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Die Strasse nach Port Bou(2)

»Ihr meine Lieben«, schrieb Adorno(245) an seine Eltern am 13. Januar 1940, »zu unserer größten Freude rief uns Leo Frenkel(1) gestern Abend noch an und teilte uns Eure glückliche Landung – und Einwanderung! – mit. Seid aufs herzlichste auf diesem zwar häßlichen, von Drugstores, Hot dogs und Autos bewohnten, aber im Augenblick noch einigermaßen sicheren Boden willkommen!«[1]

Maria(5) und Oscar(15) waren in den Vereinigten Staaten(24) eingetroffen, nachdem sie zunächst mit dem Schiff von Hamburg(2) nach Kuba(1) gefahren waren. Damals hielt sich ihr Sohn in New York(19) auf, er hatte die Aufgabe, Horkheimer(182) zu vertreten, während der Institutsleiter an der Westküste unterwegs war und ein Projekt zur Psychologie und Typologie des damaligen Antisemitismus plante. Bedenkt man, was Adornos(246) Eltern(16)(6) widerfahren war, hatte das Projekt durchaus einen persönlichen Beiklang. Seit 1938 hatten die Nazis ihre Politik verschärft, Juden zur Emigration zu zwingen, und am 9. und 10. November dieses Jahres hatten sie die Reichskristallnacht lanciert, während der jüdische Wohnhäuser, Krankenhäuser, Synagogen und Schulen zerstört wurden; Hunderte Juden wurden getötet, Zehntausende festgenommen, um in Konzentrationslager deportiert zu werden. Dieser Aufstand von Nazigewalt gegen Juden mündete nur wenig später in die sogenannte Endlösung. In Frankfurt(52) wurde Adornos fast siebzigjähriger Vater(17) während der Durchsuchung seines Büros verletzt. Er und Maria(7) wurden festgenommen und verbrachten mehrere Wochen im Gefängnis, und es wurde ihm(18) das Recht entzogen, über sein Eigentum zu verfügen. Aufgrund der physischen und emotionalen Nachwirkungen der Übergriffe erkrankte Oscar(19) an einer Lungenentzündung, sodass das Paar die Ausreiseerlaubnis nach Havanna(1) nicht sofort nutzen konnte, und als sie dort eintrafen, mussten sie mehrere Monate warten, bevor sie in die USA einreisen konnten.

Während des gesamten Verlaufs dieser fürchterlichen Zeiten erhielt Adorno(247) einen entzückend infantilen Briefwechsel mit seinen Eltern(20) aufrecht, häufig unterzeichnete er als »Euer altes Kind Teddie«, bevor er dann wahrscheinlich zu seiner Arbeit über den Fetischcharakter der Musik und die Studie zum Antisemitismus zurückkehrte. Eine Postkarte an seine Mutter(8) begann er mit den Worten: »Meine liebe treue Wundernilstute … möchtest Du mit dem gleichen Behagen, der gleichen Sicherheit und der gleichen sturen Überlegenheit fürder dahinleben wie die umseitige Nilstute.«[2] Auf der Rückseite war eine Fotografie von Rosa zu sehen, dem Nilpferd des New York(20)er Zoos. Er und seine Frau Gretel(6) pflegten ihre Briefe an seine Eltern(21) mit den Worten zu schließen: »Herzlichste Küsse von Euren beiden Pferden Hottilein und Rossilein« oder »Herzlichste Küsse von Eurem alten Nilpferdkönig und seiner lieben Giraffe Gazelle.« Besonders in Adornos(248) Briefen freut man sich, auf dergleichen sentimentale Zärtlichkeiten zu stoßen – nicht nur, weil sie ein erfrischender Gegensatz zur üblichen Schroffheit seiner Texte sind, sondern auch weil sie auf echte Zuneigung schließen lassen. Sie bilden nicht, was man vielleicht eher erwartet hätte, die verzweifelt gutgelaunte Maske eines Mannes ab, der zusehen muss, wie sich hinter seinen Eltern(22) der Abgrund öffnet, während sie zu ihm unterwegs sind. »Mir scheint«, so Adorno(249) an Horkheimer(183), dessen Eltern Moritz(5) und Babette(1) sich ähnlich abplagen mussten, um aus dem antisemitischen Deutschland(69) zu entkommen, »als sei all das Leiden, von dem wir bislang gewöhnt waren, es im Zusammenhang mit dem Proletariat zu sehen, nun in entsetzlich konzentrierter Form auf die Juden übertragen worden.«[3] Dies war also ein entscheidender Augenblick für die Kritische Theorie – das Leiden des Proletariats, das angeblich die Gründung des Instituts für Sozialforschung motiviert hatte, wurde aus dem Interessenfokus der Frankfurter Gelehrten verdrängt. Tatsächlich kommt in der Dialektik der Aufklärung von Adorno(250) und Horkheimer(184) das Proletariat kaum vor. 1947 fügten sie diesem Text, in dem sie der Frage nachgehen, »warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt«, das letzte Kapitel über Antisemitismus hinzu.[4]

