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Modernismus und All that Jazz

Während der 1930er Jahre beschäftigten sich die Denker der Frankfurter Schule mit der Frage, warum die sozialistische Revolution nicht stattgefunden hat und wie es geschehen konnte, dass Hitler(21) an die Macht kam. Doch einige der brillantesten Texte drehen sich um die Kultur, die neue Front im neomarxistischen Kampf. So veröffentlichte man im Institutsjournal im Jahr 1936 zwei Essays, die moderne Kunst zum Gegenstand haben. Einer der beiden Texte stammt von Walter Benjamin(334) und wurde zu einem Klassiker des 20. Jahrhunderts: endlos wieder abgedruckt, vervielfältigt, heruntergeladen, zitiert, copy-pasted, sodass schließlich mit seiner Aura nahezu jeder Text getränkt ist, in dem seit seinem Erscheinen Kunsttheorie behandelt wird. Der andere Essay von Theodor Adorno(180) wurde zu intellektuellem Kryptonit: geschmäht selbst von Adornos glühendsten Bewunderern wegen seines offensichtlichen Rassismus und seiner Interpretation der thematisierten Kunstform sowohl als eine Art vorzeitigen Ejakulation als auch eine mehr oder weniger sadomasochistischen repressiven Desublimation, die typisch sei für die perverse Schwachheit und Passivität, in die diese Kunstform die Ausübenden und ihr Publikum versetze.

Es gibt noch weitere Unterschiede. Benjamins(335) »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« ist schon fast närrisch hoffnungsvoll, was das revolutionäre Potential der neuen Formen von Massenkultur, vor allem des Kinos, angeht.[1] Adornos(181) »Über Jazz«, verfasst unter dem Pseudonym Hektor Rottweiler, ist eine schonungslose, boshafte Kritik einer neuen Musikform, deren gesellschaftlichen Einfluss er verabscheute und die er als repräsentativ für die Katastrophe kommerzialisierter Kunst im Kapitalismus interpretierte.[2]

Beide Essays sind jedoch neomarxistische(259) Kritiken an der Massenkultur und damit ein Gegengift gegen die hochnäsigen konservativen Jeremiaden, die damals wie heute überwiegen. Beide Männer waren aufgrund ihrer Herkunft und ihres Temperaments kulturelle Bilderstürmer, aber es fällt schwer, in ihren Texten etwas vom Snobismus eines Proust(25), von der Verachtung massenkultureller Produktion eines Huxley(2) oder der Geringschätzung volkstümlicher Unterhaltungsformen eines D. H. Lawrence zu finden(6). Weder Benjamin(336) noch Adorno(182) sahen in den neuen Kunstformen, über die sie schrieben, einen Grund für ein spengler(1)sches Lamentieren über den Untergang des Abendlandes. Es ging beiden nicht darum, die Barbarismen der Gegenwart zu verdammen, indem sie sie mit den Herrlichkeiten der Vergangenheit kontrastierten.

Beide Essays entstanden im Limbus des Exils – Benjamin(337) war in Paris(30), Adorno(183) in seinem dritten Jahr in Oxford(1), und beiden stand offenbar bevor, Europa(19) ganz verlassen zu müssen. Beide Texte sind also vom Faschismus geprägt. Adornos Kritik am Jazz war vom Klang der Militärmärsche mit ihren synkopierten Rhythmen verzerrt, während für Benjamin der Faschismus eine so unmittelbare Bedrohung darstellte, dass der Kommunismus, seiner Meinung nach, mit einer Politisierung der Kunst reagieren musste. Benjamin(338) war sich offenbar bewusst, dass der Luxus, über die Reduktion menschlicher Erfahrung durch die Massenkultur zu verzweifeln, nicht angebracht war in einer Zeit, da der Faschismus angegriffen werden musste. Die Verzweiflung, die er in seinem Essay »Eduard Fuchs(1), der Sammler und der Historiker« zum Ausdruck bringt – wie menschliche Erfahrung durch »die verunglückte Rezeption der Technik« reduziert wird –, wird hintenangestellt zugunsten einer hoffnungsvollen Reflexion über die Frage, wie die neuen technischen Kunstformen, vor allem das Kino, das menschliche Empfindungsvermögen zu revolutionieren vermögen und es möglicherweise sogar gegen den Faschismus widerstandsfähiger machen könnten. Seine(339) Träume in Bezug auf das Kino wurden nicht ganz und gar durch den allmählichen Vorstoß der Hollywood(4)-Maschinerie zerstört. Wohl machte er sich Sorgen wegen des Starkults, bei dem er den Fluch des künstlichen Warenfetischismus diagnostizierte, aber das war eher eine Nebensache: Der überwiegende Teil seines berühmtesten Essays bewegt sich auf erfrischende Weise gegen den Strom der sprichwörtlichen Negativität der Frankfurter Schule. »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« beginnt in der dritten Fassung mit der Vorstellung, dass Ende des 19. Jahrhunderts ein Umkehrpunkt in der Beziehung der Kunst zur Technik erreicht worden sei:

Um neunzehnhundert hatte die technische Reproduktion einen Standard erreicht, auf dem sie nicht nur die Gesamtheit der überkommenen Kunstwerke zu ihrem Objekt zu machen und deren Wirkung den tiefsten Veränderungen zu unterwerfen begann, sondern sich einen eigenen Platz unter den künstlerischen Verfahrungsweisen eroberte. Für das Studium dieses Standards ist nichts aufschlussreicher, als wie seine beiden verschiedenen Manifestationen – Reproduktion des Kunstwerks und Filmkunst – auf die Kunst in ihrer überkommenen Gestalt zurückwirken [475].(340)

Wo Huxley(3) – mit Worten, die Benjamin(341) in einer Fußnote zitiert – diese Veränderung als Begünstigung von »Vulgarität« und »Produktion von Abhub« interpretierte, malt sich Benjamin deren befreiendes Potential aus. Er war nicht so naiv anzunehmen, die Produktion von Abhub hätte sich aufgrund des technischen Wandels nicht vermehrt. Für ihn war der neue Standard technischer Reproduktionsmöglichkeiten das, was Alkohol für den zeitgenössischen Dialektiker Homer(1) Simpson ist – Grund für und Heilmittel gegen die Verarmung menschlicher Erfahrung.

Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, wie Verarmung aussieht: D. H. Lawrence(7) stellte sie prägnant vor, wenn er über Menschen schrieb,

sitting with our tails curled

while the machine amuses us, the radio or film or gramophone.

Monkeys with a bland grin on our faces.[3]

Was Benjamin(342) mit seinem Essay unternahm, war vergleichsweise viel schwieriger: Er versuchte sich vorzustellen, wie die Veränderungen in der Reproduzierbarkeit zu unserer Befreiung beitragen könnten. Benjamin hoffte, dass Fotografie und Kino die kulturelle Tradition aufsprengen, dass sie die Macht auflösen würden, die die herrschende Klasse mit den Mitteln einer Aura der Authentizität, der Autorität und der Beständigkeit von Kunstwerken über die Massen ausgeübt hatte. Seine Schriften aus dieser Zeit sind gespickt mit gewalttätigen Bildern – als habe der bevorstehende Krieg für ihn bereits begonnen(343).

»Die Ideologien der Herrschenden sind naturgemäß wandelbarer als die Ideen der Unterdrückten«, so Benjamin(344) im Passagen-Werk ungefähr zur Zeit der Entstehung des Kunstwerk-Essays. »Denn sie haben sich nicht nur, wie die Ideen der letztern, der jeweiligen gesellschaftlichen Kampfsituation anzupassen, sondern sie als eine im Grund harmonische Situation zu verklären.«[4] Die Ideologien der Herrschenden sind also mit dem vergleichbar, was der Evolutionsbiologe Richard Dawkins(1) vier Jahrzehnte später als Meme bezeichnen sollte – Einheiten, welche Ideen und Bräuche transportieren, die sich verändern und auf Anpassungsdruck reagieren. Benjamin hoffte auf eine Unterbrechung dieser sich wie eine Krankheit verbreitenden Meme der herrschenden Klasse. Ein Kunstwerk war nicht nur der schöne, eigenständige Ausdruck der kreativen menschlichen Impulse, sondern diente darüber hinaus als Werkzeug, die Macht der Herrschenden aufrechtzuerhalten.

Indem sie in einer kulturellen Tradition verortet wurden, die ihnen und der Tradition Bedeutung verlieh, wurden Kunstwerke zu Fetischen und dienten denselben mystifizierenden Zwecken wie die Waren, über die Marx(260) schrieb: Sie beseitigten die Spuren des blutigen sozialen Konflikts und verherrlichten eine disharmonische Situation als von Grund auf harmonisch. Diese gesamte Tradition wollte Benjamin(345) in Schutt und Asche legen.

Robespierre(2) habe das antike Rom für die Französische Revolution vereinnahmt und damit – so Benjamin(346) in seiner »XIV. These« – das Kontinuum der Geschichte aufgesprengt. Benjamin wollte das Kontinuum des kulturellen Erbes aufsprengen, auf dass die Unterdrückten die Umstände erkennen könnten, in denen sie lebten; auf dass sie die Barbarei wahrnehmen könnten, die der Schönheit zugrunde lag; und auf dass die Massen aus ihrem Schlaf aufgerüttelt würden. Was normal zu sein scheint, muss als pervers und unterdrückend bloßgestellt werden. Benjamin(347) meinte zu wissen, wie das zu bewerkstelligen war. Er stellt hierzu fest: »Die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks emanzipiert dieses zum ersten Male in der Weltgeschichte von seinem parasitären Dasein am Ritual [481].« Die Kraft dieser gnomischen Bemerkung ist nicht einfach zu begreifen – wir stellen uns nicht unbedingt vor, dass das Kunstwerk Teil eines Rituals ist. Aber genau das, so Benjamin, sei die Funktion des Kunstwerks gewesen. Er schreibt weiter: »Die ältesten Kunstwerke sind, wie wir wissen, im Dienst eines Rituals entstanden [480].« (348)Das steht außer Frage, aber der Sprung von diesem zum nächsten Satz ist nicht ohne Weiteres nachvollziehbar. »Mit andern Worten: Der einzigartige Wert des ›echten‹ Kunstwerks ist immer theologisch fundiert.« Doch das ist alles andere als offensichtlich. Wir können Ritualität für die Verehrung einer Venusstatue durch die alten Griechen unterstellen, nicht aber für einen Trip in den Louvre, um die Venus von Milo zu betrachten. Benjamins(349) Biographen argumentierten, ihm sei es darum gegangen, dass der Betrachtende oder Zuhörende ein Kunstwerk, soweit es sich um ein technisch reproduziertes handelt, nicht in einem Raum rezipieren müsse, der für den Kult um das Kunstwerk geschaffen wurde – einem Museum, einem Konzertsaal oder einer Kirche. Darauf könnte man erwidern, dass ja wohl das Sitzen in einem Kino oder das Lauschen einer Schallplatte mit kultischen Bräuchen und Ritualen ebenso viel (oder ebenso wenig) zu tun habe, wie wenn man Kunstwerke rezipiert, die nicht technisch reproduziert sind.

Benjamins(350) Aussage – eine Aussage, die aus dem Bruchgestein seiner Gedanken herausgezogen werden muss, da der Aufsatz in einer Technik verfasst wurde, die mit den von ihm so bewunderten Montagetechniken verwandt ist – geht dahin, dass die rituelle Grundlage der Kunst selbst dann noch aufrechterhalten bleibt, wenn die Kunst, wie es während der Renaissance geschah, vom weihevollen Altar hinabsteigt und sich dem weltlichen Schönheitskult anschließt.

