Am 13. März 1933 wurde über dem Frankfurter Rathaus die Hakenkreuzfahne gehisst. Am selben Tag schloss die Polizei das Institut für Sozialforschung. Lediglich zwei Jahre nach der Antrittsvorlesung Horkheimers(153), in welcher er die multidisziplinäre Ausrichtung der Arbeit im Institut dargelegt hatte, aus der sich die Kritische Theorie entwickeln sollte, wurden er und seine Institutskollegen ins Exil gezwungen. Die von Franz Roeckle(10) im Stil der Neuen Sachlichkeit entworfene Festung, vormals unter dem Namen »Café Marx(261)« bekannt, wurde erst in ein Bürogebäude der Staatspolizei umgewandelt und später in ein Universitätsgebäude für nationalsozialistische Studenten. 1944 wurde das Bauwerk von Bomben der Alliierten zerstört.[1] Fromms(71) Ergebnis seiner Forschungen über die deutsche Arbeiterklasse hatte sich bestätigt: Was den Widerstand gegen Hitler(22) betraf, war mit den deutschen Arbeitern nicht zu rechnen.
Warum hatte der Faschismus in Deutschland(56) triumphiert? An Theorien dazu gab es keinen Mangel, und tatsächlich sollte die Frage zu einer tiefen Spaltung der Frankfurter Schule führen, wie wir später sehen werden. Für Fromm(72) gab es zwei Schlüsselfaktoren: die ökonomische Rückständigkeit Deutschlands und Sadomasochismus. Fromm(73) machte diesbezüglich deutlich, dass beim Übergang Deutschlands vom frühen Kapitalismus zum Monopolkapitalismus der soziale Charakter der unteren Mittelschicht bestehen geblieben sei, seine ökonomische Funktion also überlebt habe. Diese Klasse, die für die frühere Form des Kapitalismus im 19. Jahrhundert bestimmend gewesen war und über die Marx(262) geschrieben hatte, sollte im Monopolkapitalismus wirtschaftlich und politisch machtlos, also überflüssig werden. In Deutschland(57) war das allerdings nicht passiert. Obwohl die Charakterzüge dieser Klasse – Sparsamkeit und Pflichtbewusstsein – mit modernen Formen kapitalistischer Produktion unvereinbar waren, überlebten sie in Deutschland(58) in erstaunlichem Umfang. Und diese deutschen Kleinbürger stellten sich dann als die eifrigsten Unterstützer Hitlers(23) heraus, weil, so Fromms(74) Formulierung, »der Wunsch nach Autorität auf den starken Führer gelenkt wird, wohingegen andere spezifische Vaterfiguren zu Objekten der Rebellion werden«.[2]
Dass die Unterstützer des Nationalsozialismus Sadomasochisten wären, die sich von autoritären Vaterfiguren den Verstand vernebeln ließen, war eine Auffassung, die viele Mitglieder der Frankfurter Schule teilten. Marcuse(62) hebt in seinem Essay »Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung« hervor, dass die Nazis durch die Fetischisierung von Blut und Boden, von Rassenreinheit, Heimat und Führer auf perfide, geniale Weise ihre sadomasochistischen Anhänger dazu drängten, Armut und Tod für ihr Land als ihre höchsten Pflichten bereitwillig anzunehmen. Marcuse(63) hatte sich aufgrund einer zweieinhalbstündigen Rede Hitlers(24) genötigt gefühlt, diesen Text zu verfassen. Hitler(25) hielt diese Rede vor einer Versammlung von Industriellen in Düsseldorf(1) im Jahr 1932. Marcuse(64) zeigt, dass die Rede exemplarisch den Eintritt des Monopolkapitalismus in eine neue Ära zum Ausdruck brachte, eine Ära, in der der totalitäre Staat und sein ideologischer Apparat den Kapitalismus gegen die Krisen verteidigen sollten, für die er anfällig gewesen war, nicht zuletzt während der deutschen Inflation der 1920er Jahre und nach dem Zusammenbruch der New York(5)er Börse im Jahr 1929 mit seinen globalen deflationären Auswirkungen.
Während seiner Rede vor 650 führenden Wirtschaftskräften im Ballsaal eines Hotels bemühte sich Hitler(26), sein Publikum davon zu überzeugen, dass die Nazis nicht, wie seine Zuhörer es befürchteten, sozialistisch und antikapitalistisch eingestellt seien. Er betonte, nur er allein könne die deutschen Wirtschaftsbetriebe gegen die Krise des Kapitalismus und gegen die sozialistische Bedrohung durch die Parteien der Arbeiterklasse verteidigen; nur er könne Deutschland(59) vom Joch der nach dem Ersten Weltkrieg verhängten Reparationszahlungen befreien, die es für die Deutschen unmöglich gemacht hatte, vom Erfolg ihrer einheimischen Industrie zu profitieren. Antisemitische Bemerkungen vermied er. Er führte weiterhin aus:
Die Arbeitskraft unseres Volkes, die Fähigkeiten sind vorhanden, niemand kann unseren Fleiß bestreiten. Die politischen Voraussetzungen aber müssen erst wieder gestaltet werden; ohne sie werden Fleiß und Fähigkeit, Arbeitsamkeit und Sparsamkeit am Ende doch vergeblich sein. Denn eine unterdrückte Nation wird selbst die Ergebnisse ihrer Sparsamkeit nicht dem eigenen Wohl zuführen können, sondern auf dem Altar der Erpressungen, der Tribute, zum Opfer bringen müssen.[3]
Hitler(27) fuhr mit seiner Charmeoffensive fort, indem er darlegte, dass die lärmenden Versammlungen und Aufmärsche der Nazis, die vielen Wirtschaftsbossen nachts den Schlaf geraubt hatten, mit der Art von Opfer zusammenhingen, die nötig war, um Deutschland(60) zu seiner früheren Größe zurückfinden zu lassen.
Aber vergessen Sie nicht, dass es Opfer sind, wenn heute viele Hunderttausende von SA- und SS-Männern der nationalsozialistischen Bewegung jeden Tag auf den Lastwagen steigen, Versammlungen schützen, Märsche machen müssen, Nacht um Nacht opfern, um beim Morgengrauen zurückzukommen – entweder wieder zur Werkstatt und in die Fabrik, oder aber als Arbeitslose die paar Stempelgroschen entgegenzunehmen; wenn sie, von dem wenigen, das sie besitzen sich außerdem noch ihre Uniform kaufen, ihr Hemd, ihre Abzeichen, ja wenn sie ihre Fahrten selbst bezahlen – glauben Sie mir, darin liegt schon die Kraft eines Ideals, eines großen Ideals![4]
Die Rede endete in lang anhaltenden Beifallsstürmen – Hitler(28) hatte viele der Anwesenden davon überzeugen können, dass er gut war fürs Geschäft.
