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Die Gespenstersonate

Im Herbst 1949 segelte Adorno(396) auf der Queen Elizabeth über den Atlantik zurück nach Europa(26). Er war nach fünfzehn Jahren des Exils unterwegs zu seiner Geburtsstadt Frankfurt(57), um dort seine Lehrtätigkeit wieder aufzunehmen.

Horkheimer(245), dem eine Professur an der Universität Frankfurt(58) angeboten worden war, war für den Aufbruch zu krank. In Paris(41) unterbrach Adorno(397) seine Reise und schrieb von dort an Horkheimer(246):

Die Rückkunft nach Europa(27) hat mit einer Gewalt mich ergriffen, die zu beschreiben mir die Worte fehlen. Und die Schönheit von Paris(42) leuchtet durch die Fetzen der Armut rührender noch als je zuvor … Was hier noch ist, mag historisch verurteilt sein und trägt die Spur davon deutlich genug, aber daß es noch ist, das Ungleichzeitige selber, gehört auch zum geschichtlichen Bild und birgt die schwache Hoffnung, daß etwas vom Menschlichen, trotz allem überlebt(398).[1]

Auf viele andere seiner Kollegen im Exil wirkte sich die Anziehungskraft Europas nicht mit solcher Stärke aus. Andere ehemalige Mitglieder des Instituts – Marcuse(86), Fromm(93), Löwenthal(20), Kirchheimer(6) und Neumann(29) – blieben alle in den Vereinigten Staaten(45), obwohl sie gelegentlich besuchsweise in ihre Heimat zurückkehrten. Henryk Grossmann(56) hingegen, der die Jahre seines amerikanischen Exils in nur losem Kontakt mit den Mitarbeitern des Instituts verbracht hatte, verließ die Vereinigten Staaten(46) gern, um sich in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands niederzulassen. Während des Zweiten Weltkriegs war er vom FBI verdächtigt worden, ein deutscher Spion zu sein, und während der ersten Jahre des Kalten Krieges hatte er aufgrund seiner Beziehungen zu Kommunisten die Sorge, dass das Komitee für unamerikanische Umtriebe ihn im Visier hatte. »Marxismus(296) wird als Verbrechen eingestuft«, teilte er einem Freund mit, »und man kann nur dann Karriere machen, wenn man gegen Marx(297) schreibt.«[2] Er akzeptierte im Jahr 1948 daher eine Abfindung vom Institut, die Friedrich Pollock(33) in die Wege geleitet hatte, und nahm einen Ruf als Professor für Wirtschaftswissenschaften der Universität Leipzig(4) an, das damals in der sowjetisch besetzten Zone lag und seit dem 7. Oktober 1949 zu Ostdeutschland gehörte.

Grossmann(57) hatte keine engeren Familienmitglieder mehr: Seine Frau Jana(1) und sein Sohn Jan(1) waren 1943 in Auschwitz(6) ermordet worden und sein zweiter Sohn Stanislaw war(1) offenbar schon vor ihnen gestorben. Während des Kalten Krieges stellte der Zuzug von Grossmann(58) und Männern wie Ernst Bloch(8), Hanns Eisler(7) und Bertolt Brecht(67) im Wettkampf mit Westdeutschland um die Anwerbung namhafter, intellektueller, antinationalsozialistischer Exilanten einen bedeutenden Erfolg für Ostdeutschland dar. Im März 1950 wurde Grossmann(59) von der Stadt Leipzig(5) für den Nationalpreis nominiert – »für die Gesamtheit seiner wissenschaftlichen Leistungen auf dem Gebiet des wissenschaftlichen Sozialismus« –, er erhielt den Preis dann aber letztlich nicht. Womöglich waren seine Leistungen in den Augen der Machthaber in Berlin(71) dogmatisch gesehen nicht konform genug.

Er schloss sich nach seinem Eintreffen dem Ausschuss für die Opfer des Faschismus an und wurde als »Kämpfer gegen den Faschismus« anerkannt. Erstaunlicherweise bezeichnete er sich in offiziellen Dokumenten als »religionslos« und nicht als jüdisch. Sein Biograph Rick Kuhn(4) vermutete, er habe das getan, weil er »sich einfach nicht vorstellen konnte, dass im ›sozialistischen‹ Ostdeutschland Antisemitismus toleriert werden würde«. Grossmann(60) habe die Ansicht vertreten, es sei unnötig, Solidarität mit anderen Juden zu bekunden, und er könne stattdessen zu seinen weltlichen Überzeugungen stehen.[3]

Grossmann(61) war zwar krank, doch genoss er offensichtlich sein neues Leben in einem neuen, vorgeblich sozialistischen Staat. Er unterrichtete und schätzte den Umgang mit den engagierten Kommunisten aus der Schar der ersten eintreffenden Studenten, die aus Arbeiter- und Bauernfamilien stammten und 1949 ihre Examina ablegten. Allerdings starb er im November 1950; er hatte unter Problemen mit der Prostata und Parkinson gelitten. Sein Biograph resümierte: »Grossmann(62) war mit großen Erwartungen und mit beträchtlichen Illusionen über das Regime in Ostdeutschland nach Leipzig(6) gekommen. Offenbar waren, als er starb, diese Illusionen noch intakt. Sie verschleierten den Abstand zwischen seinem marxistischen(298) Glauben an das Vermögen der Arbeiterklasse, einen radikal demokratischen Sozialismus herbeizuführen, und den Realitäten eines diktatorischen, staatskapitalistischen Regimes.«[4]

