11

Im Bund mit dem Teufel

Max Horkheimer(188) zog im April 1941 auf Anraten seines Arztes, der ihm(189) wegen seiner Herzbeschwerden ein gemäßigteres Klima empfahl, von New York(25) nach Kalifornien(4) um. Im November desselben Jahres folgte ihm Adorno(259) an die Westküste. Max und seine Ehefrau Maidon(1) hatten genug Geld, um sich einen Bungalow in Pacific Palisades bauen zu lassen, der wohlhabenden Westside von Los Angeles(4). Das Haus war auch groß genug für die Unterbringung von Friedrich Pollock(26), Horkheimers Freund aus Kindheitstagen (dem später die Dialektik der Aufklärung gewidmet werden sollte). Theodor und Gretel Adorno(9) mieteten sich in einem Doppelhaus im ähnlich wohlhabenden Viertel Brentwood ein, das genügend Platz für sie und Adornos(260) großes Klavier bot.

Sie schlossen sich einer wachsenden deutschen Exilgemeinde an, zu der auch Thomas Mann(3), Bertolt Brecht(57), Arnold Schönberg(11), Fritz Lang(1) und Hanns Eisler(6) gehörten – ein Außenposten deutscher Kultur auf der anderen Seite der Welt, weit entfernt von ihrer damals barbarischen Heimat. Brecht(58) etwa beschreibt in einem seiner Gedichte seine neue Heimat als Hölle:

Nachdenkend, wie ich höre, über die Hölle

Fand mein Bruder Shelley, sie sei ein Ort

Gleichend ungefähr der Stadt London(11). Ich

Der ich nicht in London lebe, sondern in Los Angeles(5)

Finde, nachdenkend über die Hölle, sie muss

Noch mehr Los Angeles gleichen.

In dieser kalifornischen(5) Hölle, so Brecht(59), verwelkten die üppigen Gärten, wenn sie nicht mit sehr teurem Wasser gewässert würden, die Früchte hätten weder Geruch noch Geschmack und die Häuser seien für glückliche Menschen gebaut, »daher leerstehend / auch wenn bewohnt«.

Auch die Häuser in der Hölle sind nicht alle hässlich.

Aber die Sorge, auf die Straße geworfen zu werden,

Verzehrt die Bewohner der Villen nicht weniger als

Die Bewohner der Baracken.[1]

Mittels dieser Art moderner Gebrochenheit, die Adorno(261) und Horkheimer(190) schätzten, übersetzte Brecht(60) in seinen Gedichten die utopischen Bilder von der Stadt der Engel in die Allegorie einer modernen Stadt, die hässlich und unmenschlich war.[2] Eine solcherart aufgebrochene Perspektive sei ein Kennzeichen moderner Kunst, so der Kritiker Raymond Williams(1) in seinem Essay »When Was Modernism?«. Die internationalen antibürgerlichen modernen Künstler (so etwa Apollinaire(1), Beckett(3), Joyce(1), Ionescu(1)), die in London(12), Paris(39), Berlin(65), Wien(9) und New York(26) erfolgreich waren, genossen ihren Erfolg jetzt in Los Angeles(6). Brecht(61) schrieb später: »Emigration ist die beste Schule für Dialektik«:[3] Mit Sicherheit wirkte sie als Katalysator für seine Kunst, und dasselbe galt für die Texte von Adorno(262)(191) und Horkheimer(192).

Allerdings war Brecht(62) in dieser Stadt gezwungen – jedenfalls stellte er es so dar –, sich zu prostituieren, was möglicherweise auch andere deutsche Exilanten taten, die für Hollywoods(8) Kulturindustrie arbeiteten:

Jeden Morgen, mein Brot zu verdienen,

gehe ich auf den Markt, wo Lügen gekauft werden.

Hoffnungsvoll reihe ich mich ein unter die Verkäufer.[4]

Auf diesem angeblichen Marktplatz für Lügen, dieser sogenannten Hölle, wo jeder gezwungen war, sich auf einen Bund mit dem Teufel einzulassen – hier brachte Brecht(63) sein großes Drama Leben des Galilei zu Papier, Strawinsky(7) komponierte The Rake’s Progress, Thomas Mann(4) vollendete Doktor Faustus und Orson Welles(3) produzierte Citizen Kane.

Los Angeles(7) wurde für die Emigranten der Frankfurter Schule zum letzten, weit abgelegenen Ort der Zuflucht vor der Verfolgung durch die Nazis. Dennoch konnten sie nicht umhin, das Dritte Reich mit jenem anderen repressiven Reich vor ihrer Haustür zu vergleichen: Hollywood(9). Damit folgten sie mit schonungsloser Konsequenz Walter Benjamin(438)s Diktum über Kultur. 1941 gab es tatsächlich gewisse Ähnlichkeiten zwischen dem Dritten Reich und dem, was der Historiker Otto Friedrich(1) aus Hollywood als ein »gewaltiges Imperium aus Träumen von Glamour, Träumen von Schönheit, Reichtum und Erfolg« bezeichnete.[5] Damals waren beide Reiche auf dem Höhepunkt ihres Einflusses und ihres Selbstbewusstseins, und nur wenige hätten es in jenem Jahr gewagt, ihren Verfall und Untergang vorherzusagen.

Das Dritte Reich hatte Kontinentaleuropa(22) unter seiner Kontrolle, England(6) war faktisch an den Rand gedrängt und die sowjetische Rote Armee war infolge des im Juni 1941 eröffneten nationalsozialistischen Unternehmens Barbarossa neutralisiert. Im Dezember war Japan(5) als Verbündeter Hitlers(37) in den Krieg eingetreten, hingegen sollte es noch drei Jahre dauern, bis die USA Roosevelts(3) europäischen Boden betraten. Unter diesen Umständen hielten sich die Nazis selbst für unbesiegbare, heldenhafte Eroberer. »Es ist wohl nicht zu viel gesagt, wenn ich behaupte, dass der Feldzug gegen Russland(15) innerhalb 14 Tagen gewonnen wurde«, so General Franz Halder(1), Chef des Generalstabs des deutschen Heeres, in einem Tagebucheintrag vom 3. Juli.[6] Als Japan(6) sich im Dezember 1941 mit dem nationalsozialistischen Deutschland(72) verbündete, kam Hitler(38), das Nachrichtenkommuniqué in der Hand schwenkend, in seinen Bunker und äußerte die gewagte Ansicht, das Dritte Reich sei nun unbesiegbar. »Jetzt können wir den Krieg unmöglich verlieren«, sagte er, »denn wir haben einen Verbündeten, der seit dreitausend Jahren unbesiegt ist.«[7] Der entscheidende Gegenschlag, die Schlacht von Stalingrad(1), kam für Hitler(39) erst im Winter 1942/43.

Die führenden Filmemacher im Hollywood(10) dieser Jahre konnten sich ebenfalls »durchaus mit Recht als heldenhafte Eroberer fühlen«, so Otto Friedrich(2).[8] 1939 war Hollywood Amerikas(35) elftgrößter Wirtschaftsfaktor, man produzierte 400 Filme pro Jahr, 50 Millionen Amerikaner gingen jede Woche ins Kino, der Umsatz betrug nahezu 700 Millionen Dollar jährlich. Mit Filmen wie Vom Winde verweht, Ninotschka, Sturmhöhe, Der Zauberer von Oz, Der Malteser Falke und Citizen Kane sowie Stars und Regisseuren wie Bogart(1), Bacall(1), Bergman(1), Hitchcock(2) und Welles(4) war dies Hollywoods Glanzzeit. Aber ebenso wie für das Dritte Reich nach Stalingrad(2) so war auch für Hollywood(11) die Uhr abgelaufen. »Hollywood ist wie Ägypten(1). Voller zerfallender Pyramiden. Es wird nie wieder zurückkehren«, sagte David O. Selznick(1), Produzent der Filme Vom Winde verweht und Rebecca, die in den Jahren 1939 beziehungsweise 1940 den Oscar für den besten Film gewannen. »Es wird weiter zerfallen, bis schließlich der Wind die letzte Requisite über den Sand hinwegwehen wird.«[9] Ganz so schlimm kam es nicht: Während das Dritte Reich 1945 zusammenbrach, fuhr Hollywood(12) mit seinen Produktionen fort. Allerdings mussten zehn Jahre nach 1941 die Studios empfindliche finanzielle Einbußen hinnehmen, viele seiner Stars wurden während der Hexenjagden der McCarthy(2)-Ära angeklagt, Kommunisten zu sein – was auch deutschen Exilanten wie beispielsweise Brecht(64) nicht erspart blieb –, und das Publikum wanderte zum Fernsehen ab.

Die Mitglieder der Frankfurter Schule kritisierten in ihrem kalifornischen(6) Exil die Werte Hollywoods(13) ebenso sehr wie diejenigen Hitlers(40). Aber ist es nicht eigentlich grotesk, das Dritte Reich mit Hollywood(14) zu vergleichen? Selbst wenn man noch anführen konnte, dass die deutsche Kultur zu der Barbarei des Dritten Reiches geführt habe, wirkt die These doch obszön, dass jede Kultur den Abdruck eines Militärstiefels auf ihrem Gesicht trägt, und es kommt intellektueller Barbarei gleich zu behaupten, die bösen Missstände im Hitlerdeutschland hätten ihre Parallelen im Amerika(36) Roosevelts(4). Aber genau zu dieser Überzeugung gelangten Horkheimer(193) und Adorno(263), nachdem sie sich in der Nähe von Hollywood(15) niedergelassen hatten. Im Jahr 1941 nahmen sie ihre Arbeit an der Dialektik der Aufklärung auf, und zwar in einem Geist des Ikonoklasmus, der nichts mit der von Brecht(65) satirisch vorgestellten pragmatischen Prostitution zu tun hatte. Sie wussten, dass praktisch keiner auf ihre Botschaften hörte.[10] Dieser Ikonoklasmus verstärkte sich dadurch, dass die Pläne des Instituts vereitelt wurden, mit der akademischen Welt an der Westküste zusammenzuarbeiten. Horkheimer(194) hatte gehofft, in Kalifornien(7) eine Universität zu finden, der sich das Institut für Sozialforschung auf dieselbe Art angliedern konnte wie zuvor der Columbia University in New York(27). Er schlug vor, dieser westliche Ableger des Instituts könne Vorlesungen und Seminare zur Philosophie und zur Geschichte der Soziologie seit Comte(2) beisteuern, und er bot zur Unterstützung des Projekts 8000 Dollar an. Robert G. Sproul(1) jedoch, der Präsident der University of California, lehnte den Vorschlag ab, weil Horkheimer(195) mehr Eigenständigkeit forderte, als Sproul zu tolerieren bereit war. Trotzdem folgten andere Mitglieder der Frankfurter Schule Horkheimer(196) und Adorno(264) nach Kalifornien, darunter Löwenthal(17), Marcuse(71) und Pollock(27).