In Hitlers(29) Worten kam die Art von Sadomasochismus zum Ausdruck, die nach Auffassung der Frankfurter Denker eng mit dem Nationalsozialismus zusammenhing – eine Perversion, die für das bessere Funktionieren des Kapitalismus eingespannt werden konnte. »Diese Ideologie«, so Marcuse(65), »stellt den Status quo aus, allerdings mit einer radikalen Umwertung der Werte: Unglück wird zur Gnade, Not zum Segen, Elend zu Schicksal.«[5] Es kam Hitler(30) entgegen, dass pflichtbewusste, lustfeindliche Nazis aufgrund ihrer Veranlagung gern bereit waren, vor dieser Umwertung niederzuknien.
Für Marcuse(66) war der Faschismus kein Bruch mit der Vergangenheit, sondern eine Fortsetzung von Tendenzen innerhalb des Liberalismus, die das kapitalistische Wirtschaftssystem unterstützten. So sah die orthodoxe Lehre der Frankfurter Schule aus: Der Faschismus bedeutete keine Abschaffung des Kapitalismus, sondern war vielmehr ein Mittel, sein Fortbestehen zu sichern. Horkheimer(154) schrieb einmal: »Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.«[6] Vielleicht musste man Deutscher sein, um dieses Postulat widerspruchslos zu akzeptieren. Was einige Leser der Schriften aus der Frankfurter Schule nachhaltig schockiert hat, war die offensichtliche Unbekümmertheit, mit der man darin den Faschismus Hitlers(31), den Kommunismus Stalins(6) und das Amerika(12) Roosevelts(1) miteinander verschmolz. Was die Mitglieder des Instituts für Sozialforschung 1933 allerdings an Hitler(32) und dem Faschismus persönlich am unmittelbarsten betraf, war nicht so sehr der Umstand, dass diese sich bei den Wirtschaftsbossen anbiederten, sondern dass sie das Leben für jüdische marxistische(263) Intellektuelle unmöglich machten. So erhielt etwa Adorno(207) eine unerfreuliche Lektion zum Thema Unmöglichkeit, in den 1930er Jahren ein jüdischer deutscher Intellektueller zu sein, als der Präsident der Reichskammer für Literatur, der Adorno(208) angehören musste, wenn er nichtarische Schüler unterrichten wollte, seinen Mitgliedsantrag 1933 mit der Begründung ablehnte, die Mitgliedschaft sei nur »zuverlässigen Volksgenossen« vorbehalten, »Personen, die dem deutschen Volk durch tiefe Verbundenheit der Art und des Blutes angehören. Durch Ihre Eigenschaft als Nicht-Arier sind Sie(209) außerstande, eine solche Verpflichtung zu empfinden und anzuerkennen.«[7]
Adornos(210) Wohnung wurde ebenso wie die Wohnungen von Horkheimer(155) und Pollock(20) von nationalsozialistischen Paramilitärs durchsucht. Adorno(211) befürchtete außerdem, dass man Spione auf ihn angesetzt hatte. Von Frankfurt(49) schrieb er am 9. September 1933 an seinen Freund Alban Berg(4), den großen Komponisten, seinen ehemaligen Lehrer, dass es ihm nicht möglich gewesen sei, im Semester zuvor die geplanten Vorlesungen an der Universität Frankfurt zu halten;[8] und er trug sich mit Sorge, es würde ihm auch in Zukunft verwehrt sein. Seine Ängste waren berechtigt: Drei Tage später, am 11. September, seinem(212) dreißigsten Geburtstag, entzogen ihm die Nazis die Lehrerlaubnis. Das Leben in Deutschland(61) wurde unmöglich, also war er ebenso wie seine Kollegen im Institut für Sozialforschung gezwungen zu gehen(213).
Es ist kaum möglich, den Schmerz überzubewerten, den diese Männer empfanden – nicht nur den Schmerz wegen des Exils, sondern das spezifische Leiden, aus der deutschen Intellektuellenkultur herausgerissen und in ein intellektuelles Milieu versetzt zu werden, in dem nur wenige Deutsch sprachen, ihr philosophisches Erbe teilten oder ihre Arbeit wertschätzten. Adorno(214) floh zuerst nach Oxford(2), wo er vier Jahre lebte, von 1934 bis 1938, und zwar als Student im höheren Semester am Merton College – eine Degradierung nach seiner Stelle als Dozent in Frankfurt(50). Und es gab noch schlimmere Kränkungen seines Selbstwertgefühls: Am Merton College war er gezwungen, mit den anderen Studierenden zu essen. Er schrieb, für ihn habe sich »der ›Angsttraum‹ verwirklicht, ›daß man wieder in die Schule muß, kurz das verlängerte dritte Reich‹«.[9] Hier komponierte er, er verfasste seinen brillanten Essay über Hitlers(33) Lieblingskomponisten, »Versuch über Wagner(4)«, sowie seine Kritik von Husserls(2) erkenntnistheoretischem System – ohne allerdings je eine Einladung zu einem Vortrag in einem der Intellektuellenklubs in Oxford zu erhalten.[10] Er(215) blieb während all dieser Jahre ein Außenseiter, dessen Arbeit nicht anerkannt wurde. A. J. Ayer(1), der britische Vertreter des Wiener logischen Positivismus in Oxford(3), also kein Sympathisant von Adornos dialektischem Denken, erinnert sich in seiner Biographie, dass niemand in Oxford ihn ernst nahm, er aber allgemein als Dandy galt.[11] Entwurzelt, einsam, verzweifelt darum bemüht, seine Philosophie in einer Sprache verständlich zu machen, die er nur wenig beherrschte, nahm Adorno(216) Zuflucht zu gelegentlichen Ausflügen zu Gretel(3) Karplus, die er 1937 heiraten sollte; und zu Walter Benjamin(389), der sich in Paris(31) niedergelassen hatte.
