Adorno(382) und Horkheimer(240) blieben während des Zweiten Weltkriegs in Kalifornien(9), mehrere andere Mitglieder der Frankfurter Schule jedoch arbeiteten für die US-Regierung in Washington(1) und unterstützten sie bei ihren Antikriegsbemühungen. Das Institut für Sozialforschung konnte demzufolge Lohnkosten einsparen. Uns mag es nach dem Ende des Kalten Krieges befremden, dass eine Gruppe offenkundig neomarxistischer Revolutionäre eingeladen wurde, mit der amerikanischen Regierung zusammenzuarbeiten. Doch Leo Löwenthal(18), Franz Neumann(5), Herbert Marcuse(77), Otto Kirchheimer(1) und Friedrich Pollock(28) wurden angeworben, weil sie als Juden, die erst kürzlich dazu gezwungen worden waren, Deutschland(81) zu verlassen, den Feind genau kannten und damit den Kampf gegen den Faschismus unterstützen konnten. Ein Jahrzehnt später sollten die Hexenjagden der McCarthy(3)-Ära gegen Personen, die man für Kommunisten hielt, in den USA ernsthaft forciert werden. 1942 mussten sich die Roten noch nicht unter dem Bett verstecken, sondern wurden mittlerweile sogar eingeladen. Was aber bedeutete der Faschismus für die Frankfurter Schule? Ein Jahrzehnt zuvor hatte Wilhelm Reich(2) in seinem 1933 erschienenen Buch Die Massenpsychologie des Faschismus dessen Aufkommen mit sexueller Unterdrückung in Zusammenhang gebracht. Er schreibt darin:
Die moralische Hemmung der natürlichen Geschlechtlichkeit des Kindes, deren letzte Etappe die schwere Beeinträchtigung der genitalen Sexualität des Kleinkindes ist, macht ängstlich, scheu, autoritätsfürchtig, gehorsam, im autoritären Sinne »brav« und »erziehbar«; sie lähmt, weil nunmehr jede lebendig-freiheitliche Regung mit schwerer Angst besetzt ist, die auflehnenden Kräfte im Menschen, setzt durch das sexuelle Denkverbot eine allgemeine Denkhemmung und Kritikunfähigkeit(3).[1]
Die Familie war für Reich also nicht wie für Hegel(45) ein eigenständiger Bereich, der Widerstand gegen den Staat ermöglichte, sondern vielmehr ein autoritärer Miniaturstaat, der das Kind auf die spätere Unterordnung vorbereitete(4).
Erich Fromm(77), der führende psychoanalytische Denker der Frankfurter Schule, ging in großen Teilen mit Reichs(5) Analyse d’accord, allerdings war er der Meinung, sie sei zu wenig empirisch bestätigt und zu sehr auf genitale Sexualität konzentriert. Fromm(78) legte dar, das Aufkommen des Faschismus hänge mit Sadomasochismus zusammen. In seinem Aufsatz »Sozialpsychologische Aspekte« stellt er eine Unterscheidung zwischen dem »revolutionären« und dem »masochistischen« Charakter an.[2] Ersterer verfügt über Ich-Stärke und nimmt sein Schicksal selbst in die Hand, während sich letzterer seinem Los unterwirft und sein Schicksal an eine höhere Macht abgibt. Fromm(79) folgte Freud(41) darin, Sadismus und Masochismus als zwei Seiten ein und derselben Medaille zu sehen: Der Sadist wendet sich gegen jene, die Zeichen von Schwäche erkennen ließen. Der sadomasochistische soziale Charakter ist ein entscheidendes Element einer autoritären Gesellschaft, weil er Fügsamkeit gegenüber den Oberen und Verachtung gegenüber den Niedrigergestellten zeigt. Für Fromm(80) war der Sadomasochist durch anales Streben nach Ordnung, Pünktlichkeit und Anspruchslosigkeit charakterisiert: Diese Art von sozialen Charakterzügen war es, die ein Faschist in höchstem Maße erwartete, wenn es darum ging, dass die Züge pünktlich abfahren oder Juden in industriellem Ausmaß ermordet werden sollten.