Die Absage Sprouls(2) verstärkte bei den Exilierten noch das Gefühl der Isolierung. Es kann gut sein, dass es auch ihre Verachtung für die amerikanische Kultur verschärfte, in der sie lebten, und gleichzeitig ihre Verbundenheit mit der europäischen Kultur vertiefte, die sie hinter sich lassen mussten. Adorno(265) beispielsweise hatte während seiner Jahre in der Emigration wiederholt einen bestimmten Traum. Er saß – in einigen Varianten des Traumes nach Hitlers(41) Machtergreifung – am Schreibtisch seiner Mutter im Salon des familieneigenen Hauses in Oberrad, einem Frankfurter Vorort, und schaute in den Garten hinaus: »Herbst, verhängt mit tragischen Wolken, eine unendliche Schwermut, aber eine voll Duft über allem. Überall Vasen mit Herbstblumen.«[11] Er träumte, dass er an seinem Essay »Zur gesellschaftlichen Lage der Musik« aus dem Jahr 1932 schrieb, während des Traumes jedoch verwandelte sich das Manuskript in den Text, den er in Los Angeles(8) verfasste, Die Philosophie der neuen Musik. Er erkannte klar, was dieser Traum bedeutete: »Sein wahrer Inhalt ist offenbar die Wiedergewinnung des verlorenen europäischen Lebens.« Die Exilantenkolonie in Los Angeles(9) wurde als »Weimar am Pazifik« bezeichnet, und Adorno(266) sehnte sich wie andere Mitglieder dieser Gemeinschaft (vor allem Thomas Mann(5), wie wir sehen werden) nach jenem europäischen Leben zurück, das genau zeitgleich zugrunde ging. Ihr Heimweh war besonders intensiv, weil es ganz den Anschein hatte, als gäbe es keine Rückkehr in die Heimat.

In der Dialektik der Aufklärung stellen Adorno(267) und Horkheimer(197) bestürzend unverhohlene Parallelen zwischen Hollywood(16) und Hitlerdeutschland her. So beschreiben sie etwa eine Szene am Ende des Films Der große Diktator, Charlie Chaplin(6)s Satire auf Hitler(42) aus dem Jahr 1940. »Die wogenden Ährenfelder am Ende von Chaplins Hitlerf(43)ilm desavouieren die antifaschistische Freiheitsrede. Sie gleichen der blonden Haarsträhne des deutschen Mädels, dessen Lagerleben im Sommerwind von der Ufa photographiert wird.«[12] Bedenkt man, dass Chaplin(7) den Film selbst finanziert hatte, weil die Studios in Hollywood 1939 befürchteten, mit dem Film einen deutschen Boykott auszulösen, wirkt der Vergleich ungerecht. Und die Botschaft von Chaplins(8) Film war ja doch sicher antifaschistisch, die der Nazis hingegen profaschistisch – was also sollte überhaupt dieses Beharren auf angeblichen Ähnlichkeiten in der Metaphorik? Horkheimer(198) und Adorno(268) kam es jedoch auf einen tieferen Zusammenhang an: »Natur wird dadurch, daß der gesellschaftliche Herrschaftsmechanismus sie als heilsamen Gegensatz zur Gesellschaft erfaßt, in die unheilbare gerade hineingezogen und verschachert. Die bildliche Beteuerung, daß die Bäume grün sind, der Himmel blau und die Wolken ziehen, macht sie schon zu Kryptogrammen für Fabrikschornsteine und Gasolinstationen.«[13]

Das hier Geschriebene wirkt zwar etwas rätselhaft, doch geht es um die Aussage, dass sowohl die UFA, das Filmstudio der Nationalsozialisten, als auch die Hollywood(17)-Studios Natureindrücke sowie andere stereotypische Bilder menschlichen Lebens nutzten, um den Status quo zu bestärken – sei das nun das Dritte Reich oder der amerikanische Kapitalismus. Daher die Beschwörung natürlicher, sich wiederholender Zyklen, die ewig wirken, und die Arbeit mit stereotypischen Bildern: »Gesund ist, was sich wiederholt, der Kreislauf in Natur und Industrie. Ewig grinsen die gleichen Babies aus den Magazinen, ewig stampft die Jazzmaschine … Daran wird die Unabänderlichkeit der Verhältnisse erhärtet.«[14] Solche Naturkreisläufe und Stereotypen von Gesundheit mussten im Hollywood-Kino beschworen werden, um das Unnatürliche – das bestehende System des Monopolkapitalismus in den USA mit all seinen vielfältigen Strategien der Herrschaftsausübung und Grausamkeit – nicht nur reizvoll erscheinen zu lassen, sondern als genau das, was es eben nicht war, nämlich eine Naturgegebenheit (und insofern immun gegen Kritik und ewig).

Man denke beispielsweise an Donald Duck. Früher seien diese Trickfilmcharaktere »Exponenten der Phantasie gegen den Rationalismus« gewesen, so Adorno(269) und Horkheimer(199). Heute seien sie Werkzeuge sozialer Herrschaftsausübung geworden. »Sie hämmern die alte Weisheit in alle Hirne, daß die kontinuierliche Abreibung, die Brechung allen individuellen Widerstandes, die Bedingung des Lebens in dieser Gesellschaft ist. Donald Duck in den Cartoons wie die Unglücklichen in der Realität erhalten ihre Prügel, damit die Zuschauer sich an die eigenen gewöhnen.«[15] Sie reproduzierten die Grausamkeit des wirklichen Lebens, auf dass wir uns damit abfinden können.

Man könnte jetzt natürlich einwenden: Disneys(1) Donald Duck (und vermutlich auch Warner Brothers’ Daffy Duck – sicher gibt es eine Dissertation über die Frage, was die Lust, Enten zu verletzen, über Hollywood(18) aussagt) erfüllt vielleicht diesen Zweck, aber sicher nicht Metro-Goldwyn-Mayers Dramen um Tom und Jerry oder Roadrunners Wüstenwettläufe mit Wile E. Coyote. Hier ist doch ganz eindeutig nicht nur der kleine Kerl dargestellt, der sich heroisch gegen den unterdrückerischen Tyrannen behauptet, sondern auch die Umkehrung der natürlichen Hackordnung – der Jäger wird zum Gejagten, das Raubtier endet als plattgefahrener Straßenbelag. Vielleicht symbolisieren diese Trickfilme ja die hegel(43)sche Herr-Knecht-Dialektik, bestätigen also nicht die herrschenden Machtverhältnisse, sondern vermitteln vielmehr deren Instabilität. Über solche Trickfilme schrieben Horkheimer(200) und Adorno(270) allerdings nicht: Sehr wahrscheinlich hätten sie sie als illusionäre Projektionen der Unterdrückten und Enteigneten interpretiert, die dergleichen Phantasien im wirklichen Leben nicht umsetzen konnten.

Oder man nehme das Thema Lachen. Die ideologische Funktion des Lachens war nach Horkheimer(201) und Adorno(271) dieselbe wie diejenige jeder Form von Unterhaltung, nämlich Einvernehmen herzustellen.

Fun ist ein Stahlbad. Die Vergnügungsindustrie verordnet es unablässig. Lachen in ihr wird zum Instrument des Betrugs am Glück. Die Augenblicke des Glücks kennen es nicht, nur Operetten und dann die Filme stellen den Sexus mit schallendem Gelächter vor … In der falschen Gesellschaft hat Lachen als Krankheit das Glück befallen und zieht es in ihre nichtswürdige Totalität hinein.[16]

Und wer stellt diese Totalität dar? Es ist das teuflische Publikum aus Individuen, die im Kino sitzen und – in einer Art barbarischer Selbstbehauptung – über die Komödien eines Preston Sturges(1), Howard Hawks(1) und der Marx Brothers(1) lachen. Horkheimer(202) und Adorno(272) halten hierzu fest: »Das Kollektiv der Lacher parodiert die Menschheit. Sie sind Monaden, deren jede dem Genuß sich hingibt, auf Kosten jeglicher anderen … In solcher Harmonie bieten sie das Zerrbild der Solidarität.«[17] Das von der Kulturindustrie herbeigeführte Gelächter war eine Schadenfreude, wobei man sich ausschließlich an den Missgeschicken der anderen vergnügt. Ihr verhasstes Geräusch war die Parodie einer anderen Art von Gelächter, das in diesen Umständen programmatisch zum Schweigen gebracht wurde – ein besseres, weil versöhnliches Gelächter. Das nächste Mal, wenn ich über die Szene in dem Marx-(2)Brothers-Film At the Circus aus dem Jahr 1939 lache, in welcher die unglückselige füllige Witwe Dukesberry heult: »Holt mich aus dieser Kanone heraus!« und Chico ihr tollpatschig zu Hilfe eilt, während er gleichzeitig brüllt: »Ich komme, Mrs. Dukesberry!« (denn ist mein Lachen etwas anderes als Sadomasochismus, die Kanone etwas anderes als eine Allegorie repressiver Desublimation? Und ist das Schicksal von Mrs. Dukesberry nicht lediglich ein Symbol für die vorzeitigen Ejakulationen, die Adorno(273) und Horkheimer(203) in der Kulturindustrie andernorts aufspürten?) –, dann wird mir bewusst werden, dass ich selbst Bestandteil des Problems bin und mich an der falschen Art von Marxismus ergötze.

In einem hatten Adorno(274) und Horkheimer(204) jedoch recht: Eine Screwball-Comedy, wie etwa Howard Hawks(2)’ Film His Girl Friday (Sein Mädchen für besondere Fälle) von 1940 mit seinen maschinengewehrartigen Schlagabtäuschen zwischen dem Zeitungsherausgeber Cary Grant(1) und der Spitzenreporterin Rosalind Russell(1), während gleichzeitig abseits der hysterischen Atmosphäre des Pressebüros in einem Gefängnishof ein Galgen für eine Hinrichtung aufgestellt wird, ist tatsächlich unschlagbar. Man hat den Eindruck, Hawks(3) wage nicht, das Gelächter aufhören zu lassen, denn wenn das geschähe, würden wir in den Abgrund stürzen. Adorno(275) mit seiner Vorliebe für die Art von Chiasmus, die er so schätzte (in Minima Moralia, das ganz überwiegend im amerikanischen Exil entstand, wählte er für einen Abschnitt die Überschrift »Die Gesundheit zum Tode«, eine Umkehrung von Kierkegaard(3)s Titel Die Krankheit zum Tode), hätte den Film wahrscheinlich Das Gelächter zum Tode genannt. Hätten Horkheimer(205) und Adorno(276) eine Filmreihe unter dem thematischen Motto »Barbarisches Gelächter« gestaltet, dann wäre His Girl Friday mit Sicherheit auf der Liste der Titel ganz oben aufgetaucht.