Möglicherweise fühlte Adorno(217) sich auch durch den Umstand bestätigt, dass der andere große jüdische, deutschsprachige Philosoph Ludwig Wittgenstein(4) die englische akademische Welt als unter seinem Niveau befand. 1929 klopfte Wittgenstein, nachdem er seine Dissertation, durch die er Fellow am Trinity College in Cambridge(1) wurde, vor Bertrand Russell(1) und G. E. Moore(1) verteidigt hatte, den beiden Prüfern auf die Schulter und sagte: »Machen Sie sich nichts draus – ich weiß, Sie werden es nie verstehen(5).«[12] Adorno(218) traf während seiner Jahre im englischen Exil nicht mit Wittgenstein zusammen. Das ist schade: Sie hätten vieles teilen können – ihre Empfindlichkeiten als negative Philosophen, ihren kulturellen Ikonoklasmus, ihren Pessimismus. Zieht man aber Wittgensteins Neigung zu Wutausbrüchen und Adornos(219) Reizbarkeit in Betracht, das Desinteresse des ersteren an der dialektischen Methode und die Verachtung des letzteren für das, was er als den Positivismus der englischen Philosophie ansah, dann wären die Ergebnisse einer Begegnung der beiden vielleicht gar nicht so ersprießlich gewesen. Wittgenstein wurde nachgesagt, während einer Zusammenkunft im Cambridge Moral Sciences Club Karl Popper(1) mit einem Schürhaken angegriffen zu haben;[13] was er(6) mit Adorno(220) getan hätte, überlassen wir der Phantasie unserer Leser.
Horkheimer(156) floh zunächst nach Genf(3). Unterstützt von Friedrich Pollock(21) hatte er – bereits kurz nachdem die ersten Nazis ihre Sitze im Reichstag eingenommen hatten – Vorbereitungen getroffen, Deutschland(62) zu verlassen. Zuerst transferierte er Vermögenswerte nach Holland(3), dann gründete er in Genf(4) ein Zweigbüro, die Société Internationale de Recherches Sociales, außerdem Forschungszentren in Paris(32), London(8) und New York(6). Horkheimer(157), Löwenthal(15), Fromm(75) und Marcuse(67) zogen 1933 nach Genf(5) um, um dort ihre Arbeit fortzusetzen. Aber es wurde schnell klar, dass das nur eine Übergangslösung sein konnte – lediglich Horkheimer(158) hatte eine unbegrenzte Aufenthaltsgenehmigung für die Schweiz(2), seine Kollegen mussten hingegen ihre Touristenvisa regelmäßig verlängern. Die Protagonisten der Frankfurter Schule erwogen Paris(33) oder London(9) als möglichen dauerhaften Standort, doch Horkheimer(159) war der Meinung, dass man in beiden Städten nicht vor dem Faschismus sicher wäre.
New York(7) machte als Zufluchtsort einen vielversprechenderen Eindruck. Während der Jahre 1933 und 1934 verhandelten Erich Fromm(76) und der amerikanischstämmige Soziologe Julian Gumperz(1), der in Deutschland(63) studiert hatte und Kollege von Pollock(22) und Horkheimer(160) geworden war, mit der Columbia University über die Möglichkeit, die aus Deutschland(64) vertriebenen Frankfurter Gelehrten in New York(8) anzusiedeln.[14] Der Präsident der Universität Nicholas Murray Butler(1) und die Soziologen Robert S. Lund und Robert MacIver(1) waren beeindruckt von den Forschungsprojekten des Instituts und erklärten sich einverstanden, Büros an der 429 West 117th Street, nicht weit entfernt vom Campus der Columbia University, zu vermieten. Horkheimer(161) und seine Kollegen bezogen das Gebäude gegen Ende 1934.
Aber öffnete damit nicht eine amerikanische Universität der roten Bedrohung Tür und Tor? Wurde die Columbia nicht dazu angestiftet, das Gebäude für eine neue Niederlassung der Kette »Café Marx(264)« zur Verfügung zu stellen? War das International Institute of Social Research (so der Name der Frankfurter Schule in New York(9)) nicht in Wahrheit der Deckmantel einer krypto-marxistischen(265) Organisation, die erfolgreich eine der führenden Universitäten des Landes infiltriert hatte, mit schändlichen, eigentlich kommunistischen Zwecken, während sie ihre wahre Identität verbarg, um politische Untersuchungen und – sehr wahrscheinlich – eine Ausweisung aus den USA zu vermeiden(13)? Alle diese Fragen können positiv beantworten werden, wenn man sich der Theorie des amerikanischen Soziologen Lewis Feuer(1) anschließt, der darauf hinwies, dass Horkheimer(162) und seine Kollegen nur zu gerne die bürgerliche Kultur und Gesellschaft kritisierten, allerdings verdächtig zurückhaltend waren, was stalinistische(20) Exzesse wie Liquidationen, Schauprozesse und Gulags betraf.[15] Vielleicht, so die Schlussfolgerung Feuers(2), sprach ihr Schweigen über Stalins(7) Sowjetunion(21) ja Bände – und die Frankfurter Gelehrten waren in Wahrheit eine Bande kommunistischer Infiltratoren.
Horkheimer(163) und Pollock(23) hatten allerdings wohl kaum dieselbe Genialität, was die Überlistung von Intellektuellen betraf, wie der Spionagechef der bolschewistischen Komintern Willi Münzenberg(1), der es auf linksgerichtete liberale Intellektuelle (wie etwa Ernest Hemingway(1), Lillian Hellman(1), André Malraux(1) und André Gide(1)) abgesehen hatte, sie für kommunistische Frontorganisationen einspannen wollte und versuchte, sie dazu zu bringen, diverse Fälle in der Sowjetunion(22) zu unterstützen.[16] Feuers(3) Hypothese, die Männer der Columbia University, die die Verhandlungen mit den Frankfurter Intellektuellen führten, seien nichts weiter als unwissende Werkzeuge gewesen, ist nicht plausibel. Die Schule, die sich damals noch in ihrer Entwicklungsphase befand, hatte keine Parteibindungen, noch weniger war sie mit der Sowjetunion(23) solidarisch. Ihre spezifische Ausprägung eines interdisziplinären Neomarxismus(266) war für den Kreml häretisch, und sollte die Entwicklung ihrer Kritischen Theorie ein ausgefeiltes Ablenkungsmanöver gewesen sein, dann muss man es als unwahrscheinlich bezeichnen, dass sie Fußsoldaten Stalins(8) waren.