Doch dann geschah etwas Bemerkenswertes: Die Technik der Fotografie wurde entwickelt. Und ungefähr zur selben Zeit, und das nicht zufällig – so Benjamin(351) –, sei auch der Sozialismus entstanden. Erstere war für Benjamin die erste wahrhaft revolutionäre Reproduktionstechnik; letzterer die politische Strömung, die die herrschende Klasse und all ihre Werke vernichten wird. Gemeinsam werden sie die rituelle Abhängigkeit der Kunst aus der Welt schaffen. Ein Problem allerdings bleibt bestehen: Die Künstler weigerten sich, auf der Weltbühne der Geschichte in eine politische Rolle gedrängt zu werden. Stattdessen brachten sie das 19. Jahrhundert damit zu, ihre Kunst als etwas zu verkleiden und zu behaupten, sie sei etwas anderes, das sie, Benjamin(352) zufolge, nicht ist: Sie streiten jegliche gesellschaftliche Funktion ihrer Kunst ab. Mit Blick auf das Kunstwerk tun sie so, als habe es selbst einen inneren Wert, und sein Wert leite sich auch nicht einmal teilweise davon ab, dass es den Status quo aufrechterhält. Daher rührt möglicherweise die Beharrlichkeit in Kants(6) Kritik der Urteilskraft, dass das ästhetische Urteil notwendig interesselos sei. Und daraus ergab sich im 19. Jahrhundert die ästhetische Bewegung des L’Art pour l’Art. Mit dieser Strömung lieferte man in der Kunst ein letztes Gefecht, man behauptete ihre Autonomie und Reinheit, wo doch, wenn Benjamin recht hatte, ihr Schicksal ein politisches war. Fotografie, so Benjamins(353) Behauptung, habe die Kunst von ihrer Verwurzelung im Kult abgelöst, und ihre Autonomie sei für immer verschwunden. Statt L’Art pour l’Art sollte das 20. Jahrhundert L’Art pour la Politique erleben.

Und als im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit die Kunst politisch wurde, brachte das zweierlei mit sich: Erstens eine Revolutionierung des Wahrnehmungsapparats der Massen, sodass sie erstmals erkennen konnten, wie sie zu Handlangern der bestehenden Machthaber hatten werden können; und zweitens die Zerstörung der Aura des Kunstwerks selbst.

Die Aura ist ein rätselhaftes Phänomen. Benjamin(354) merkt dazu an: »Was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine Aura [477]«, die er mit Eindrücken aus der Natur umreißt: »An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen [479].« Aura hatte also etwas mit ästhetischer Distanz zu tun; technische Reproduktion hingegen, so Benjamins(355) Annahme, führe zur Aufhebung dieser Distanz. Der Abstand, auf den sich Benjamin in diesem Essay bezieht, muss gar nicht physischer Natur sein: Es ist vielmehr der psychologische Abstand oder die Autorität, was dem Kunstwerk seine Aura verleiht. Dieser Abstand kann sich sogar in einem ritualisierten Versteckspiel mit dem Betrachter realisieren. »Gewisse Skulpturen an mittelalterlichen Domen sind für den Betrachter zu ebener Erde nicht sichtbar [484]«, so Benjamin(356), »gewisse Götterstatuen sind nur dem Priester in der cella zugänglich, gewisse Madonnenbilder bleiben fast das ganze Jahr über verhangen [483].«

Die Aura des Kunstwerks ist also in mehrfacher Hinsicht unzugänglich: Das Gesindel wird häufig in einer Art Ehrfurcht auf Distanz gehalten und nur zu speziellen Gelegenheiten mit zeitlich begrenzten Tickets zugelassen, während die Eingeweihten Zugang zu allen Bereichen haben, was ihren Status und zugleich die Macht des Kunstwerks bestätigt. Natürlich gilt das ganz genauso für die nach Gesellschaftsschichten unterteilten Besucherstrukturen heutiger Rockfestivals oder Opernhäuser. Bei ersteren riskieren die Glücklosen nasse Füße auf schlammigen Feldern, während der Elite Backstagepässe und Helikopter, die sie aus den Schrecken des Zeltplatzes herausholen und in ihre schnuckeligen Luxushotels befördern, zur Verfügung stehen. Bei letzteren haben die Glücklosen entweder von vornherein gar nicht die materiellen Mittel, die benötigt werden, um Tickets zu kaufen, oder sie bekommen in den oberen Rängen Höhenangst, während die Privilegierten sich in den Plüschsitzen des ersten Ranges zurücklehnen können – mit beneidenswertem Blick auf die Handlung, die sich auf der Bühne abspielt, und der Aussicht auf flüssige Stärkung an der Bar in der Pause. Das alles soll nur zeigen, dass die technische Reproduzierbarkeit das kulturelle Erbe auratischer Kunst nicht zum Verschwinden gebracht hat, wie Benjamin(357) es sich erhofft hatte. Das säkulare Ritual – man denke nur an Glastonbury oder Bayreuth – überlebte die Auflösung, nach der sich Benjamin gesehnt hatte.

Benjamin(358) dachte, das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit würde zur Abschaffung dieses privilegierten Zugangs führen und das kulturelle Erbe in die Luft sprengen. Er sah kulturelles Erbe als erniedrigende Verherrlichung einer Sphäre blutiger Konflikte, und auch dem, was als schön prunkte und protzte, war nicht zu trauen. Aber – so könnten Sie nun einwenden – Reproduzierbarkeit sei doch in bildender Kunst und Literatur bereits seit Jahrhunderten üblich gewesen und habe schon wiederholt nicht nur die Kunst und Kultur, sondern die menschliche Gesellschaft revolutioniert – wenn auch nicht so, wie Benjamin(359) es sich ausgemalt hatte. Man denke nur beispielsweise an die Schreiber mittelalterlicher Handschriften. Diese Männer schrieben in mühevoller Arbeit mit der Hand die Weisheit von Jahrhunderten von zerbrechlichen, zerfallenden Manuskripten ab. Generationenlang waren sie für die Aktualisierung des kulturellen Gedächtnisses unerlässlich, bis Mitte des 15. Jahrhunderts Gutenbergs Erfindung beweglicher Lettern nicht nur ihr Können überflüssig gemacht, sondern auch der protestantischen Revolution zum Erfolg verholfen hatte. 1492 hatte der Abt von Sponheim(1) einen Traktat Zum Lobe der Schreiber geschrieben, in dem er darauf drängt, dass die Tradition der Schreiber aufrechterhalten bleiben solle, da allein schon der Akt, heilige Texte mit der Hand abzuschreiben, spirituelle Erleuchtung mit sich bringe. Es gab da nur ein Problem: Der Abt hatte sein Buch mit beweglichen Lettern herstellen lassen, auf dass seine Erörterung schnell und billig verbreitet werden konnte.

