Als Walter Benjamin(261) im Sommer 1932 im toskanischen Seebad Poveromo(3) eintraf, war er die Personifikation dessen, was der Name des Städtchens bezeichnet: Auf Italienisch bedeutet »Armer Mann« Poveruomo.[1] Seine Ehe war gescheitert, zwei sich anschließende Liebschaften desgleichen, seine besten Texte blieben unveröffentlicht, und in der Dämmerung vor der europaweiten Ausbreitung der nationalsozialistischen Finsternis hatten sich seine Hoffnungen, von seinen Literaturkritiken leben zu können, in nichts aufgelöst. Gebrochen und elend schnorrte er Zigarettengeld von seinem Freund Wilhelm Speyer(1) und musste sich für seine Unterkunft darauf verlassen, dass ihm die Eigentümer der Villa Irene die Miete stundeten. Es war nicht klar, wie er seine Vermieter bezahlen sollte.
Aber bevor wir uns zu sehr von Sympathie für diesen armen Mann einnehmen lassen, sollten wir uns daran erinnern, dass Benjamin(262) in eine reiche Familie hineingeboren worden war und einen Großteil der 1920er Jahren damit zugebracht hatte, zu reisen, zu zocken, Eindrücke zu sammeln und seine Frau Dora(4) und seinen Sohn Stefan(2) zu vernachlässigen. Nach seiner erbitterten Scheidung von Dora(5) im Jahr 1930 entschied das Gericht, ihr den Löwenanteil seines Erbes als Pauschalsumme zum Ausgleich dafür zuzusprechen, dass Benjamin(263) sie so schlecht behandelt hatte – eine Regelung, die zum großen Teil für die Armut verantwortlich war, unter der Benjamin(264) bis zu seinem Tod ein Jahrzehnt später litt.
Im Sommer 1932 reiste er in Europa(16) umher, wie er es auch schon im Jahrzehnt zuvor getan hatte, allerdings mit sehr viel weniger Geld. Er hatte seine Rückkehr nach Deutschland(50) aufgeschoben, um, wie er seinem Freund, dem jüdischen Mystiker, Zionisten und Intellektuellen Gershom Scholem(9) schrieb, »den Eröffnungsfeierlichkeiten des Dritten Reiches« aus dem Weg zu gehen.[2] In der deutschen Hauptstadt hatte in jenem Sommer Franz von Papen(1), Hitlers(14) willfähriger Vorgänger als Kanzler, die sozialdemokratische preußische Regierung abgesetzt – in einer Aktion, die Scholem(10) als »eine Art Staatsstreich« bezeichnete – und am 2. Juni ein reaktionäres Kabinett gebildet. Von Papen(2) hob das Verbot der Sturmabteilung, des paramilitärischen Flügels der Nazis, auf und löste dadurch eine Welle der politischen Gewalt und des Terrors aus, die überwiegend gegen Juden und Kommunisten gerichtet war, womit er – in Verbindung mit Unterdrückungsmaßnahmen gegen Intellektuelle – den Weg für Hitlers(15) Machtergreifung ein Jahr später bereitete.
Im Juli in jenem Jahr erfuhr Benjamin(265), dass die Leiter der Radiosender in Berlin(52) und Frankfurt(48), für die er seit 1927 achtzig Sendungen gestaltet hatte, entlassen worden waren. Das war das Ergebnis der Regierungsstrategie, den Rundfunk mit den anderen Medien auf Linie zu bringen, die als Sprachrohr rechtsgerichteter Propaganda fungierten. Benjamin war für einen Großteil seines Einkommens von diesen Sendungen abhängig gewesen. Er(266) hatte Stücke verfasst, witzige kleine Sketche, die den Zuhörern beispielsweise vermittelten, wie sie eine Gehaltserhöhung erwirken konnten, und es fand sich darunter sogar – man mag es bei einem der schwierigsten Denker Deutschlands kaum glauben – eine Anleitung für angehende Komödienschreiber.[3] Viele dieser Sendungen waren für Kinder geschrieben und zielten darauf ab, den jungen Zuhörern jene kritischen Fähigkeiten zu vermitteln, die der aufkommende Faschismus ihnen dann verweigern sollte. Von diesen Sendungen wurden keine Aufnahmen gemacht, wir werden also nie erfahren, wie Walter Benjamin(267) klang, wenn er im Radio zu hören war. Die zugrunde liegenden Manuskripte hingegen gehörten zu einem Bestand an Texten, den die Gestapo im Zweiten Weltkrieg im Zuge einer Durchsuchung von Benjamins(268) letzter Wohnung in Paris(28) fand. 2014 wurden einige von diesen Manuskripten von dem Schauspieler Henry Goodman(1) als Teil des BBC-Programms The Benjamin Broadcasts vorgetragen, das der Kinderbuchautor Michael Rosen(1) konzipiert hatte.[4]
Heute lesen sich Benjamins(269) Texte für Sendungen über Themen wie Hexenjagden, die dämonische Seite Berlins(53), erfolgreiche Betrugsmanöver und menschliche Katastrophen als Allegorien auf den Nationalsozialismus, Warnungen vor dem, was bevorstand. Die letzte Ausstrahlung einer von Benjamin verfassten Sendung im deutschen Rundfunk fand am 29. Januar 1933 statt; am Tag danach wurde Hitler(16) zum Kanzler berufen und eine Fackelparade der Nationalsozialisten lieferte das Material für die erste landesweit ausgestrahlte Radiosendung.