Vor dem Hintergrund der vernichtenden Kritik Horkheimers(206) und Adornos(277) an Hollywood(19) und der Kulturindustrie ist es erstaunlich zu erfahren, dass sie während ihrer Jahre im Exil nicht nur mit deutschen Exilanten verkehrten, sondern auch mit denjenigen, die sie angriffen. So lernte Adorno(278) beispielsweise Charlie Chaplin(9) kennen, wobei man nicht weiß, ob dieser je Adornos und Horkheimers unhöfliche Bemerkungen über seinen Film Der große Diktator in der Dialektik der Aufklärung gelesen hatte. 1947 waren Adorno(279) und Gretel(10) zu einer Privatvorführung von Chaplins(10) neuem Film Monsieur Verdoux geladen und nach dem Dinner spielte Adorno(280) eine Auswahl an Stücken aus Opern von Verdi(1), Mozart(1) und Wagner(5), während Chaplin(11) gleichzeitig die Musik parodistisch interpretierte. Auf einer anderen Party, in einer Villa in Malibu, auf der er und Chaplin(12) zu Gast waren, versuchte Adorno(281), dem Schauspieler Harold Russell(1) die Hand zu schütteln. Dieser hatte in dem 1946 entstandenen Film The Best Years of Our Lives (Die besten Jahre unseres Lebens) einen verwundeten Veteranen gespielt. Er hatte im Krieg beide Hände verloren und sie waren durch Vorrichtungen ersetzt worden, die Adorno(282) als »aus Eisen gefertigte, aber praktikable Klauen« bezeichnete. »Als ich die Rechte schüttelte, und sie auch noch den Druck erwiderte, erschrak ich aufs äußerste, spürte aber sofort, daß ich das dem Verletzten(2) um keinen Preis zeigen dürfte, und verwandelte mein Schreckgesicht im Bruchteil einer Sekunde in eine verbindliche Grimasse, die weit schrecklicher gewesen sein muß.« Kaum hatte Russell(2) die Party verlassen, spielte Chaplin(13) die Szene nach. »So nah am Grauen ist alles Lachen, das er bereitet und das einzig in solcher Nähe seine Legitimation gewinnt und sein Rettendes.«[18] Aus dieser Aussage wird nicht klar, ob das Lachen, das Chaplin(14) auslöste, das schlechte, schadenfrohe Lachen war, das Adorno(283) und Horkheimer(207) in der Dialektik der Aufklärung geißeln, oder das gute, versöhnliche Lachen. Hoffen wir letzteres.

Aber kommen wir noch einmal auf den Vergleich von Adorno(284) und Horkheimer(208) zurück. Der nationalsozialistische Propagandaminister Josef Goebbels(4) legte zumindest klipp und klar dar, was er an Propagandaarbeit für das Dritte Reich leistete. Dasselbe gilt für Andrei Schdanow(1), Stalins(19) Kulturkommissar, der mit seiner Politik, der sogenannten Schdanowschtschina, forderte, dass sich sowjetische Künstler und Schriftsteller entweder an der Parteilinie orientieren oder mit Verfolgung rechnen mussten. Da vonseiten der Vertreter Hollywoods(20) und der übrigen amerikanischen Kulturindustrie keine ausdrückliche Erwähnung der Tatsache erfolgte, dass sie Instrumente der Herrschaft waren, fiel den Frankfurter Intellektuellen die Aufgabe zu, diese bloßzulegen. Möglicherweise war es ein unglücklicher Zufall, dass Chaplins(15) antifaschistische Propaganda in diesem kritischen historischen Augenblick in dasselbe Fadenkreuz geriet wie Leni Riefenstahl(2)s Filme, aber keiner konnte behaupten, Adorno(285) und Horkheimer(209) hätten sich die Filme nicht genau angesehen.

Allerdings ist es unfair, in den exilierten Frankfurter Gelehrten europäische Snobs zu sehen, die nach Amerika(38) kamen und einfach nur hassten, was sie sahen und hörten. Zwar teilten sie die Perspektive des marxistischen(285) Häretikers und Genossen Ernst Bloch(3), der Amerika als eine »Sackgasse mit Neonlicht« bezeichnete.[19] Sie merkten an, die US-amerikanische Gesellschaft sei auf abstoßende Weise fixiert auf das Streben nach einem individualisierten Glück – und die Folge davon sei eben das Überhandnehmen seichter, uneigentlicher Oberflächen und Verlogenheit. Aber Adornos(286) und Horkheimers(210) Kritik an dieser Gesellschaft und an der Kulturindustrie, die – so ihre Wahrnehmung – deren Aufrechterhaltung sichere, beruhte nicht auf einer Verteidigung europäischer Kultur in Abgrenzung gegen amerikanische Barbarei oder auf der Bevorzugung hoher Kunst und der Abwertung von Populärkultur, obwohl ihre rhetorisch glänzenden, gelegentlichen Abfuhren, die sie den Produkten der Populärkultur erteilten, manchmal diesen Anschein erwecken. An der angeblich populären Kultur hassten sie vielmehr, dass sie undemokratisch war und dass ihre unterschwellige Botschaft auf Konformismus und Unterdrückung hinauslief.

Ende des 18. Jahrhunderts hatte Kant(7) bestimmt, Kunst zeichne sich durch »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« aus. Mitte des 20. Jahrhunderts legten Adorno(287) und Horkheimer dar(211), die Populärkultur arbeite mit »Zwecklosigkeit zu einem bestimmten Zweck«, und dieser Zweck werde durch den Markt vorgegeben. Die Massenkultur schien Befreiung zu verheißen, doch die scheinbare Spontaneität im Jazz oder das sexuell freizügige Auftreten von Filmstars verbarg nach Horkheimer(212) und Adorno(288) das genaue Gegenteil. Marcuse(72) sollte später die Wendung »repressive Desublimation« als Charakterisierung für die scheinbare Befreiung auf den Gebieten Sexualität, Mode und Musik in den angeblich freizügigen Sechzigern gebrauchen. Der Keim zu dieser Idee steckte bereits in der Dialektik der Aufklärung. Was Malcolm X(1) von den Afroamerikanern sagte, die von der US-amerikanischen Democratic Party betrogen worden waren – »Ich sage Euch: Ihr seid getäuscht, geschnappt, genommen worden« –, entsprach dem, was Adorno(289) und Horkheimer(213) als den eigentlichen Einfluss von Popmusik und Film auf die Konsumenten diagnostizierten. Und die kulturellen Veränderungen, die im weiteren Verlauf des Jahrhunderts stattfanden, als populäre Kunst, Fernsehen, Musik und Kino noch größeren Einfluss auf die Massen ausübten, scheinen ihre Argumente durchaus zu bestätigen. In seinem 1957 erschienenen Buch The Uses of Literacy konstatiert beispielsweise der englische Kultursoziologe Richard Hoggart(1), dass im England(7) der 1950er Jahre sich die traditionelle Kultur der Arbeiterklasse, die sich, so seine Auffassung, in Unterhaltungsliteratur, Songs und Zeitungen ausdrücke und die er als förderlich, nachbarschaftlich und gefühlvoll beschreibt, aufzulösen begann. Aufgrund zunehmenden Wohlstands wurde diese Kultur durch Literatur ersetzt, in der Sex und Gewalt überwogen und moralische Leere erzeugten; sowie durch Hochglanzmagazine und Popsongs, die die Konsumenten in eine »Welt aus Zuckerwatte« lockten.[20]

Adorno(290) und Horkheimer(214) hätten Hoggarts(2) Beschreibung dieser Welt aus Zuckerwatte zugestimmt und in ihr ein Weiterwirken der kulturindustriellen Zielsetzungen gesehen; sie hätten wohl auch diagnostiziert, dass die erodierte Kultur der Arbeiterklasse eine unerträgliche Bedrohung für eine autoritäre Gesellschaft darstellte, die daher die spontan, von unten entstehende Populärkultur durch eine von oben organisierte Massenkultur ersetzte. Hätten Horkheimer(215) und Adorno(291) noch TV-Sendungen wie X Factor oder Hochglanzmagazine wie Grazia zur Kenntnis genommen, dann hätten sie feststellen müssen, dass der Würgegriff sich noch weiter verstärkt hatte.

Der Angriff der Frankfurter Denker auf die Populärkultur beruhte also nicht auf einer konservativen, sondern auf einer radikalen Haltung. Bereits Benjamin(439) hatte sich von Autoren wie Aldous Huxley(4) aufgrund ihrer reaktionären Schimpftiraden gegen die Populärkultur distanziert. Gleichwohl sehnten sie sich nach dem vorfaschistischen Deutschland(73) und seinen kulturellen Hervorbringungen zurück, denen, so Adorno(292) und Horkheimer(216), eine »Unabhängigkeit von den auf dem Markt deklarierten Herrschaftsverhältnissen« eignete, eine Unabhängigkeit, die aus den von ihnen sogenannten weiter fortgeschrittenen Industrienationen, vor allem den Vereinigten Staaten(39), zunehmend verschwindet.[21] Und sie verteidigten auch nicht einfach einen Kanon kultivierter hoher Kunst gegen dessen barbarisches, populäres Gegenteil. Marcuse(73) hält in seinem 1937 entstandenen Essay »Über den affirmativen Charakter der Kultur« fest, die bürgerliche Kultur des 19. Jahrhunderts habe sich durch Rückzug von der Welt in eine vergeistigte, edlere Welt um höhere Erfahrung bemüht. Werde allerdings das kulturelle Leben von seiner materiellen Basis abgetrennt, so Marcuse, (74) dann spiele das der Versöhnung der Konsumenten mit den Ungleichheiten der materiellen Basis in die Hände. Adorno(293) und Horkheimer(217) teilten Marcuses(75) Verachtung für das, was er »affirmative Kultur« nannte. Sie favorisierten allerdings weder die hohe Kunst noch die populäre, »niedrige« Kultur, sondern jene Kunst, mit der die Widersprüchlichkeiten der kapitalistischen Gesellschaft bloßgestellt werden, statt sie zu kaschieren – kurz, moderne Kunst. Das war beispielsweise der Grund dafür, dass Adorno(294) Strawinskys(8) neoklassische Periode in seinem 1949 erschienenen Buch Philosophie der neuen Musik als »universale Nekrophilie« bezeichnet.[22] Er meint, in Werken wie Oedipus Rex und der Psalmensymphonie stelle Strawinskys(9) fortgesetztes Zitieren früherer Musik den »Inbegriff alles in den zweihundert Jahren bürgerlicher Musik Approbierten« dar. »Sind die autoritären Charaktere von heutzutage ausnahmslos Konformisten, so wird der autoritäre Anspruch von Strawinskys(10) Musik ganz und gar auf den Konformismus übertragen.«[23] In diesem Buch gibt Adorno(295) erneut Schönberg(12) den Vorzug vor Strawinsky(11) (beide lebten übrigens damals in Adornos Nachbarschaft in Los Angeles(10)), weil Schönberg(13) aus seinem zu einem Käfig gewordenen Zwölftonsystem ausgebrochen war – wie Beethoven(8) hatte er einen explosiven Spätstil entwickelt.