Benjamin(360) leugnete das durchaus nicht. Er betonte, dass jedes Kunstwerk im Prinzip reproduzierbar sei: Seit unvordenklichen Zeiten kopierten Schüler die Arbeit ihrer Lehrer zur Übung und um damit Geld zu verdienen. Die Griechen kannten lediglich zwei Arten technischer Reproduzierung von Kunstwerken – Prägung und Guss, ihre Reproduktionen waren also auf Bronzen, Terrakotten und Münzen beschränkt. Erst mit dem Aufkommen des Holzschnitts wurden Graphiken reproduzierbar; im Mittelalter kamen noch Radierung und Gravierung dazu. Doch, so Benjamin, erst mit der Lithographie habe die Reproduktion in der bildenden Kunst mit der gutenberg(1)schen Revolution im Druckereiwesen gleichgezogen. Die Lithographie wurde allerdings bald von der Fotografie überholt, die für Benjamin(361) die revolutionäre Form technischer Reproduktion par excellence darstellte, da mit der Fotografie »die Hand im Prozeß bildlicher Reproduktion zum ersten Mal von den wichtigsten künstlerischen Obliegenheiten entlastet [war], welche nunmehr [475] dem ins Objektiv blickenden Auge allein zufielen«.

Was bedeutete das? In der Vergangenheit war das Vorliegen des Originals die Voraussetzung für das Prinzip der Authentizität. Die manuelle Reproduktion eines Kunstwerks bekräftigt die Autorität des Originals; im Unterschied dazu kann die technische Reproduktion diese Autorität untergraben – in einigen Kontexten ist es vielleicht überhaupt nicht mehr sinnvoll, von einem Original zu sprechen. »Von der photographischen Platte z.B. ist eine Vielheit von Abzügen möglich; die Frage nach dem echten Abzug hat keinen Sinn [481f.]«, schreibt Benjamin(362). Gibt es eine Originalkopie von Porky’s 3? Ausgeschlossen ist das nicht, aber selbst wenn das der Fall sein sollte, stünde diese nicht in derselben Beziehung zu ihren Reproduktionen wie das Original der Mona Lisa zu den Milliarden Reproduktionen von Da Vincis Gemälde. Es gibt kein originales Kunstwerk, das gebieterisch Kopien Legitimität verleiht und sie Fälschern verweigert – der König ist tot, lang lebe die Demokratie der Dinge.

Benjamin(363) fasst diesen Tod des Abstands allerdings in merkwürdige Begriffe: Er erläutert, die »gegenwärtigen Massen« hätten das leidenschaftliche Anliegen, »die Dinge sich räumlich und menschlich ›näherzubringen‹, [es] ist ein genauso leidenschaftliches Anliegen wie es ihre Tendenz einer Überwindung des Einmaligen jeder Gegebenheit durch die Aufnahme von deren Reproduktion ist [479]«.

Woher aber kam dieses Bedürfnis? Hier war Benjamin(364) – ein Vorwurf, den ihm Adorno(184) während der 1930er Jahre häufiger machte – nicht hinreichend dialektisch. Wir könnten mit größerer Plausibilität argumentieren, dass Verbesserungen auf dem Gebiet der Reproduktionstechniken die Möglichkeiten der Kapitalisten verändern, denjenigen etwas zu verkaufen, die Benjamin als die »Massen« bezeichnet. Wünsche entstehen ja nicht aus dem Nichts. Sie können künstlich erzeugt werden. Sie stehen möglicherweise sogar in einer dialektischen Beziehung zur Technik. Die Technik verändert nicht nur, was Menschen tun können; sie verändert die Menschen selbst, weckt in ihnen das Bedürfnis nach Dingen, von denen sie zuvor nicht wussten, dass sie existierten. Benjamin(365) erkannte das, und hält dazu fest: »Es ist von jeher eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst gewesen, eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung die Stunde noch nicht gekommen ist [500].« Kino, Radio, Fernsehen, aufgezeichnete Musik, das Internet und die sozialen Medien – alle haben sie mit technischen Neuerungen zu tun, die Kapitalisten die Möglichkeit bieten, Produkte bereitzustellen, die unsere Wünsche und also auch uns verändern. Man denke nur an das Internet. »Die Entwicklung des Internets hat mehr damit zu tun, dass menschliche Wesen zu einem Abbild ihrer Technologien werden«, so der deutsche poststrukturalistische Philosoph und Medientheoretiker Friedrich Kittler(1). »Schließlich sind wir es, die sich an die Maschine anpassen. Die Maschine passt sich nicht an uns an.« Kittler setzte sich damit von der blauäugigen Vision des kanadischen Medientheoretikers Marshall McLuhan(1) ab, der technische Neuerungen als Prothesen für den Menschen verstand (was im Untertitel von McLuhans Buch Understanding Media: The Extensions of Man zum Ausdruck kommt [Die Medien verstehen: Erweiterungen des Menschen, dt. Titel: Die magischen Kanäle]. Kittler(2) legte demgegenüber dar, die Medien seien »keine Pseudopodien, die den menschlichen Körper erweitern. Sie folgen vielmehr der Logik der Eskalation, die uns und die geschriebene Geschichte hinter sich lässt(3)[5]