Dabei handelte es sich tatsächlich um die Eröffnungszeremonien des Dritten Reiches. Die Weimarer Republik(9) war aus den Trümmern des Ersten Weltkriegs und dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches entstanden und sie hatte in ihrem Grundgesetz jedem deutschen Bürger Rede- und Religionsfreiheit sowie Gleichheit vor dem Gesetz garantiert; der gewählte Reichstag setzte die Regierung ein. Allerdings wurde die Entfaltung des Weimarer Versuchs in Sachen Demokratie rasch gestoppt, was teilweise – um kurz dialektisch zu werden – an deren eigenen Gründungsstrukturen lag. Weimars System des Verhältniswahlrechts, bei dem die Wähler ihre Stimme für Parteien und nicht für einzelne gewählte Vertreter abgaben, hatte die Existenz vieler kleiner Parteien zur Folge, von denen keine stark genug war, um eine Mehrheit zu erreichen und eine leistungsfähige Regierung zu bilden, die die Verabschiedung von Gesetzen im Reichstag hätte sicherstellen können; noch erschreckender war, dass es Artikel 48 der Verfassung möglich machte, dass der Präsident im Fall eines Notstands durch Notverordnung regieren konnte, wobei verhängnisvollerweise eine genaue Definition eines Notfalls nicht vorgenommen wurde. Dieser Umstand ermöglichte es Hitler(17), durch die Hintertür die Macht legal zu ergreifen.
In seinen Gedichten aus den Krisenjahren 1929–33 reflektiert Brecht(50) die Situation, die für Marxisten,(250) wie er selber einer war, eine Katastrophe war: Die deutschen Arbeiter kämpften für die Faschisten gegen die Kommunisten, statt zu realisieren, dass es eigentlich ihre ureigene Sache war, für die sich die Kommunisten einsetzten. In seinem(51) Gedicht Paragraph I (in dem es heißt: »Die Staatsgewalt geht vom Volke aus«)[5] stellt Brecht die Macht des Weimarer Staates als eine Streitmacht dar, die durch die Straßen der Stadt marschiert und sich über diejenigen empört, die sie infrage stellen. Das Gedicht endet mit einem Mord: Es ertönt ein Schuss, und die »Staatsgewalt« schaut zu Boden, um den Leichnam zu identifizieren:
Was liegt denn da im Kot?
Irgendetwas liegt doch im Kot.
Das liegt etwas, das ist mausetot.
Aber das ist ja das Volk![6]
Keines der grandiosesten Gedichte Brechts(52), aber es vermittelt einen lebhaften Eindruck von der Perversion dieser angeblichen Macht des Volkes. Und, wie wir für die Frankfurter Schule sehen werden: von der Verführung des Volkes durch den Nationalsozialismus. Die bekennenden Marxisten(251) und überwiegend jüdischen Denker der Frankfurter Schule hatten jetzt eine neue Aufgabe: Es ging nicht mehr nur um die Frage, warum die Revolution in Deutschland(51) gescheitert war, sondern auch, warum die Menschen durch eine Ideologie verführt werden konnten, die unter anderem die Ermordung von Marxisten(252) und Juden sützte. In Büchern, die im Lauf der folgenden zehn Jahre erschienen – von Fromms(69) Escape from Freedom (Die Furcht vor der Freiheit) über Behemoth: Struktur und Praxis des Nationalsozialismus von dem Politikwissenschaftler Franz Neumann(4) bis hin zu Marcuses(59) Studien über Autorität und Familie –, versuchten Mitglieder des Instituts, herauszufinden, warum das deutsche Volk beherrscht sein wollte.
Eine Hoffnung derjenigen, die den Nationalsozialismus unterstützten, zielte auf die Wiederherstellung der alten deutschen Werte, die während der Weimarer Republik(10) infrage gestellt worden waren; auf ein Ende des durch Sex, Jazz, Demokratie und Moderne hervorgerufenen Chaos. Beeinflusst von dem kurzen kulturellen Aufbruch in der Sowjetunion(18), dessen unmittelbarer Zeuge Benjamin(270) geworden war, als er 1927 Moskau(24) besucht hatte, begann für Literatur, Kino, Theater und Musik der Weimarer Republik eine Phase bedeutender moderner Kreativität, gegen welche die Faschisten erbittert angingen. Für die Nazis waren das florierende Kabarett und die Jazzszene der deutschen Großstädte Auswüchse an Barbarei: verkörpert in den Auftritten der amerikanischen Tänzerin Josephine Baker(1), die in Berlin(54) enthusiastisch gefeiert wurde; expressionistische Malerei wurde verabscheut, der Maler George Grosz(1) galt als unerträglicher Ehrabschneider des Militärs; die neue, am Bauhaus gelehrte Art von Architektur wurde als hässlich, jüdisch und kommunistisch gebrandmarkt. Das Dritte Reich bedeutete das Ende für diese vorgeblich dekadenten, heruntergekommenen, kommunistischen, jüdisch beeinflussten und vor allem ausländischen (das heißt amerikanischen, sowjetischen(19) und französischen) Arten kulturellen Ausdrucks.
Josef von Sternbergs(1) Film Der blaue Engel aus dem Jahr 1930 mit Marlene Dietrich(1) in der Rolle der schönen, verführerischen, unzuverlässigen Kabaretttänzerin Lola Lola bildet die erotischen Reize und Unsicherheiten der Weimarer Republik(11) ab. Die Schlussszene des Films zeigt den angesehenen Professor Immanuel Rath, der sich in die von Dietrich dargestellte Tänzerin verliebt hat: Entehrt und gedemütigt nach seiner erotischen Tollheit klammert er sich an den Katheder, einst Symbol seines Ansehens und seiner Gelehrsamkeit, wie an ein Schiffswrack auf stürmischer See.[7] Vielleicht tat Deutschland(52) für seine Weimarer Tollheiten Buße, indem es sich in sadomasochistischer Manier dem Faschismus unterwarf.
Doch die Eröffnungszeremonien des Dritten Reiches kündigten auch bereits seinen Tod an. In Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben, verfasst im amerikanischen Exil, schreibt Adorno(172), dieser Virtuose der immanenten Kritik: »Keiner, der die ersten Monate der nationalsozialistischen Herrschaft 1933 in Berlin(55) beobachtete, konnte das Moment tödlicher Traurigkeit, des halbwissend einem Unheilvollen sich Anvertrauens übersehen, das den angedrehten Rausch, die Fackelzüge und Trommeleien begleitete.«[8] Dieses Leitmotiv – Traurigkeit im Rausch, die Katastrophe, die sich bereits im Augenblick des Jubels abzeichnet – war für Adorno(173) extrem deutsch, und es hatte eine historische Parallele. Adorno(174) weist darauf hin, dass 1870, als das Deutsche Reich aus einer siegreichen Militärunternehmung geboren worden war, Wagner(3) die Götterdämmerung komponierte, »die begeisterte Prophetie des eigenen Untergangs … Im selben Geiste hat man zwei Jahre vor dem zweiten Weltkrieg dem deutschen Volk den Untergang seines Zeppelins in Lakehurst(1) gefilmt vorgeführt. Ruhig, unbeirrt zieht das Schiff seine Bahn, um plötzlich senkrecht herabzustürzen.«[9] Ähnlich wie Benjamin(271) stellt Adorno(175) Geschichte neu vor als einen Durchbruch durch das, was ersterer als die leere, homogene Zeit bezeichnete, und schafft aus Katastrophen oder Hoffnungen mitschwingende Konstellationen, die zu Allegorien ihres Untergangs zusammengesetzt werden. Nicht, dass derartige Gedanken die damals in Berlin lebenden Menschen in irgendeiner Weise hätten trösten können.