Diese Vorrangstellung der modernen Kunst wirkte auf Adornos(296) und Horkheimers(218) spätere Kritiker elitär. J. M. Bernstein(1) weist in seiner Einführung zu Adornos The Culture Industry darauf hin, dass die Texte den Anschein erweckten, eine esoterische moderne Kunst gegen eine Kulturform zu verteidigen, die allen zugänglich war.[24] Dreißig Jahre später übten die neuen Kulturtheoretiker der Postmoderne scharfe Kritik an dem, was sie als die elitäre Grundhaltung von Verfechtern der Moderne wie Adorno(297) und Horkheimer(219) beschrieben. Was letztere verteidigten, sei allerdings nicht elitäre Kunst als solche gewesen, sondern Kunst, die sich weigerte, affirmativ zu sein – so Adorno(298) in seinem postum erschienenen Buch Ästhetische Theorie –; es ging um die Idee von Kunst als einzigem noch verbleibenden Medium, das die Wahrheit des Leidens »in einem Zeitalter unbeschreiblichen Schreckens« zum Ausdruck bringe. Was von einigen als esoterische moderne Kunst bezeichnet wurde, war für Adorno(299) und Horkheimer(220) die einzige Kunst, die dieses Leiden ausdrücken konnte, die es wagen konnte, negativ zu sein. Sie definierte sich in Opposition zum Bestehenden, zu den Machthabern: Sie sei, so Adorno(300), eine promesse du bonheur, eine Vision von etwas, das anders war als die affirmative Kultur.

Nun waren allerdings die Mitglieder der Frankfurter Schule definitiv nicht so veranlagt, dass sie die Populärkultur als Ort des Widerstands gegen die affirmative Kultur überhaupt hätten verstehen können. In Birmingham, der Partnerstadt von Frankfurt(53)(1), beschäftigte sich eine zweite Gruppe linksgerichteter Intellektueller, zu denen unter anderen Richard Hoggart(3) und Stuart Hall(1) gehörten, mit genau diesem Thema. Die Mitarbeiter des im Jahr 1964 gegründeten Birmingham Centre of Cultural Studies waren einer Meinung mit den Frankfurter Denkern, was die Anerkennung von Kultur als einem Schlüsselinstrument politischer und gesellschaftlicher Kontrolle anging, doch man beobachtete außerdem, dass die Kulturindustrie von den Massen ihrer Konsumenten auch abweichend, ja rebellisch dekodiert werden konnte und dass populäre Subkulturen dazu in der Lage waren, die Kulturindustrie in Form einer immanenten Kritik zu unterwandern. Adorno(301) war außerstande, im Jazz echtes Leiden wahrzunehmen, und er hätte auch – das darf man wohl vermuten – Punk, Rock oder Hip-Hop nicht geschätzt. In diesen Musikformen und anderen Sparten der Populärkultur entdeckten jedoch die Forscher am Birmingham Centre eine kritische Ablehnung der bestehenden Gesellschaftsordnung. Tatsächlich entwickelte sich ja der Kanon der Moderne zu einem esoterischen Rückzugsort für eine kulturelle Elite und damit zu einer Entsprechung bürgerlicher hoher Kunst – dem Gegenteil dessen, worauf Adorno(302) gehofft hatte. »God Save the Queen« von den Sex Pistols, »Fight the Power« von Public Enemy, »Fuck tha Police« von NWA oder »Jolly Fucker« von Sleaford Mods gingen kühner vor in der Herausforderung und Verweigerung dessen, was Chuck D(1) als »the powers that be« («Die da oben«) bezeichnete.

Aber es gab in Kalifornien außer Hollywood(21) und der Kulturindustrie noch mehr, womit sich Adorno(303) und Horkheimer(221) auseinandersetzten. Mit der Dialektik der Aufklärung stellten sie die hegelsche und marxsche Auffassung(44)(286) der Geschichte als Entfaltung menschlicher Freiheit auf den Kopf. Für Adorno(304) und Horkheimer(222) hatten sich die Werte der Aufklärung von einem Mittel, dem Gefängnis zu entkommen, ihrerseits zu einem Gefängnis entwickelt. Sie waren durchaus nicht automatisch fortschrittlich, sondern untergraben von unserer Versklavung innerhalb der Totalität der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse. Das machte ihr Buch zu Sprengstoff: Im Unterschied zu den Denkern der Aufklärung – Rousseau(2), Voltaire(1), Diderot(1) und Kant(8), die im Aufklärungsprozess eine Befreiung der Menschheit von der Natur sahen, was bedeutete, dass dieser Prozess auf eine Zunahme der Freiheit und des Wohlergehens der Menschheit zielte (Kant(9) definierte Aufklärung als den »Ausgang des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit«) – verstanden Horkheimer(223) und Adorno(305) diese Entwicklung als einen Prozess, im Rahmen dessen die Menschheit gefangen genommen werde: Die Vernunft wird dazu benutzt, immer wirksamere Verwaltungs- und Kontrollnetzwerke zu schaffen. Nach Meinung Adornos und Horkheimers(224)(306) musste als Gründervater der naturwissenschaftlichen Denkungsart der englische Philosoph des 17. Jahrhunderts Francis Bacon(1) gelten, der erklärte, technische Neuerungen hätten den Menschen zum »Herrn über die Natur« gemacht. Und Bacon sei es gewesen, der für jenes Prinzip eine Lanze gebrochen habe, das Max Weber(7) später als »Entzauberung der Welt« bezeichnen sollte. Bacon führte als entscheidende Neuerungen, die die Welt verändert hatten, die Druckerpresse, die Artillerie und den Kompass an: Die Druckerpresse veränderte das Lernen, die Artillerie die Kriegsführung und der Kompass ermöglichte Hochseereisen und damit die Herrschaft des Menschen über die Erde.

Der Mensch löste sich von der Natur, um sie zu dominieren – um die Natur und andere Menschen berechenbar, ersetzbar und vor allem ausbeutbar zu machen. Angeblich wertfreie Naturwissenschaft und Kapitalismus gehen bei der Berechnung der Welt zum Zweck ihrer besseren Ausbeutbarkeit und der besseren Ausbeutbarkeit der Menschen Hand in Hand. In diesem Prozess wird die Natur denaturiert, wir Menschen werden entmenschlicht. Adorno(307) und Horkheimer(225) halten hierzu fest: »Natur ist … das mathematisch zu Erfassende; selbst was nicht eingeht, Unauflöslichkeit und Irrationalität, wird von mathematischen Theoremen umstellt. In der vorwegnehmenden Identifikation der zu Ende gedachten mathematisierten Welt mit der Wahrheit meint Aufklärung vor der Rückkehr des Mythischen sicher zu sein. Sie setzt Denken und Mathematik in eins.«[25] Die Schurkenphilosophen in diesem Stück sind Parmenides(1) und Bertrand Russell(3), da sowohl der vorsokratische Philosoph als auch der Vater der zeitgenössischen logischen Analytik darauf fixiert waren, alles auf abstrakte Quantitäten zu reduzieren, letztlich auf das Eine – eine Fixierung, die rational zu sein scheint, aber genauso gut als höchst irrational bezeichnet werden könnte. Ebenso wie die bürgerliche Gesellschaft von Äquivalenz beherrscht, ebenso wie der Kapitalismus undenkbar ist ohne das Tauschprinzip, das menschliche Arbeit und die Früchte dieser Arbeit alles dessen beraubt, was nicht als Äquivalent zu anderen Waren verstehbar ist, so war für Parmenides und Russell alles, was nicht auf Zahlen reduziert werden kann, Illusion und kann als bloße Dichtung abgetan werden. »Beharrt wird auf der Zerstörung von Göttern und Qualitäten.«[26]

Es ist schlimm, dass ausgerechnet Russell(4) in diesem Zusammenhang angegriffen wurde, nicht zuletzt weil dieser Engländer, der in den Jahren 1939 und 1940 an der University of California gelehrt hatte und der wegen seiner radikalen Ansichten zu den Themen Frauen und Familie vom Lehrbetrieb am College of the City of New York(28) 1941 ausgeschlossen wurde, wohl kaum annahm, dass die Werte, für die er gekämpft hatte – Pazifismus, Frauenwahlrecht oder später die nukleare Abrüstung – als bloße Dichtung abgetan werden könnten.[27] In einer Phase, als einige in New York dazu aufriefen, Russell(5) »zu teeren und zu federn und aus unserem Land zu schmeißen« – weil er es Jahre zuvor gewagt hatte, die Meinung zu äußern, Ehebruch müsse nicht unbedingt immer böse sein –, hätte er eine etwas einfühlsamere Herangehensweise von zwei Philosophen(226)(308) erwarten dürfen, die an vielen Stellen in ihrem Buch den Mangel an menschlicher Solidarität beklagen. Russells Festlegung auf formale Logik und die Macht logischer Analyse bildete natürlich einen Gegensatz zum Denken der deutschen Dialektiker, doch ist es sicher unfair, ihn und seine Philosophie als Hüter naturwissenschaftlicher Orthodoxie und ineins damit als Vorkämpfer gesellschaftlicher Unterdrückung zu bezeichnen.

Der anthropozentrische Hochmut und Herrschaftsdrang, die Adorno(309) und Horkheimer(227) als Charakteristikum der Aufklärung betrachteten, gingen mit Selbstentfremdung einher. Man denke nur an das, was Odysseus(1) und seinen Männern widerfährt, als sie versuchen, den Verlockungen der Sirenen zu widerstehen und ihrem tödlichen Gesang nicht zu erliegen.[28] Der zwölfte Gesang von Homers(2) Odyssee war für Horkheimer(228) und Adorno(310) voller symbolischer Bedeutung, und es ist nachvollziehbar, warum er ihnen so viel bedeutete – waren sie doch wie die Gefährten des Odysseus Wanderer, die jahrelang fern ihrer Heimat durch fremde Länder unterwegs waren. Die Seeleute verstopfen ihre Ohren mit Wachs, damit sie nicht von ihrer Arbeit des Ruderns abgehalten werden, so wie die Arbeiter in der Neuzeit sich selbst disziplinieren, ihre Sinnlichkeit und ihren Wunsch nach Befriedigung unterdrücken, um weiterarbeiten zu können. Und Odysseus kann die Lieder der Sirenen zwar hören, doch lässt er sich am Mast festbinden, damit er der Versuchung nicht nachgeben kann. Adorno(311) und Horkheimer(229) merken dazu an, dieser Versuch, den gefürchteten Zwang der Natur (hier symbolisiert durch die Sirenen) zu brechen, »gerät nur um so tiefer in den Naturzwang hinein. So ist die Bahn der europäischen Zivilisation verlaufen.« Sowohl Odysseus als auch seine Gefährten haben sich mittels Selbstdisziplin von den Zwängen der Natur befreit; indem sie das taten, benutzten sie die menschliche Vernunft instrumentell, um die bezwingende Macht der Natur zu brechen, das heißt die Natur zu dominieren. Allerdings schrumpfte das menschliche Subjekt dadurch »zum Knotenpunkt konventioneller Reaktionen und Funktionsweisen zusammen, die sachlich von ihm erwartet werden«. Der Prozess der Individuation vollzog sich also »auf Kosten der Individualität«. Adorno(312) und Horkheimer(230) verstanden dieses von Homer(3) im 8. Jahrhundert v. Chr. dramatisierte mythische Ereignis als Allegorie darauf, wie das bürgerliche Subjekt der Aufklärung nicht nur die Natur domestizierte, sondern auch sich selbst. Odysseus war der erste bürgerliche Held – ein Held, zu dessen tückischer Reise Risiken gehören, die Profite rechtfertigen; ein Held, der Verstand, Betrug, Entsagung und Selbstdisziplin einsetzt, um zu überleben. Was mit Odysseus begann, setzte sich in den technischen Neuerungen fort, die Francis Bacon(2) im 17. Jahrhundert rühmte: die Beherrschung der Natur und die Selbstentfremdung des Subjekts.