Benjamin(366) sah die Technik mit Sicherheit als Prothese an. So schreibt er etwa, dass ein Foto Dinge einzufangen vermag, die das Auge nicht sehen kann. Das Original konnte infolgedessen also nicht mehr als Vergleichspunkt dienen, durch den wir beurteilen könnten, ob das Foto als Reproduktion gelungen ist. Es wäre in einem solchen Fall auch sinnlos, mit dem Begriff Fälschung zu operieren. Benjamin(367) macht außerdem geltend, dass technische Reproduktion die Kopie in Kontexte zu bringen vermag, die für das Original undenkbar wären: »Die Kathedrale verläßt ihren Platz, um in dem Studio eines Kunstfreundes Aufnahme zu finden; das Chorwerk, das in einem Saal oder unter freiem Himmel exekutiert wurde, läßt sich in einem Zimmer vernehmen [477].« Beim ersten Beispiel dachte er an eine Fotografie, beim zweiten an eine Schallplattenaufnahme(368).

Wenn aber die Fotografie und andere Kunstformen im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit die menschlichen Wahrnehmungsfähigkeiten erweiterten, dann, so Benjamins(369) Vision, hätten diese Kunstformen einen politischen Zweck, nämlich die Natur der Realität in großer Detailschärfe zu zeigen:

Unsere Kneipen und Großstadtstraßen, unsere Büros und möblierten Zimmer, unsere Bahnhöfe und Fabriken schienen uns hoffnungslos einzuschließen. Da kam der Film und hat diese Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunden gesprengt, so daß wir nun zwischen ihren weitverstreuten Trümmern gelassen abenteuerliche Reisen unternehmen. Unter der Großaufnahme dehnt sich der Raum, unter der Zeitlupe die Bewegung … Vom Optisch-Unbewußten erfahren wir erst durch sie [sc. die Kamera], wie von dem Triebhaft-Unbewußten durch die Psychoanalyse(370).[6]

Viele Jahre später klangen bei Alfred Hitchcock(1) diese benjamin(371)schen Einsichten wieder an. Hitchcocks Filme wirken wie Umsetzungen unbewusster Impulse auf Zelluloid, sie haben die Logik von Träumen. 1962 sagte er in einem Interview mit François Truffaut(1) auf dessen Frage, wozu das Kino da sei: Es ziehe die Zeit zusammen und dehne sie aus.

So wie Freud(40) sachte seine Hand auf den Hinterkopf seiner Patienten legte und sie in ihre dreckige Wäsche schubste, sie mit den dunklen Kräften konfrontierte, die ihrem rationalen Selbst zugrunde lagen, so entblößt die Kamera die brutalen Dissonanzen des modernen Lebens. Und so wie der Analysand selber Arbeit zu leisten hat, so sollte Benjamin(372) zufolge auch der Kinogänger aktiv werden. Diese Arbeit besteht allerdings nicht in langen Phasen der Konzentration, wie sie typisch ist für die Betrachtung eines Gemäldes in einem Museum und wie sie durch den Kunstphilosophen Richard Wollheim(1) zu heroischen Extremen getrieben wurde, der hierzu anmerkte: »Ich habe lange Stunden in der Kirche San Salvatore in Venedig verbracht, im Louvre, im Guggenheim-Museum, um Bilder ins Leben zu locken. Ich bemerkte, dass ich für Vorübergehende zu einem Objekt des Argwohns wurde, und dasselbe geschah mit dem Bild, das ich anschaute(2)[7] Stattdessen forderte Benjamin(373) eine »Rezeption in der Zerstreuung«.[8] Er stellte sich eine solche Rezeption als revolutionäre Form der Wahrnehmung vor – eine höchst irritierende Vorstellung, vor allem für uns, die wir seine Ausführungen in der Rückschau lesen.

Heutzutage ist Zerstreuung eher ein Laster als eine Tugend. Zerstreuung ist schuld daran, dass man nichts mehr erledigt bekommt. Technische Innovationen zwingen uns, von einer sinnlosen Aufgabe zur nächsten zu springen: auf Emails zu antworten, unseren Facebook-Status zu aktualisieren, ständig an unseren Bildschirmen zu arbeiten – Sisyphus im Cyberspace. Diese zerstreute Lebensweise steht im Widerspruch zu der populären Theorie des ungarischen(3) Psychologen Mihaly Csíkszentmihályi(1), dass die Menschen am glücklichsten seien, wenn sie sich in einem Flow-Zustand befinden.[9] Aber Benjamin(374) war nun auch nicht gerade ein die Arbeit hymnisch besingender Dichter oder ein Philosoph des Glücks. Wahrscheinlich hätte er Glück, Flow, Vertiefung in die Arbeit und den Kult erfüllender Arbeit als törichte Bemühungen um Ganzheit abgetan, Wahnvorstellungen, die uns davon abhalten zu erkennen, dass wir in einer zerbrochenen Welt leben, dass wir, geknechtet und ausgebeutet, knietief in Trümmern stehen.

Vertiefung und Flow sind charakteristisch für die Schaffung und Wahrnehmung auratischer Kunst. Die Kunst, die Benjamin(375) pries und der er revolutionäres Potential zuschrieb, war von anderer Art: Zu ihr gehörten Bruch und Entfremdung, ein Aufsprengen der glatten Oberfläche der Wirklichkeit. Statt sich trügerischen Harmonien hinzugeben, sollte man von Dissonanzen, von sprunghaften Schnitten, verwirrenden Montagen verstört werden. Geistesabwesenheit war für Benjamin(376) schon fast eine Tugend. Man könnte geradezu sagen, dass das Kino für ihn brecht(54)sche Verfremdungstechnik mit besserer Technologie war. Film war seiner Auffassung nach nicht so sehr eine Kunstform, die beruhigend wirkt, sondern eine, die ihre Betrachter schult; er »dient, den Menschen in denjenigen neuen Apperzeptionen und Reaktionen zu üben, die der Umgang mit einer Apparatur bedingt, deren Rolle in seinem Leben fast täglich zunimmt.«[10] »Apparat« meint hier die phantasmagorische Welt des städtischen Warenkapitalismus, die wir als real, natürlich und gegeben hinnehmen, also fatalistisch akzeptieren.