Der Tod der Weimarer Republik(12) betraf Benjamin(272) sehr direkt. Er wirkte sich nicht nur negativ auf seine Finanzen aus, sondern brachte ihn faktisch zum Schweigen. Die Frankfurter Zeitung, auf die Benjamin sich mit Blick auf die Veröffentlichung einiger seiner besten kurzen Essays hatte verlassen können, reagierte nicht mehr auf seine Briefe und Manuskripteinreichungen – Vorzeichen von dem, was kommen sollte. Im weiteren Verlauf der 1930er Jahre wurden seine Texte in deutscher Sprache nur noch selten gedruckt; wenn überhaupt, dann unter einem Pseudonym. Sein Buch Deutsche Menschen aus dem Jahr 1936 erschien beispielsweise unter dem Pseudonym Detlef Holz(273); möglich war das aber auch nur so, weil sein Thema in den Dienst der patriotischen nationalsozialistischen Agenda gestellt werden konnte (das Buch besteht aus 27 in den hundert Jahren nach 1783 verfassten Briefen von Deutschen, darunter Hölderlin(1), Kant(5), die Gebrüder Grimm(1)(1), Schlegel(2) und Schleiermacher(1), und war mit Kommentaren von Benjamin(274) versehen). 1938 landete jedoch auch dieses Buch auf der Zensurliste verbotener deutscher Bücher.
Während Benjamin(275) sich in Italien(4) grämte, kam aus Berlin(56) die Nachricht, dass er seine Wohnung würde aufgeben müssen, in der sich seine Bibliothek befand – aufgrund von »Zuwiderhandlungen gegen das Gesetz« (des Albtraums eines jeden Untervermieters). Er wurde aus seiner Heimat herausretuschiert. Zwar kehrte Benjamin(276) im November noch einmal nach Berlin zurück, allerdings war es nur ein kurzer Aufenthalt: Im März des folgenden Jahres sollte er Berlin für immer den Rücken kehren. Er lebte anschließend als Exilant überwiegend in Paris(29). Bevor er seine Geburtsstadt am 17. März 1933 verließ, wurden die Bürger Berlins(57) Zeugen des Reichstagsbrands am 27. Februar und der Ausschlachtung des Ereignisses durch Hitler(18), der es als Vorwand nutzte, die Ermordung kommunistischer und anderer politischer Feinde zu rechtfertigen. Benjamin(277) hatte Berlin(58) allerdings vor dem symbolischen Tod der Weimarer Republik(13) und der Geburt des Dritten Reiches am 23. März verlassen, als das Ermächtigungsgesetz in Kraft trat, mit dem Hitler(19) die Macht zugesprochen wurde, uneingeschränkt zu regieren und jedes Gesetz ohne parlamentarische Zustimmung zu verabschieden. Am 10. Mai 1933 wurden in den meisten deutschen Universitätsstädten Bücher verbrannt und der Propagandaminister Joseph Goebbels(3) verkündete, das Zeitalter des »überspitzten jüdischen Intellektualismus« sei zu Ende.[10]
Über die Jahrzehnte hinweg zeichnete sich inmitten einer sehr viel größeren Tragödie ein ganz spezifischer Unglücksfall ab: die Tragödie nämlich, dass der bedeutendste deutsche Kritiker des 20. Jahrhunderts wegen antijüdischer Verbote systematisch der Möglichkeit beraubt wurde, seine Gedanken über die Kultur, von der er durchdrungen war, in seiner Muttersprache mitzuteilen, und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, da seine kritischen Fähigkeiten zur vollen Reife gekommen waren.