In einem anderen Exkurs der Dialektik der Aufklärung unter der Überschrift »Juliette oder Aufklärung und Moral« schreiben Adorno(313) und Horkheimer(231), dass man aufgrund eines vollständig säkularisierten wissenschaftlichen Wissens nicht mehr bereit sei, noch irgendwelche moralischen Schranken anzuerkennen.[29] Dieser fürchterliche Gedanke trieb Autoren wie Nietzsche(4) und de Sade(1) um. Für Nietzsche(5) war alles erlaubt, wenn Gott tot war; für de Sade(2) war die grausame Unterwerfung von Frauen, die Leugnung ihrer Subjektivität, ihre Reduktion auf Sexobjekte die perverse Konsequenz der Herrschaft über die Natur, wie die Aufklärung sie proklamiert hatte. Adorno(314) und Horkheimer(232) meinen, dass Kants(10) Versuch, Moralität in der praktischen Vernunft im Einsatz des Verstandes zu begründen, dazu führe, den Bereich der berechnenden, instrumentellen, formalen Rationalität auszudehnen, wozu dann auch die Beherrschung der Natur und des Menschen gehört. De Sade(3) ist demzufolge die barbarische dunkle Seite von Kants(11) zivilisiert-gesittetem Projekt der Aufklärung.

Martin Jay(6), der Historiker der Frankfurter Schule, formulierte die These, dass diese instrumentelle Rationalität zu den Schrecken des 20. Jahrhunderts geführt habe: »Tatsächlich antizipierte der Sadismus der Aufklärung gegenüber dem ›schwächeren Geschlecht‹ die spätere Vernichtung der Juden – Frauen und Juden wurden zusammen mit der Natur als Objekte von Herrschaft identifiziert(7)[30] Während jedoch die Mitglieder der Frankfurter Schule nachvollziehbarerweise eingehend über die Unterdrückung der Juden nachdachten und sich dazu äußerten, gilt das nicht für die Unterdrückung der Frauen. Das liegt teilweise daran, dass es in der Frankfurter Schule keine bedeutenden Frauen gab – was bei einer angeblich radikalen Gruppe von Denkern im 20. Jahrhundert seltsam anmutet. Ein deutlicher Kontrast dazu ist die neue und in mancher Beziehung verwandte psychoanalytische Theorie, zu der Frauen wie Melanie Klein(1) und Anna Freud(1) Entscheidendes und Substantielles beitrugen. Das heißt aber nicht, dass sich die Frankfurter Intellektuellen der Unterdrückung der Frauen nicht bewusst waren. So gibt es beispielsweise in Minima Moralia eine Passage über den »weiblichen Charakter«. Dieser, so Adorno(315), sei das Produkt einer von Männern geprägten Gesellschaft. Frauen würden wie die Natur im Zuge des Projekts Aufklärung beherrscht und verstümmelt. In unserer Zivilisation(316) hätten die Natur und der weibliche Charakter gemeinsam, dass beide den Anschein von Natur erwecken, dabei aber die Narben des Beherrschtwerdens tragen würden. »Wenn das psychoanalytische Theorem zutrifft, daß die Frauen ihre physische Beschaffenheit als Folge von Kastration empfinden, so ahnen sie in ihrer Neurose die Wahrheit. Die sich als Wunde fühlt, wenn sie blutet, weiß mehr von sich als die, welche sich als Blume vorkommt, weil das ihrem Mann in den Kram paßt(317)[31] Frauen würden unterdrückt, und das eben gerade dadurch, wie Adorno hervorhebt(318), dass sie auf die Rolle des weiblichen Charakters reduziert und gezwungen würden, diese durchzuhalten.

Hinzu kommt, dass einige spätere Feministinnen die Kritische Theorie, vor allem Adornos Überlegungen(319), als Inspiration empfanden. In der Dialektik der Aufklärung stellen er und Horkheimer(233) die instrumentelle Vernunft als neue Mythologie, als eine rechtfertigende Lüge bloß, mit der die Unterdrückung, Beherrschung und Grausamkeit unter der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft, zumal sie reibungslos funktionierte, verdunkelt werden sollten. »Was in der bürgerlichen Gesellschaft den Anschein einer vernünftigen Ordnung erweckte, wurde von Adorno(320) als irrationales Chaos entlarvt«, so Susan Borck-Morss(1), »und wo die Realität als anarchisch und irrational dargestellt wurde, entlarvte Adorno(321) die Klassenordnung, die unter diesem Anschein verborgen war.«[32] Renée Heberle(1) bemerkt in ihrer Einführung zu dem Band Feminist Interpretations of Theodor Adorno(322), dass diese Perspektive im Feminismus aufgegriffen werde. »Einige Feministinnen haben die Historizität vorgeblich natürlicher Eigenschaften der geschlechtsbestimmten Existenz aufgezeigt; andere haben auf die irrationale, mythische, naturalisierende Macht historisch begründeter Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit verwiesen.«[33] Tatsächlich hatte Adorno(323) durchaus ein Gespür dafür, wie Philosophen diese historisch begründeten Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit nutzten, um Frauen zu unterdrücken. Von Nietzsche(6) stammen die Worte: »Gehst du zum Weibe, vergiss die Peitsche nicht.« Adorno(324) sagt dazu in Minima Moralia, Nietzsche(7) habe »die Frau mit dem ungeprüften Bild weiblicher Natur von der christlichen Zivilisation« verbunden, einer Zivilisation, »der er sonst so gründlich misstraute«. Frauen seien nicht durch und durch »weibliche Charaktere«, vielmehr wollte Nietzsche(8) sie so sehen. Mit anderen Worten: Nietzsches Rat war nutzlos, da, wie Adorno(325) schreibt, »das Weib selber bereits der Effekt der Peitsche ist«.[34]

Herrschaft, Grausamkeit und Barbarei waren für Adorno(326) und Horkheimer(234) die unterdrückten Wahrheiten der Aufklärung. Dabei waren sie in ihrer Grundhaltung durchaus nicht, wie es manchmal dargestellt wird, antiaufklärerisch. Vielmehr waren sie Söhne der Aufklärung, Nutznießer von deren Erbe ebenso sehr wie Opfer, und genötigt, die Werkzeuge der Aufklärung zu benutzen, um ihr intellektuelles Erbe zu kritisieren. Es gab keinen transzendenten Punkt, von dem aus diese Aufgabe hätte bewerkstelligt werden können: Ebenso wie Brecht(66) so blieb auch ihnen nichts anderes übrig, als den Ast durchzusägen, auf dem sie saßen. Ihr Buch ist unter anderem eine virtuose Übung in immanenter Kritik, einer Kritik, bei der die Vernunft eingesetzt wird, um die kategoriale Vernunft der Aufklärung zu kritisieren.

Kurz: In der Dialektik der Aufklärung wird die Entwicklung jenes Abstiegs der Menschheit nachgezeichnet, der mit Francis Bacons Wirken(3) begann, sich über Immanuel Kants Philosophie(12) fortsetzte und in Hitlers Regime(44) kulminierte. Katalysator für ihr Gedankengebäude(327)(235) war der Umstand, dass der Mythos der Aufklärung als ein Erblühen der Reife, Freiheit und Autonomie des Menschen durch die Nationalsozialisten radikal infrage gestellt worden war. Statt zu moralischem Fortschritt, so ihre Argumentation, habe die Aufklärung zu einem Rückfall in Barbarei, Intoleranz und Gewalt geführt. Doch war das noch nicht die vollständige Geschichte. Wohl konnte der Nationalsozialismus für eine solche dialektisch sich entfaltende Darstellung angeführt werden, aber doch sicher nicht die Kräfte, die gegen den Faschismus in Europa(23) und andernorts kämpften, während die beiden Frankfurter Gelehrten(328)(236) an ihrer Dialektik der Aufklärung in Kalifornien(8) arbeiteten? Im Gegenteil – in unerbittlicher Treue zu Benjamins(440) Diktum über die Zivilisation führten Adorno(329) und Horkheimer an(237), dass die Aufklärung zwar als Befreiung der Menschheit von Mythos und Irrglauben ausgegeben worden sei, doch selbst in den Ländern, die damals gegen den Nationalsozialismus kämpften, sei sie zur Barbarei verkommen – in Form von Kulturindustrie, Naturwissenschaft und Technik als Werkzeugen der Ideologie und Herrschaftsausübung, der Zerstörung des Individuums und der verwalteten Gesellschaft. Implizit verstanden sie auch den Marxismus(287), zumindest in seiner damaligen sowjetischen(32) Pervertierung, als neues Instrument der Herrschaftsausübung. Später beschrieben sie(330)(238) ihre Arbeit als »eine Untersuchung zum Übergang in die Welt des verwalteten Lebens«, und die damit einhergehende Barbarei war ebenso sehr in New York(29), Paris(40), London(13) oder Moskau(28) anzutreffen wie in Berlin(66). Die Dialektik der Aufklärung unterstrich den Abschied der Frankfurter Schule von ihrer vormaligen Festlegung auf den Marxismus(288) sowie ihren Absturz in die Verzweiflung.

1943 lud der Nobelpreisträger Thomas Mann(6) Adorno(331) in sein Haus am San Remo Drive in Pacific Palisades ein, um ihm aus dem Manuskript seines letzten großen Romans vorzulesen: Doktor Faustus: Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn(1), erzählt von einem Freunde. Der 68 Jahre alte Schriftsteller erhoffte sich vom zwanzig Jahre jüngeren Adorno(332) fachmännischen musikalischen Rat, den er in den Roman, eine aktualisierte Fassung der Faustsage, einarbeiten konnte. Mann(7) schrieb an Adorno(333): »Wollen Sie mit mir darüber nachdenken, wie das Werk – ich meine Leverkühns Werk – ungefähr ins Werk zu setzen wäre; wie Sie es machen würden, wenn Sie im Pakt mit dem Teufel wären?«[35] Dieser faustische Pakt stellte für Adorno(334) eine unwiderstehliche Versuchung dar – selbst wenn es den Anschein hatte, als würde Thomas Mann(8) als Mephistopheles Adorno(335) aufgrund seines musikalischen Fachwissens einspannen, so wie Manns diabolischer Romanheld Adrian Leverkühn(2) seinen eigenen Lehrer in Anspruch nahm.[36] Adorno(336) erhielt im Zuge dieses Treffens nicht nur die Möglichkeit, mit dem bedeutendsten deutschsprachigen Literaten zusammenzuarbeiten, sondern darüber hinaus einen Rahmen, in welchem er die ihn beschäftigenden Ideen über Musik und Philosophie ausformulieren konnte, sowie eine Gelegenheit, Musikstücke im Stil seines verstorbenen Lehrers Alban Berg(5) zu entwerfen.