Es kommt allerdings noch etwas hinzu. Nehmen Sie Greta Garbo(1) oder, wenn Ihnen das lieber ist, George Clooney(1). Filmstars scheinen auratisch zu sein, das heißt ihre Verehrung erinnert an die Verehrung griechischer Statuen. Das Kino ist also offenbar ein weiterer Tempel für die Inszenierung von Ritualen. Benjamin(377) hatte dazu einen aufrührerischen Gedanken, eine Umkehrung der Vorstellung, dass Garbo(2) und Clooney(2) Göttern ähnelten. Die Tätigkeit des Schauspielers in Filmen unterscheidet sich von früheren Formen des Schauspiels, weil jeder Film aus separaten Aufnahmen zusammengesetzt ist, und diese Zusammenfügung nahm nicht der Schauspieler vor, sondern der Regisseur, der Kameramann, der Lichtdesigner, der Produktionsleiter. Die Darstellung des Schauspielers wird also aufgebrochen und neu zusammengesetzt. Benjamins(378) Biographen erklärten:

Diese disjunktive, überprüfbare Natur der Darstellung vor dem Apparat [also Kamera, Schnittraum, Filmvorführung] macht etwas sichtbar, das sonst verborgen bleibt: die Selbstentfremdung des modernen, technifizierten Subjekts, die Anfälligkeit für Bewertung und Kontrolle. Der Schauspieler stellt also den Apparat in den Dienst eines Triumphs über den Apparat, einen Triumph der Humanität.[11]

Benjamin(379) war der Meinung, dass uns das Kino einen Spiegel unserer Verfassung vorhalten würde – auch wir sind technifizierte Subjekte, aufgebrochen, gekünstelt, verdinglicht auf dieselbe Art wie Filmschauspieler. Für ihn hatte die neue Reproduktionstechnik die Folge, dass die Darstellung des Schauspielers von der gespiegelten Person ablösbar wurde. Während frühere Formen des Schauspielens, vor allem im Theater, nicht ablösbare Darbietungen und daher von einer Aura umgeben waren, galt das für die Schauspielkunst des Films nicht mehr. Die Darbietung des Filmstars »ist transportabel geworden und einer anderen Kontrolle unterworfen – derjenigen des Publikums, das ihm als Masse gegenübertritt [491]«.

Wir können also den Starkult aufbrechen, indem wir uns klar machen, auf welche Weise die Darbietung des Stars technisch zusammengesetzt wurde. »Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung [478]«, schreibt Benjamin(380), und er hoffte – weil die Art unserer Sinneswahrnehmung sich dank technischer Innovation verändert –, wir könnten aufgrund der erweiterten Wahrnehmung, die uns das Kino ermöglicht, erkennen, dass wir selbst zu Dingen geworden sind.

Benjamins(381) technischer Utopismus ist faszinierend, und man kann im Kontext des Faschismus seine Hoffnungen verstehen, aber man könnte auch das genaue Gegenteil behaupten: Statt Selbstentfremdung sichtbar zu machen, kann das Kino ihre Wahrnehmung auslöschen. Statt die Zugänglichkeit zu vergrößern, kann das Kino den auratischen Abstand erweitern. Die Technik kann, muss aber nicht zwingend dazu beitragen, dass wir unsere Entfremdung erkennen. Und dem Training, das Benjamin empfahl, um die neuen sinnlichen Wahrnehmungskräfte zu schulen, die uns das Kino bietet, haben sich nur wenige unterzogen. Er scheint sich hier für eine Art abweichendes Decodieren einzusetzen. Doch die Hoffnung auf eine solche Decodierung setzt ein aktives, informiertes, politisiertes Kinopublikum, also eine Rolle seitens des Betrachters voraus, die, so muss im Rückblick festgestellt werden, das Publikum nicht einnahm und die unglaublich selten ist. In den Händen der Hollywood(5)-Industrie, die Adorno(185) und Horkheimer(150) in der Dialektik der Aufklärung vernichtend kritisieren, war das Kino ein Werkzeug, das den Massen ihre bedrängte Lage im Monopolkapitalismus nicht enthüllte, sondern für ihre ideologische Beherrschung eingesetzt wurde. Das, wovon Benjamin gehofft hatte, dass es das Bewusstsein erweitern würde, war recht häufig einfach nur hirnvernebelnd.

»Die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks emanzipiert dieses zum ersten Mal in der Weltgeschichte von seinem parasitären Dasein am Ritual«,[12] notiert Benjamin(382). Auch hier könnte man wieder das Gegenteil behaupten: dass die technische Reproduzierbarkeit die Bindung an das Ritual mit ausgefeilterer Technik verstärkt. Unsere Filmstars sind Gegenstand kultischer Verehrung. Der italienische Benjamin-Verehrer Roberto Calasso(1) schreibt in The Ruin of Kasch, dass »jeder Filmstar ein Sternbild ist, das am Himmel erscheint, nachdem es von den Göttern verzehrt worden ist«.[13] Der Filmstar ist also beides: ein Gott und ein Opfer für die Götter. Man könnte sogar genauer sagen, dass der Filmstar erst dann zum Gott wird, nachdem er geopfert wurde. Und was für Filmstars gilt, gilt für alle Berühmtheiten: Die Kulturindustrie produziert Götter und Opfer mithilfe ein und derselben Technik; faktisch löscht sie den Unterschied zwischen Göttern und Opfern aus.