Andere Intellektuelle der Frankfurter Schule kamen mit weniger Illusionen zurück. Adorno(399) entschied sich, als er aus dem Exil zurückkehrte, gegen das marxistische(299) Ostdeutschland und für das kapitalistische Westdeutschland; Horkheimer(247) folgte ihm in dieser Entscheidung, als er schließlich in Frankfurt(59) eintraf. »Wir vermögen in der Praxis der als Volksdemokratien getarnten Militärdiktaturen nichts anderes zu sehen als eine neue Form von Repression und in dem, was man dort positiv ›Ideologie‹ zu nennen pflegt, das Gleiche, das einmal in der Tat mit dem Begriff der Ideologie gemeint war: die Lüge, die einen unwahren gesellschaftlichen Zustand rechtfertigt.«[5] Die wichtigere Frage aber war, warum Adorno(400) wie auch Horkheimer(248) und Pollock(34) überhaupt wieder nach Europa(28) gingen. War ihnen nicht bewusst, dass Europa nicht mehr das Zentrum der westlichen Zivilisation war? »Amerika(47) ist nicht mehr das rohe, ungeformte Land der Verheißung, das begabtere Männer wie James(3), Santayana(1) und Eliot(2) hinter sich ließen, um in Europa zu finden, was sie in Amerika vermissten«, so der Kunstkritiker Harold Rosenberg(1) in der Partisan Review des Jahres 1940: Er behauptet, mit Amerikas jahrhundertelanger kultureller Abhängigkeit von Europa habe es nun ein Ende. »Der Kreis hat sich geschlossen, und jetzt ist Amerika zum Beschützer der westlichen Zivilisation geworden, jedenfalls in militärischer und wirtschaftlicher Hinsicht.«[6] Seit dem Krieg hatte sich diese neu entstandene Form von Arroganz immer weiter verstärkt, und etwas Neues hatte sich durchgesetzt: Amerikas stolzes Beharren auf seiner kulturellen Potenz vor dem Hintergrund der europäischen Dekadenz.

Als beispielsweise der junge Saul Bellow(1) 1948, also im Jahr vor Adornos(401) Eintreffen, Paris(43) besuchte, fühlte sich der amerikanische Romancier wie Dostojewski(1) ein Jahrhundert zuvor. »Auch ich war ein Fremder und ein Barbar aus einem riesigen, rückständigen Land«, so Bellow.[7] Jedenfalls wurde er so behandelt. Er kehrte in seine Heimat zurück, um dort den Roman Die Abenteuer des Augie March – er erschien 1953 – zu verfassen, der mit den selbstbewussten, implizit gegen das kulturell tote alte Europa(29) gerichteten Worten beginnt: »Ich bin Amerikaner, in Chicago(2) geboren.«[8] Europäer hatten kein Recht, den Begriff »amerikanische Zivilisation« als einen Widerspruch in sich zu verstehen, hatte doch ihre eigene Zivilisation während des Dritten Reiches ihre finstere Kehrseite offenbart.

Adorno(402) reiste ins Zentrum dieser Barbarei, ins Herz der europäischen Finsternis, allerdings musste er feststellen, dass seine Landsleute lediglich fünf Jahre nach Kriegsende weiterlebten, als hätte es das Dritte Reich nie gegeben. Er leugnete nicht, dass er Heimweh verspürt hatte, allerdings kam es ihm noch auf einen weiteren Faktor an, nämlich die deutsche Sprache, die, wie er in dem Essay »Zur Frage ›Was ist deutsch?‹« darlegt, »eine besondere Wahlverwandtschaft zur Philosophie« habe und dazu in der Lage sei, »etwas an den Phänomenen auszudrücken, was in ihrem bloßen Sosein, ihrer Positivität und Gegebenheit nicht sich erschöpft«.[9] Eine bemerkenswerte Idee – als wären englischsprachige Personen aufgrund der Beschaffenheit ihrer Sprache zu den Philosophien verdammt, die Adorno(403) und die anderen Intellektuellen der Frankfurter Schule so vernichtend kritisierten; und als gäbe es in den Trümmern Deutschlands einen unschätzbaren Edelstein, der gerettet werden sollte.

Es ging Adorno(404) in diesem gelinde gesagt ungünstigen historischen Augenblick sicher nicht darum, die deutsche Kultur als solche zu preisen. Faktisch war seine Ambivalenz im Hinblick auf seine eigene Zugehörigkeit zu einer deutschen Tradition so groß, dass er im selben Text über die Vorstellung einer nationalen Identität sagen kann, diese sei ein Produkt des verdinglichenden Denkens, von welchem sich die Kritische Theorie abgrenzte: »Die Konstruktion nationaler Kollektive jedoch – die allgemeine Praxis im abscheulichen Kriegsjargon, die von dem Russen, dem Amerikaner und mit Sicherheit auch von dem Deutschen spricht – ist Anzeichen für ein verdinglichtes Bewußtsein, das für Erfahrung kaum zugänglich sein dürfte. Solche Konstruktionen bleiben in eben jenen Stereotypen stecken, die aufzulösen die Aufgabe des Denkens ist(405)[10] Das allerdings ist paradox: Wenn Denken verdinglichtes Bewusstsein auflösen sollte, dann geschah dieses Denken am besten auf Deutsch – vielleicht war es nach Adornos Auffassung sogar überhaupt nur auf Deutsch möglich. Doch dieses Denken auf Deutsch und das kritische philosophische Erbe, in welchem Adorno(406) sich trotz all des Umherziehens während seiner Jahre im Exil zu Hause fühlte, wurde nun mit Argwohn beäugt. Jürgen Habermas(13), ehemaliger Hitlerjunge, der einige Jahre danach Adornos(407) erster Forschungsassistent werden sollte, sagte später, er könne sich mit den eigenen intellektuellen Traditionen nur aus der Distanz identifizieren, einer Distanz, die es ihm ermöglichte, »sie in einem Geist der Selbstkritik fortzuführen, mit der Skepsis und der Scharfsicht eines Mannes, der bereits einmal betrogen wurde«.[11]

Adorno(408) kehrte in eine Stadt zurück, in der fast kein Stein mehr auf dem anderen war. Deutsche Soldaten hatten in den letzten Tagen des Krieges sämtliche Mainbrücken bis auf eine zerstört. Während der Bombardierung durch die Alliierten wurden 177 000 Häuser vernichtet; 1945 standen nur noch 45 000. Eine geisterhafte Erinnerung an seine Familie war übrig geblieben: Auf dem Parkettboden des einzigen noch bewohnbaren Raumes im ausgebombten Haus seines Vaters in der Seeheimer Straße konnte Adorno(409) die Abdrücke erkennen, die das Klavier seiner Mutter hinterlassen hatte. Von dieser Stadt aus war er ins Exil gezwungen worden, hier hatte er seine bejahrten Eltern zurücklassen müssen, die die rohe Behandlung und Inhaftierung durch die Nazis über sich ergehen lassen mussten und gezwungen waren, ihre Immobilien weit unter dem Marktpreis zu verkaufen, bevor sie sich, um nicht in den Vernichtungslagern ermordet zu werden, den Weg ins Exil erkämpften. Da war es kein Wunder, dass es Adorno(410) schwerfiel, mit seinen Gefühlen an sich zu halten. Nur einmal sei es ihm wirklich misslungen – als er vor dem Sohn des Besitzers eines anderen Hauses in der »Schönen Aussicht«, das vormals seinem Vater gehört hatte, stand: »Ich nannte ihn einen Nazi und einen Mörder, obwohl ich nicht einmal ganz sicher bin, ob ich den Richtigen getroffen habe. Aber so geht es unablässig – es werden immer die Falschen getroffen, und die Schurken sind allemal so realitätsgerecht und welterfahren, daß sie durchkommen(411)[12]