Aber noch ein weiteres Moment gehörte zur Tragödie des Walter Benjamin(278), das über gescheiterte Liebesbeziehungen und das Aufkommen des Nationalsozialismus hinausging. Jay Parini(1) lässt in seinem 1997 erschienenen Roman Benjamin’s Crossing Gershom Scholem(11) auftreten, der zehn Jahre nach Benjamins(279) Tod am Grab seines Freundes steht. »Der Tod Benjamins(280) war für mich der Tod des europäischen Geistes, das Ende einer Lebensform«, so Scholem(12) im Roman.[11] Dieses fiktive Gedenken erinnert an die Zeilen, die Brecht(53) über seinen toten Freund(281) schrieb:
So liegt die Zukunft in Finsternis, und die guten Kräfte
Sind schwach. All das sahst du
Als du den quälbaren Leib zerstörtest.[12]
Die Vorstellung, dass Benjamins(282) Tragödie den Tod des europäischen Geistes verkörperte, mag zunächst als verzeihliche, aus Liebe und Respekt geborene Verstiegenheit interpretiert werden, aber es hat mehr damit auf sich, steht diese Vorstellung doch in enger Beziehung zu der Unterscheidung, die Hannah Arendt(5) in ihrer Einführung zur amerikanischen Ausgabe der Essaysammlung Illuminationen von Walter Benjamin(283) trifft.[13] Benjamin war nicht nur ein freischaffender Intellektueller, dem es im Europa(17) der 1930er Jahre faktisch nicht möglich war, seinen Lebensunterhalt zu verdienen: Er träumte davon, ein homme de lettres zu werden, und schaffte es auch fast, seinen Traum zu verwirklichen. Was aber ist ein homme de lettres? Arendt(6) (die präziseste Beobachterin des deutsch-jüdischen intellektuellen Lebens und gleichzeitig seine am besten vernetzte Teilhaberin) schreibt, ein homme de lettres sei etwas ganz anderes als ein Intellektueller. Ersterer habe seinen Ursprung im vorrevolutionären Frankreich(5), bei den Grundbesitzern, den Müßiggängern und intellektuell Unersätttlichen; letzterer sei, zumindest so wie Arendt(7) ihn beschreibt, ein dienstbares Werkzeug des technokratischen Staates. »Im Unterschied zur Klasse der Intellektuellen«, so Arendt(8),
die ihre Dienste entweder dem Staat als Experten, Spezialisten und Beamte anbieten, oder der Gesellschaft zur Unterhaltung und Belehrung, haben sich die hommes de lettres von Anfang an von der Gesellschaft abgesetzt. Ihre materielle Existenz basierte auf einem Einkommen, für das sie nicht zu arbeiten hatten, und ihre intellektuelle Haltung beruhte auf ihrer entschiedenen Weigerung, politisch oder sozial integriert zu werden. In dieser frei gewählten Zurückgezogenheit von den Zerstreuungen eines gesellschaftlichen Lebens und seinen zahllosen Verpflichtungen lag die Möglichkeit, sich zu bilden und so in der doppelten Distanz von Gesellschaft und Politik, aus der sie ohnehin ausgeschlossen waren, einen Abstand zu gewinnen, der in seiner Art einzigartig war. Aus überlegener Verachtung entsprang die Lebensweisheit Montaignes(1), die Schärfe, wenn auch nicht die Tiefe des Pascalschen Denkens, wie schließlich noch die reflektierende Beobachtungsgabe Montesquieus(1).[14]
Distanz zu Staat und Gesellschaft. Entschiedene Weigerung, politisch oder sozial integriert zu werden. Haltung überlegener Verachtung. Aphoristische Schärfe. Liest man die prägnantesten Wendungen dieses Abschnitts, dann muss einem unweigerlich auffallen, wie treffend sie nicht nur die Autoren im vorrevolutionären Frankreich(6) charakterisieren, sondern auch die führenden Köpfe der Frankfurter Schule sowie Walter Benjamin(284). Er träume davon, »weder verpflichtet noch willens zu sein, berufsmäßig schreiben und lesen zu müssen, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen«,[15] so die Formulierung Arendts(9).
Wenn Arendt(10) recht hat, dann wurden die Träume Benjamins(285), ein von beruflichen Verpflichtungen unbelasteter homme de lettres zu werden, durch den Antisemitismus des wilhelminischen Deutschlands behindert, in dem er aufwuchs. In der Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg waren ungetaufte Juden von Universitätskarrieren ausgeschlossen: Sie konnten lediglich als unbezahlte »außerordentliche Professoren« tätig sein. Arendt(11) bemerkt hierzu: »Es war ein Berufsweg, der ein gesichertes Einkommen eher voraussetzte als verschaffte.«[16] Anstatt also vergeblich Perspektiven hinterher zu träumen, die ausgeschlossen waren, habe Benjamin(286) vom Bestmöglichen geträumt, so Arendt(12): ein unabhängiger Privatgelehrter zu werden, eine typisch deutsche Gelehrtengestalt, welcher der frankophile Benjamin einen gallischen Akzent verpasste. Er wollte ein homme de lettres sein, subventioniert und unabhängig, frei, seinen eigenen eklektizistischen Interessen nachzugehen.
Verblüffend an Benjamin(287) in diesem Kontext ist nun, dass er seine Wünsche angesichts der veränderten politischen Realitäten nicht neu formulierte. In der Weimarer Republik(14) waren dank des Grundgesetzes Universitätslaufbahnen für jedermann möglich, auch für ungetaufte Juden. Wohl schloss sich diese einmal geöffnete Tür auch bald wieder: Im April 1933 verabschiedete Hitler(20) das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, das die Entlassung von Juden und »politisch unzuverlässigen Personen« verlangte (ein Gesetz, das beispielsweise die Entlassung von Arnold Schönberg(10) aus der Preußischen Akademie der Künste sowie von Malern wie Klee(3), Dix(1) und Beckmann(1) aus anderen deutschen Kunstakademien zur Folge hatte). In der Weimarer Republik war es jedoch für Juden während einer kurzen Zeit durchaus möglich, eine Universitätskarriere einzuschlagen. Warum bemühte sich Benjamin also nicht um eine Karriere in der akademischen Welt? Arendt(13) ist der Meinung, er habe vor dem Krieg beschlossen, was er zu sein wünschte, und hatte dann anschließend mit immer weniger Hoffnung versucht, seinen damaligen Traum umzusetzen. Die verhängnisvollen Spannungen zwischen ihm und seinem Vater nach dem Ersten Weltkrieg sind vor allem darauf zurückzuführen, dass Papa(13) seinem Sohn keine Berufslaufbahn finanzieren wollte, die nicht dazu führte, dass dieser irgendwann auf eigenen Beinen stehen konnte. Benjamins(288) Biographen schrieben: »Seine Eltern drängten auf eine Berufslaufbahn mit einem gewissen Erwerbspotential und verweigerten standhaft die Art von Unterstützung, die es Benjamin ermöglicht hätte, unabhängig zu sein und weiterhin sein Leben und sein Schreiben nach seinen eigenen Wünschen zu gestalten.«[17] Ihr Sohn war von seiner Veranlagung her unfähig, eine Laufbahn mit Erwerbspotential zu verfolgen: Dafür hatte er Kafkas Werke(18) zu gut gelesen. Kafka war vor den Wünschen seines Vaters eingeknickt und hatte eine Stelle in einer Versicherungsgesellschaft angenommen. Was das bedeutete, fasste der Romancier folgendermaßen zusammen: »Man muss sich sein Grab verdienen.«[18] Benjamin(289) war aufgrund seines Temperaments nicht dazu in der Lage, Kafkas Selbstaufgabe nachzuvollziehen.