Allerdings sagt das nur wenig über den Grund, warum der Faschismus ausgerechnet in Deutschland(82) so erfolgreich war. Während der 1930er Jahre entwickelte Fromm(81) eine Darstellung des Geschehenen, die sein 1941 erschienenes Buch Escape from Freedom (Die Furcht vor der Freiheit) ergänzte. Fromm(82) erklärte, als Deutschland(83) sich vom frühen Monopolkapitalismus aus weiterentwickelte, sei der soziale Charakter der unteren Mittelschicht erhalten geblieben. Der Kleinbürger, Inbegriff des Frühkapitalismus, der sein eigenes Unternehmen besaß und organisierte, wurde unter den von großen Firmen geprägten Kapitalismusformen zu einer Anomalie. Aus der Klasse der Kleinbürger kamen die unwissenden Helden der Geschichte in Max Weber(8)s Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus: Es waren die sparsamen, lustfeindlichen, pflichtbewussten Charaktere, die in der Frühphase des Kapitalismus dominierten. Mittlerweile waren sie in der Weimarer Republik(17) politisch machtlos geworden, wirtschaftlich vernichtet und geistig entfremdet. Als Sadomasochisten verlangten sie nun nicht danach, ihr Schicksal selbst zu verändern, sondern es vielmehr einer Instanz zu übergeben, die diese Veränderung für sie durchführen würde. »Der Wunsch nach Autorität wird auf den starken Führer hin kanalisiert, während andere spezifische Vaterfiguren zu Objekten der Rebellion werden«, so Fromm(83) in »Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung für die Sozialpsychologie« aus dem Jahr 1932.[3] 1941, als er an Die Furcht vor der Freiheit arbeitete, stellte Fromm(84) diese sadomasochistische Sehnsucht nach einem starken Führer vonseiten des deutschen Kleinbürgertums als Teil eines umfassenden historischen dialektischen Prozesses dar. Der Prozess der Befreiung von einer Autorität (sei diese Autorität nun Gott oder eine gesellschaftliche Übereinkunft) führte nach Fromm(85) zu einer Art Angst oder Hoffnungslosigkeit, welche derjenigen ähnelt, die Kleinkinder während der frühkindlichen Entwicklung durchmachen.
Fromm(86) zufolge kann die Abwesenheit von Autorität als vernichtend und erschreckend erfahren werden. Er unterschied zwischen negativer und positiver Freiheit – der Freiheit von und der Freiheit zu etwas. Die Verantwortung, die dem Menschen in Verbindung mit der Freiheit von einer Autorität übertragen wird, kann unerträglich sein, wenn wir nicht dazu in der Lage sind, von unserer positiven Freiheit kreativen Gebrauch zu machen. Fromms(87) Vorstellung berührt sich mit der fast zeitgleich entstandenen Darstellung der Angst vor der Freiheit, wie sie der Protagonist des existentialistischen Philosophen Jean-Paul Sartre(1) in seinem 1938 erschienenen Roman Der Ekel erfährt. Während jedoch Sartre die ekelerregende Erfahrung der Freiheit als allgemein menschliche Gegebenheit ansah, stellte Fromm(88) sie in einen historischen, dialektischen Zusammenhang. Und es ist eben die Unfähigkeit, Verantwortung für die kreative Ausübung positiver Freiheit zu übernehmen, welche den egoschwachen sozialen Charakter kennzeichnet. Um spirituelle Sicherheit zu erlangen und der unerträglichen Last der Freiheit zu entkommen, ersetzt das verängstigte Individuum die eine Form der Autorität durch eine andere.