Durchaus typisch für die Frankfurter Schule hingegen war eine langfristige Festlegung auf aesopische Sprache, also auf Worte oder Wendungen, die einem Außenstehenden eine harmlos klingende Bedeutung, dem Insider hingegen einen verborgenen Sinn vermitteln. Sehr wahrscheinlich war es dieser Hang, der Feuer(4) auf die Idee gebracht hatte, die Frankfurter Gelehrten seien eine Bande roter Gesellen, die die akademische Welt von New York(10) infiltriert hätten. 1923 hatten sich die Gründer der Schule beispielsweise von der Idee verabschiedet, ihr Institut als Institut für Marxismus(267) zu bezeichnen, weil der Name zu provokativ war, und sie wählten – der Terminus stammt von Martin Jay(4) – eine eher aesopische Alternative.[17] Während der 1930er Jahre fühlten sich viele Mitglieder des Instituts gedrängt, Pseudonyme zu verwenden, damit sie schreiben konnten, ohne die Aufmerksamkeit der Nazis auf sich zu ziehen, oder sich zumindest mit einer Bissigkeit ausdrücken konnten, die mit ihrem Status als Gelehrte unvereinbar war. So publizierte Horkheimer(164) als Heinrich Regius, Adorno(221) als Hektor Rottweiler und Benjamin(390) als Detlef Holz. Im amerikanischen Exil sorgte Horkheimer(165) dafür, dass die Gelehrten zu der Gesellschaft, in der sie lebten, Distanz wahrten. Die Entscheidung, in deutscher Sprache zu veröffentlichen, versagte der Schule einen größeren Einfluss in den ganz überwiegend ausschließlich englischsprachigen USA. Solche Entscheidungen verhinderten zwar mit Sicherheit die Integration der Frankfurter Intellektuellen in die amerikanische Gesellschaft, doch sicherten sie ihnen gleichzeitig die Art von intellektueller Unabhängigkeit, die sie ja seit Beginn angestrebt hatten – wozu zweifellos auch der Umstand beitrug, dass man ein unabhängiges Einkommen hatte (das allerdings durch Finanzspekulationen in den USA drastisch reduziert worden war).
Während des amerikanischen Exils achtete Horkheimer(166) außerdem akribisch darauf, dass das Veröffentlichungsorgan der Schule, die Zeitschrift für Sozialforschung, wo irgend möglich bei solchen Wörtern von Euphemismen Gebrauch machte, die als Beleg für ihre politischen Neigungen gelesen werden und zu unliebsamen politischen Reaktionen vonseiten der amerikanischen Gastgeber führen konnten.[18] Als die Zeitschrift beispielsweise Walter Benjamin(391)s Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« 1936 veröffentlichte, wurden die Schlusssätze abgeändert, die in ihrer ursprünglichen Form als Aufruf für kommunistisch gesinnte Künstler verstanden werden konnten, sich mit ihrem Werk dem Faschismus zu widersetzen. Benjamin hatte eigentlich geschrieben: »So steht es um die Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt. Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst.« In der 1936 publizierten Version hingegen wurden »der Faschismus« durch »die totalitäre Lehre« und »der Kommunismus« durch »die konstruktiven Kräfte der Menschheit(392)« ersetzt. So konnten sich selbst rechtsgerichtete Amerikaner, so sie denn des Deutschen, in dem Benjamins(393) Essay veröffentlicht wurde, mächtig waren, in der Sicherheit wiegen, dass er nicht die politische Rolle kommunistischer Kunst pries, sondern die Rolle jeglicher nichtfaschistischen Kunst.
Man könnte das als groteske Fehlinterpretation von Benjamins(394) Aussage lesen, und das war es sicher auch – allerdings eine Fehlinterpretation, die den pragmatischen Zweck hatte, den Denkern der Frankfurter Schule in den 1930er Jahren die Verfolgung durch amerikanische Antikommunisten zu ersparen. Ob dieser Pragmatismus gerechtfertigt war, ist eine andere Frage. Man befand sich noch nicht in der McCarthy(1)-Ära mit ihren Verfolgungsjagden auf verdächtige Kommunisten, aber Horkheimer(167) wollte keine Risiken eingehen. Sein pragmatischer Imperativ wurde umso wichtiger, als das Institut nach katastrophal verlaufenen Spekulationen am amerikanischen Aktien- und Immobilienmarkt in ernste finanzielle Schwierigkeiten geriet. Horkheimer(168) und seine Kollegen bemühten sich um Forschungsaufträge, mussten sich also als sachliche Wissenschaftler darstellen und durften nicht den Anschein erwecken, krypto-stalinistische(24) Handlanger zu sein.
Das Unbehagen dieser deutschen jüdischen Exilanten ist deutlich zu spüren. Bedenkt man, was sie in der Alten Welt gerade durchgemacht hatten, ist ihre Skepsis, was eine zu offenherzige Enthüllung ihrer Identitäten in der Neuen Welt anging, wohl nachvollziehbar. So fällt beispielsweise auf, dass Adorno(222), als er sich nach seinen vier in Oxford(4) verbrachten Jahren seinen Kollegen in New York(11) anschloss, auf Pollocks(24) Anregung hin »Wiesengrund(14)« aus seinem Namen tilgte, weil auf der Institutsliste bereits zu viele jüdisch klingende Namen standen. Wenn das jemandem lächerlich erscheinen sollte – immerhin waren die Vereinigten Staaten(16) ein Exilland für viele Juden, die andernfalls im nationalsozialistischen Deutschland(65) ermordet worden wären –, dann sei auf eine Bemerkung von Leo Löwenthal(16) verwiesen: Er erwähnte gegenüber Martin Jay(5), dass viele in der Frankfurter Schule die Deutschen für weniger antisemitisch hielten als die Amerikaner, deren Bekanntschaft sie während ihrer Exiljahre gemacht hatten.[19]
Man muss diese Bemerkung wohl mit Vorsicht genießen, denn wie auch immer die antisemitischen Erfahrungen ausgesehen haben mochten, die diese Exiljuden in den Vereinigten Staaten(17) machten, so gehörten dazu mit Sicherheit keine Hausdurchsuchungen durch paramilitärische Einheiten, abgelehnte Lehrbewilligungen und die ständige Bedrohung durch Vernichtungslager. Sie wurden in New York(12) vielmehr willkommen geheißen und erhielten die Möglichkeit, dort ganz nach eigenem Gutdünken zu denken, zu schreiben, zu publizieren und zu forschen. Als Adorno(223) erste Eindrücke seiner neuen Heimat festhielt, betonte er vor allem, wie vertraut alles zu sein schien. Nachdem er zusammen mit seiner Ehefrau Gretel(4) die Schiffsreise nach New York hinter sich gebracht hatte, schrieb er an Benjamin(395):
»Wie wir beide erwartet hatten, finden wir es nicht schwierig, uns an die Lebensbedingungen hier anzupassen. Es ist sérieusement viel europäischer hier als in London(10), und die 7th Avenue, in deren Nähe wir wohnen, erinnert so friedlich an den Boulevard Montparnasse, wie Greenwich Village, wo wir wohnen, an den Mont St. Geneviève.«[20] Zugegeben – er versuchte mit diesen Zeilen, Benjamin(396), den unheilbar Frankophilen, dazu zu überreden, nach New York(13) zu emigrieren, indem er die Ähnlichkeiten zur Umgebung des Pariser(34) 15. Arrondissements hervorhob, wo Benjamin damals lebte. Aber er ließ dadurch die Stadt auch entgegenkommender und weniger fremd erscheinen.