Das war eines der Probleme mit jenem Deutschland(92), in das Adorno(412) und Horkheimer(249) zurückkehrten: Es gab keine Nazis mehr. Die wiedergekommenen Exilanten trafen ihre Heimat im Zustand allgemein verbreiteten Nicht-Wahrhaben-Wollens an. Als Horkheimer(250) 1948 nach Frankfurt(60) kam, um mit der Universitätsleitung die Wiedererrichtung des Instituts für Sozialforschung zu erörtern, traf er seine ehemaligen Kollegen an, »süß, aalglatt und verlogen … Die Fakultät, an deren Sitzung ich gestern teilgenommen habe, ist überfreundlich und erregt Brechreiz. Die Brüder sitzen noch genauso da wie vor dem Dritten Reich … als ob nichts geschehen wäre … Spielen eine Gespenstersonate, die den Strindberg(1) weit hinter sich läßt.«[13]

Diese Versammlung war typisch für einen großen Teil der gespenstischen neuen Bundesrepublik(93) Deutschland(94), die Adorno(413) und Horkheimer(251) bei ihrer Rückkehr antrafen. Wenige Wochen vor Adornos Eintreffen in Frankfurt(61) war Deutschland(95) in zwei Staaten aufgeteilt worden: Die Deutsche Demokratische Republik(1) – davor während der Besatzungszeit sowjetisch besetzt –, und die Bundesrepublik(96) Deutschland(97), zusammengesetzt aus französischen, englischen und amerikanischen Besatzungszonen. Abgeordnete für den Volkskongress der DDR wurden aus einer einzigen Liste aus Kandidaten der Kommunistischen Partei gewählt; die ersten Wahlen zum Bundestag in Westdeutschland endeten damit, dass der konservative Konrad Adenauer(1) erster Kanzler der Bundesrepublik(98) wurde. In seiner ersten Ansprache als Kanzler klammerte Adenauer die Verantwortung der Deutschen für die Ermordung der Juden aus, womit zum Ausdruck kam, dass die neue Republik sich weigerte, Deutschlands Schande anzuerkennen. Was noch schlimmer war: Die westdeutsche Regierung warb viele Personen an, die auch unter den Nazis als Beamte und Juristen tätig gewesen waren; und die Verantwortung für die Wirtschaft des Landes wurde von denen übernommen, die Marcuse(87) und sein Team vom OSS als die schlimmsten Wirtschaftskriegsverbrecher bezeichnet hatten.

Die Bundesrepublik(99) weigerte sich, sich zur jüngsten Vergangenheit Deutschlands zu bekennen oder definitiv mit ihr zu brechen. Für die Denker der Frankfurter Schule war die entscheidende Figur in dieser Hinsicht Martin Heidegger(4), der große deutsche Philosoph, Mitglied in der NSDAP, der sich nie öffentlich von jenen Reden distanziert hatte, die ihn in den Augen vieler zu einem der wirkmächtigsten intellektuellen Fürsprecher des Nationalsozialismus gemacht hatten. Im Frühjahr 1947 hielt sich Marcuse(88) im Zuge seiner Arbeit für den OSS in Deutschland(100) auf und besuchte seinen früheren Lehrer in dessen Hütte in Todtnauberg im Schwarzwald. Heidegger(5) sagte Marcuse, er habe sich bereits 1934 vollständig vom Naziregime losgesagt und sich in den Vorlesungen der Jahre danach extrem kritisch geäußert. Das aber reichte Marcuse nicht, der Heidegger(6) später im selben Jahr schrieb:

Viele von uns haben lange auf ein Wort von Ihnen gewartet, ein Wort, das Sie klar und endgültig von dieser Identifizierung befreien würde, ein Wort, das Ihre wirkliche heutige Einstellung zu dem, was geschehen ist, ausdrückt. Sie haben ein solches Wort nicht gesprochen … Ein Philosoph kann sich im Politischen täuschen – dann wird er seinen Irrtum offen darlegen. Aber er kann sich nicht täuschen über ein Regime, das Millionen von Juden umgebracht hat – bloß weil sie Juden waren –; das den Terror zum Normalzustand gemacht hat und alles, was je wirklich mit dem Begriff Geist und Freiheit und Wahrheit verbunden war, in sein blutiges Gegenteil verkehrt hat. Ein Regime, das in allem und jedem die tödliche Karikatur jener abendländischen Tradition war, die Sie selbst so eindringlich dargelegt und verteidigt haben. Sollten Sie wirklich so in die Geistesgeschichte eingehen? (89)

In seiner Antwort entgegnete Heidegger(7), als die Nazis 1933 an die Macht kamen, »… erwartete [ich] vom Nationalsozialismus eine geistige Erneuerung des ganzen Lebens, eine Aussöhnung sozialer Gegensätze und eine Rettung des abendländischen Daseins vor den Gefahren des Kommunismus«.[14] Tatsächlich hatte er diese Themen in seiner berüchtigten Antrittsrede als Rektor der Universität Freiburg(5) angesprochen. Im Jahr danach wurde ihm sein »politischer Irrtum« bewusst, und er legte sein Rektorat nieder. Aber warum hatte er seine Worte nach 1934 nie öffentlich zurückgenommen oder verurteilt? Er schrieb an Marcuse(90): »Es hätte mich ans Messer geliefert und die Familie mit … Ein Bekenntnis nach 1945 war mir unmöglich, weil die Nazianhänger in der widerlichsten Weise ihren Gesinnungswechsel bekundeten, ich aber mit ihnen nichts gemein hatte.«[15]