Die geglückte Ankunft von Oscar(23) und Maria(9) in den Vereinigten Staaten(26) war ein Trost für Adorno(251), vor allem weil die Lage deutscher Flüchtlinge nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs im September 1939 noch schwieriger wurde. In Frankreich(7) wurden beispielsweise deutschsprachige Emigranten, die in Paris(35) lebten, zusammengetrieben und im Fußballstadion Yves du Manoir in Colombes interniert. Unter ihnen befand sich auch Walter Benjamin(398), der seit seiner Flucht aus Berlin(63) im Jahr 1933 in materiell prekärer Situation in der französischen Hauptstadt lebte. Er war nicht deutsch genug, um in Deutschland(70) leben zu können (die Nazis hatten den deutschen Juden ihre Staatsbürgerschaft aberkannt), aber doch noch deutsch genug, um von den Franzosen drei Monate lang in einem Gefangenenlager in der Nähe von Nevers(1) im Burgund eingesperrt zu werden.

Nach seiner Rückkehr in seine Wohnung in der Rue Dombasle 10 verfasste Benjamin(399) den Text, der sein letzter werden sollte: »Über den Begriff der Geschichte«, in dem es unter anderem heißt: »Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der ›Ausnahmezustand‹, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands vor Augen stehen; und dadurch wird unsere Position im Kampf gegen den Faschismus sich verbessern(400)[5]

Am 13. Juni 1940, dem letzten Tag, bevor die Deutschen in Paris(36) einrückten, flohen er und seine Schwester Dora(8), die gerade erst aus einem Internierungslager freigekommen war, nach Lourdes(1) in den unbesetzten Teil Frankreichs(8).[6] Benjamin(401) hatte aus seiner Wohnung die meisten wichtigen Texte mitgenommen – darunter auch die Version von »Berliner(64) Kindheit um Neunzehnhundert« aus dem Jahr 1938, eine Version von »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« und seine Abschrift von »Über den Begriff der Geschichte« – und gab sie Georges Bataille(1) zur Verwahrung, dem Schriftsteller und Bibliothekar in der Bibliothèque Nationale. Alles, was sich sonst noch in seiner Wohnung befand, wurde von der Gestapo konfisziert, die den Auftrag hatte, ihn zu verhaften.

Zweifellos war er in großer Gefahr. Wenige Tage zuvor war die Französische Republik aufgelöst worden, und aufgrund des anschließenden Waffenstillstands zwischen dem Dritten Reich und dem Vichy-Regime des Kollaborateurs Marschall Pétain(1) riskierten Flüchtlinge aus Hitlerdeutschland, nach Deutschland(71) zurückverfrachtet zu werden. Die Vereinigten Staaten(27) hatten durch ihre Konsulate im unbesetzten Frankreich(9) einige Notfallvisa ausgegeben, um politische Gegner der Nazis zu retten – eine Kategorie von Flüchtlingen, die ein besonderes Risiko eingingen, wenn sie in ihre Heimat zurückkehrten. Benjamins(402) Gefährtin, die deutsch-jüdische Intellektuelle Hannah Arendt(16), die damals ebenfalls auf der Flucht vor den Nazis und ihren französischen Erfüllungsgehilfen war, sollte später schreiben, dass diese Kategorie von Flüchtlingen »nie die Masse der unpolitischen Juden mit einschloss, die, wie sich später herausstellte, am stärksten von allen gefährdet waren«. Benjamin(403) war unschlüssig, was die Entgegennahme eines dieser Visa betraf. »Wie sollte er ohne eine Bücherei überleben, wie konnte er sich einen Lebensunterhalt verdienen, ohne die ausufernde Sammlung von Zitaten und Exzerpten zwischen seinen Manuskripten?«, notierte Arendt(17). »Außerdem zog es ihn überhaupt nicht nach Amerika(28), wo die Leute für ihn, so pflegte er zu sagen, wahrscheinlich keine andere Verwendung haben würden, als ihn das Land auf und ab zu karren und als den ›letzten Europäer‹ vorzuführen.«[7]