Thomas Mann(9) war ein Schriftsteller, dessen Verhältnis zum Nationalsozialismus und zum Exil in mancherlei Hinsicht mit Adornos(337) eigener Einstellung übereinstimmte. Zwar gab es Stimmen, die die literarischen Fähigkeiten des deutschen Exilautors infrage stellten. »Wer ist der langweiligste deutsche Schriftsteller? Mein Schwiegervater«, pflegte der englische Dichter W. H. Auden(1) gern zu scherzen.[37] (Auden hatte sich einverstanden erklärt, 1936 eine Scheinehe mit Manns Tochter Erika(1) einzugehen, womit sie das Recht auf einen englischen Pass erwarb und vor den Nazis fliehen konnte.[38]) Nichts weist darauf hin, dass Adorno(338) Ähnliches empfand. Vielmehr sei er, so George Steiner(1), »lebenslang ein – wenn auch zeitweise schwankender – Bewunderer von Thomas Manns(10) Genie« gewesen.[39] Was außerdem eine möglicherweise nicht geringe Rolle bei Adornos Erwägungen spielte, mit dem Nobelpreisträger zusammenzuarbeiten: Thomas Mann(11) hatte sich von antijüdischen Ansichten in einigen seiner Schriften distanziert. Noch im April 1933, als Hitler(45) die Macht ergriff, konnte Mann in sein Tagebuch schreiben: »Aber trotz allem – wäre es nicht möglich, dass in Deutschland(74) etwas zutiefst Bedeutendes und Revolutionäres geschieht? Die Juden: Es ist schließlich keine Katastrophe … dass die Vorherrschaft der Juden im Rechtssystem beendet wurde.«[40] 1936 hatte Mann(12) sich dann allerdings auf die Seite verfolgter Juden, vor allem von Exiljuden, gestellt. Eduard Korrodi(1), ein Literaturkritiker und Herausgeber der Neuen Zürcher Zeitung, hatte deutsche Exilschriftsteller angegriffen und behauptet, ihre Werke würden den internationalen jüdischen Einfluss auf die deutsche Literatur repräsentieren, auf sie könne das Vaterland leicht verzichten.[41] In einem offenen Brief, der in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlicht wurde, erwiderte Mann(13), dass der jüdische Einfluss unter den im Exil lebenden Romanschriftstellern nicht dominiere, dass vielmehr (wie ein Autor für die New Republic es in einem Artikel formulierte, der Manns mutige Stellungnahme gegen den Antisemitismus aus dem Jahr 1936 rühmte) »der internationale oder europäische Geist, der jüdischen und nichtjüdischen Autoren gemein ist, dazu beigetragen hat, Deutschland(75) wieder aus der Barbarei emporzuheben(14)«. Mann fügte hinzu, die antisemitische Hetzkampagne der damaligen deutschen Herrscher »zielt letztlich überhaupt nicht auf die Juden, jedenfalls nicht ausschließlich auf sie. Sie zielt auf Europa(24) und auf den wahren Geist Deutschlands.« Dieser wahre Geist Deutschlands – so es ihn denn gab – war jener, den er(15), Adorno(339) und Horkheimer(239) und andere ihrer Auffassung nach in ihrem Exil hüteten. Und Thomas Mann(16) ergänzte: »Die tiefe Überzeugung … daß für Deutschland(76) von der gegenwärtigen deutschen Regierung nichts Gutes kommen kann, ließ mich dieses Land meiden, in dessen geistiger Tradition ich tiefer verwurzelt bin als jene, die sich seit drei Jahren darum bemühen, all ihren Mut zusammenzunehmen und vor der Welt zu erklären, daß ich kein Deutscher bin(17)[42]

Diese Überzeugungen hatte Thomas Mann(18) sich mühsam erworben. Eigentlich war er ein unpolitischer Charakter, und die Vorstellung, Solidarität mit irgendjemandem, vor allem mit Juden, zum Ausdruck zu bringen, schreckte ihn eher ab. 1918 hatte er die Betrachtungen eines Unpolitischen verfasst, worin er versucht, den autoritären Staat gegen die Demokratie und eine Kultur der Innerlichkeit gegen moralisierende Zivilisation zu rechtfertigen. Sein(19) berühmtester Roman Der Zauberberg, veröffentlicht im Jahr 1924, bedeutete dann eine radikale Abwendung von dieser Philosophie. Der Romanheld, der Ingenieur Hans Castorp, wird während eines Besuchs bei seinem Vetter in einem Sanatorium in Davos von den lähmenden Versuchungen Krankheit, Innerlichkeit und Tod verführt, entschließt sich dann aber letztlich für ein Leben im aktiven militärischen Dienst. Das Ende des Romans, so Thomas Mann(20), stelle »einen Abschied von mancherlei bedrohlicher Neigung, Verzauberung und Versuchung dar, zu der die europäische Seele neigte«.[43]

1930 konnte der Autor(21) gegen eine spezifische Form von Verzauberung schreiben, nämlich jene durch den Nationalsozialismus. In einer damals in Berlin(67) gehaltenen Rede mit dem Titel »Ein Appell an die Vernunft« rief er zur Bildung einer gemeinsamen Front aus Bildungsbürgern und Angehörigen der sozialistischen Arbeiterklasse zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus auf. Die Rede hatte den Effekt, dass er(22) zu einem prominenten Feind der Nationalsozialisten wurde: Als Hitler(46) 1933 an die Macht kam, machte Thomas Mann(23) Urlaub in der Schweiz(4) und sein Sohn und seine Tochter rieten ihm, nicht nach Deutschland(77) zurückzukehren. Dort begannen dann also seine Exiljahre des Umherziehens, ein Schicksal, das er mit jüdischen Intellektuellen wie Adorno(340) teilte.

Die Aktualisierung der Faustsage, an der Mann(24) in Los Angeles(11) arbeitete – täglich saß er zwischen neun Uhr vormittags und zwölf Uhr an seinem Schreibtisch –, war insofern ehrgeizig, als er versuchte, die aktuelle Tragödie Deutschlands mit der Geschichte des tragischen Lebens eines modernen Komponisten zu verknüpfen. Thomas Mann(25) war der Meinung, ein Pakt mit dem Teufel, »eine satanische Vereinbarung, für eine bestimmte Zeit alle Macht auf Erden auf Kosten der Rettung der Seele zu gewinnen«, sei »für das deutsche Wesen etwas ganz Typisches«.[44] Der Roman wird aus der Perspektive von Leverkühns(3) Jugendfreund Serenus Zeitblom aus dessen Kriegsexil erzählt und umfasst auch Zeitbloms Kommentare über die Entwicklung des Krieges. Man kann nicht umhin, diese Kommentare als Niederschlag der mann(26)schen Gedanken zu den Nachrichten aus Europa(25) während der letzten Jahre des Krieges zu verstehen. Das Buch kann geradezu als Geschichte der Weimarer Republik(16) und des Zweiten Weltkriegs gelesen werden: Leverkühns Pakt mit dem Teufel steht neben dem nicht weniger diabolischen Pakt des deutschen Volkes mit dem Nationalsozialismus. An einer Stelle erwähnt Zeitblom die Bürger von Weimar, die an Buchenwalds(1) Krematorien vorbeigehen, ihren Geschäften nachgehen und versuchen, »nichts zu wissen, obwohl manchmal der Wind den Stank verbrannten Menschenfleisches in die Nasen blies«.[45]

Es ist allerdings verblüffend, dass Zeitblom zwar die Opfer Buchenwalds(2) nicht als Juden benennt, Thomas Mann(27) sich jedoch mit Sicherheit darüber im Klaren war, dass er über eine ganz überwiegend jüdische Tragödie sprach, denn diese hatte er in Radiovorträgen thematisiert, die er in den Studios der NBC in Los Angeles(12) aufzeichnen ließ und die über die BBC nach Deutschland(78) übertragen wurden. Im Roman selbst wird hingegen ein Deutschland(79) weitestgehend ohne Antisemitismus abgebildet. Aber es kommen in ihm auch zwei Figuren vor, die in antisemitischem Licht dargestellt werden. Die eine, ein Konzertagent namens Saul Fitelberg, der Leverkühn(4) dazu überreden will, als Dirigent und Pianist eine internationale Karriere zu machen, ist, trotz Warnungen aus der Familie Manns, als komische Figur angelegt.[46] »Wir Juden haben alles zu fürchten vom deutschen Charakter, qui est essentiellement anti-sémitique«, lässt Thomas Mann(28) Fitelberg an einer Stelle sagen, »Grund genug für uns natürlich, uns zur Welt zu halten, der wir Unterhaltungen und Sensationen arrangieren …«[47] Diese Passage ist mit Sicherheit frei von Hinweisen auf eine Zusammenarbeit mit Adorno(341), wie überhaupt auch der überwiegende Rest des Buches.

Thomas Mann(29) war aber eines klar: Wenn er im Roman überzeugend über Musik schreiben wollte, speziell über Deutschlands Selbstverständnis als wichtigste Musiknation weltweit und über Leverkühns(5) avantgardistischen Beitrag dazu, dann würde er Hilfe brauchen. Glücklicherweise las der Autor im Juli 1943, während er noch in der Anfangsphase der Abfassung von Doktor Faustus war, Adornos(342) Manuskript »Schönberg(14) und der Fortschritt«, woraus dann der erste Teil von Adornos Philosophie der neuen Musik wurde. Schönberg(15) hatte für Thomas Mann(30) während der Planungsphase des Romans eine gewichtige Rolle gespielt; er war mit dem bedeutenden exilierten Wiener Komponisten sogar befreundet und dinierte mit ihm in Schönbergs(16) Haus in Brentwood. Mann(31) las außerdem Schönbergs(17) Harmonielehre, ein Buch, das er als »merkwürdigste Mischung aus Ehrfurcht vor der Tradition und Revolution« bezeichnete.[48] Adornos Texte über Schönberg(18) entsprachen eher seinem Geschmack; sie lieferten darüber hinaus einen intellektuellen Rahmen, der seinem Roman ansonsten fehlte. »Ich fand eine artistisch-soziologische Situationskritik von größter Fortgeschrittenheit, Feinheit und Tiefe, welche die eigentümliche Affinität zur Idee meines Werkes, zu der ›Komposition‹ hatte, in der ich lebte, an der ich webte. In mir entschied es sich: Das ist mein Mann.«[49]