Das klang reichlich vieldeutig. Im Jahr 1953 wies dann der 24-jährige Jürgen Habermas(14) auf einen Umstand hin, der die Darstellung des Gesinnungswechsels von Heidegger(8) in noch zweifelhafterem Licht erscheinen ließ. Habermas forderte Heidegger(9) öffentlich dazu auf zu erklären, was er in seinem 1935 erschienenen Buch Einführung in die Metaphysik mit der »inneren Wahrheit und Größe« des Nationalsozialismus gemeint hatte. Hatte Heidegger(10) nicht Marcuse(91) gegenüber behauptet, dass seine Unterstützung des Nationalsozialismus im Jahr davor beendet gewesen sei? Wie konnte Heidegger(11) die Wiederveröffentlichung dieser Vorlesungen im Jahr 1953 ohne jegliche Revision, ohne jeglichen Kommentar zulassen? »Den eigentlichen Anstoß«, so Habermas in Zwischen Naturalismus und Religion, »gab die Verleugnung der moralisch-politischen Verantwortung des NS-Philosophen für die Folgen einer Massenkriminalität, über die damals, acht Jahre nach Kriegsende, kaum noch jemand sprach(15)[16]

Für den jungen Habermas(16) war das nicht nur seine erste öffentliche Wortmeldung, sondern ein Schlüsselmoment in seiner intellektuellen und moralischen Entwicklung. Habermas, Jahrgang 1929, gehörte zur »Flakhelfergeneration« der Nachkriegsintellektuellen, wie außer ihm noch Günter Grass(1) und die Soziologen Ralf Dahrendorf(1) und Niklas Luhmann(1), die als Jugendliche bei der Verteidigung Hitlers(57) mitgeholfen hatten. Mit fünfzehn Jahren war Habermas(17) wie die meisten seiner Zeitgenossen Mitglied der Hitlerjugend geworden. Er war zu jung für den Kampfeinsatz und zu alt, um ganz vom Kriegsdienst ausgenommen zu werden. Man schickte ihn an die Westfront, wo er in der Fliegerabwehr tätig war. Später beschrieb er seinen Vater, Leiter eines Lehrerseminars, als einen »passiven Sympathisanten« der Nazis und gestand ein, dass er selbst als Jugendlicher diese Haltung geteilt habe. Allerdings wurde er(18) mitsamt seiner Familie durch die Nürnberger Prozesse und die Dokumentarberichte über die nationalsozialistischen Konzentrationslager aus seiner Bequemlichkeit aufgerüttelt. »Plötzlich erkannten wir, dass wir in einem politisch kriminellen System gelebt hatten«, sagte er später. Seine entsetzte Reaktion auf das, was er als »kollektiv umgesetzte Unmenschlichkeit« seiner Landsleute bezeichnete, war die Grundlage für »diesen ersten Riss, der immer noch da ist(19)«.[17]

Nach dem Krieg schrieb sich Habermas(20) an der Universität Bonn(1) ein, später studierte er Philosophie auch in Göttingen(1) und Zürich(2). Zwischen 1949 und 1953 beschäftigte er sich vier Jahre lang mit Heideggers(12) Philosophie, sein Brief an den Philosophen war daher durchsetzt mit symbolischen Anklängen. Ein junger Intellektueller forderte seinen älteren Lehrer heraus und verlangte von ihm, sich nicht im Schweigen zu verstecken, sondern zu erklären, wie er dazu gekommen war, ein politisch kriminelles System gutzuheißen. Eine neue Generation Deutscher forderte die ältere Generation auf, Rechenschaft abzulegen und vielleicht auch für die begangenen Sünden Buße zu tun.

In seinen späteren Schriften stellte Habermas(21) die Hypothese auf, es gebe so etwas wie kommunikative Vernunft, der emanzipatorische Kraft eigne. In der von ihm sogenannten »idealen Sprechsituation« wären Bürger in der Lage, moralische und politische Angelegenheiten zu thematisieren, und der anschließende Diskurs würde sich in ordentlicher, konfliktfreier Weise entfalten. Es war eine utopische Hoffnung, geboren aus den Trümmern Deutschlands; die Philosophie eines Mannes, der sich nach einer menschlichen Gesellschaft sehnte; diese Gesellschaft sollte durch einen freien und vernunftorientierten Diskurs bestimmt und im positiven Sinn ein Erbe der Aufklärung sein. Für Habermas(22) war das der Sprache inhärente Ziel, ihr Telos, Verstehen zu erlangen und Konsens zu erwirken. Er argumentierte, ein Konsens, der auf diese Weise rational zustande kommt, sei für menschliches Gedeihen nach Auschwitz(7) sowohl notwendig als auch möglich. Die Barrieren, die den Einsatz der Vernunft und die wechselseitige Verständigung verhinderten, konnten identifiziert, verstanden und reduziert werden.

Vielleicht hoffte er auf etwas Derartiges in seinem Versuch, sich mit Heidegger auszutauschen(13), aber dazu kam es nicht; Heidegger(14) antwortete nicht. Dieses Schweigen bestätigte dem jungen Habermas(23), dass die deutsche Philosophie im entscheidenden Moment gescheitert war. Heideggers Versagen war für Habermas symptomatisch für den in der neuen Bundesrepublik(101) vorherrschenden repressiven, beschwichtigenden Antidiskurs. So wie Heidegger(15) sich geweigert hatte, öffentlich zu seiner Unterstützung der Nationalsozialisten Stellung zu nehmen, so weigerte sich die Regierung Konrad Adenauer(2)s, Deutschlands jüngste Vergangenheit anzuerkennen oder sich endgültig davon loszusagen. Stattdessen erging man sich in Kommunistenschelte gegen den ostdeutschen Nachbarn.