Man vergleiche Adornos(224) erste Eindrücke mit denen seiner Frau im selben Brief an Benjamin(397): »Für mich ist vielleicht das verblüffendste, daß keineswegs alles so neu und fortgeschritten ist, wie man eigentlich meinen sollte, im Gegenteil, überall der Kontrast zwischen Allermodernstem und Schäbigem. Sürrealistische Dinge braucht man hier nicht zu suchen, man fällt mit jedem Schritt über sie.«[21] Gretel Adorno(5) warf damit die stereotypische europäische Vorstellung von Amerika(18) als einem Land allgegenwärtiger Neuheiten über Bord, hielt jedoch an dem Gefühl seiner (nicht unbedingt unangenehmen) Fremdheit fest, das ihr Mann nicht fühlen konnte – oder wollte. Er(225) und faktisch der Rest der Frankfurter Schule passten sich nicht an Amerika an, sondern versuchten im Gegenteil, Amerika an sich anzupassen – und jene Aspekte der amerikanischen Lebensweise, die sie instinktiv ablehnten, behandelten sie, wie wir sehen werden, mit Verachtung und rücksichtsloser Ablehnung, fast als wollten sie sich gegen die Infektion durch eine niedrigere Lebensform immunisieren.
Doch konnte der europäische Ikonoklasmus der Frankfurter Schule in New York(14) natürlich nicht ohne Herausforderer bleiben. Nicht lange nachdem sich Horkheimer(169) und seine Kollegen auf dem Campus der Columbia University auf den Morningside Heights niedergelassen hatten, stellten sie fest, dass die Grundlagen der Kritischen Theorie von der Gruppe der sogenannten New York Intellectuals infrage gestellt wurden. Die Intellectuals setzten sich von zwei Glaubensartikeln der Frankfurter Schule ab: zum einen, dass die dialektische Methode ein entscheidender Bestandteil im Begriffswerkzeugkasten des angehenden Marxisten(268) war; und zum anderen dass diejenigen, die nicht hinlänglich dialektisch dachten, dazu verdammt waren, den Status quo zu stützen. Bei zwei hitzigen Begegnungen in den Jahren 1936 und 1937 sahen sich Horkheimer(170) und seine Kollegen mit einer zweiten Gruppe von (weitgehend) jüdischen und / oder marxistischen(269) Denkern konfrontiert, die überzeugt waren, dass die dialektische Methode nur wenig erkläre und dass die hegel(38)sche Unterscheidung zwischen Vernunft und Verstand eine metaphysische Nebelkerze sei.[22] Der führende Kopf der New York(15) Intellectuals war Sidney Hook(1), ein extrem streitlustiger Mann, häretischer Marxist und Anhänger des amerikanischen Pragmatismus – er trug den Spitznamen »John Dewey(1)s Pitbull«. In seiner Begleitung befanden sich der trotzkistische(2) Kunsthistoriker Meyer Schapiro(1) und zwei Männer, die zumindest intellektuell vieles von dem repräsentierten, was die Denker der Frankfurter Schule verachteten: Ernest Nagel(1) und Otto Neurath(1), zwei Vertreter des logischen Positivismus.
Vor allem Neurath(2) ist bemerkenswert, da er sowohl aufgrund der mathematischen Grundverfassung seiner Philosophie als auch wegen der engagierten Übertragung seines logischen Denkens auf Probleme der Wirklichkeit einen eklatanten Gegensatz zum häufig rein spekulativen Lehnstuhlphilosophieren der Frankfurter Schule darstellte. Er war ein im Exil lebendes Mitglied des Wiener Kreises logischer Positivisten, außerdem Wirtschaftswissenschaftler und Soziologe. Vor seinem frühzeitigen Tod 1945 im Alter von 63 Jahren gründete Neurath(3) in Oxford(5) das Isotype Institute, das sich der von ihm entwickelten Methode widmete, quantitative Informationen symbolisch darzustellen, die er später anwenden sollte, als er in den englischen West Midlands an der Niederreißung von Slums und der Neugestaltung einer modernen Siedlung für die Empfänger niedriger Einkommen beratend mitwirkte. Es war einer der seltenen Augenblicke, in denen – mit allem Respekt vor der Philosophie – die Fähigkeiten eines Logikers dazu beitrugen, die Lebensbedingungen derjenigen zu verbessern, die unter dem Kapitalismus zu leiden hatten. Wenn Neuraths(4) Isotype Institute in Aktion umgesetzter Verstand war, dann war es wohl durchaus geeignet, als Gegenargument zu Horkheimers(171) und Marcuses(68) Insistieren auf der These angeführt zu werden, die formale Logik sei ein Werkzeug der Unterdrückung.
Am bemerkenswertesten an den Treffen der beiden Schulen war jedoch nicht so sehr der Konflikt zwischen Frankfurt(51) und Wien(8), zwischen dialektischer Methode und logischem Positivismus, sondern der Zusammenstoß zweier marxistischer(270) Häresien – beide Schulen wurden von der internationalen Komintern als Perversionen der wahren Lehre abgetan. Horkheimer(172) und Hook(2) waren vielleicht Marxisten(271), aber keine Marxisten im Sinne Stalins(9).
Hook(3) war eine faszinierende Person. Er hatte in den 1920er Jahren bei Karl Korsch(10) in Berlin(62) und am Marx(272)-Engels(10)-Institut in Moskau(25) studiert, jedoch seine politische Grundhaltung nach der Erfahrung von Stalin(10), dem Kalten Krieg und Vietnam(1) so gründlich geändert, dass er im Jahr 1985 zu der Ehre kam, die Presidential Medal of Freedom von Präsident Ronald Reagan(1) entgegenzunehmen. Mitte der 1930er Jahre hatte sich Hook(4) mit der Komintern überworfen und während seiner Studien bei dem bedeutenden amerikanischen Philosophen John Dewey(2) an der Columbia eine intellektuelle Synthese von Marxismus(273) und Pragmatismus formuliert. Diese Synthese wurde durch dieselben Motive angestoßen, die Horkheimer(173) veranlasst hatten, den Marxismus(274) umzugestalten und eine interdisziplinäre kritische Theorie zu entwickeln: Die Revolution hatte nicht stattgefunden, und es war dringend geboten, herauszufinden, woran das gelegen hatte. Sowohl die Frankfurter Denker als auch die New York(16) Intellectuals unter Führung von Hook(5) setzten sich vom orthodoxen marxistischen(275) Glauben an einen historischen Determinismus ab. Hook war der Auffassung, der Pragmatismus ermögliche einen intellektuell respektablen Marxismus(276), der auf Determinismus verzichten konnte und besser zu amerikanischen Befindlichkeiten passte.