Und so kam es denn, dass Mann(32), nachdem er seine drei Vormittagsstunden mit der Niederschrift seines Romans hinter sich gebracht hatte, nachmittags Adorno(343) empfing, der dem großen Romanschriftsteller Unterricht in Musikwissenschaft gab, ihm die Feinheiten des schönberg(19)schen Zwölftonsystems erklärte und auf dem Klavier vorführte. Mann(33) bezeichnete Adorno(344) gern als seinen »Wirklichen Geheimen Rat«. Eines Nachmittags spielte Adorno(345) für ihn Beethovens(9) letzte Klaviersonate Opus 111 und klärte den Schriftsteller dann über deren Bedeutung auf, vor allem über die Art und Weise, wie sich in Beethovens(10) Spätstil Subjektivität und Objektivität dialektisch vermählen. Mann(34) schrieb daraufhin das achte Kapitel von Doktor Faustus um, in dem es um einen Vortrag über das Spätwerk Beethovens(11) von Leverkühns(6) Musiklehrer Wendell Kretzschmar(1) geht. Man kann diesen Text kaum lesen, ohne sich vorzustellen, dass Thomas Mann(35) Kretzschmar die Worte von Adorno in den Mund legte; kaum, ohne anzunehmen, dass so exquisite Passagen wie die folgende auf Manns(36) Notizen zu einem verloren gegangenen Vortrag Adornos(346) beruhen:

Beethovens(12) Künstlertum [habe] sich selbst überwachsen: aus wohnlichen Regionen der Überlieferung sei es vor erschrocken nachblickenden Menschenaugen in Sphären des ganz und gar nur noch Persönlichen aufgestiegen –, ein in Absolutheit schmerzlich isoliertes, durch die Ausgestorbenheit seines Gehörs auch noch vom Sinnlichen isoliertes Ich, der einsame Fürst eines Geisterreichs, von dem nur noch fremde Schauer selbst auf die willigsten Zeitgenossen ausgegangen seien …[50]

Oder auch: »Wo Größe und Tod zusammenträten, erklärte er, da entstehe eine der Konvention geneigte Sachlichkeit, die an Souveränität den herrischsten Subjektivismus hinter sich lasse, weil darin das Nur-Persönliche … sich noch einmal selbst überwachse, indem es ins Mythische, Kollektive groß und geisterhaft eintrete.«[51]

Während Mann(37) Adornos(347) Gedanken über Beethovens(13) Spätstil plünderte, brachte er immerhin im Kapitel einen verschlüsselten Dank für das Material unter, wenn auch in etwas schwerfälliger Weise: Im achten Kapitel illustriert Kretzschmar(2) seinen Vortrag über die Sonate, indem er das Wort »Wiesengrund(24)« singt. Das war natürlich der Name von Adornos Vater, den Adorno(348) allerdings in den Vereinigten Staaten(40) nicht mehr benutzte.[52]

Diese im Roman enthaltenen Lobeshymnen auf Beethovens(14) Spätstil – ob sie nun von Adorno(349), Kretzschmar(3) oder Mann(38) stammten – sind ein deutliches Echo auf das, was Adorno(350) damals über den späten Stil Schönbergs(20), seines Nachbarn im Exil in Hollywood(22), schrieb: wie sich bei diesem ebenso wie bei Beethoven(15) eine dialektische Kulmination des kompositorischen Werkes vollzog. Adorno(351) hatte Schönbergs(21) atonale Musik aus der Zeit um 1910 wegen ihrer freien Expressivität kritisiert; den Zwölftonstil seit 1923 kritisierte er ebenfalls, weil er sich im musikalischen Material auflöste und die subjektiven Elemente ausschloss. Erst mit seinem Spätstil habe Schönberg(22), so Adorno(352) in seiner Philosophie der neuen Musik, extreme Kalkulation und subjektiven Ausdruck vermählt, wodurch er zu einer »neuen Souveränität« vergleichbar mit derjenigen Beethovens(16) gelangt sei.[53] Diese dialektische Bewegung ästhetischer Misserfolge hin zur neuen Souveränität eines Spätstils wurde auch zur Geschichte von Adrian Leverkühns musikalischer Entwicklung. Es war also kein Wunder, dass einige deutsche Exilanten, als sie den fertiggestellten Roman 1947 lasen, in Leverkühn(7) Schönbergs(23) fiktiven Doppelgänger sahen. Schönberg(24) erklärte zwar, seine Augen seien zu schlecht, um das Buch selbst lesen zu können, doch er war erbost über die Berichte, die ihm zu Ohren kamen. Das ist wohl nachvollziehbar. Nicht viele Menschen dürften es zu schätzen wissen, sich als jemanden dargestellt zu sehen, der sich auf einen Pakt mit dem Teufel einlässt – einen Pakt, zu dem gehört, dass man zugunsten von vierundzwanzig Lebensjahren als musikalisches Genie auf Liebe verzichtet. Schönberg(25) war nicht zuletzt auch deshalb aufgebracht, weil Mann(39) eine Konversation beim Dinner ausgeschlachtet hatte, in welcher der Komponist davon gesprochen hatte, wie er seine Erfahrungen von Krankheit und ärztlicher Behandlung in ein neues Trio eingebracht habe, was dann in ein Kapitel über Leverkühns Kammermusik Eingang fand. Sein Zorn wurde noch durch Dinge vermehrt, die er von Alma Mahler-Werfel(1) erfahren hatte (die berühmte ehemalige Frau sowohl des Komponisten Gustav Mahler(1) als auch des Architekten Walter Gropius(3); kürzlich verwitwet nach dem Tod ihres dritten Ehemanns, des Romanciers Franz Werfel(1), im Jahr 1945). »Sie klatschte gern, und sie war es, die Arnold Schönberg(26) auf die Sache mit dem Zwölfton-System angesetzt hat, indem sie ihm erzählte, Thomas Mann(40) habe seine Theorie gestohlen«, so Manns Ehefrau Katja(1).[54]

Schönberg(27), der sich von seinem berühmten Nachbarn hintergangen fühlte, bat Werfel(2), Mann(41) davon zu überzeugen, in das Manuskript des Romans eine Anmerkung einzufügen, in welcher festgehalten werden sollte, dass das Zwölftonsystem in Wahrheit eine Erfindung Arnold Schönbergs(28) war. Zunächst weigerte sich Thomas Mann(42). Mit unnachahmlicher Unbescheidenheit nahm er an, das Zwölftonsystem, das in Doktor Faustus thematisiert wird, gehe allein auf ihn zurück. »Im Rahmen des Buches … nimmt die Idee der Zwölftontechnik eine Tönung und eine Farbe an, die sie an sich nicht besitzt und die sie – ist es nicht so? – in gewissem Sinn tatsächlich zu meinem Eigentum macht(43)[55]

Aber es gibt noch eine dritte Möglichkeit: Das Zwölftonsystem, wie es im Doktor Faustus dargestellt wird, sollte möglicherweise weder Schönberg(29) noch Mann(44) zugeschrieben werden, sondern Theodor Adorno(353). Schließlich war er es, der all die maßgeblichen musikalischen Ideen mitbrachte, die in Manns(45) Fiktion Eingang fanden. Adorno(354) entwarf Versionen von Leverkühns(8) letzten Kompositionen, die Mann(46) – so Adorno(355) – »in dichterische Form brachte«. Für Adorno(356) hatte dieser Teil der Zusammenarbeit ein wenig den Charakter einer Verwirklichung seines bislang weitgehend enttäuschten Traumes, als Komponist tätig zu sein. In einem Brief an Thomas Manns(47) Tochter aus dem Jahr 1962 erinnert er sich: »Ich habe die gleichen Erwägungen angestellt, die ich als Komponist angestellt hätte, wenn ich vor die Aufgabe gestellt gewesen wäre, diese Werke selbst zu schreiben; genau so wie ein Komponist, etwa Berg(6), sich im allgemeinen einen Plan macht, ehe er an seine Arbeit geht.« Und dann arbeitete er diese musikalischen Ideen aus, »als ob es nicht Vorerwägungen, sondern Beschreibungen von Bestehendem wären«.[56]

Eine dieser Ausarbeitungen von Adorno(357) war Doktor Fausti Weheklag, Leverkühns(9) letztes Werk. Seine zentrale Idee ist aus Adornos melancholischer Philosophie entliehen, vor allem der Identität des Nicht-Identischen – eine Vorstellung, die exemplarisch in Walter Benjamin(441)s Diktum über die Untrennbarkeit von Zivilisation und Barbarei zum Ausdruck kommt, das sich für die Frankfurter Schule als so bedeutsam erwies. Es gibt eine »substantielle Identität des Seligsten mit dem Schrecklichsten, die innere Einerleiheit des Engelskinder-Chors mit dem Höllengelächter«, so der Icherzähler Zeitblom im Zusammenhang mit einem früheren Oratorium Leverkühns.[57] Diese Identität zwischen dem Seligsten und dem Schrecklichsten wird zum Leitprinzip des letzten Werkes von Adrian Leverkühn(10).[58] Bahr(1) stellte diesbezüglich fest, das Höllengelächter werde ausgedrückt durch musikalische Zwitscherlaute, die für die Schreie aus den »Folterkellern der Gestapo« stehen. Dieses Ineinandergreifen von Himmel und Hölle, von Zivilisation und Barbarei, sei entscheidend, so Adorno(358) in seiner postum publizierten Ästhetischen Theorie, wenn Kunst authentisch sein wollte – wenn sie also als ein Gedächtnis an das Leiden, als Kritik fungieren und nicht im bloß Affirmativen stecken bleiben wollte. Im Roman beschreibt Zeitblom Leverkühns letztes Werk als die Umkehrung von Beethovens(17) »Lied an die Freude« aus der 9. Symphonie. Es handelt sich vielmehr um ein »Lied an die Trauer«, und insofern wird darin versucht, dem Leiden Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Der Folterkeller der Gestapo steht für einen Bereich der Nichtkunst, der vom modernen Kunstwerk zu differenzieren ist, damit es diesem entgegengestellt werden kann.[59]

Man kann durchaus sagen, dass der fertiggestellte Roman Adornos(359) melancholische Philosophie tiefgreifender wiedergibt als diejenige von Thomas Mann(48). Das soll nicht heißen, dass hier ein Plagiat vorliegt: Adorno(360) schrieb 1957, die Unterstellung, Thomas Mann(49) habe unrechtmäßig Gebrauch von seinem »geistigen Eigentum« gemacht, sei absurd.[60] Die dem Roman zugrunde liegende ästhetische Philosophie geht über die Polarität apollinisch und dionysisch, Ordnung und Ekstase hinaus, die Nietzsche(9) in der Geburt der Tragödie entwickelt hatte und die Thomas Mann(50) in seinem Schaffen mehrfach aufgriff. Der Schriftsteller hatte ursprünglich den Doktor Faustus als Darstellung eines Ausbruchs konzipiert: des Ausbruchs aus »allem Bürgerlichen, Gemäßigten, Klassischen, Apollinischen, Nüchternen, Fleißigen und Zuverlässigen in eine Welt trunkener Befreiung, ein Leben kühnen dionysischen Geistes, jenseits des Bürgertums, ja eigentlich übermenschlich«.[61] Während seiner Zusammenarbeit mit Adorno(361) gab Mann(51) jedoch seine ursprüngliche, dionysische Konzeption des Komponisten auf, und so wurde Leverkühn(11) zu etwas sehr viel Interessanterem – einer Figur, die ein Element dessen dramatisierte, was die Frankfurter Denker und vor allem Adorno(362) zur Philosophie der Kunst beigetragen hatten. In einem der ersten Kapitel des Romans macht sich Leverkühn(12) Sorgen darüber, dass seine Arbeit als Künstler zu einem Spiel geworden sei, mit dem hübsche Illusionen erzeugt werden. Und er fragt sich, »ob sämtliche Illusion, und sei sie noch so schön, ja gerade die schönste, heute nicht zu einer Lüge geworden ist«. Das stimmt mit Marcuses(76) Beobachtung in seinem Essay aus dem Jahr 1937 über den affirmativen Charakter bürgerlicher Kunst überein: Darüber, dass die Kunst als Alibi für eine repressive Ordnung dient, und nicht, wie es eigentlich sein sollte, als Widerspruch dazu. Und es passt mit Adornos(363) Gedanken zusammen, dass Dissonanz die Wahrheit der Harmonie sei, dass die Schaffung von schönen, harmonischen Kunstwerken angesichts solcher Grauen wie dem Holocaust eine hässliche und barbarische Lüge sei.