Wenn die Frankfurter Schule im Nachkriegsdeutschland eine Rolle spielen wollte, so bestand sie darin, diese Gespenstersonate aufzustören, die Kultur des Schweigens und Verleugnens kritisch zu hinterfragen. Adorno(414) und Horkheimer(252) waren jedenfalls von ihrer Veranlagung für diese Aufgabe durchaus geeignet, da sie sich, wie letzterer dem ersteren zu verstehen gab, »quer zur Wirklichkeit verhalten«.[18] Als das Institut im August 1950 mit Horkheimer(253) und Adorno(415) als Direktoren wieder eröffnet wurde, befanden sich einige Büros in den ausgebombten Ruinen des von Franz Roeckle(11) entworfenen Gebäudes im Stil der Neuen Sachlichkeit. Im Jahr darauf sollte es dann in Alois Geifers(1) ähnlich kargen funktionalistischen Neubau umziehen. Vielleicht handelte es sich dabei um einen erneuten architektonischen Schnitzer vonseiten des Instituts: 1923 hatte die Architektur den Eindruck erweckt, auf einer Linie mit dem herrschenden Weimarer Ethos von Funktionalismus, unternehmerischer Effizienz und Positivismus zu liegen. Fast drei Jahrzehnte später erhob sich der fahle Geist jenes verblendeten Entwurfs aus den Trümmern Frankfurts(62) und gab möglicherweise zu verstehen, dass die Mitglieder des Instituts nicht ganz so quer zu den Machthabern standen, wie sie sich selbst darstellten. Die Architekturgeschichte wiederholte sich selbst, nicht direkt als Farce, aber mit Sicherheit als Enttäuschung. Bemerkenswert war außerdem, dass die Einrichtung, die vor 1933 als Café Marx(300) bekannt gewesen war, nun als Café Max – nach Horkheimers Vornamen(254) – bezeichnet wurde. Marx(301), der Philosoph, dessen Namen die Vertreter des Instituts in ihren Schriften während des amerikanischen Exils sorgfältig vermieden hatten, um die Gastgeber nicht vor den Kopf zu stoßen, wurde jetzt auch in der zweiten europäischen Inkarnation der Frankfurter Schule beiseitegeschoben.

Das Café Max öffnete seine Tore. Das frisch reformierte Institut nahm ein neues soziologisches Projekt in Angriff, mit dem man herausfinden wollte, was es mit der Verschwörung des Schweigens auf sich hatte, das sich auf Deutschland(102) gesenkt hatte. »Die Evidenz des Unheils kommt dessen Apologie zugute«, so Adorno(416) in Minima Moralia. »Weil alle es wissen, soll niemand es sagen dürfen, und gedeckt vom Schweigen mag es denn unangefochten weitergehen.«[19] Das sogenannte »Gruppenexperiment« hatte gewisse Ähnlichkeiten mit einem früheren soziologischen Projekt, dem Projekt über autoritäre Persönlichkeit, an welchem Adorno(417) während seines kalifornischen(11) Exils in Berkeley(2) gearbeitet hatte. Auch das Gruppenexperiment stützte sich auf psychoanalytische Prinzipien, um den Komplex von Schuld und Abwehrhaltung zu untersuchen, was Adorno(418) als besonders notwendig ansah, da die subjektive Meinung so eklatant von den objektiven Fakten abwich – man musste den manifesten Inhalt dessen, was die Leute sagten, hinterfragen, um das zu erschließen, was Adorno(419) und seine Kollegen als die kollektive Psychopathologie dahinter vermuteten.

An dem Experiment waren rund 1800 Personen in diskutierenden Gruppen zwischen fünfzehn und zwanzig Teilnehmern beteiligt. So wie sich die Teilnehmer zusammensetzten, war die Erhebung nicht repräsentativ für das deutsche Volk, doch es waren ehemalige Soldaten darunter, Modestudenten, Obdachlose, ja sogar ein ehemaliger SS-Offizier. Adorno(420) stellte fest, dass die Teilnehmer desto eher in die Defensive gingen, je mehr ihnen die Ungeheuerlichkeit der Naziverbrechen bewusst war. Außerdem bestand auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich mit dem neuen Deutschland(103) trotz dieser Verbrechen identifizierten. Somit entstand der Eindruck, dass Deutschland(104) auf dem schlechten Gewissen der Massen gegründet gewesen sei, auf einer kollektiven Psychopathologie des Leugnens. Natürlich war es nicht ganz so einfach. Einige Befragte gestanden Schuld ein, allerdings versuchten sie, diese Schuld in eine Privatangelegenheit umzudeuten, womit sie ihr Selbstmitleid belegten. Andere projizierten die Schuld auf die nationalsozialistischen Führerpersönlichkeiten, als wollten sie andeuten, sie selbst seien angesichts der Macht Hitlers(58) und seiner Clique hilflos gewesen. Faktisch wies ungefähr die Hälfte derjenigen, die an den Gruppendiskussionen teilnahmen, ihre persönliche Schuld an den Verbrechen der Nazis zurück. Einige wenige waren dazu in der Lage, sich ihrer Schuld zu stellen, und diese waren es, auf die Adorno(421) eine gewisse Hoffnung setzte: »Gerade diejenigen, die nicht Schuldbewußtsein verdrängen und keine krampfhafte Haltung der Abwehr einnehmen müssen, haben die Freiheit, das Wahre auszusprechen, daß nicht alle Deutschen Antisemiten seien.«[20]

Mitschriften der Interviews, die für das Gruppenexperiment angefertigt wurden, belegen das Fortbestehen antisemitischer und nationalistischer Haltungen, die teilweise mit demokratischen Ansichten vermischt waren. Adorno(422) identifizierte ein befremdliches Syndrom: Es gab Leute, die

gerade von der Demokratie her gegen die Juden zu argumentieren [suchen] … Die Reaktionsweise ist: Wir haben nichts gegen die Juden, wir wollen sie nicht verfolgen, aber sie sollen nichts tun, was einem – ganz unbestimmten und willkürlich dekretierten – Interesse des Volkes widerspricht. Sie sollen insbesondere keinen überrepräsentativen Anteil an hochbezahlten und einflussreichen Berufen haben. Diese Art des Denkens … eröffnet denjenigen, welche sich im Konflikt zwischen schlechtem Gewissen und Abwehr befinden, einen Ausweg.[21]

Adorno(423) schloss daraus, dass in der Bundesrepublik(105) der Nachkriegszeit autoritäre Grundeinstellungen und eine generelle Tendenz zur Konformität fortbestünden. Als das Gruppenexperiment im Jahr 1955 veröffentlicht wurde, griff man Adorno(424) wegen der Interpretation der Resultate an. Der Hamburger Sozialpsychologe Peter Hofstätter(1) warf den Autoren vor, sie wollten die ganze Nation zur Reue zwingen. »In welchem Ausmaß darf man aber annehmen, dass die Mehrzahl der Angehörigen eines ›Volkes‹ kollektive Selbstanklagen auf Jahre hinaus vornehmen kann?«[22] Adorno(425) hielt dem entgegen, dass es die Opfer gewesen seien, die die Last der nationalsozialistischen Greuel zu tragen hatten, nicht ein deutsches Volk, das die Augen vor der Wahrheit verschloss. Er stellte fest, dass das Gruppenexperiment abgelehnt worden sei, weil es die Gespenstersonate störte. Oder nach seiner Formulierung: »Im Hause des Henkers soll man nicht vom Strick reden; sonst gerät man in den Verdacht, man habe Ressentiment.«[23]