Fromm(89) schrieb: »Der erste Fluchtmechanismus, mit dem wir uns befassen wollen, ist die Tendenz, die Unabhängigkeit des eigenen Selbst aufzugeben und es mit irgendjemand oder irgendetwas außerhalb seiner selbst zu verschmelzen, um sich auf diese Weise die Kraft zu erwerben, die dem eigenen Selbst fehlt.«[4] So also erklärt sich die Anziehungskraft Hitlers(47): Die autoritäre Persönlichkeit des Führers war nicht nur der Grund dafür, dass er im Namen einer höheren, wenn auch fiktiven Autorität (der germanischen Herrenrasse) über Deutschland(84) herrschen wollte, sondern machte ihn auch für eine verunsicherte Mittelschicht so anziehend. Fromm(90) merkte an, diese Furcht vor der Freiheit sei allerdings nichts spezifisch Faschistisches, sondern stelle eine Bedrohung der demokratischen Basis in jedem modernen Staat dar. In der Einleitung zu Die Furcht vor der Freiheit zitiert er(91) zustimmend die Worte des amerikanischen pragmatischen Philosophen John Dewey(10): »Die ernste Gefahr für unsere Demokratie besteht nicht in der Existenz totalitärer fremder Staaten. Sie besteht darin, daß in unseren eigenen persönlichen Einstellungen und in unseren eigenen Institutionen Bedingungen herrschen, die der Autorität von außen, der Disziplin, der Uniformität und Abhängigkeit vom Führer in diesen Ländern zum Sieg verhelfen. Demnach befindet sich das Schlachtfeld hier – in uns selbst und in unseren Institutionen(11).«[5]
Fromms(92) Interpretation, dass der Faschismus auf dem Sadomasochismus seiner Unterstützer beruhe, wurde für die Frankfurter Schule zur geltenden Lehre. Diese Ideologie, so Marcuse(78) in seinem 1934 erschienenen Essay »Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung«, »zeigt unmittelbar das, was ist, aber mit einer radikalen Umwertung der Werte; Unglück wird zur Gnade, Not zum Segen, Elend zum Schicksal.«[6]
Der deutsche marxistische(291) Philosoph Ernst Bloch(4) – er lebte und wirkte im Exil in Zürich(1) – widersprach dieser Interpretation der Frankfurter Gelehrten, die im Nationalsozialismus ein Symptom des Wunsches nach einer Autoritätsperson sahen. In seinem Buch Erbschaft dieser Zeit aus dem Jahr 1935 meint Bloch demgegenüber(5), Faschismus sei eine pervertierte religiöse Bewegung, die die Leute mit anachronistischem Kitsch und Scheinutopien von den Wundern eines zukünftigen Reiches für sich einnahm.[7] Der Faschismus wäre demzufolge ein Paradox, eine Mischung aus Alt und Modern: genauer gesagt ein System, das eine dem Kapitalismus feindliche Tradition zur Aufrechterhaltung des Kapitalismus vereinnahmte. Für Bloch(6) wie auch für Walter Benjamin(442) war der Faschismus eine kulturelle Synthese, die sowohl antikapitalistische als auch utopische Aspekte enthielt. Die Denker der Frankfurter Schule versäumten es, in ihren Faschismusanalysen auf das einzugehen, was Benjamin als »Ästhetisierung der Politik« bezeichnete. Benjamin, Bloch(7) und Siegfried Kracauer(7) waren es, die sich mit der Frage beschäftigten, wie die Nazis Mythen, Symbole, Paraden und Demonstrationen nutzten, um Unterstützung zu erzwingen. Benjamin schrieb im Jahr 1936, die Selbstentfremdung der Menschheit habe »jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuß ersten Ranges erleben läßt«.[8] Unter Menschheit verstand er all diejenigen, die den irreführenden Träumen von Filippo Marinetti(1) erlegen waren, dem italienischen Futuristen, Dichter und Faschisten, der von der Schönheit des Krieges schwärmte.
Diese gegensätzlichen Ideen hatten innerhalb der Frankfurter Schule einen Streit zwischen zwei führenden Theoretikern des Faschismus, Friedrich Pollock(29) und Franz Neumann(6), zur Folge.[9] Pollock vertrat die Auffassung, es gebe so etwas wie einen Staatskapitalismus, und sowohl das nationalsozialistische Deutschland(85) als auch die Sowjetunion(33) hätten den Kapitalismus nicht abgeschafft, es sei ihnen vielmehr gelungen, mit Mitteln staatlicher Planung, der Förderung technischer Innovationen und der Ankurbelung der Industrie durch erhöhte Militärausgaben das Offenbarwerden seiner Widersprüchlichkeit hinauszuschieben. Vielleicht, so Pollocks(30) pessimistische Hypothese, hatten Hitler(48) und Stalin(20) während der Großen Depression in den 1930er Jahren das kapitalistische System sogar unverwundbar gemacht. Das war in sich häretisch: Mit Sicherheit stellte es einen eklatanten Widerspruch zu Henryk Grossmanns(55) These dar, nach welcher der Kapitalismus dazu verurteilt sei, an der ihm immanenten Widersprüchlichkeit zugrunde zu gehen. Neumann(7) sprach sich gegen Pollocks(31) Annahme aus. Für ihn war »Staatskapitalismus« ein Widerspruch in sich. Wenn der Staat zum einzigen Besitzer der Produktionsmittel würde, dann könnte der Kapitalismus überhaupt nicht mehr richtig funktionieren. Neumann war vielmehr der Meinung, was unter der Herrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland(86) passiere, bestehe darin, »daß die Widersprüche des Kapitalismus in Deutschland auf einem höheren und deshalb auch gefährlicherem Niveau wirksam sind, auch wenn diese Widersprüche durch einen bürokratischen Apparat und durch die Ideologie von der Volksgemeinschaft verdeckt werden«.[10] Was Neumann(8) als Hitlers(49) totalitären Monopolkapitalismus bezeichnete, war möglicherweise noch krisenanfälliger als der liberale Monopolkapitalismus.