Walter Benjamins(383) Schwachstelle war die Musik. Wäre das nicht der Fall, dann hätte er über Jazz im selben utopisch-hoffnungsvollen Geist schreiben können, in dem er über das Kino geschrieben hatte. Man könnte seinen Optimismus über das revolutionäre Potential des Kinos auf den Jazz übertragen, der wie das Kino, aber in noch höherem Ausmaß, die Tradition auflöst, aufbricht, die Trümmer übereinanderlegt; Jazz verändert unsere eingefahrenen Wahrnehmungsweisen und hat ein subversives politisches Potential; Jazz ist eine Herausforderung des Denkens der Herrschenden und untergräbt affirmative Kulturströmungen. Wenn die Kamera uns in ein optisches Unbewusstes einführt, könnte der Jazz möglicherweise dasselbe für ein akustisches Unbewusstes leisten.

Adorno(186) war nun allerdings der Auffassung, dass der Jazz das genaue Gegenteil alles dessen tue. Für ihn hatte Jazz keinerlei revolutionäres Potential. Adorno(187) versucht in seinem Text »Über Jazz«, dieser Musik die Maske herunterzureißen, um zu enthüllen, was darunter liegt. Jazz füge dem standardisierten Charakter populärer Musik Improvisation und Synkopierung hinzu, um seinen Warencharakter zu verschleiern. Was Jazzliebhaber am Jazz schätzen, ist somit das Feigenblatt, das verbirgt, was Jazz in Wahrheit ist: Massenware. »Der Jazz will seinen Absatz verbessern und seinen Warencharakter bemänteln, der, nach einem der gründenden Widersprüche des Systems, unverhüllt auf dem Markte die Durchsetzung seiner selbst gefährdete(188)[14] Diese zynische Unterstellung wirkt geradezu lachhaft ungerecht. Hat Miles Davis(1) wirklich den Warencharakter seiner Musik verschleiert? Waren die improvisierten Saxophonsoli von John Coltrane(1) eigentlich nichts anderes als ein getarnter Ausdruck der Orthodoxie der Herrschenden? Wenn Sie fragen müssen – so hat Louis Armstrong(1) einmal gesagt –, werden Sie es nie erfahren. Man könnte Jazz als ein Phänomen des Widerstands verstehen – speziell des afroamerikanischen Widerstands – gegen die Kulturindustrie, gegen den ideologischen Überbau, gegen die Vormachtstellung der Weißen. Adorno(189) jedoch sah nichts dergleichen.

Allerdings sind auch diese Einwände fehl am Platz. Adorno(190) schrieb gar nicht über afroamerikanischen Jazz (es gibt nicht einen einzigen Hinweis darauf, dass er vor seiner Immigration in die USA damit in Berührung gekommen war), sondern über das, was er in Deutschland(55) hörte. Und darüber hinaus war er, noch bevor er überhaupt irgendwelche Musik in dieser Richtung gehört hatte, abgestoßen von dem, was er irrtümlich für eine Konnotation des Wortes hielt:

»Ich erinnere mich deutlich, … daß ich erschrak, als ich das Wort Jazz zum ersten Male las. Plausibel wäre, daß es vom deutschen Wort Hatz kommt und die Verfolgung eines Langsameren durch Bluthunde entwirft.«[15] Als er später in den 1920er Jahren den Jazz der Weimarer Republik(15) hörte, nahm sein Widerwille nicht ab. Der Jazz, den er hörte, war Unterhaltungsmusik für die deutsche Oberschicht, keine afroamerikanische Kunstform. Es war eine Kombination aus Salonmusik und Marsch(191). »Jene repräsentiert eine Individualität, die in Wahrheit keine ist, sondern bloß deren sozial produzierter Schein; dieser eine ebenso fiktive Gemeinschaft, die durch nichts anderes sich bildet als durch Gleichrichtung von Atomen unter auf sie ausgeübtem Zwang(192)[16]

Die schwarzamerikanischen Wurzeln des Jazz hätten, so seine Meinung, die Funktion, Jazz für das privilegierte, weiße europäische Publikum attraktiver zu machen. »Die Haut der Neger ist so gut wie das Silber der Saxophone ein koloristischer Effekt.«[17] Aber er(193) hörte noch etwas anderes: Er hörte, insofern Jazz eine authentische afrikanisch-amerikanische Ausdrucksform war, nicht so sehr Rebellion gegen Sklaverei, sondern ein ressentimentgeladenes Sichabfinden mit dem eigenen Schicksal. Jazz, wie Adorno(194) ihn verstand, war sadomasochistisch. Für ihn passte er insofern zum Faschismus – nicht nur, weil er Militärmärsche aufbietet und durch seinen Kollektivcharakter als Korrektiv »der bürgerlichen Vereinsamung der autonomen Kunst, als dialektisch fortgeschritten« fungiert, sondern auch weil »dem Gestus der Rebellion die Bereitschaft zu blindem Parieren derart sich gesellte und immer noch gesellt, wie es die analytische Psychologie vom sadomasochistischen Typus lehrt.«[18]

Jazz verweise außerdem auf vorzeitigen Samenerguss. Seine Synkopen unterschieden sich, so Adorno(195), signifikant von denen Beethovens(6). Während letztere in sich »Ausdruck gestauter subjektiver Kraft« sei, »die gegen das Vorgesetzte sich richtete, bis sie aus sich heraus das neue Gesetz produziert«, führe die Synkope des Jazz nirgendwohin. »[S]ie ist bloßes Zu-früh-Kommen, so wie Angst zum verfrühten Orgasmus führt, wie Impotenz in zu frühem und unvollständigem Orgasmus sich ausdrückt.«[19] Später, in der Dialektik der Aufklärung, konstatieren Adorno(196) und Horkheimer(151) eine ähnliche Spielart sexueller Enttäuschung im Hollywood(6)-Kino:

Die permanente Versagung, die Zivilisation auferlegt, wird den Erfaßten unmißverständlich in jeder Schaustellung der Kulturindustrie nochmals zugefügt und demonstriert. Ihnen etwas bieten und sie darum bringen ist dasselbe. Das leistet die erotische Betriebsamkeit. Gerade weil er nie passieren darf, dreht sich alles um den Koitus. Im Film etwa eine illegitime Beziehung zuzugestehen, ohne daß die Inkulpanten von der Strafe ereilt würden, ist mit einem strengeren Tabu belegt, als daß der zukünftige Schwiegersohn des Millionärs in der Arbeiterbewegung sich betätigt(197)(152).[20]

Auf ganz ähnliche Weise schien der Jazz Befreiung zu verheißen, lieferte tatsächlich jedoch lediglich asketische Verweigerung.