In Lourdes(2), einem Marktstädtchen in den Ausläufern der Pyrenäen, das zum Zentrum für römisch-katholische Pilger und Wunderheilungen geworden war, nachdem Bernadette Soubirous(1) im Jahr 1858 die Jungfrau Maria geschaut hatte, ging es Dora(9) und Walter(404) schlecht. Sie litt unter Spondylitis ankylosans und fortgeschrittener Arteriosklerose, während der bedenkliche Gesundheitszustand seines Herzens noch durch die Höhenlage von Lourdes(3) verschlimmert wurde – sowie zweifellos durch die drohende Möglichkeit, in die Hände der Nazis zu fallen. Es war eine ganz und gar gerechtfertigte Angst, wie wir im Nachhinein sagen können: Doras und Walters Bruder Georg(1) wurde 1942 im Konzentrationslager Mauthausen-Gusen(1) getötet. Walters(405) größter Trost während dieser beiden Monate in Lourdes(4) war seine Lektüre von Stendhals(1) Rot und Schwarz.

Benjamin(406) wusste kaum etwas von den Aktivitäten, die die nach New York(21) ausgewanderten Frankfurter Gelehrten unternahmen, um ihn nach Amerika(29) in Sicherheit zu bringen; und diese wussten ihrerseits nichts von seinem Aufenthaltsort – Briefe und Postkarten aus New York(22) kamen in seiner Wohnung in Paris(37) an, nachdem die Gestapo dort gewütet hatte. Jedenfalls versuchten sie, auf der anderen Seite des Atlantiks Vorbereitungen für sein Kommen zu treffen. Eine Zeitlang sah es dank Horkheimers(185) Bemühungen so aus, als könne Benjamin(407) eine Professorenstelle an der Universität in Havanna(2) bekommen; er würde vom Institut dorthin freigestellt werden.

Nach zwei Monaten in Lourdes(5) erfuhr Benjamin(408), dass das Institut ihm ein Visum besorgt hatte, mit dem er in die USA einreisen konnte. Es sollte ihm vom amerikanischen Konsulat in Marseille(16) ausgehändigt werden. Er machte sich auf den Weg; seine Schwester(10) ließ er in Lourdes allein zurück (später fand sie Unterschlupf in einem Bauernhaus und schaffte es im Jahr darauf, in die neutrale Schweiz(3) zu fliehen). Unter entsetzlichen Umständen kehrte er nach Marseille,(17) in eine Stadt zurück, die er – wie auch Neapel(19) und Moskau(26) – für ihre kollektive Unverfrorenheit, für ihre so gänzlich undeutschen Schwingungen geliebt hatte. Zu Beginn der 1930er Jahre hatte er(409) die Stadt in zwei Essays gerühmt, einer trug den Titel »Marseille«,[8] der andere, »Haschisch in Marseille(18)«, ist eine entzückend durchgeknallte Beschreibung eines Bummels durch die Bars und Cafés der Stadt der »Rätsel[] des Rauschglücks«.[9]

Doch das Marseille(19), in dem er im August 1940 eintraf, hatte sich komplett gewandelt – es wimmelte von Flüchtlingen, denen es davor graute, in die Fänge der Gestapo zu geraten, und seine Erfahrungen hier waren alles andere als ekstatisch. Auf dem US-Konsulat wurden ihm ein Einreisevisum für die USA und Transitvisa für Spanien(1) und Portugal(1) ausgehändigt. Er(410) verfiel in eine Depression und erwog alle möglichen verrückten Pläne, wie er aus Europa(21) herauskommen könnte – einer davon sah vor, dass er und ein Freund, verkleidet als französische Matrosen, sich durch Bestechung Zugang zu einem Frachter mit dem Ziel Ceylon(1) verschafften.