Adorno(364) war der Auffassung, es sei eine Kunst notwendig, die ihre Maske der Selbstgefälligkeit ablegte und dem Leiden Gerechtigkeit widerfahren ließ, vor allem den Grauen der Todeslager. Antagonismus, Widerspruch und Disharmonie – so sah die Wahrheit über die sozialen Beziehungen im Kapitalismus aus, und Kunst musste das reflektieren. »Die selbstgefällige Illusion von Musik selbst wurde unmöglich und ist nicht länger haltbar«, erklärt Leverkühn(13). Diese Worte könnten von Adorno(365) stammen – vielleicht kamen sie ja tatsächlich von ihm. Sie sind darüber hinaus eine implizite Kritik an Thomas Mann(52)s Ästhetik in seinen früheren Büchern. In seiner Novelle Der Tod in Venedig aus dem Jahr 1912 bemeistert der Schriftsteller Aschenbach seine dionysische Träumerei am Strand und schafft ein apollinisches Kunstwerk. Aschenbach klammert in seinem Kunstwerk demnach jene Qual und jenes Leiden aus, die es ermöglichten. Leverkühns letztes musikalisches Werk hingegen, das auf Adorno(366) und seiner ästhetischen Philosophie beruht, wird zwar von Thomas Mann(53) in seinem Roman beschrieben, doch es ist frei von einer derartigen Bezwingung subjektiver Emotionalität durch objektive Technik, frei von der Ausklammerung des Leidens, das das Werk erst möglich machte.

Thomas Mann(54) war durchaus versucht, Doktor Faustus mit einer schönen Auflösung enden zu lassen. Adorno(367) befürchtete, das könne so wirken, »als hätte der Erzsünder seine Rettung bereits in der Tasche«, und er riet Thomas Mann(55) dringend davon ab.[62] Man könnte annehmen, Leverkühn(14) erlöse sich selbst von seinem Pakt mit dem Teufel, indem er ein Kunstwerk schafft, das dem menschlichen Leiden Gerechtigkeit widerfahren lässt; ein Werk, das zeigt, dass er nicht auf die Liebe verzichtet hatte – der Verzicht auf Liebe war der ausgehandelte Preis für seine Genialität gewesen. Adorno(368) legte Mann(56) nahe, auf eine so banale Auflösung zu verzichten: Es war ausreichend, dass Leverkühns letzte Musik eine Erinnerung an das Leiden enthielt.

Leverkühn(15) wird nicht erlöst, er wird bestraft. Die letzten zehn Jahre seines Lebens ist er von einer Hirnerkrankung schlimm gemartert, die Jahre des genialischen Schaffens sind vorüber. Doch bereits vor diesem Zusammenbruch wird er vom Tod seines geliebten Neffen Echo heimgesucht – und er nimmt an, dass Echos Tod eine Folge seines Paktes mit dem Teufel ist. Auf einer Party aus Anlass der Romanveröffentlichung im Jahr 1947 las Thomas Mann(57) bei Champagner einen Abschnitt, in welchem Leverkühn(16) liebevoll auf Echo schaut, eine Figur, die nach Manns geliebtem Enkel Fridolin gestaltet ist. Für diesen Blick aus Liebe, der gegen den Vertrag mit dem Teufel verstößt, wird Leverkühn(17) bestraft – Echo wird krank und stirbt, während gleichzeitig das letzte gewaltige Werk des Komponisten in dessen Geist Gestalt annimmt. Mann(58) hielt diesen Abschnitt für die poetischste Passage des ganzen Romans. Nachdem er seine Lesung beendet hatte, wurde Champagner nachgeschenkt. Es lässt sich kaum vermeiden, dass einem mulmig wird, wenn man sich vorstellt, wie der Autor sich im poetischen Ausdruck des Leidens sonnt – als sei Thomas Mann(59), der kreative Künstler, selbst dann noch, als er menschliches Leiden thematisiert, rücksichtslos und narzisstisch auf seine persönliche kreative Leistung fixiert geblieben. Wie auch immer: Der Roman wurde in Amerika(41) ein Bestseller – die erste Auflage von 25 000 Exemplaren war schnell ausverkauft, und die Besprechungen waren überwältigend positiv.

Den Roman selbst lässt Mann(60) mit einer Klage auf Nachkriegsdeutschland enden. »Heute stürzt es, von Dämonen umschlungen, über einem Auge die Hand und mit dem andern ins Grauen starrend, hinab von Verzweiflung zu Verzweiflung. Wann wird es des Schlundes Grund erreichen? Wann wird aus letzter Hoffnungslosigkeit ein Wunder, das über den Glauben geht, das Licht der Hoffnung tagen?«[63] Es ist gelinde gesagt interessant, diese Darstellung mit dem zu vergleichen, was Adorno(369) vorfand, als er 1949 nach Frankfurt(54) zurückkehrte. Statt ein Deutschland(80), das mit einem Auge ins Grauen starrte, traf er es, wie wir sehen werden, mit zwei fest geschlossenen Augen an.

Arnold Schönberg(30) war nicht der einzige, der sich Gedanken machte wegen eines unliebsamen fiktiven Doppelgängers in Manns(61) Roman. Adorno(370) schrieb 1950 an Thomas Mann(62); er fragte sich besorgt, ob es sich, wie ein Literaturkritiker behauptet hatte, bei dem im 25. Kapitel auftretenden Teufel, der zunächst als Zuhälter erscheint und sich dann in einen Musikwissenschaftler mit Hornbrille auf der Hakennase verwandelt, um Adorno(371) handele. Mann erwiderte: »… daß der Teufel als Musikgelehrter nach Ihrem Äußeren gezeichnet sein soll, ist nun schon ganz absurd. Tragen Sie überhaupt eine Hornbrille?«[64] Adornos Biograph fügte hinzu, Mann(63) habe sich wahrscheinlich gewundert, dass Adorno(372) das Rätsel nicht gelöst hatte – der Teufel ist nicht Adorno(373), sondern hat erstaunliche Ähnlichkeit mit Gustav Mahler(2).

So ganz entkam Adorno(374) allerdings nicht der Assoziation mit teuflischem Schwefelgeruch. 1974 verfasste der postmoderne Philosoph Jean-François Lyotard(1) einen Essay mit dem Titel »Adorno(375) als Teufel«. Lyotard zufolge beklagte Adorno(376) den Verfall aus einer privilegierten Position heraus. »Die diabolische Figur ist nicht nur dialektisch«, schreibt Lyotard mit charakteristischer Prägnanz, »sie stellt ausdrücklich das Scheitern der Dialektik in der Dialektik dar, das Negative im Herzen der Negativität, den suspendierten Moment oder die momentane Suspendierung.«[65] Das heißt: Adornos Variante der Kritischen Theorie blieb, zur Impotenz verurteilt, in Negativität stecken und war unfähig, ein Versprechen auf eine bessere Zukunft zu formulieren, wie es die Leser bei Marx(289) fanden.

Mit Sicherheit lehnte Adorno(377) die marxistische(290) Vorstellung ab, wie Georg Lukács(39) sie verstand, dass intellektuelle Avantgardekünstler nur insofern nützlich seien, als sie in ihren Arbeiten die Aufmerksamkeit auf die Widersprüchlichkeiten in der gesellschaftlichen Realität lenkten, die ihre Leser oder Hörer andernfalls nicht wahrnehmen würden, und dadurch dazu beitrugen, diese Realität zum Besseren hin zu verändern. Adorno(378) kritisiert in einem Essay mit dem Titel »Reconciliation under Duress« die Perspektive von Lukács(40) als eine »vulgärmarxistische Plattitüde«.[66] Warum aber, wenn die Kunst nicht dazu dienen kann, die Revolution zu beschleunigen, legt sie dann überhaupt – dem Anspruch Adornos gemäß – Zeugnis für das Leiden ab? James(2) Hellings(1) brachte Adornos Vision von Kunst treffend auf den Punkt, als er schrieb: »Kunst kopiert oder imitiert nicht objektive Realität, sie bildet sie nicht ab, reflektiert sie nicht – sie hinkt nicht, wie Lukács(41) es darstellt, ohnmächtig hinter ihr her –; vielmehr erinnert sich die Kunst an das, was jenseits der objektiven Realität liegt (das Inkommensurable, das Andere, das darüber Hinausgehende) – sie reproduziert, rettet es.«[67] Kunst hat, wie Adorno(379) später formulieren wird, eine doppelte Daseinsweise als »Autonomie und fait social«.[68] Kunst durfte nicht affirmativ sein; sie durfte weder zur Aufrechterhaltung noch zur Überwindung des Status quo benutzt werden. Dabei war es nur die Kunst, die die Wahrheit des Leidens zum Ausdruck bringen konnte, nur sie war vor der Versuchung gefeit, Leiden für andere Zwecke einzusetzen.

Das war es, worauf die Autonomie der Kunst, Adorno(380) zufolge, letztlich hinauslief. Außerdem vertrat er die Vorstellung, dass Kunst, die diesen Namen verdiente, eine triste gesellschaftliche Realität abbilde (das meinte er, wenn er von einer Kunst sprach, für die ein »fait social« – ein gesellschaftlicher Faktor – maßgeblich war), ohne den Anspruch zu stellen, diese Realität zu verändern. Kunst konnte einen bestehenden Zustand lediglich negieren. Diese unaufhebbare Negativität in Adornos Kunstphilosophie veranlasste Karl Popper(2) zu dem Urteil, Adornos Philosophie sei »gehaltlos und unverantwortlich«.[69] Oder aber, wie Lyotard(2) es formulierte, diabolisch. Vielleicht befand sich Adorno(381) ja im Bunde mit Mephistopheles, dem Teufel in Goethes(8) Faust, der von sich sagt: »Ich bin der Geist, der stets verneint.«