Ned Rescher(1) bezeichnet im Oxford(6) Companion to Philosophy die Leitvorstellung des Pragmatismus als »die Wirksamkeit in der praktischen Anwendung – ›Das, was in der Praxis am effektivsten funktioniert‹ –, die in gewisser Weise einen Standard liefert für die Ermittlung von Wahrheit im Fall von Aussagen, Richtigkeit im Fall von Handlungen und Wert im Zusammenhang von Beurteilungen«.[23] Die Wertfreiheit, die die Protagonisten der Frankfurter Schule dem Positivismus und dem Empirismus vorwarfen, eignet dem Pragmatismus nicht – diese Tatsache räumt Marcuse(69) in seiner 1941 erschienenen Besprechung von Deweys(3) Theory of Valuation ein.[24] Wert geht vielmehr einher mit dem Insistieren des Pragmatismus auf Wirksamkeit in der praktischen Anwendung. Als Philosophie hat der Pragmatismus in den Vereinigten Staaten(19) eine lange Tradition, und die Hypothese ist verführerisch, dass seine praktische Ausrichtung ihn für angehende Amerikaner reizvoll gemacht habe, was ganz sicher dann zutraf, wenn die Alternative die sprichwörtliche Abstrusität des deutschen Idealismus war.
Leider lagen die Dinge nicht ganz so einfach. Tatsächlich gründete der von Dewey(4) entwickelte Pragmatismus auf Elementen aus dem deutschen Idealismus, vor allem von Hegel(39). Dewey(5) fühlte sich von Hegels Vorstellung eines aktiven Geistes angesprochen, der fähig ist, eine Wirklichkeit zu gestalten – eine Vorstellung, die amerikanische Transzendentalisten im 19. Jahrhundert beeinflusst hatte. Wie wir oben gesehen haben, war die hegelsche Vorstellung der Selbstverwirklichung, die Marx(277) in materielle Begriffe umformuliert hatte, sodass für ihn Freisein bedeutete, die eigene Identität durch nicht ausbeuterische Arbeit zu verwirklichen, in der Frankfurter Schule umstritten. Dewey(6) jedoch griff dieses hegel(40)sche Erbe auf und wendete es pragmatisch auf die Wissenschaft an: Wissenschaft wurde als Werkzeug angesehen, das den Menschen helfen konnte, ihr Potential zu realisieren und so Utopien zu schaffen. Obwohl Dewey(7) kein Marxist war (Hook(6) bezeichnete ihn in seiner Autobiographie als einen »aufrichtigen Liberalen«), war diese pragmatische Färbung der Frage, wofür Wissenschaft eingesetzt werden konnte, für Hook attraktiv. Es passte zu seiner Sicht von Marx(278) als einem Wissenschaftsaktivisten und ließ ihn gegenüber dem hegelianisierten(41) Marxismus(279) der Frankfurter Schule skeptisch werden. Er(7) argwöhnte, dass damit die deutsche Philosophie letztendlich zu Konservatismus, Autoritarismus und Obskurantismus zurückkehren würde, und meinte, der von ihm entwickelte pragmatische Marxismus(280) wäre gegen dergleichen elitäre Fallgruben gefeit. Thomas Wheatland(3) führt in The Frankfurt School in Exile aus, dass sowohl Hook(8) als auch Dewey(8) von den egalitären Ideen des bedeutendsten pragmatischen Philosophen Charles Sanders Peirce(1) beeinflusst gewesen seien, der Wissenschaft und Philosophie für einen erfrischenden demokratischen Luftzug öffnete. Wheatland(4) schreibt über Peirces(2) Vision intellektueller Bemühungen: »Jede Person, ebenso wie jeder Wissenschaftler, war dazu in der Lage, neue und kreative Ideen über die Welt zu generieren, die entsprechend praktischer Erfahrung geprüft und ausgewertet werden konnten. Wissen und Verstand konnten sodann weiterentwickelt werden, wenn die Entdeckungen von der Wissenschaftsgemeinde geteilt wurden und sich ein Konsens abzuzeichnen begann.«[25] Hook(9) war der Meinung, der Marxismus(281) könne durch eine ähnliche pragmatische Wende wiederbelebt werden – ein frei gefundener Konsens könne kollektives, demokratisch geprägtes Handeln in Gang setzen. Diese pragmatistische Vision ungezwungenen, konsensorientierten, demokratischen, kollektiven Handelns beeindruckte Horkheimer(174) oder auch die übrigen Mitglieder der ersten Generation der Frankfurter Schule nur wenig; allerdings inspirierte sie dann später die zweite Generation, vor allem Jürgen Habermas(11), der sich, als er die Theorie des kommunikativen Handelns entwickelte, in beträchtlichem Ausmaß auf die Schriften der amerikanischen Pragmatisten stützte, vor allem auf George Herbert Meads Ideen(1).
Dieses Verständnis von Wissenschaft nicht als Werkzeug der Unterdrückung, sondern vielmehr als Werkzeug der Befreiung, stieß bei Horkheimer(175) und den übrigen Denkern der Frankfurter Schule nicht auf Zustimmung. Ihrer Meinung nach war Hooks Auffassung(10) nicht ausreichend dialektisch. Hook antwortete auf die Vorwürfe, indem er Horkheimer(176) und Marcuse(70) die sarkastische Frage stellte, welche Lehren denn eigentlich dialektisch wahr, aber wissenschaftlich falsch, oder wissenschaftlich wahr, aber dialektisch falsch seien. Für Hook(11) ließ sich die pessimistische Wissenschaftsauffassung der Frankfurter Schule nicht rechtfertigen. Wir wissen nicht, wie die Frankfurter Gelehrten auf Hooks schnöde Herausforderung reagierten, was wir allerdings durchaus wissen, ist: Auch nach diesen Diskussionen mit den New York(17) Intellectuals hielt Horkheimer(177) an seinem Hass auf den Pragmatismus fest. Er verstand Pragmatismus als eine Spielart des Positivismus, der wie der Empirismus den Kapitalismus eher begünstigte, statt diesen zu kritisieren, wie es die an Hegel(42) orientierten Vertreter der Kritischen Theorie taten, an deren Entwicklung er selbst arbeitete. In einem Brief an Pollock(25) aus dem Jahr 1943 schrieb er(178): »Pragmatismus und Empirismus und das Fehlen von Philosophie im eigentlichen Sinn sind mit die wichtigsten Gründe für die Krise, in der sich die Zivilisation selbst dann befände, wenn es nicht zu einem Krieg gekommen wäre.«[26] Er(179) war der Meinung, Amerika(20) kranke an einem Mangel kritischen Denkens – daran, dass ihm ein dialektisches philosophisches Erbe fehle.