Da es keine Perspektive gab, Frankreich(10) auf legalem Weg zu verlassen, beschlossen er und zwei andere ihm bekannte Flüchtlinge aus Marseille Mitte September(20), sich in die französische Provinz in der Nähe der spanischen Grenze zu begeben und zu versuchen, die Pyrenäen zu Fuß zu überqueren. Benjamin(411) hatte vor, durch das vordergründig neutrale, allerdings faschistisch eingestellte Spanien(2) nach Lissabon(1) zu gelangen und sich von der portugiesischen(2) Hauptstadt aus in die USA einzuschiffen. In New York(23) sahen sich Theodor(252) und Gretel Adorno(7), die mit seiner Ankunft rechneten, nach einer Wohnung für Benjamin(412) um. Währenddessen waren seine Chancen und die der anderen Flüchtlinge, Spanien(3) je zu erreichen, merklich geschrumpft, weil Vichy-Beamte die direkte Route nach Port Bou(3), ihrem Ziel in Spanien(4), akribisch überwachten. Deshalb machte sich am 25. September eine kleine Gruppe Flüchtlinge, unter ihnen auch Benjamin(413), auf einen zerklüfteten, abgelegenen Weg über die Berge. Eine Frau in der Gruppe, die politische Aktivistin Lisa Fittko(1), war besorgt, dass seine schlimmen Herzbeschwerden ein Risiko sein könnten, doch er bestand darauf mitzukommen. Während des gesamten Weges ging er zehn Minuten lang und machte dann eine Minute Pause, um Atem zu holen – und während der ganzen Zeit hielt er eine schwarze Aktentasche fest umklammert, die, so erklärte er Fittko(2), ein neues Manuskript enthielt, das »wichtiger ist als meine eigene Person«.[10] Aber nicht nur diese Aktentasche hatte er bei sich: Der Schriftsteller und Fluchtgefährte Arthur Koestler(1) erinnerte sich, dass Benjamin(414) Marseille(21) mit so viel Morphium verlassen hatte, dass man damit »ein Pferd hätte umbringen können« (Koestler selbst versuchte ungefähr zur selben Zeit, sich mit Morphium das Leben zu nehmen, scheiterte aber damit). Als sie an einem heißen Septembertag in Sichtweite von Port Bou(4) kamen, bemerkte ein Mitglied in der Gruppe Benjamins(415), dass dieser aussah, als würde er gleich einen Herzanfall bekommen. »Als wir an einem Rastplatz waren, liefen wir in alle Richtungen, um Wasser für den kranken Mann(416) zu suchen«, so die Erinnerung von Carina Birman(1).[11]

Es sollte noch schlimmer kommen. Als die Flüchtlinge in Port Bou(5) ankamen und beim Zollbüro vorsprachen, um ihre Papiere für die Einreise nach Spanien(5) stempeln zu lassen, mussten sie erfahren, dass die spanische Regierung die Grenze für illegale Flüchtlinge aus Frankreich(11) kürzlich geschlossen hatte. Also musste die Gruppe jetzt damit rechnen, auf französisches Gebiet zurückgebracht zu werden – was wahrscheinlich Internierung bedeutete, und anschließend den Transport in ein deutsches Konzentrationslager und in den Tod. Sie wurden unter Bewachung in einem Hotel untergebracht, wo Benjamin(417) in seiner Verzweiflung eine Selbstmordnachricht verfasste, die er Henny Gurland(1), einer Frau aus der Gruppe, übergab. Gurland sagte später, sie hätte es für notwendig gehalten, die Notiz zu vernichten, doch sie rekonstruierte sie aus dem Gedächtnis: »In einer ausweglosen Lage habe ich keine andere Wahl, als Schluß zu machen. Mein Leben wird in einem kleinen Dorf in den Pyrenäen enden, wo mich niemand kennt.«[12] Im weiteren Verlauf der Nacht, so wird angenommen, nahm er das Morphium, das er aus Marseille(22) mitgebracht hatte. Auf dem Totenschein ist allerdings angegeben, dass der Grund für seinen Tod eine Gehirnblutung gewesen sei – Benjamins(418) Biographen spekulierten, dass der spanische Arzt möglicherweise von den anderen Flüchtlingen bestochen wurde, diese Angabe zu machen, damit ihnen der Skandal erspart blieb, der ihren Rücktransport nach Frankreich wahrscheinlicher gemacht hätte. Der Totenschein ist auf den 26. September datiert. Am Tag darauf wurde die Grenze wieder geöffnet. Hätte Benjamin(419) das Morphium nicht genommen, dann hätte er ungehindert durch Spanien und anschließend nach Amerika(33) reisen können.