Doch selbst Neumann(9), der sich eigentlich nicht für psychosoziale oder ästhetische Erklärungen des hitler(50)schen Erfolgs erwärmen konnte, ganz zu schweigen von der Vorstellung, dass Hitlers(51) wichtigste Unterstützer Sadomasochisten seien, konnte in seinem 1942 erschienenen Buch Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus anmerken: »Charismatische Herrschaft ist lange Zeit vernachlässigt und lächerlich gemacht worden, hat aber offenbar weit zurückreichende Wurzeln und wird, wenn die geeigneten psychologischen und gesellschaftlichen Bedingungen erst einmal vorhanden sind, zu einer machtvollen Antriebskraft. Die charismatische Macht des Führers ist kein bloßes Trugbild – niemand kann bezweifeln, daß Millionen an sie glauben(10).«[11] Allerdings wirkte es sich katastrophal auf die Nationalsozialisten aus, dass sie den Fehler begingen, ihrer eigenen Publicity Glauben zu schenken. Adorno(383) verweist darauf in einem Abschnitt der Minima Moralia, der während der letzten Tage des Zweiten Weltkriegs entstand:
Sie [die nationalsozialistischen Führer] sahen nicht mehr vor sich als die Versammlung, die ihnen zujubelte, und den verängstigten Verhandlungspartner: das verstellte ihnen die Einsicht in die objektive Gewalt der größeren Kapitalmasse. Es ist die immanente Rache an Hitler(52), daß er, der Henker der liberalen Gesellschaft, doch seinem eigenen Bewußtseinsstand nach zu »liberal« war, um zu erkennen, wie unter der Hülle des Liberalismus draußen die unwiderstehliche Herrschaft des industriellen Potentials sich bildete(384).[12]
Nach Adornos(385) Meinung war Deutschland(87) von einer weiter fortgeschrittenen Form des Kapitalismus besiegt worden. Er schrieb in einem Brief an Horkheimer(241), dass »die Produktivkräfte der wirtschaftlich fortgeschrittneren Länder … sich doch als stärker erwiesen [haben] … Der Krieg ist … von der Industrie gegen das Militär gewonnen worden(386).«[13] Das ist nicht falsch, allerdings lässt es die Rolle der Sowjetunion(34) außen vor, jenes nicht liberalen Staatswesens, dessen Sieg über Hitlers(53) Streitkräfte vor Stalingrad(3) im Jahr 1943 eine entscheidende Rolle für den Verlauf des europäischen Konflikts spielte. Es war der sowjetische Totalitarismus, der dem nationalsozialistischen Totalitarismus den tödlichen Schlag versetzte, nicht der liberale Kapitalismus.
Eine Frage bleibt im Zusammenhang mit dem Faschismus noch zu klären, nämlich die Rolle des Antisemitismus. Im letzten Abschnitt der Dialektik der Aufklärung »Elemente des Antisemitismus«, der nach dem Krieg verfasst und erstmals 1947 veröffentlicht wurde, halten Adorno(387) und Horkheimer fest(242), dass Juden als notwendiges Ventil für die Frustrationen und Aggressionen innerhalb der Gesellschaft fungieren. Allerdings schreiben sie diese Notwendigkeit dem kapitalistischen System und nicht speziell dem deutschen Faschismus zu. Die Frustrationen und Aggressionen der Arbeiter werden einer anderen Gruppe aufgebürdet: »Die produktive Arbeit des Kapitalisten, ob er seinen Profit mit dem Unternehmerlohn wie im Liberalismus oder dem Direktorengehalt wie heute rechtfertigte, war die Ideologie, die das Wesen des Arbeitsvertrags und die raffende Natur des Wirtschaftssystems überhaupt zudeckte. Darum schreit man: haltet den Dieb! und zeigt auf den Juden. Er ist in der Tat der Sündenbock, nicht bloß für einzelne Manöver und Machinationen, sondern in dem umfassenden Sinn, daß ihm das ökonomische Unrecht der ganzen Klasse aufgebürdet wird.«[14]
Aber warum waren ausgerechnet die Juden die Sündenböcke? Weil, so Adorno(388) und Horkheimer(243), das Bild des Juden eine falsche Projektion von Dingen sei, die an der nichtjüdischen Gesellschaft unerträglich waren. Juden wurden gehasst, weil sie fälschlich als etwas gesehen wurden, das Nichtjuden sich sehnten zu sein.