Hook(12) blieb seinerseits bei seiner Auffassung, dass die Frankfurter Schule an ihrer Festlegung auf fruchtloses dialektisches Denken kranke, das zu keinen praktischen Ergebnissen führe.
Adorno(226) nahm an diesen aufgeladenen Diskussionen zwischen den übrigen Denkern der Frankfurter Schule und den New York(18) Intellectuals nicht teil. Er lebte damals noch in Oxford(7) und traf erst 1938 in New York ein. Nach seiner Ankunft kam es im Zusammenhang mit seiner ersten Arbeit für das Institut zu einem Zusammenstoß mit der neuen Welt, der noch heftiger verlief als der Streit, den Horkheimer(180) mit John Dewey(9)s Pitbull ausgetragen hatte. Es war eine Konfrontation, die Adornos(227) alteuropäischen Ikonoklasmus und seine Skepsis gegenüber der amerikanischen Massenkultur noch vertiefte und zu vielen der vernichtend kritischen Punkte jenes Phänomens führte, das er und Horkheimer(181) später in der Dialektik der Aufklärung als Kulturindustrie bezeichnen sollten.
Seine erste Arbeit in Amerika(21) nahm Adorno(228) 1938 auf, als er sich dem Princeton Radio Research Project anschloss. Im Rahmen des Projekts sollten die Auswirkungen neuer Formen der Massenmedien auf die amerikanische Gesellschaft untersucht werden. Subventioniert wurde es durch Mittel, welche die Rockefeller Foundation der Princeton University zur Verfügung stellte. Die Leitung hatte der exilierte Wiener Soziologe Paul Lazarsfeld(1), der Jahre zuvor im Zusammenhang mit seinen Studien über Autorität und Familie als wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Frankfurter Schule gearbeitet hatte.[27] Bevor Adorno(229) in das Projekt eingebunden wurde, hatten Lazarsfelds(2) Mitarbeiter die sozialen Auswirkungen von Orson Welles(1)’ berüchtigter Radiobearbeitung von H. G. Wells(1)’ Krieg der Welten untersucht, die an Halloween 1938 vom CBS-Radio für sechs Millionen Hörer ausgestrahlt worden war. Viele fassten die Sendung als Tatsachenbericht über eine zum Ausstrahlungszeitpunkt wirklich stattfindende Invasion vom Mars auf, und – so die Legende – es breitete sich eine USA-weite Panik aus. Welles(2)’ Sendung wird häufig als Beispiel für die Macht der neuen Massenmedien und die Leichtgläubigkeit der Öffentlichkeit angeführt, sie zeigt aber auch, dass angeblich passive Konsumenten der Massenmedien deren Botschaften nicht richtig entschlüsseln. Der Untersuchung von Lazarsfelds Forschern, Invasion from Mars: A Study in the Psychology of Panic, zufolge hatte ein Viertel der Hörer, die die Sendung verfolgten, nicht realisiert, dass sie einem Hörspiel lauschten (obwohl die Hörer vor Beginn der Sendung darüber informiert wurden, dass es sich um eine Adaption des wells(2)schen Romans handelte), und von diesen gab wiederum eine Mehrheit an, sie hätten nicht geglaubt, dass es sich um eine Marsinvasion handle, sondern um einen Angriff Deutschlands – ein Irrtum, der sich möglicherweise dadurch erklärte, dass Hitler(34) im Monat davor Teile der Tschechoslowakei(1) annektiert hatte.[28]
Adorno(230), den man für einen originellen Denker mit nützlichem musikwissenschaftlichem Sachwissen hielt, wurde von Lazarsfeld(3) als musikalischer Leiter des Projekts angestellt. Nachdem Adorno(231) dann jedoch in dem umgewidmeten Brauereigebäude in Newark(1), New Jersey, in dem das Projekt sein Hauptquartier hatte, die Arbeit aufgenommen hatte, fand er sich in einer fremdartigen intellektuellen Umgebung, zu der empirische Forschung, mit der er nie zuvor zu tun gehabt hatte, ebenso gehörte wie der Einsatz eines analytischen Rahmenkonzepts, dem er misstraute. Er bezweifelte, dass man durch das Messen der Vorlieben und Abneigungen der Zuhörer ermitteln konnte, warum sie bestimmte Sendungen hörten. An Lazarsfeld(4) schrieb er:
Sie können möglicher Weise prozentual darstellen, wieviele Hörer die vorklassische, wieviele die klassische, wieviele die romantische und wieviele die veristische Oper lieben usw. Wollen Sie aber Begründungen, die die einzelnen für ihre Vorliebe geben, mit aufnehmen, so wäre wahrscheinlich eine Quantifizierung überhaupt nicht mehr möglich, d. h., diese Begründungen würden so sehr auseinander weisen, daß man kaum zwei unter den selben Nenner bringen kann, daß also statistische Kategorien sich wahrscheinlich überhaupt nicht bilden ließen(232).[29]
Besonders aufgebracht war er(233) über den sogenannten program analyser, ein Gerät, das Lazarsfeld(5) zusammen mit dem Psychologen Frank Stanton(1) entwickelt hatte. Es handelte sich dabei um eine Art Vorläufer des Nielsen-Audiometers, den die Fernseh- und Radioanstalten später einsetzen sollten. Die Hörer, die im Rahmen des Projekts befragt wurden, sollten ihre Vorlieben und Abneigungen durch Knopfdruck registrieren. Adorno(234) erinnerte sich: »so besann ich demgegenüber mich darauf, daß Kultur eben jener Zustand sei, der eine Mentalität ausschließt, die ihn messen möchte.«[30] Man kann nur froh sein, so werden Sie jetzt vielleicht denken, dass er es nicht mehr erlebt hat, wie Facebook-Nutzer dazu gedrängt werden, Dinge zu liken – seien es nun Kuchenrezepte oder Beethovens(7) Symphonien –, also alles nach derselben Skala zu beurteilen.