Entscheidend für uns ist, dass Benjamins(290) Ambitionen emblematisch für die Entschlossenheit der Frankfurter Gelehrten stehen können, sich ihre Unabhängigkeit vom Universitätssystem oder von politischen Parteien zu bewahren. Teilweise handelte es sich um das Bestehen auf intellektueller Autonomie – statt zu dem zu werden, was Arendt(14) abschätzig als Intellektuelle bezeichnet, wollten die Mitglieder der Frankfurter Schule unabhängig leben und schreiben. Ihre marxistische(253) Analyse der Gesellschaft finanzierten sie mit der Unterstützung des marxistischen(254) Sohnes(17) eines erfolgreichen, lupenrein kapitalistischen, argentinischen Getreidehändlers(16). Teilweise lag es aber auch daran, dass sie Juden waren, die verständlicherweise zögerten, sich bezüglich ihrer Karriere etwas von einem Universitätssystem zu erhoffen, das erst seit ganz kurzer Zeit Juden überhaupt zuließ. Als Benjamin(291) den Versuch machte, sich zu habilitieren – was üblicherweise die Eintrittskarte für eine Universitätskarriere ist –, und damit scheiterte, tat er das nur, um seinen Vater(14) dazu zu veranlassen, den Geldhahn aufzudrehen, auf dass er mit seiner eigenen Arbeit unabhängig weitermachen konnte.
Außerdem verachtete er(292) die Arbeit, für die er bezahlt wurde. So tat er beispielsweise seine Radiotexte, die in den Jahren zwischen 1927 und 1932 seine Haupteinnahmequelle gewesen waren, als unwichtig ab, als ob es sich nur um öde Routinearbeit gehandelt habe (wir sind ganz anderer Meinung – sie sind Präludien zu Texten wie »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« oder seinen Thesen »Über den Begriff der Geschichte«; und sie sind außerdem auch für sich genommen eindrucksvoll, Paradebeispiele dafür, was der öffentliche Rundfunk sein könnte, aber überwiegend seither nicht war). Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass Benjamin(293) zu einer Zeit als Miniaturist arbeitete, in der mit Miniaturen kein Geld zu verdienen war; ein Gelegenheitsschreiber, der es als unter seiner Würde ansah, Routinearbeiten zu verfassen, und das auch bereits bevor seine Verleger auf seine(294) Einsendungen nicht mehr reagierten. Arendt(15) schreibt hierzu:
Es war, als ob kurz vor ihrem Verschwinden die Gestalt des homme de lettres sich ein weiteres Mal in der Fülle ihrer Möglichkeiten zeigen sollte, obwohl – oder möglicherweise weil – sie ihre materielle Grundlage auf so katastrophale Art verloren hatte, so dass die rein intellektuelle Leidenschaftlichkeit, die diese Gestalt so liebenswert macht, sich in all ihren bezeichnendsten und eindrucksvollsten Möglichkeiten entfaltete.[19]
Darin liegt die Tragödie: dass Benjamins(295) Schriften in den acht Jahren zwischen dem Elend in Poveromo(4) und seinem Tod in Port Bou(1) eher die Fülle an Möglichkeiten, denn die Fülle ihrer Umsetzung offenbaren. Was Benjamin über Kafka(19) schrieb – »zum Verstehen [von Kafkas] künstlerischer Leistung gehört unter anderem die schlichte Anerkennung der Tatsache, dass er ein Versager war« –,[20] trifft auch auf Benjamins(296) Selbstverständnis zu.
Im Aussterbeprozess jenes europäischen Typs gab es also einen kurzen, intensiven Lichtblitz – die Schriften Walter Benjamin(297)s. Wenn die Frankfurter Schule der Schwanengesang der deutschen Romantik war, dann war Benjamin deren Inbegriff, in ihm kamen all die Widersprüchlichkeiten der Gruppe zum Ausdruck – Marxisten(255) ohne Partei, Sozialisten, die vom Geld von Kapitalisten abhängig waren, Nutznießer einer Gesellschaft, die sie naserümpfend verachteten und ohne die sie nichts gehabt hätten, worüber sie hätten schreiben können.
Als er in jenem Sommer des Jahres 1932 ruhelos in den Ländern am Mittelmeer unterwegs war, trug Benjamin(298) sich mit Selbstmordgedanken. Nur einen Monat vor seinem Eintreffen in Poveromo(5) hielt er sich in einem Hotelzimmer in Nizza(1) auf. Dort verfasste er sein Testament, brachte Abschiedsbriefe zu Papier und plante, sich das Leben zu nehmen. »Liebe Jula(1)«, schrieb er an Jula Radt, die Bildhauerin, mit der er sowohl vor wie während seiner Ehe mit Dora Pollak(6) eine Affäre gehabt hatte, »du weißt, dass ich dich früher sehr geliebt habe. Und nun, da ich bald sterben werde, besitzt mein Leben keine größeren Geschenke als jene, die ihm durch Momente des Leidens um deinetwillen zukamen. Dieser Gruß soll also genügen. Dein Walter.[21]
Gershom Scholem(13), Benjamins(299) Freund, war der Meinung, der unmittelbare Grund für Benjamins(300) Selbstmordpläne sei das Scheitern einer anderen Beziehung gewesen. Zu Beginn jenes Sommers hatte Benjamin auf Ibiza(1) Olga Parem(1) einen Heiratsantrag gemacht. Er hatte die Deutsch-Russin Parem 1928 kennengelernt, und sie war auf die Mittelmeerinsel gekommen, um ihn zu besuchen. Parem war entzückt von Benjamin: »Er hatte ein bezauberndes Lachen; wenn er lachte, ging eine ganze Welt auf.« Scholem(14) berichtete seinerseits, dass sie »sehr attraktiv und temperamentvoll« war(2).[22]
Wie Benjamin(301) über sie dachte, ist nicht überliefert, obwohl Parem(3) eine von vielen Frauen war, in die Benjamin sich während und nach seiner dreizehnjährigen Ehe hoffnungslos verliebte. Seine Biographen vertraten die Auffassung, er sei von Dreiecksverhältnissen angezogen gewesen – besonders von solchen, in denen die beiden anderen Beteiligten aneinandergebunden waren. Solche erotische Geometrie macht beispielsweise seine lange, vertrauliche Korrespondenz mit Gretel(1) Karplus, der Ehefrau seines großen Kritikers und Helden Adorno(176), so unwiderstehlich und für Benjamin so verlockend. Konventionell Gesinnte mögen dagegen eher die Auffassung vertreten, es müsse doch für alle Beteiligten letztlich unbefriedigend gewesen sein. Als ihr Ex-Mann eine Hochzeit mit Asja Lacis(11) anstrebte, wandte sich Dora an Scholem mit den Worten(15):
Er steht ganz unter Asjas Einfluss und tut Dinge, über die ich fast nicht zu schreiben wage – Dinge, die es höchst unwahrscheinlich machen, dass ich in diesem Leben noch je ein Wort mit ihm wechseln werde. Momentan besteht er nur aus Verstand und Sex; alles andere hat aufgehört zu funktionieren. Und du weißt, oder kannst dir vorstellen, dass es in solchen Fällen nicht lange dauert, bevor der Verstand abdankt.[23]
Obwohl die (für Benjamin(302)) erregende Dreiecksbildung aus Liebe und Eifersucht für den Fall Olga Parem(4) nicht zutraf, war ihre Reaktion auf seinen Antrag auf Ibiza(2) sicherlich unbefriedigend. Sie wies ihn zurück, er konnte sich also nur wenige Tage später, als er seinen vierzigsten Geburtstag feierte, durchaus als ungeliebten Menschen empfinden, ohne Arbeit und fast gänzlich ohne Hoffnung.