Gleichgültig wie die Juden an sich selber beschaffen sein mögen, ihr Bild, als das des Überwundenen, trägt die Züge, denen die totalitär gewordene Herrschaft todfeind sein muß: des Glückes ohne Macht, des Lohnes ohne Arbeit, der Heimat ohne Grenzstein, der Religion ohne Mythos. Verpönt sind diese Züge von der Herrschaft, weil die Beherrschten sie insgeheim ersehnen. Nur so lange kann jene bestehen, wie die Beherrschten selber das Ersehnte zum Verhaßten machen.[15]
Und Juden konnten als solcherart verhasste Projektionsflächen herhalten – das Bild des umherschweifenden Juden, bemerkte Adorno(389) 1940, stehe für einen »Zustand, in dem die Menschheit keine Arbeit kannte, und alle späteren Angriffe gegen den parasitären, verbraucherischen Charakter der Juden sind nichts als Rationalisierungen«.[16]
Löwenthal(19), Marcuse(79), Kirchheimer(2), Neumann(11) und Pollock(32) halfen mit, den von der Frankfurter Schule beschriebenen Faschismus zu besiegen, indem sie für die amerikanische Regierung arbeiteten. Pollock war für die Antikartellabteilung des Justizministeriums tätig, Löwenthal für das Office of War Information. William Donovan(1) – auch bekannt als »Wild Bill«, Leiter des Office of Strategic Services (OSS), des von Präsident Roosevelt(5) im Jahr 1941 gegründeten Kriegsgeheimdiensts – warb die drei anderen Mitglieder der Frankfurter Schule – Neumann(12), Marcuse(80) und Kirchheimer(3) – als Geheimdienstanalytiker an.
Marcuse(81) sagte, er sei nach Washington(2) gegangen, »um alles in meiner Macht Stehende zu tun, das Nazi-Regime zu besiegen«. Nach dem Krieg tadelten Marcuses kommunistische Kritiker ihn dafür, dass er für den Vorläufer der CIA gearbeitet hatte. »Wenn Kritiker mir das vorwerfen«, so Marcuse in einem späteren Interview, »dann zeigt das lediglich die Ignoranz dieser Leute, die offenbar vergessen haben, dass der damalige Krieg ein Krieg gegen den Faschismus war und dass ich infolgedessen nicht den leisesten Grund habe, mich dafür zu schämen, dass ich dabei geholfen habe(82).«[17]
Als deutsche Exilanten kannten sich diese drei Männer mit dem Feind Amerikas(43) bestens aus. Das galt vor allem für Neumann(13), der gerade Behemoth veröffentlicht hatte, die Frucht einer detaillierten Erforschung, wie das nationalsozialistische System funktioniert hatte, wenn auch aus einer neomarxistischen Perspektive. Im Vorwort zu dem Buch Secret Reports on Nazi Germany: The Frankfurt(55) School Contribution to the War Effort weist Raymond Geuss(1), Philosophieprofessor in Cambridge(2), darauf hin, dass eine derartige »Duldung intellektuellen Abweichlertums«, durch welche die Ideen des Marxismus(292) für die Überwindung des Faschismus in Dienst genommen werden konnten, in eklatantem Kontrast zu der »Politik kurzsichtigen intellektuellen Konformismus« der angloamerikanischen Welt im 21. Jahrhundert stehe.[18] Geuss erinnert daran, dass Neumann(14), Marcuse(83) und Kirchheimer(4) mit eingebunden wurden, weil sie profunde Einsichten in die politische Kultur des Feindes liefern konnten – was, so darf man wohl annehmen, genau die Art von Erkenntnis gewesen wäre, die während der Invasion im Irak(1) im Jahr 2003 hätte nützlich sein können. Aber Bush(1) und Blair(1) ließen dergleichen informierte regimekritische Stimmen nicht zu, die ihnen wertvolle Informationen zu ihrem »Krieg gegen den Terror« hätten liefern können. In scharfem Gegensatz dazu stellten die Frankfurter Gelehrten eine belebende Herausforderung der etablierten Meinungen über den Nationalsozialismus dar. So hinterfragten sie etwa Churchills(1) Idee, dass entweder »preußischer Militarismus« oder der »teutonische Herrschaftsdrang« den Aufstieg Hitlers(54) erklären würde. Sie sahen die Verantwortlichkeit in einem moderneren Zusammenhang: in einer Reihe von Abkommen zwischen dem industrialisierten Bürgertum und dem Regime.