Adornos(235) Distanz zu dem Projekt stammte teilweise aus seinem Beharren auf interpretativen Fragen, die außerhalb des Aufgabengebiets der empirischen Studie lagen. Außerdem sträubte er sich gegen soziologische Arbeit, die für kommerzielle Zwecke genutzt wurde, in diesem Fall, um Daten zu sammeln, die den Programmmachern eine Antwort auf die Frage lieferten, mit welcher Art von Sendungen sich die Hörerzahlen erhöhen ließen. Diese Art kapitalistischen Denkens widerstrebte Adorno in seiner(236) marxistisch(282) grundierten Sensibilität. Stattdessen verfasste er vier Aufsätze für das Projekt, die seine Distanz zu Lazarsfelds(6) Verständnis von Sozialforschung und zu der Art und Weise unterstreichen, wie die Soziologie als Magd des Business eingespannt wurde. In seinem langen Essay »Musik im Radio« beispielsweise entwickelt er ein Konzept, das er als Fetischisierung in der Musik bezeichnet. Er schreibt: »Unter musikalischer Fetischisierung verstehen wir, daß es anstelle einer direkten Beziehung zwischen dem Hörer und der Musik selbst lediglich eine Beziehung zwischen dem Hörer und irgendeinem sozialen oder ökonomischen Wert gibt, der entweder der Musik oder den Interpreten zugelegt wurde.(237)«[31] Kurz: Musik war zu einer Ware geworden und / oder zu einem Mittel, zum Kauf anderer Waren zu animieren.
Als Lazarsfeld(7) diesen 160 Seiten umfassenden Text las, versah er ihn wütend mit Randbemerkungen wie »idiotisch«, »man weiß nie, wovon er eigentlich redet«, und – in Worten, denen Sidney Hook(13) sicher zugestimmt hätte – »Dialektik als Vorwand, sich diszipliniertem Denken entziehen zu dürfen«. Lazarsfeld(8) schrieb auch direkt an Adorno(238) und formulierte seine vernichtende Kritik an dessen Essay: »Sie gefallen sich darin, andere zu kritisieren, weil Sie Neurotiker oder Fetischist sind, aber es fällt Ihnen nicht auf, wieviel Vorschub Sie Ihrerseits solchen Angriffen leisten … Sehen Sie denn nicht, dass die Art, in der Sie lateinische Wörter über den gesamten Text verstreuen, der perfekte Fetischismus ist?«[32]
Adorno(239) verfasste trotzdem auch weiterhin Texte für Lazarsfelds(9) Projekt, in denen er seine Vorstellungen von Musik als Fetisch und über das Anhören von Radiomusik als Pseudoaktivität entwickelte, bevor er dem Projekt dann 1941 den Rücken kehrte. Er sah im amerikanischen kommerziellen Rundfunkwesen eine Parallele zu dem totalitären Rundfunk, den er im nationalsozialistischen Deutschland(66) erlebt hatte, der, so seine Beobachtung, die Aufgabe habe, »gute Unterhaltung und Zerstreuung« zu liefern, um die Massen zu kontrollieren. Er kam zu dem Schluss, dass die Funktion des amerikanischen kommerziellen Rundfunks darin bestand, die Hörer von der politischen Realität abzulenken, indem sie zu passiven Konsumenten gemacht wurden, die wählten, was ihnen vorgesetzt wurde.
In seinem 1939 entstandenen Essay »Plugging Study« beispielsweise weist Adorno(240) darauf hin, dass Musik in Jingles und standardisierten Hitparadenmelodien genutzt wurde, um eine emotionale Reaktion bei dem von ihm so bezeichneten »Opfer« hervorzurufen. »Der Hund kommt angerannt, wenn er hört, dass Futter in den Napf geschüttet wird.« Solche Musik war eigentlich gar keine Musik mehr, sondern ein formalisiertes Klangsystem, das mittels Steigerungen und Wiederholungen einen bestimmten, gewünschten Effekt bei den Hörern erzielte. Diese vernichtende Kritik richtete sich nicht nur gegen die Art, wie Popmusik komponiert wurde, sondern auch dagegen, wie Musik dafür eingesetzt wurde, Produkte zu verkaufen. »Wenn eine Formel sich als erfolgreich erwies, dann wurde dasselbe Muster von der Industrie wieder und wieder durchgenudelt. Das führte zu einer Musik, die als eine Art gesellschaftlicher Zement durch Zerstreuung eingesetzt wurde, Wunscherfüllung verdrängte und Passivität verstärkte.«[33] Hier erwies sich Adorno(241) als Prophet: Er erkannte früh die Entwicklungen, die sich im 20. und später im 21. Jahrhundert im Fernsehen, in der Filmindustrie, im Boulevardtheater, in der Buchbranche und im Internet breitmachten, wo die endlose Wiederholung erfolgreicher Formeln – man denke nur an Film- oder Fernsehserien oder an Händlerempfehlungen im Internet, die auf vorangegangenen Verbrauchsmustern aufbauen – uns in einer Art Sisyphushölle gefangen hält, in der wir Kulturprodukte kaufen und konsumieren, die sich nur minimal voneinander unterscheiden.
Laut seinem Biograph Stefan Müller-Doohm(2) war Adorno(242) gegen Ende seiner Mitarbeit an dem Projekt zu der Überzeugung gelangt, die stereotypischen Produktionsmechanismen der Populärkultur würden die Erwartungen der Konsumenten in einem Ausmaß prägen, dass die Profite für Aktionäre optimiert würden. Es gab eine von ihm sogenannte prästabilierte Harmonie zwischen der Kulturindustrie und ihren Hörern, dergestalt, dass letztere nach dem verlangten, was ihnen geboten wurde. Diese prästabilierte Harmonie trug zwar zum effektiveren Funktionieren des Kapitalismus bei, doch wurde das damit bezahlt, dass dessen »Opfer« – so Adornos(243) Bezeichnung – in eine erniedrigende Abhängigkeit von Waren eingeschlossen waren, wobei sie Dinge konsumierten, die sie nicht brauchten, und passiv, dumm und – ein gravierender Vorwurf für einen deutschen Komponisten – zunehmend unfähig wurden, Musik zu hören, die diesen Namen verdiente.[34]
So also sah Adornos(244) erstes Gastgeschenk für seine amerikanischen Gastgeber aus – ein vernichtender Angriff auf kapitalistische Werte und auf die kommerzialisierte, an Kundenwünschen ausgerichtete Kultur, die er in der neuen Welt, in der er lebte, als dominierend empfand. Noch empörender war jedoch sein Hinweis, dass die USA im Hinblick auf die Mechanismen, die sie anwandten, um die Massen zu kontrollieren, dem Deutschland(67) nicht unähnlich waren, aus dem er geflohen war, um genau diesen Mechanismen zu entkommen. Die Vorstellung, dass es eine Parallele zwischen den Massenmedien des roosevelt(2)schen Amerika und Hitlers(35) Deutschland(68) gab, wirkte damals – und wirkt vielleicht auch heute noch – skandalös, allerdings sollten die Mitglieder der Frankfurter Schule während ihrer Jahre im amerikanischen Exil an dieser Überzeugung festhalten, ja sie vertiefte sich mit zunehmenden Erfahrungen mit der Neuen Welt sogar noch.