Bei aller Schwermut dieser Monate – in denen er(303) mittellos im mediterranen Raum umherschweifte, seine Rückkehr nach Berlin(59) immer wieder aufschob und seinen Tod für die unmittelbar bevorstehende Zukunft plante – konnte Benjamin(304) über einen Zwischenfall in jenem Sommer mit dem feinen Witz schreiben, den seine Freunde immer wieder hervorhoben, der jedoch nur allzu selten in seinen Texten zum Ausdruck kommt. Man male sich die Szene aus: Benjamin(305) verlässt Ibiza(3), sein Gepäck ist bereits auf dem Schiff verstaut, das ihn nach Mallorca(1) bringen wird. Es ist Mitternacht, als er mit Freunden an der Anlegestelle eintrifft, und er stellt fest, dass nicht nur die Landungsbrücke bereits eingezogen ist, sondern das Schiff sich auch bereits bewegt. Sie müssen sich nicht unbedingt vorstellen, wie sehr der große deutsche jüdische Intellektuelle auf einigen Fotos Groucho Marx(256) oder Charlie Chaplin(3) ähnelt, um den nächsten Satz zu goutieren, aber vielleicht ist es doch hilfreich. »Nachdem ich in aller Ruhe meinen Begleitern die Hand geschüttelt hatte«, schrieb er(306) an Scholem(16), »begann ich, den Schiffsrumpf hinaufzuklettern, und schaffte es tatsächlich, unterstützt von neugierigen Ibizenkern, über die Reling zu klettern.«[24] Benjamin war vieles, aber sicher kein komödiantischer Schriftsteller, obwohl man angesichts der herrlichen Förmlichkeit und Kaltblütigkeit von »in aller Ruhe« und der Untertreibung »neugierig« nicht umhin kann zu fragen, ob er vielleicht eine andere Berufung hatte.
Von Mallorca(2) reiste er(307) nach Nizza(2), mietete sich in einem Hotel ein und begann, in Vorbereitung seines bevorstehenden Suizids, seine Besitztümer aufzuteilen. Seine Bibliothek vererbte er seinem Sohn Stefan(3), ein weiteres Erbteil wurde Dora(7) zugesprochen, während er kostbare Dinge und Gemälde Freunden und früheren Geliebten vermachte, darunter Jula Radt-Cohn(2), Asja Lacis(12) und Gretel(2) Karplus. Auf die Stimmung dieses Mannes, der häufig darüber nachdachte, sich das Leben zu nehmen, und es dann schließlich auch tat, gibt es einen Hinweis in seinem aphoristischen Essay »Der destruktive Charakter«, veröffentlicht in der Frankfurter Zeitung im November des Vorjahrs(308):
Der destruktive Charakter hat das Bewußtsein des historischen Menschen, dessen Grundaffekt ein unbezwingliches Mißtrauen in den Gang der Dinge und die Bereitwilligkeit ist, mit der er jederzeit davon Notiz nimmt, daß alles schief gehen kann …
Der destruktive Charakter sieht nichts Dauerndes. Aber eben darum sieht er überall Wege. Wo andere auf Mauern oder Gebirge stoßen, auch da sieht er einen Weg. Weil er aber überall einen Weg sieht, hat er auch überall aus dem Weg zu räumen. Nicht immer mit roher Gewalt, bisweilen mit veredelter. Weil er überall Wege sieht, steht er selber immer am Kreuzweg. Kein Augenblick kann wissen, was der nächste bringt. Das Bestehende legt er in Trümmer, nicht um der Trümmer, sondern um des Weges willen, der sich durch sie hindurchzieht.