Sie hinterfragten außerdem die Strategie der Alliierten kritisch, Deutschland(88) durch Bombardierung in die Knie zu zwingen. Im Juni 1944 verfasste Neumann(15) einen Aufsatz, in welchem er die Bombardierung deutscher Städte kritisiert, und zwar nicht, weil sie unmenschlich, sondern weil sie kontraproduktiv war. »Es gibt viele unterschiedliche Auswirkungen der Luftangriffe auf die deutsche Bevölkerung, eines aber haben sie alle gemeinsam: Sämtliche politischen Probleme, sowohl auf nationaler wie auf individueller Ebene, werden von den persönlichen Problemen verschlungen.«[19] Das ist eine typisch marxistische(293) Analyse zur Nützlichkeit der Bombardierungen: Neumann(16) argumentiert, ausgebombte deutsche Zivilisten würden zwangsläufig die Sorge um ihr nacktes Überleben über ihre Klasseninteressen stellen oder auch über die Notwendigkeit, den Nationalsozialismus zu stürzen. Mit der Bombardierung der deutschen Städte riskierten die Alliierten, die Überlebensdauer des Dritten Reiches eher zu verlängern statt zu verkürzen. Erst viele Jahrzehnte später wurde mit Büchern wie Jörg Friedrich(1)s Der Brand: Deutschland(89) im Bombenkrieg 1940–1945 und W. G. Sebald(1)s Luftkrieg und Literatur das fast vollständige Schweigen über den Tod von 635 000 Deutschen, zum größten Teil Zivilisten, gebrochen, sowie über den Umstand, dass 7,5 Millionen Menschen obdachlos wurden, als über 131 Städten und Ortschaften englische und amerikanische Bomben abgeworfen wurden. Daran kann man ablesen, wie prophetisch Neumanns(17) Argument gewesen war: dass es in den Trümmern von Hamburg(3) oder Dresden praktisch unmöglich war, über die Organisation von Widerstand gegen den Nationalsozialismus nachzudenken.
Neumann(18) ist der interessanteste Mann aus der Reihe der Frankfurter Gelehrten, die Uncle Sam unterstützten, und das nicht nur, weil er während des Krieges Informationen an sowjetische Spione weitergab, die ihn unter seinem Decknamen Ruff kannten. Neumann wurde 1900 im polnischen Katowice(1) geboren. Als Student hatte er bei der gescheiterten deutschen Revolution des Jahres 1918 mitgewirkt;[20] später war er als Anwalt mit Schwerpunkt Arbeitsrecht tätig, vertrat Gewerkschaften und wurde wichtigster Rechtsberater der SPD. Weil er befürchten musste, von den Nazis verhaftet zu werden, floh er 1933 nach England(8), wo er an der London(14) School of Economics unter anderem bei Karl Mannheim(7) studierte. 1936 schloss er sich auf Empfehlung von Harold Laski(1) von der LSE dem Institut für Sozialforschung in New York(30) an. Während er für das Institut tätig war, verfasste er nicht nur Behemoth, sondern half auch dabei, die Unterstützung für die Antisemitismusstudie des Instituts durch das American Jewish Committee zu sichern.
