich von der freud(37)schen Lehre libidinöser Triebe wegbewegte, deren Sublimation den Schlüssel für die psychische Entwicklung des Individuums lieferte, und hin zu einer Vorstellung sozialer Charaktertypen, die sich je nach historischen Umständen veränderten – und die ihrerseits die historischen Umstände veränderten.

In einer späteren Phase seiner intellektuellen Distanzierung von Freud(38) merkte Fromm an(52), die Sozialisation des Charakters beginne zwar in der Kindheit, wurzle jedoch weniger in den Instinkten als in zwischenmenschlichen Beziehungen. Als er 1941 Escape from Freedom (Die Furcht vor der Freiheit) verfasste, vertrat er die Auffassung, dass die Instinkte weniger durch die von Freud(39) postulierten Sublimationen als vielmehr durch die gesellschaftlichen Verhältnisse geprägt seien. Ursprünglich hatte Horkheimer(144), der sich von einem auf unpersönliche ökonomische Kräfte zentrierten Marxismus(243) weg und zu einer negativen Kulturkritik am modernen Monopolkapitalismus hinbewegt hatte, in Fromm(53) einen intellektuellen Verbündeten gesehen. Erst in den ausgehenden 1930er Jahren reagierten Horkheimer(145) und auch Adorno(167) mit Unbehagen auf Fromms(54) Antifreudianismus. In den ersten Jahren dieses Jahrzehnts war Fromm(55) für Horkheimer(146) allerdings noch wichtig: nicht nur, weil er die Psychoanalyse in die marxistische(244) Akademie einbrachte, sondern auch weil er ausgebildeter Soziologe war. Horkheimer(147) betraute den jungen Psychoanalytiker infolgedessen mit der Aufgabe, die Einstellungen deutscher Arbeiter seit 1918 zu untersuchen – herauszufinden, ob man sich im Kampf gegen Hitler(11) auf sie stützen konnte.[29]

Die Idee stammte von Felix Weil(16), der sich an das deutsche Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung gewandt und einen Antrag auf eine empirische Untersuchung zum Denken und zu den materiellen Lebensbedingungen deutscher Arbeiter gestellt hatte. Fromms(56) Arbeit an der Studie begann bereits 1929, als man hoffte, die auf Fragebögen gestützte Untersuchung könne eine positive Antwort auf die brennende Frage geben, ob man beim Widerstand gegen das Erstarken des Nationalsozialismus mit den deutschen Arbeitern rechnen könne. Die Umfrage wurde maßgeblich durch eine ähnliche Studie angeregt, die 1912 von dem Soziologen Adolf Levenstein(1) unternommen worden war, der als ehemaliger Industriearbeiter den Verdacht hegte, dass die monotonen industriellen Arbeitsabläufe die psychische Verarmung der Arbeiter zur Folge haben und ihr Potential für autonomes Handeln reduzieren würden. Levenstein unterschied die befragten Arbeiter nach drei psychologischen Typen: revolutionär, ambivalent und konservativ-unterwerfungswillig. Fromm(57) wollte herausfinden, welche Beziehungen es zwischen diesen psychologischen Typen und ihrem Potential gab, sich dem Faschismus zu widersetzen.

Fromm(58) und sein Mitarbeiterstab gaben – überwiegend an Arbeiter – 3300 Fragebögen aus. Die Fragebögen bestanden aus 271 ergebnisoffenen Fragen, die die Adressaten nach ihren Ansichten über Kindererziehung, die Möglichkeit, einen weiteren Krieg zu verhindern, und die industrielle Rationalisierung befragten. 1931 waren 1100 ausgefüllte Bögen zurückgekommen. Fromm(59) und sein Team arbeiteten auch dann noch an der Auswertung der Resultate, als man nicht mehr hoffen konnte, dass sich die deutschen Arbeiter erheben und den Faschismus überwinden würden. 82 Prozent der Antwortenden ordneten sich den Sozialdemokraten und den Kommunisten zu, doch lediglich 15 Prozent von ihnen zählten zum antiautoritären Charakter oder psychologischen Typus; 25 Prozent waren entweder ambivalent oder eindeutig autoritär. In den späten 1930er Jahren, nach der Machtergreifung der Nazis, führte Fromm hierzu an(60), die Ergebnisse hätten »einen Widerspruch zwischen bewusster linker politischer Meinung und zugrunde liegender Persönlichkeitsstruktur gezeigt: ein möglicher Grund für den Zusammenbruch der Arbeiterparteien«. Nach Fromms(61) Auffassung würden lediglich 15 Prozent der deutschen Arbeiter »den Mut, die Opferbereitschaft und die Spontaneität aufbringen … die zur Führung der weniger aktiven Elemente und zur Besiegung des Gegners notwendig gewesen wären«. Er war der Meinung, eine bessere Führung der beiden linken Parteien hätte einen stärkeren Widerstand gegen Hitler(12) ermöglicht.[30]