Zum Jazz gehörte also symbolische Kastration. Der schwache moderne Mann, wie er von Harold Lloyd(1) und Charlie Chaplin(4) dargestellt wurde, der »zu schwächlich der unproblematisch gesetzten Kollektivnorm«[21] folge, fand sein Gegenstück im Jazz: Das Ego der »hot«-Variante des Jazz, so Adorno(198), bringe seine Impotenz zum Ausdruck, ja schwelge womöglich sogar in seiner Impotenz. Wer Hot Jazz spiele, höre oder dazu tanze, unterwerfe sich sadomasochistisch einer Autorität, während man gleichzeitig behaupte, das Gegenteil zu tun – es war eine Form der Selbstentfremdung, die sich als Rebellion verkleidete.

Die entscheidend eingreifende Tendenz des Jazz besteht nun darin, daß dies Subjekt der Schwäche gerade vermöge seiner Schwäche, ja als sollte es für diese belohnt werden, in eben jenes Kollektiv sich einpaßt, das so schwach es machte und dessen Norm seine Schwäche nicht genügen kann … Indem es nun die gesellschaftliche Instanz fürchten lernt und als Kastrationsdrohung – unmittelbar: Impotenzangst – erlebt, identifiziert es sich mit eben der Instanz, die es zu fürchten hat … Der sex appeal des Jazz ist ein Kommando: pariere, dann darfst du auch, und der Traumgedanke, so widerspruchsvoll wie die Wirklichkeit, in der er geträumt wird: wenn ich mich entmannen lasse, bin ich erst potent(199).[22]

Für Adorno(200) kam also im Jazz eine Perversion zum Ausdruck, die für die gesamte Kulturindustrie typisch war. Im Keim ist in Adornos Essay bereits all das enthalten, was Marcuse(60) dreißig Jahre später über repressive Desublimation schreiben sollte.

Als Adorno(201) in die USA kam, hätte er die Möglichkeit gehabt, sich intensiv mit amerikanischem Jazz zu beschäftigen. Allerdings gibt es keine Hinweise darauf, dass er die Jazzklubs an der Central Avenue in Los Angeles(3) aufsuchte, die in den 1940er Jahren das Herz der Jazzszene an der West Coast bildeten. Dort hätte er Jazz hören können, der die zynische Philosophie, die er der Gattung übergestülpt hatte, weit hinter sich ließ. Er hätte beispielsweise Charlie Parker(1), Lionel Hampton(1), Eric Dolphy(1), Art Pepper(1) und Charles Mingus erleben können(1). Es kam aber nicht nur nicht dazu, vielmehr verfasste Adorno(202) während seines amerikanischen Exils und auch danach weitere Schmähschriften über Jazz. In seinem 1955 erschienenen Buch Prismen gibt es einen Aufsatz mit dem Titel »Zeitlose Mode – Zum Jazz«, in dem er anmerkt: »Die Immergleichheit des Jazz besteht insgesamt nicht in einer tragenden Organisation des Materials, in der wie in einer artikulierten Sprache Phantasie frei und ungehemmt sich regen könnte, sondern in der Erhebung einiger definierter Tricks, Formeln und Clichés zur Ausschließlichkeit(203)[23]

Der blauäugige technologische Utopismus von Benjamins(384) Essay über das »Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« findet sein Gegenstück in Adornos(204) Essay über Jazz. Man könnte in obigem Zitat das Wort »Jazz« durch »Kino« ersetzen, dann würde es zu einem Resümee dessen, was Hollywood(7) mit Benjamins(385) Hoffnungen anstellte, die er hinsichtlich der Filmkunst hegte. Jazz war für Adorno(205) trotz seiner musikalischen Montagen, seiner Schockwirkung, seiner technischen Reproduzierbarkeit eine »Phantasmagorie von Modernität« und lieferte lediglich eine »gefälschte Freiheit«. Letztlich wurde das Kino, auf das Benjamin seine revolutionären Hoffnungen gesetzt hatte, zu dem, was Adorno(206) an seiner verzerrten Vorstellung von Jazz fälschlich kritisiert hatte.

Wenn Walter Benjamin(386) es über den Atlantik geschafft und sich der Frankfurter Schule und seinem Freund Brecht(55) im amerikanischen Exil angeschlossen hätte, dann wäre er wahrscheinlich von seinen revolutionären Hoffnungen in Bezug auf das Kino befreit worden. Vielleicht hätte er Amerika(11) mit der Begeisterung von Erich Fromm(70) wahrgenommen. Vielleicht wäre er(387) wie Marcuse(61) in den 1960er Jahren ein Held der Neuen Linken geworden. Vielleicht hätte er sich an Charlie Parker(2) und dem Bebop berauscht. Charlie Chaplin(5) hätte ihn in einer von Benjamin selbst verfassten Filmbiographie spielen können. Womöglich wäre er vor das Komitee für unamerikanische Umtriebe zitiert worden, hätte Richard Nixon(1) argumentativ in die Knie gezwungen und ein schönes Alter als emeritierter Professor in Harvard(1) genossen. Doch all die reizvollen amerikanischen Möglichkeiten, die wir uns für den bedeutendsten Kritiker der Frankfurter Schule ausmalen können, existieren lediglich in einer Erlösungsvision, in der das, was zertrümmert worden war, wieder zur Ganzheit gefunden hat. Tatsächlich aber blies ein Sturm durch Europa(20), und Benjamin(388) sollte eines der Millionen Opfer dieses Sturmes werden.