Doch Adorno(426) sprach im Haus des Henkers auch weiterhin Tabuthemen an. Sein Essay »Kulturkritik und Gesellschaft« wirkte, als er 1955 in Prismen veröffentlicht wurde, aufrührerisch auf die Deutschen und darüber hinaus auf das europäische kulturelle Leben. Er schreibt:

Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz(8) ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben. Der absoluten Verdinglichung, die den Fortschritt des Geistes als eines ihrer Elemente voraussetzte und die ihn heute gänzlich aufzusaugen sich anschickt, ist der kritische Geist nicht gewachsen, solange er bei sich bleibt in selbstgenügsamer Kontemplation.[24]

Adorno(427) ging es darum, dass Kultur als Alibi fungierte, als ein Bereich der Flucht vor politischen Realitäten, statt die Möglichkeit der schmerzlichen Konfrontation mit diesen Realitäten zu bieten. Kultur war quasi vergleichbar mit Heideggers(16) Rückzug in seine Hütte im Schwarzwald zum Zwecke der geistigen Kontemplation, wo es doch die eigentliche Aufgabe des Philosophen gewesen wäre, sich seiner Vergangenheit zu stellen – ein nicht zu rechtfertigendes Ablenkungsmanöver. In seinem begeistert rezipierten Aphorismenband Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben, den er als Manuskript aus dem kalifornischen(12) Exil mitgebracht und 1951 veröffentlicht hatte, schreibt Adorno(428): »Daß die Kultur bis heute mißlang, ist keine Rechtfertigung dafür, ihr Mißlingen zu befördern, indem man wie Katherlieschen noch den Vorrat an schönem Weizenmehl über das ausgelaufene Bier streut.«[25]

Bislang war das revolutionäre Potential von Kunstwerken im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, von dem Walter Benjamin(443) sich so viel versprochen hatte, noch nicht umgesetzt worden: Kultur war unfähig geworden, eine unterdrückerische gesellschaftliche Realität zu verändern; ja schlimmer noch: Sie diente dazu, diese unterdrückerische Ordnung aufrechtzuerhalten. Marcuse(92) hatte in seinem 1937 erschienenen Essay »Über den affirmativen Charakter der Kultur« erklärt, dass Kultur sich von der Gesellschaft oder Zivilisation abtrennte und einen Raum für kritisches Denken und sozialen Wandel schuf. Statt jedoch eine emanzipatorische Funktion welcher Art auch immer zu erfüllen, sei sie zu einer autonomen Zone, einem Ort des Rückzugs von der gesellschaftlichen Realität geworden. In dieser Zone, so Marcuse(93), werde der Glücksanspruch in der realen Welt zugunsten einer innerlichen Form des Glückes, eines Glückes der Seele, aufgegeben. Die bürgerliche Kultur erschafft ein Inneres des Menschen, wo die höchsten Ideale der Kultur umsetzbar sind. Diese innere Umwandlung bedarf keiner äußeren Umwandlung der realen Welt und ihrer materiellen Bedingungen. Die Greuel des Alltags können in dieser affirmativen Kultur aufgelöst werden, indem man sich den Klängen Chopins hingibt.

Allerdings war dieses Versagen der Kultur, ihre kritische gesellschaftliche Funktion zu erfüllen, nur das Vorspiel zu einer noch größeren Obszönität. In seinem Erinnerungsbuch Ist das ein Mensch? beschreibt Primo Levi(1), wie er in Auschwitz(9) von seinem Bett im Krankenbau aus allmorgendlich das musikalische Wecksignal hört. »Wir spüren alle, daß diese Musik infernalisch ist«, hält er fest. »Wenn diese Musik ertönt, wissen wir, daß sich die Kameraden draußen im Nebel wie Automaten in Marsch setzen. Tot sind ihre Seelen, und die Musik treibt sie dahin wie der Wind das welke Laub und ersetzt ihren Willen.«[26] Aber was war dann der Sinn von Kultur, wenn sie ihre kritische Rolle verfehlt hatte und nur wenig mehr tat, als Massenmord mit einer Tonspur zu unterlegen? Philosophen, Künstler und Schriftsteller wandten sich nun allerdings mit aller Schärfe gegen Adornos(429) Diktum. Der Auschwitzüberlebende und Philosoph Jean Améry(1) warf Adorno(430) vor, sich in einer Sprache auszudrücken, die sich an sich selbst berausche; einer Sprache, in welcher der Autor Auschwitz(10) ausgebeutet habe für sein metaphysisches Phantom »absoluter Negativität«. Der Autor Wolfgang Hildesheimer(1) merkte in seiner Vorlesung über Poetik im Jahr 1967 an, Dichtung sei überhaupt die einzige literarische Möglichkeit nach Auschwitz(11). Für ihn stellten Gedichte wie Paul Celans(1) Todesfuge und Ingeborg Bachmann(1)s Früher Mittag »Flucht und blitzartige Ausblicke auf die furchterregende Instabilität der Welt, das Absurde« dar.[27] So beginnt etwa Bachmanns sieben Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs entstandenes Gedicht mit der Beschreibung eines herrlichen Frühsommertags, einem grünenden Lindenbaum, einem Brunnen; dann aber, in der zweiten Strophe, ändert sich die Stimmung schlagartig(2):

Wo Deutschlands Himmel die Erde schwärzt

sucht sein enthaupteter Engel ein Grab für den Hass

und reicht dir die Schüssel des Herzens.[28]

Bachmanns(3) Partner, der Schweizer Dramatiker und Romancier Max Frisch(1), sagte einmal, Kultur könne als Alibi dienen; Bachmanns Gedicht hingegen tut das Gegenteil. Es vermittelt uns, dass es nicht mehr möglich ist, an Deutschlands lyrisches Erbe zu erinnern, ohne auch seine Verbrechen zur Sprache zu bringen. Es ist ein Gedicht(4), das die Welt verrückt und verfremdet – eine Aufgabe, die Adorno(431) in Minima Moralia der Philosophie als Notwendigkeit zugeschrieben hatte, die jedoch ein Gedicht wie jenes von Bachmann(5) ebenso gut erfüllen konnte.