Als stellvertretender Leiter der mitteleuropäischen Forschungs- und Analyseabteilung des OSS hatte Neumann(19) Zugang zu Geheiminformationen von amerikanischen Botschaftern, die er bereitwillig an Elizabeth Zarubina(1) weiterreichte, eine in den USA eingesetzte sowjetische Spionin, die er über seinen Freund Paul Massing(1) (einen Soziologen mit Beziehungen zum Institut) und dessen Frau Hede(1) kennengelernt hatte. Paul und Hede Massing hatten für das NKWD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) gearbeitet und unterhielten immer noch Beziehungen zum sowjetischen(35) Geheimdienst. Als Neumann(20) allerdings 1943 die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt, fürchteten die Massings, dass er womöglich aus neu entdecktem Patriotismus damit aufhören würde, den Sowjets(36) Informationen zukommen zu lassen. Neumann schrieb zurück und sagte, er sehe nach wie vor seine erste Pflicht darin, den Sieg über den Nationalsozialismus zu gewährleisten, also: »Wenn es etwas wirklich Wichtiges gibt, werde ich Euch umgehend informieren(21).«[21]
Es gibt die Vermutung, dass es sich bei Neumann(22) um einen sowjetischen(37) Spion gehandelt haben könnte, der in den streng geheimen Venona-Papieren erwähnt wird. Durch diese erst 1995 freigegebenen Papiere wurden die Aktivitäten eines Spionageabwehrprogramms enthüllt, das von 1944 bis 1980 vom Signal Intelligence Service der US-Army betrieben wurde, dem Vorläufer der National Security Agency. Die Mitarbeiter am Venona-Projekt deckten einen sowjetischen(38) Spionagering auf, der auf das Manhattan Project, die Entwicklung von Nuklearwaffen, angesetzt war; später kamen Venona-Projektmitarbeiter Ethel(1) und Julius Rosenberg(1) auf die Spur, die Informationen über die Atombombe nach Moskau(29) lieferten, was 1953 ihre Hinrichtung zur Folge hatte. Die Hypothese allerdings, Neumann(23) – mit seinen zahlreichen marxistischen(294) Expertisen – sei ein mit den Rosenbergs(2)(2) vergleichbarer Verräter gewesen, ist doch wohl abstrus: Er war sehr wahrscheinlich kein Doppelagent, sondern sah es lediglich als seine Pflicht in Kriegszeiten an, die Alliierten, zu denen auch die Sowjetunion(39) gehörte, beim Sieg über die Nazis zu unterstützen. Es gab für ihn auf jeden Fall keine Interessenskonflikte. Als sich allerdings die US-Regierung nach Hitlers(55) Niederlage zunehmend darauf konzentrierte, der europaweiten Verbreitung des Sowjetkommunismus Einhalt zu gebieten, kamen seine Vorgesetzten in Washington(3) möglicherweise auf andere Gedanken. Nach dem Krieg wurde Neumann(24) Professor für Politikwissenschaft an der Columbia University in New York(31) und half bei der Einrichtung der Freien Universität Berlin(68). Der Name der in den ersten Jahren des Kalten Krieges in Westberlin(69) gegründeten Universität hatte symbolische Bedeutung: Im Unterschied zu der von Kommunisten kontrollierten Humboldt-Universität in Ostberlin(70) gehörte sie zu dem, was die Amerikaner als die »freie Welt« zu bezeichnen pflegten. Skeptiker könnten jetzt natürlich einwenden, diese Tätigkeiten wären die ideale Tarnung für einen gewieften sowjetischen(40) Doppelagenten gewesen, vor allem einen Agenten, der es vermeiden wollte, wie die Rosenbergs(3)(3) zu enden oder in ein trostloses Moskauer(30) Exil gezwungen zu werden wie einige aus dem (3)Spionagenetzwerk von Cambridge, die den Kreml mit Informationen versorgt hatten. Aber all das kann nicht als Hinweis darauf interpretiert werden, dass Franz Neumann(25) zu dieser Gruppe gehörte.
Alle drei Männer – Marcuse(84), Kirchheimer(5) und Neumann(26) – arbeiteten für den OSS als politische Analysten, die bei der Identifizierung sowohl von Nazis halfen, die für Kriegsverbrechen verantwortlich waren, als auch von Nazikritikern, auf die man sich in der Phase des Wiederaufbaus nach dem Krieg stützen konnte. Jürgen Habermas(12) fragte Marcuse(85) einmal, ob ihre Vorschläge konkret umgesetzt worden seien. »Im Gegenteil«, so die Antwort. »Diejenigen, die wir als ›Wirtschafts-Kriegsverbrecher‹ aufgelistet hatten, saßen in der deutschen Wirtschaft sehr schnell wieder auf den entscheidenden verantwortlichen Posten.«[22]
Nach dem Sieg über die Nazis arbeitete Neumann(27) auch weiterhin für den OSS und das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal unter dessen Hauptankläger Robert H. Jackson(1). Er verfasste Gutachten zu zweiundzwanzig nationalsozialistischen Angeklagten, unter anderem auch von Hermann Göring(1), Hitlers(56) designiertem Nachfolger. Seine Analysen waren zentraler Bestandteil der Anklageschriften. Außerdem erhielt er von Donovan(2) den Auftrag zu erkunden, warum die Nazis die christlichen Kirchen verfolgt hatten. Er und sein Team kamen zu dem Schluss, dass die Macht der Kirche über die Menschen, vor allem über junge Menschen, gebrochen wurde, weil die Kirche ein Ort des Widerstands gegen die Ideologie des Nationalsozialismus war. »Sie brachten offen ihr Ziel zum Ausdruck, die christlichen Kirchen in Deutschland(90) zu eliminieren und durch nationalsozialistische Einrichtungen und nationalsozialistische Glaubensinhalte zu ersetzen. Sie betrieben ein Programm der Verfolgung von Priestern, Geistlichen und Angehörigen religiöser Orden, bei denen sie eine kritische Einstellung zu ihren eigenen Zwecken vermuteten, und sie konfiszierten Kircheneigentum.«[23]
Erstaunen muss allerdings, dass Neumann(28) und sein Team von Donovan(3) nicht damit beauftragt wurden, die andere, verheerendere Form religiöser Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu untersuchen, die während der Reichskristallnacht im November 1938 zur Zerstörung von 267 Synagogen in ganz Deutschland(91) geführt hatte; und später zur Ermordung von sechs Millionen Juden.