Der destruktive Charakter lebt nicht aus dem Gefühl, daß das Leben lebenswert sei, sondern daß der Selbstmord die Mühe nicht lohnt(309).[25]
Benjamins(310) Texte aus den letzten acht Jahren seines Lebens sind Beispiele für Joseph Schumpeter(1)s Begriff der kreativen Destruktion, der Reduktion der Geschichte zu Trümmern, um leichter einen Weg durch die Ruinen zu finden. Was Benjamin(311) über Baudelaire(3) anmerkte, den von ihm hochgeschätzten französischen Dichter des 19. Jahrhunderts – »den Lauf der Welt unterbrechen – das war Baudelaires(4) eigentlichste Absicht« –, traf auch auf seinen eigenen messianischen Marxismus(257) zu, diesen scheinbaren Widerspruch in sich. Die tiefsitzende destruktive Zielsetzung machte seine Philosophie für die kommunistische Parteilinie zur Häresie, was gar nicht anders denkbar war: Die Parteilinie interpretierte die Geschichte als notwendige Entwicklung hin zur Verwirklichung eines kommunistischen Utopia. Als Scholem(17) Benjamins(312) Schriften »konterrevolutionär« nannte, schrieb letzterer zurück, das Attribut sei ganz zutreffend.[26]
Diese benjamin(313)sche Vernichtungstendenz zieht sich, wie wir sehen werden, durch all seine kritischen Schriften sowie seine messianische Vision revolutionärer Politik. Es war dann auch paradoxerweise diese Tendenz, die ihn vom Selbstmord absehen ließ – zumindest bis zu jenem Augenblick im Jahr 1940, als er den trostlosen Verlockungen der Selbsttötung nicht länger widerstehen konnte. Wenn nun aber Benjamin(314) ein zerstörerischer Charakter war – war er damit auch ein selbstzerstörerischer Charakter? Was er für die Frankfurter Zeitung geschrieben hatte, bezieht sich auf Selbstmord nur, um ihn sarkastisch als »der Mühe nicht wert« abzutun, was an sich schon ein doppeltes Achselzucken gegenüber traditionellen Auffassungen ist – ein erstes Achselzucken gegen eine Tradition, die Selbstmord missbilligte; das zweite gegen die grenzüberschreitende Gegentradition, die Selbstmord verführerisch fand. Mit Sicherheit hat der Selbstmord in Deutschland(53) eine interessante Geschichte. In seinem Essay »Über Selbstmord« notiert Schopenhauer(24): »Die Gründe gegen den Selbstmord, welche von den Geistlichen der monotheistischen, d.i. jüdischen Religionen und den ihnen sich anbequemenden Philosophen aufgestellt worden, sind schwache, leicht zu widerlegende Sophismen.«[27] Das ist durchaus richtig, aber etwas als Verbrechen zu bezeichnen, ist nicht nur gleichbedeutend mit seinem Verbot, sondern es verleiht dem betreffenden Akt außerdem eine libidinöse Objektbesetzung: Grenzüberschreitung ist sexy.
In Goethes(5)(6) 1787 erstveröffentlichtem Sturm-und-Drang-Roman Die Leiden des jungen Werther überlegt der in eine Dreiecksbeziehung verstrickte Titelheld, dass ein Mitglied dieser Beziehung sterben müsse, und da er unfähig ist, einen Mord zu begehen, aber das Gefühl hat, unbedingt handeln zu müssen, schießt er sich in den Kopf und stirbt zwölf Stunden später. Goethes(7) Roman löste nach seinem Erscheinen eine Welle von Nachahmungssuiziden unter jungen Leuten in Deutschland(54) aus. 1903 schoss sich der 23-jährige österreichische Philosoph Otto Weininger(1) in die Brust – im selben Raum, in welchem Beethoven(5) 76 Jahre zuvor gestorben war. Er hatte erklärt: »Es gibt drei Möglichkeiten für mich: den Galgen, den Selbstmord und eine Zukunft, welche so glänzend ist, daß ich sie mir gar nicht auszudenken traue.«[28] Die dritte dieser Möglichkeiten schien aufgrund der kühlen Aufnahme seines jüngst veröffentlichten Buches Geschlecht und Charakter gänzlich unrealistisch(2).
Was also war es, das Benjamin(315) dazu veranlasste, 1932 eine Selbsttötung zu erwägen? Der aus einer Dreiecksgeschichte resultierende Werther-Effekt? Das Gefühl, dass sein Genie verkannt wurde? Seine Biographen verweisen darauf, dass er bereits seit zwei Jahrzehnten häufig Selbstmordgedanken hegte, faktisch bereits seit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. 1914 hatte einer seiner(316) engsten Freunde, der Dichter Fritz Heinle(1), zusammen mit Rika Seligson(1) Selbstmord begangen. Eines Morgens war Benjamin vom Eintreffen eines Eilbriefs aufgeweckt worden, in dem stand: »Du findest uns im Begegnungshaus.«[29] Das Paar hatte sich durch Gas das Leben genommen. Ihr tragisches Ende wurde in den Zeitungen als Folge einer zum Scheitern verurteilten Beziehung dargestellt, ihre Freunde hielten es jedoch für einen Protestakt gegen den Krieg.
Für Benjamin(317) warf Heinles(2) Freitod einen Schatten über den Rest seines Lebens. Er schrieb in den Jahren nach dem Tod seines Freundes einen Zyklus von fünfzig Sonetten und las während der 1920er Jahre Freunden Heinles Gedichte vor. Selbsttötung spielt in seinen Texten aus diesem Jahrzehnt eine große Rolle: »Wie der Abschiednehmende leichter geliebt wird!«, hält er in seinem 1928 erschienenen Buch Einbahnstraße fest. »Weil die Flamme für den Sichentfernenden reiner brennt, genährt von dem flüchtigen Streifen Zeug, der vom Schiff oder Fenster des Zuges herüberwinkt. Entfernung dringt wie Farbstoff in den Verschwindenden und durchtränkt ihn mit sanfter Glut.«[30] Möglicherweise sah Benjamin(318) sich selbst mit solcher Glut getränkt, als er im Sommer 1932 die Formalitäten erledigte, durch die er seine Trennung von seinen Freunden und Geliebten vorbereitete. Allerdings konnte er den Akt nicht begehen, der die Trennung besiegelt hätte.