Die Nachricht von Benjamins(420) Tod stürzte Theodor(253) und Gretel Adorno(8) in Verzweiflung. Sie waren der Meinung, Benjamin habe sich umgebracht. Adorno(254) schrieb an Gershom Scholem(19), wenn Benjamin noch zwölf Stunden länger durchgehalten hätte, dann wäre er gerettet worden. »Es ist völlig unbegreiflich – wie wenn er von einem Stupor erfaßt worden wäre und sich als schon Geretteter geradezu hätte auslöschen wollen.«[13]

Nach Benjamins(421) Tod entstanden gewagte Theorien, die diese Unbegreiflichkeit aufzuhellen versuchten. Einer dieser Theorien zufolge hätten Stalins(11) Häscher Benjamin umgebracht. In dem Artikel »The Mysterious Death of Walter Benjamin« schreibt Stephen Schwartz(1), ein in Montenegro(1) lebender Journalist, dass während der ersten Jahre des Krieges, als der Pakt zwischen Nazideutschland und der Sowjetunion(25) noch Bestand hatte, stalinistische(26) Agenten in Südfrankreich(12) und Nordspanien(6) tätig gewesen seien. Zwei der mächtigsten europäischen Geheimdienstorganisationen arbeiteten also eng zusammen. »Zweifellos unterhielt die sowjetische Geheimpolizei einen Engpass in Südfrankreich(13) – man durchsiebte die Flüchtlingswelle der Exilanten nach Liquidationsopfern«, so Schwartz(2). »Walter Benjamin geriet direkt hinein in diesen Strudel des Bösen. Seine Gefolgsleute beschlossen zwar, das zu ignorieren, aber er(422) besaß zu viele Merkmale, die ihn für eine sowjetische Abschussliste qualifizierten.« Zu den anderen, die nach der Theorie von Schwartz(3) den von ihm sogenannten stalinistischen(12) »Killerati« zum Opfer fielen, gehörte der deutsche Kommunist Willi Münzenberg(2), vormals Spion für Stalin(13), der in Paris(38) ein Anführer der deutschen antifaschistischen und antistalinistischen Emigrantengemeinschaft geworden war und der sich später – wie Benjamin – gezwungen sah, vor dem Einrücken der Nazis zu fliehen. Münzenberg wurde allerdings festgenommen und in einem Internierungslager eingesperrt. Später kam er frei, wurde jedoch in der Nähe von Grenoble erhängt an einem Baum gefunden, ermordet, so die Behauptung von Schwartz(4), von einem sowjetischen(27) Agenten, der sich als sozialistischer Bekannter aus der Gefangenschaft ausgegeben hatte. Schwartz(5) ist der Meinung, dieser Mann, der am meisten über die russischen(14) Vertuschungsoperationen wusste, sei aus der Geschichte getilgt worden.[14]

Aber warum hätte Benjamin(423) eine derartige Aufmerksamkeit von Stalins(14) Häschern auf sich ziehen sollen? Schwartz(6) führt an, dass Benjamin nur wenige Monate vor seinem Tod sein Werk »Über den Begriff der Geschichte« abgefasst habe, eine der erhellendsten Analysen der Gründe für das Scheitern des Marxismus(283) überhaupt. Er(424) starb zu einem Zeitpunkt, da viele ehemals treue Anhänger sich wegen des Hitler(36)-Stalin(15)-Pakts enttäuscht von den Sowjets(28) abwandten. Als Reaktion darauf kam es zu Attentaten durch stalinistische(29) Agenten, die häufig aus den Reihen sozialistischer Intellektueller stammten. Benjamin war möglicherweise, ohne es zu merken, mit Kominternagenten in Berührung gekommen. Schwartz meint: »Benjamin(425) war Teil einer Subkultur, die durchsetzt war mit gefährlichen Leuten – es war bekannt, dass man hier nicht sicher war.« In den späten 1930er Jahren, so Schwartz(7), hätten stalinistische(16)(30) Agenten in Spanien(7) die Aufgabe gehabt, deutschsprachige Stalingegner aufzuspüren und zu foltern, um ihnen falsche Geständnisse zu entlocken. »Moskau(27) wollte außerhalb der Grenzen der Sowjetunion(31) eine Parallele zu den schändlichen Säuberungsprozessen.« Das mag sein – doch Walter Benjamin(426) stellte für die sowjetische kommunistische Orthodoxie mit Sicherheit keine Bedrohung dar, die mit derjenigen vergleichbar ist, die von Leo Trotzki(3) ausging, der einen Monat vor Benjamins(427) Tod im mexikanischen Exil umgebracht worden war. Im Unterschied zu anderen Opfern der stalin(17)schen Killerati hatte Benjamin nie der Kommunistischen Partei angehört. Und seine exzentrische Spielart eines theologisch und mystisch gefärbten Marxismus(284) (die sogar sein Freund Brecht(56) »schauderhaft« fand) stellte für Stalin(18) keine echte, akute Bedrohung dar. Schwartz(8) bietet außerdem keine schlüssige Darstellung davon, wie genau Stalins Häscher Benjamin(428) umgebracht haben sollen.