Zwischen der österreichischen(9) Dichterin und Adorno(432) entstand eine Freundschaft, vor allem, nachdem Bachmann(6) in Frankfurt(63) 1959 Vorlesungen über Poetik gehalten hatte. 1966 revidiert Adorno(433) in Negative Dialektik seine ein Jahrzehnt zuvor geäußerte Meinung:

Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz(12) ließe kein Gedicht mehr sich schreiben. Nicht falsch aber ist die minder kulturelle Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse, ob vollends es dürfe, wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen. Sein Weiterleben bedarf schon der Kälte, des Grundprinzips der bürgerlichen Subjektivität, ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre: drastische Schuld des Verschonten.[29]

In der Negativen Dialektik bringt Adorno(434) besser als zehn Jahre zuvor zum Ausdruck, worin die Pflicht des Menschen nach Auschwitz(13) bestand. »Hitler(59) hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.«[30]

Im Zuge der Beobachtungen, die er in seinem Heimatland nach seiner Rückkehr machte, fand Adorno(435) nur wenig, was ihm Grund für die Hoffnung hätte geben können, der deutsche Teil der unfreien Menschheit sei fähig, diesem kategorischen Imperativ entsprechend zu handeln. Die neuen Herren schwiegen sich über Hitler(60) nicht nur aus – wenn sie nicht gar ehemalige Verbündete Hitlers(61) waren –, sondern das übrige Deutschland(106) beugte noch immer seine Knie vor der Macht. 1950 schrieb Adorno(436) an Thomas Mann(64):

Die Unartikuliertheit der politischen Überzeugung, die Bereitschaft, jeder Macht sich zu verschreiben, das sich Anpassen an jegliche aufkommende Situation ist bloß ein Aspekt davon [sc. der deutschen Regression, Anm. d. Ü.]. Wenn es zutrifft, daß die manipulative Massenbeherrschung allerorten eine Rückbildung des Menschlichen bewirkt, und wenn der Hitlersche Versuch dranzukommen zugleich der war, diese Entwicklung »schlagartig« nachzuholen, dann ist ihm und ebenso dem Zusammenbruch jedenfalls die Infantilisierung gründlich gelungen(437) …[31]

Der Faschismus in Deutschland(107) war überwunden, doch der Persönlichkeitstyp, welcher ihn ermöglichte, hatte überlebt. Der Gedanke, dass jene, die sich von faschistischen Führern verführen ließen, infantil seien, tauchte in Adornos(438) Werk bereits lange vor seiner Rückkehr nach Deutschland(108) immer wieder auf. Ein zweites wichtiges Thema der Frankfurter Schule nach dem Krieg, ein Thema, das vor allem jene empörte, die für die Alliierten gegen die Nazis gekämpft hatten, beinhaltete die These, dass es Parallelen gebe zwischen der Art und Weise, wie die Nationalsozialisten das deutsche Volk kontrolliert hatten und wie die scheinbar freien Bürger von angeblich liberalen demokratischen Staaten wie den USA dessen beraubt wurden, was sie als ihre kollektiven Geburtsrechte ansahen: ihrer Freiheit und Autonomie.

Bei einem Symposion für Psychoanalytiker und Soziologen in San Francisco im Jahr 1944, also vor seiner Rückkehr nach Europa(30), hatte Adorno(439) den Erfolg der faschistischen Propaganda mit den Worten erklärt, dass »sie einfach die Menschen als das nimmt, was sie sind: echte, ihrer Selbständigkeit und Spontaneität weitgehend beraubte Kinder der heutigen standardisierten Massenkultur«.[32] Er stellte fest, es gebe Ähnlichkeiten zwischen der Nazipropaganda und den Radiosendungen kalifornischer Prediger, die er als »Möchtegern-Hitler(62)« bezeichnete. Beide versuchten, mittels eines zweistufigen Prozesses Autorität über ihre Zuhörer zu gewinnen – zuerst, indem sie ihre eigene Schwäche bekannten und sich so mit den schwachen Empfängern ihrer Botschaft identifizierten; dann jedoch, indem sie ihren Status persönlicher Auserwähltheit betonten, dem sich ihre Zuhörer nur anschließen konnten, wenn sie sich der Autorität des Predigers unterwarfen. Um ein erfolgreicher Führer oder charismatischer Radioprediger zu sein, so Adorno(440), müsse man ein »großer kleiner Mann« sein: in hinreichendem Ausmaß den Anhängern gleichen, um an jene Elemente von Narzissmus zu appellieren, die im Ego der Anhänger noch vorhanden sind, und gleichzeitig die kollektiven Hoffnungen und sogar Tugenden der Anhänger verkörpern. Hitlers(63) Genie, so Adorno(441), habe darin bestanden, sich als »eine Mischung aus King Kong und dem Vorstadtfriseur« darzustellen.[33]

Dieses Symposion mündete in Adornos(442) Arbeit an der Entwicklung der später sogenannten kalifornischen(13) F-Skala, wobei F für Faschismus steht. Es handelte sich um einen Persönlichkeitstest, den er 1947 zusammen mit Forschern der University of California in Berkeley(3) entwickelte und der 1950 in dem Buch The Authoritarian Personality in der vom American Jewish Committee gesponserten Reihe Studies in Prejudice veröffentlicht wurde. Bei dem Test ging man von jener Hypothese aus, die bereits Erich Fromm(94) seiner Studie über deutsche Arbeiter zugrunde gelegt hatte und mit der er die Charaktertypen zu ermitteln suchte, die für den Faschismus am anfälligsten sind: Es galt, durch die manifesten Dimensionen der Persönlichkeit hindurch zu den darunter verborgenen Strukturen vorzustoßen. Ebenso wie Fromms(95) Studie setzte man im Berkeley-Projekt das freud(43)sche Entwicklungsmodell voraus: Die autoritäre Persönlichkeit sei unfähig, ihren strengen, strafenden Eltern die Stirn zu bieten, und identifiziere sich stattdessen mit Autoritätsfiguren. Fragwürdigerweise wurde die autoritäre Persönlichkeit mit unterdrückter Homosexualität in Verbindung gebracht, von der man annahm, dass sie unter Sadomasochisten häufig vorkam. »Das in Aggression umgesetzte Verpönte ist meist homosexueller Art«, so Adorno(443) und Horkheimer(255) in der Dialektik der Aufklärung. »Aus Angst vor der Kastration wurde der Gehorsam gegen den Vater bis zu deren Vorwegnahme in der Angleichung des bewußten Gefühlslebens ans kleine Mädchen getrieben und der Vaterhaß als ewige Ranküne verdrängt.«[34]