Fromms(62) Studie wurde vom Institut nie veröffentlicht, einige Ergebnisse fanden jedoch Aufnahme in sein 1941 erschienenes Buch Escape from Freedom (Die Furcht vor der Freiheit). Seltsamerweise wurde Fromms(63) Material für die überaus umfangreiche Studie des Instituts über Autorität und Familie geplündert, einem Projekt, an dem sämtliche Frankfurter Gelehrten außer Grossmann(54) und Adorno(168) während eines Großteils der 1930er Jahre nach ihrem Exil aus Deutschland(49) arbeiteten. Sie befassten sich darin mit der Frage, was mit der Institution der Familie geschehen ist, als der Kapitalismus von seiner von Marx(245) und Engels(6) analysierten Frühform in die Monopolform mutierte, mit der sich die Frankfurter Schule auseinanderzusetzen hatte.

Es ging um die interessante Frage, ob die Familie ein Ort des Widerstands gegen existierende Machtverhältnisse ist; oder aber ein Bereich, in welchem kapitalistische Werte vermittelt und an die nächste Generation weitergegeben werden konnten. Für Hegel(35) war die Familie die zentrale moralische Einheit der Gesellschaft gewesen, ein Ort des Widerstands gegen Entmenschlichung. Marx(246) und Engels(7) hingegen beschreiben im Kommunistischen Manifest die Familie als Werkzeug kapitalistischer Unterdrückung, das unbedingt abzuschaffen sei. »Selbst die Radikalsten ereifern sich über diese schändliche Absicht der Kommunisten«, halten Marx(247) und Engels(8) ironisch fest. Doch schreckte sie das nicht ab:

Worauf beruht die gegenwärtige, die bürgerliche Familie? Auf dem Kapital, auf dem Privaterwerb. Vollständig entwickelt existiert sie nur für die Bourgeoisie; aber sie findet ihre Ergänzung in der erzwungenen Familienlosigkeit der Proletarier und der öffentlichen Prostitution. Die Familie der Bourgeois fällt natürlich weg mit dem Wegfallen dieser ihrer Ergänzung, und beide verschwinden mit dem Verschwinden des Kapitals.[31]

Für die Frankfurter Schule war die bürgerliche Familie nicht verschwunden, aber ihre Macht im Allgemeinen und die Autorität des Vaters im Besonderen befand sich im freien Fall. Die vormals entscheidende soziale Gelenkstelle zwischen materieller Basis und ideologischem Überbau wurde zunehmend impotenter – und das nicht aus den revolutionären Gründen, die Marx(248) und Engels(9) gern umgesetzt gesehen hätten, sondern weil andere Einrichtungen die Sozialisierung der Bevölkerungen kapitalistischer Gesellschaften effektiver umsetzen konnten.

Horkheimer(148) bemerkt in seinem Essay Studien über Autorität und Familie, dass gerade in der Ära des Frühkapitalismus (oder des bürgerlichen Liberalismus) die väterliche Macht innerhalb der Familie auf ihrem Höhepunkt gewesen sei. Das leuchtet ein, denn in Hegels(36) Begriffen war der Vater, dank seiner kräftigeren physischen Statur und seiner Rolle als wirtschaftlicher Versorger, das zweckmäßige Haupt des Haushalts. Diese väterliche Macht war unter dem Monopolkapitalismus zurückgegangen. Doch wurde sie nicht durch das ersetzt, was Fromm(64) sich vorgestellt hatte – ein gleichzeitiges Ansteigen des traditionellen mütterlichen Ethos der Wärme, der Akzeptanz und Liebe. Allerdings begrüßte Horkheimer(149) diese Veränderung durchaus nicht.