Auch wenn die Mordtheorie dubios zu sein scheint, dann, so das Argument von Schwartz(9), gelte dasselbe für die Selbstmordtheorie. In den Untersuchungsunterlagen des spanischen Richters gibt es keinen Hinweis auf Drogen. Es ist durchaus nicht ausgemacht, dass der Arztbericht falsch ist, in welchem von einer Gehirnblutung die Rede ist, die sich, so sie denn vorlag, möglicherweise durch die Strapazen der Pyrenäenüberquerung noch verschlimmerte. Und noch ein weiteres Geheimnis um Walter Benjamin(429)s Tod ist ungelöst. Was befand sich in der schwarzen Aktentasche und was geschah mit ihr? Eine Version geht dahin, dass die Mappe einem Mitflüchtling anvertraut wurde, der sie in einem Zug von Barcelona nach Madrid liegenließ. Aber worum handelte es sich bei dem Manuskript? Eine fertiggestellte Version des Passagen-Werks? Eine neue Version des Buches über Baudelaire(5)? Seine Biographen verwarfen diese Möglichkeiten: Benjamins(430) Gesundheitszustand sei so schlecht gewesen, dass er im letzten Jahr seines Lebens nur noch sporadisch arbeitete und große literarische Unternehmungen seine Kräfte überstiegen hätten. Vielleicht war es aber auch eine überarbeitete Version seines letzten Essays »Über den Begriff der Geschichte«. Auch das bezweifelten seine Biographen Eiland(2) und Jennings(2): Benjamin(431) hätte einer neuen Fassung nicht solche Bedeutung zugemessen, wenn sie sich nicht entscheidend von den Kopien unterschieden hätte, die er Hannah Arendt(18) in Marseille(23) anvertraut hatte. Das ist natürlich kaum ein zugkräftiges Argument, denn vielleicht war es ja doch genau das: eine auf der Flucht verfasste Revision eines Essays, der bereits mit Erlösungshoffnungen durchsetzt ist. Aber wie auch immer – wir werden wohl nie erfahren, was die Aktentasche enthielt.

Stattdessen haben wir jene Version des Essays, die Hannah Arendt(19) – sie hatte mehr Glück als Benjamin(432) – Adorno(255) in New York(24) übergeben konnte und die 1942 vom Institut veröffentlicht wurde. Diese Version hatte eine elektrisierende Wirkung auf Adorno(256) und Horkheimer(186). Adorno(257) spürte eine Verwandtschaft mit seiner eigenen Denkweise: »… vor allem die Vorstellung der Geschichte als permanente Katastrophe, die Kritik an Fortschritt und Naturbeherrschung und die Stellung zur Kultur«.[15] Es darf allerdings nicht übersehen werden, dass der Essay auch als Zurückweisung einer Geschichtsauffassung, deren Vertreter in der Geschichte einen Prozess kontinuierlichen Fortschritts sahen, und insbesondere als eine perfide Kritik an Benjamins(433) Zeitgenossen, den vulgärmarxistischen Ideologen der Zweiten und Dritten Internationale, verstanden wurde. Nach Benjamins(434) Ansicht deuteten diese wohl wenn auch vielleicht nur indirekt an, der historische Materialismus garantiere, dass es ein Fortschrittskontinuum in Richtung einer gutartigen Lösung, genauer: eines kommunistischen Utopia gebe. Der Engel der Geschichte, den Benjamin(435) in These IX beschwört, ist eine Figur, die den historischen Materialismus dieser primitiven Art auf den Kopf stellt: Für den Engel ist die Vergangenheit keine Kette von Ereignissen, sondern eine einzige Katastrophe, und die Aufgabe jedes rechtfertigbaren historischen Materialismus besteht nicht darin, eine revolutionäre Zukunft oder ein kommunistisches Utopia vorherzusagen, sondern sich um die Leiden der Vergangenheit zu kümmern und sie dadurch zu erlösen.

Die Dialektik der Aufklärung, jenes große Werk, das Adorno(258) und Horkheimer(187) in ihrem kalifornischen(3) Exil verfassen sollten, könnte als Extrapolation der achtzehn benjamin(436)schen Thesen in diesem Essay, seinem intellektuellen Testament, gelesen werden. Heute steht ein Zitat aus These VII des Essays sowohl auf Katalanisch als auch auf Deutsch auf seinem Grabstein: »Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein(437)[16]