Suizid war also ein Gespenst, das Benjamin(319) während seines gesamten Erwachsenenlebens verfolgte. Aber er fand auch Worte erschütternder Schönheit dafür, was der Tod für jene bedeutet, die zurückbleiben. So schreibt er beispielsweise in Einbahnstraße: »Stirbt ein sehr nahestehender Mensch uns dahin, so ist in den Entwicklungen der nächsten Monate etwas, wovon wir zu bemerken glauben, daß – so gern wir es mit ihm geteilt hätten – nur durch sein Fernsein es sich entfalten konnte. Wir grüßen ihn zuletzt in einer Sprache, die er schon nicht mehr versteht(320).«[31]
Es ist eine Tatsache, dass Benjamin(321) 1932 keine Selbsttötung beging. Warum? Vielleicht, weil noch Arbeit zu tun war. »Der allein triftige moralische Grund gegen den Selbstmord liegt darin, dass der Selbstmord der Erreichung des höchsten moralischen Zieles entgegensteht, indem er der wirklichen Erlösung aus dieser Welt des Jammers eine bloß scheinbare unterschiebt.«[32] Es mutet möglicherweise töricht an, hier Schopenhauer(25) zu zitieren – Benjamin(322) war alles andere als ein eifriger Leser von Schopenhauers(26) Werk –, allerdings ist die Erwähnung des Begriffs »Erlösung« signifikant. Adorno(177) schließt seine Minima Moralia mit folgenden Worten ab:
Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik. Perspektiven müßten hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Lichte daliegen wird(178).[33]
In der bereits zitierten Fassung IX seiner »Thesen zur Philosophie der Geschichte« stellt sich Benjamin(323) exakt einen solchen Standpunkt der Erlösung vor – und die Gefahr, die damit verbunden ist, diesen Standpunkt einzunehmen. Er tut das im Zusammenhang mit einer Betrachtung über die aquarellierte Zeichnung Angelus Novus von Paul Klee(4):
Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.[34]
Wenn aber der Sturm das ist, was wir Fortschritt nennen, dann könnte der Engel auch als Symbol für Walter Benjamin(324) in jenem Sommer des Jahres 1932 in Poveromo(6) verstanden werden, als er versuchte, durch die Erinnerungsarbeit des Schreibens die Vergangenheit zu erlösen, wieder ganz zu machen, was zerschlagen worden war. Der Sturm(325) wehte, der Trümmerhaufen wurde immer größer, Benjamin jedoch bemühte sich standzuhalten, indem er das Einzige tat, was er konnte: Schreiben. Von Klees(5) Angelus Novus war er fasziniert, seit er das kleine Aquarellbild des Schweizer Malers erstmals in einer Ausstellung in Berlin(60) im Jahr 1920 gesehen hatte. Er kaufte es für 1000 Mark und hängte es in jeder Wohnung auf, in der er lebte, fast wie einen Talisman (heute hängt es nach einer beschwerlichen Geschichte im Israel(1) Museum in Jerusalem). 1921 gab er eine Zeitschrift namens Angelus Novus heraus, »teilweise um zu versuchen, eine Beziehung zwischen der künstlerischen Avantgarde jener Zeit und der talmudischen Legende über Engel herzustellen, die ständig erschaffen werden und Schlupfwinkel in den Fragmenten des Gegenwärtigen finden«.[35] Benjamin(326) rühmt das Bild außerdem in seinem 1931 entstandenen Essay über den österreichischen(8) Schriftsteller und Satiriker Karl Kraus(1): Das Aquarell ermögliche es, »eine Humanität zu fassen, die sich an der Zerstörung bewährt«.[36] 1933, in dem Jahr, da die Nazis an die Macht kamen und Benjamin ein letztes Mal aus Berlin floh, ließ er das Bild zurück, und er schreibt in »Agesilaus Santander«, einem autobiographischen Essay, den er während seines Exils auf Ibiza(4) verfasste: »Der Engel aber ähnelt allem, wovon ich mich habe trennen müssen: den Menschen und zumal den Dingen.«[37]
In seinem Essay »Walter Benjamin(327) und sein Engel« bemerkt Scholem(18), dass Benjamin damals in der Zeichnung eine Parallele zu seinen verwickelten Beziehungen zu Jula Cohn(3) und Asja Lacis(13) gesehen habe.[38] Aber im Engel der Geschichte ist noch mehr enthalten als lediglich persönliche Resonanzen. Das Bestehen darauf, dass die Vergangenheit verwandelt werden kann, bleibt für Marxisten(258), und nicht nur für sie, eine der faszinierendsten Ideen Benjamins(328). So konstatierte etwa der Literaturtheoretiker Terry Eagleton(4): »In einer seiner scharfsinnigsten Formulierungen sagte Benjamin(329), was Männer und Frauen dazu motiviert, sich gegen Ungerechtigkeit zu empören, seien nicht Träume von befreiten Enkeln, sondern Erinnerungen an versklavte Vorfahren. Indem wir unseren Blick auf die Schrecken der Vergangenheit richten, hoffend, dass uns dieser Blick nicht in Stein verwandelt, werden wir angetrieben, uns vorwärts zu bewegen.«[39] Die hintergründige Gestalt des Angelus Novus, die Benjamin(330) so faszinierte, ist zu einem ikonischen Wahrzeichen der Linken geworden; ob er sie als solches wiedererkannt und anerkannt hätte, ist eine andere Frage.
Benjamin(331) war jedenfalls, als er in Poveromo(7) eintraf, vielleicht nicht davon überzeugt, dass das Leben lebenswert war, aber doch, dass es gelebt werden musste – selbst wenn für ihn die Umstände immer schrecklicher wurden. Ein Jahr, nachdem er in dem toskanischen Badeort die tröstenden Memoiren über seine Berliner(61) Kindheit verfasst hatte, war er, um den Nazis zu entkommen, gezwungen, seine Heimatstadt für immer zu verlassen. Die letzten acht Jahre seines Lebens verbrachte er in bedrohlichem Exil, er zog – wie so viele andere Juden und Kommunisten damals – in einem zunehmend unwirtlichen Europa(18) umher. 1938 beschrieb er sich in einem Brief als einen Mann, »der sich in einem Krokodilsrachen, den er mittels eiserner Verstrebungen geöffnet hält, häuslich niedergelassen hat«.[40] So lebte er dann wohl in seinen letzten zehn Lebensjahren – bis zu dem einsamen Augenblick in einem spanischen Hotelzimmer, als er(332) beschloss, sich lieber das Leben zu nehmen, als ermordet zu werden.
In diesen Jahren verfasste Benjamin(333) allerdings einige seiner besten Werke, darunter, wie wir im folgenden Kapitel sehen werden, einen immer noch grandiosen Essay über die revolutionären Möglichkeiten von Kunst, einen Text voller Hoffnung inmitten der Hoffnungslosigkeit seiner damaligen Gegenwart. Sein Freund und Exilgefährte Theodor Adorno(179) kannte diesen Zusammenhang genau, als er schrieb: »Wer keine Heimat mehr hat, dem wird wohl gar das Schreiben zum Wohnen.«[41]