Die führenden Mitglieder der Frankfurter Schule entschieden sich zur Solidarität mit ihren Eltern, als diese sich in einem Zustand äußerster Ohnmacht befanden. Adorno(169) spricht in Minima Moralia davon, dass »[d]as Verhältnis zu den Eltern beginnt traurig, schattenhaft sich zu verwandeln« im Vergleich seiner Generation mit der seiner eigenen Eltern.[32] Er thematisiert nicht lediglich den Zerfall der Familie im Monopolkapitalismus, sondern etwas sehr viel Konkreteres: das, was die Nazis in ihrer Schamlosigkeit mit den Eltern dieser deutschen jüdischen Intellektuellen anstellten. Adorno(170) versuchte jedenfalls, sich um seine Eltern zu kümmern, als sie, verstört und von den Nazis in Frankfurt(47) finanziell ruiniert, Anfang der 1940er Jahre ins amerikanische Exil zu ihrem Sohn flüchteten. Angestachelt durch Hitler(13) erteilten die Denker der Frankfurter Schule der marx(249)schen Geringschätzung der Familie eine Absage. Inmitten alles dessen, was Adorno(171) als »die heraufziehende kollektivistische Ordnung« bezeichnete, deren Entstehen die Angehörigen der Schule nicht nur in Berlin(51) und Moskau(23) beobachteten, sondern auch in Paris(27), London(7) und New York(4), wandte man sich aufgrund eigener bitterer Erfahrungen der hegel(37)schen, postödipalen Vorstellung jener verlachten Institution als einem Ort des Widerstands und der gegenseitigen Tröstung zu.

Die Institutsmitglieder beklagten, dass sich andere Sozialisationsagenten die Rolle der Familie aneigneten. Diese Agenten (von der Nazipartei bis hin zur Kulturindustrie) wirkten bei der Erschaffung dessen mit, was Fromm(65) später als autoritäre Persönlichkeit beschreiben sollte. Die gesellschaftlichen Einrichtungen des Spätkapitalismus produzierten auf ähnliche Weise Persönlichkeiten, wie Ford(6) seine T-Modelle herstellte. Es waren Phantombilder: ängstlich, passiv und unfähig, eigene Identitäten zu entwickeln.

Fromm(66) arbeitet – in seinem 1957 erschienenen Buch Die autoritäre Persönlichkeit – mit dem titelgebenden Begriff, um beide, Herrscher wie Beherrschte, unter einer kollektivistischen Ordnung zu beschreiben. Beide hätten gemeinsam, so Fromm(67), »die Unfähigkeit, sich auf sich selbst zu verlassen, unabhängig zu sein, mit anderen Worten: Freiheit auszuhalten … [Der autoritäre Persönlichkeitstyp] muß eine Verbindung spüren, die weder Liebe noch Vernunft voraussetzt – und er findet diese Verbindung in der symbiotischen Beziehung, im Gefühl, mit anderen eins zu sein; aber nicht indem er seine Identität bewahrt, sondern indem er verschmilzt, indem er seine Identität zerstört.« Fromm(68) stellt dem autoritären Persönlichkeitstypus die reife Persönlichkeit entgegen: Diese »hat es nicht nötig, sich an andere zu klammern, weil sie die Welt, die Menschen und Dinge um sich herum aktiv wahrnimmt und ergreift«.[33]

Die aktive Wahrnehmung der Welt, die Fähigkeit zu Selbstvertrauen und Freiheit – das waren genau die Charakterzüge, die unter der kollektivistischen Ordnung, die die Protagonisten der Frankfurter Schule um sich herum aufkommen sahen, ausgemerzt wurden.