Am 9. Juli 1946 schrieb Adorno(390) an seine Mutter, nachdem er telegraphisch vom Tod seines Vaters erfahren hatte. Oscar Wiesengrund(25) starb nach langer Krankheit im Alter von siebenundsiebzig Jahren:
Zwei Dinge sind es, von denen ich mich nicht freimachen kann. Das Eine: daß ich den Tod im Exil, trotzdem es gegen die Existenz drüben ein Glück bedeutete, als besonders grauenvoll empfinde – daß einem Menschen die Kontinuität seines Lebens sinnlos entzweigeschlagen wird, daß er gewissermaßen nicht sein eigenes Leben zuende leben darf, sondern am Schluß das ihm ganz Äußerliche des »Emigranten«, des Repräsentanten einer Gattung eher als eines Individuums, aufgebürdet wird … Das andere: daß man, wenn einem der Vater stirbt, das eigene Leben wie Raub, Frechheit, ein dem des Älteren Entzogenes fühlt – das Unrecht des Weiterlebens, wie wenn man den Toten um Licht und Atem betröge. Die Ahnung dieser Schuld ist unendlich stark in mir.[24]
Doch die Schuld des Überlebenden entsprang noch einem anderen Grund: Adorno(391) hatte den Holocaust überlebt. Im August 1945, als über Hiroshima(1) und Nagasaki(1) zwei Atombomben gezündet wurden, um den Zweiten Weltkrieg zu beenden, wurde die in industriellem Ausmaß betriebene Ermordung der Juden in Auschwitz(2), Treblinka(1), Bergen-Belsen(1), Sobibor(1), Majdanek(1) und anderen Konzentrationslagern den Augen der Welt enthüllt.
In Minima Moralia, an denen Adorno(392) damals schrieb, interpretiert er die Todeslager als eine Art pervertierten Ausdruck des marx(295)schen Tauschprinzips in Verbindung mit einer freud(42)schen Projektion dessen auf den Anderen, was man an sich selbst am meisten verabscheut – sowohl eine Kulmination wie eine Leugnung der aufklärerischen Werte. »Die Technik der Konzentrationslager läuft darauf hinaus, die Gefangenen wie ihre Wächter zu machen, die Ermordeten zu Mördern. Der Rassenunterschied wird zum absoluten erhoben, damit man ihn absolut abschaffen kann, wäre es selbst, indem nichts Verschiedenes mehr überlebt.«[25] Für Adorno(393) war Auschwitz(3) aber dennoch ein Grauen, das mit vergangenen Greueln nicht zu vergleichen war. »Man kann nicht Auschwitz(4) auf eine Analogie mit der Vernichtung der griechischen Stadtstaaten bringen als bloß graduelle Zunahme des Grauens, der gegenüber man den eigenen Seelenfrieden bewahrt. Wohl aber fällt von der nie zuvor erfahrenen Marter der Erniedrigung der im Viehwagen Verschleppten das tödlich-grelle Licht noch auf die fernste Vergangenheit(394).«[26]
Das Denken konnte nicht so fortgeführt werden wie bisher. 1949, aufgestört von Auschwitz(5) und mit dem Gefühl nicht nur der Schuld, sondern auch der Verantwortung des Überlebenden, kehrte Adorno(395) aus Kalifornien(10) nach Frankfurt(56) zurück, wo er zusammen mit Horkheimer(244) unter völlig veränderten Umständen philosophieren sollte – in den Trümmern der westlichen Zivilisation.