Aber während Fromms(96) Arbeiterstudie darauf zielte, die zu erwartende Stärke deutscher Arbeiter im Hinblick auf ihre Widerstandsfähigkeit gegen den Faschismus und ihre Empfänglichkeit für revolutionäre sozialistische Ideen zu untersuchen, fragte man in der Berkeley(4)-Studie, welche Persönlichkeitstypen für antidemokratische Ideen anfällig seien und welche nicht. Einer der Gründe für diesen Wandel war die bereits angesprochene Tatsache, dass die Mitglieder des Instituts während ihrer Zeit in Amerika(49) es nicht wagten, das M-Wort (Marxismus(302)) in ihren Texten oder Forschungsprojekten zu gebrauchen, aus Angst, man könnte damit potentielle Sponsoren abschrecken. Das hatte ironischerweise zur Folge, dass die Werte und Verhaltensweisen, die in Fromms(97) Studie mit erfolgreichem revolutionärem Marxismus(303) verknüpft worden waren, jetzt in der Berkeley-Studie mit einer Unterstützung der Demokratie assoziiert wurden.

Aber diese Verschiebung in der Begrifflichkeit hat noch einen weiteren Hintergrund – das Verschwinden der marxistischen Sprache aus den Äußerungen der Frankfurter Gelehrten verwies darauf, dass ihr Glaube an das Proletariat und an die Revolution merklich abgenommen hatte. Lukács(42) hatte in Geschichte und Klassenbewußtsein noch geschrieben: »so hängt das Schicksal der Revolution (und mit ihr das Schicksal der Menschheit) von der ideologischen Reife des Proletariats, von seinem Klassenbewußtsein ab.«[35] Die Denker der Frankfurter Schule glaubten nicht mehr an die Revolution – und zwar eben deshalb, weil das Proletariat wohl nie ideologische Reife erlangen würde. In seinem 1956 erschienenen Buch The Sane Society hält Fromm fest(98): »Die Welt ist ein einziges großes Objekt für unseren Appetit, ein Riesenapfel, eine Riesenflasche, eine Riesenbrust. Wir sind die ewig wartenden, ewig hoffenden – und ewig enttäuschten Säuglinge.«[36] Mit ideologischer Reife durfte in einer solchen Welt eher nicht gerechnet werden. Die manipulative Kontrolle der Massen gehe immer mit einer regressiven Verformung der Menschheit einher, so Adorno(444) in einem Brief an Thomas Mann(65) aus dem Jahr 1950.[37] Er erwähnte das im Zusammenhang mit Hitlers(64) Einfluss, doch innerhalb der Frankfurter Schule war man immer stärker der Überzeugung, dass solche Kontrolle und Regression Merkmale auch jener Gesellschaften waren, die sich erst kürzlich gegen Hitler(65) verbündet hatten.

Die F-Skala war als Teil eines Forschungsprojekts angelegt, mit dem Adorno(445) und sein Team einen »neuen anthropologischen Typus« erforschen wollten: die autoritäre Persönlichkeit. Sie umfasste eine Reihe von Fragen, durch die das faschistische Potential ermittelt werden sollte, indem neun Persönlichkeitsvariablen ausgetestet wurden, wie sie Adorno(446) in Die autoritäre Persönlichkeit entwirft und beschreibt:

Konventionalismus: Starres Festhalten an konventionellen Wertvorstellungen des Mittelstandes.

Autoritäre Unterwürfigkeit: Unterwürfige, kritiklose Haltung gegenüber idealisierten moralischen Autoritäten der Eigengruppe.

Anti-Intrazeption: Abwehr des Subjektiven, Phantasievollen, Sensiblen.

Autoritäre Aggression: Tendenz, nach Menschen Ausschau zu halten, die konventionelle Normen verletzen, um sie zu verurteilen, zu verwerfen und zu bestrafen.

Aberglaube und Stereotypie: Der Glaube an die mystische Bestimmung des Schicksals; die Disposition, in rigiden Kategorien zu denken.

Macht und »Robustheit«: Denken in den Dimensionen Herrschaft-Unterwerfung, stark-schwach, Führer-Gefolgschaft; Identifizierung mit Machtfiguren; Überbetonung der konventionalisierten Attribute des Ich; übertriebene Zurschaustellung von Stärke und Robustheit.

Destruktivität und Zynismus: Generalisierende Feindseligkeit, Verleumdung des Menschlichen.

Projektivität: Die Disposition, an unsinnige und gefährliche Vorgänge in der Welt zu glauben; die Projektion unbewusster emotionaler Impulse nach außen.

Sexualität: Übertriebene Beschäftigung mit sexuellen Vorgängen.[38]

Die Teilnehmer wurden gebeten, anzugeben, in welchem Ausmaß sie Sätzen wie den folgenden zustimmen konnten:

Die Befragten konnten auf einer Skala zwischen +3 und -3 den Grad ihrer Zustimmung oder Ablehnung dieser und anderer Aussagen zum Ausdruck bringen. Von den 2099 Personen – lauter weiße, nichtjüdische Amerikaner aus der Mittelschicht –, die die Fragebogen ausfüllten, wurden diejenigen, die hohe obere oder untere Werte auf der F-Skala angaben, eingeladen, sich für längere Auswertungsinterviews zur Verfügung zu stellen. Adorno(447) verwendete die Informationen aus diesen Interviews, um eine Liste von sechs Typen der autoritären Persönlichkeit und fünf Typen der nichtautoritären Persönlichkeit zu erstellen.

Zu den autoritären Persönlichkeitstypen gehörten unter anderem der »tough guy« (dessen »unterdrückte Es-Tendenzen die Oberhand gewinnen, allerdings in einer verkümmerten Form«, so Adorno(448)) und der »gekrümmte« und der »manipulative« Typ (beide, so der Eindruck Adornos, »scheinen den Ödipuskomplex durch einen narzisstischen Rückzug in ihr Inneres bewältigt zu haben«). Adorno(449) entwickelte auch eine Typologie für Befragte, die auf der F-Skala niedrige Werte erreicht hatten. Zu den nichtfaschistischen Typen zählte der »protestierende« Typ (dessen »unterschwellige Feindseligkeit gegen den Vater zur bewußten Zurückweisung statt dem Akzeptieren heteronomer Autorität führt. Entscheidendes Merkmal ist die Opposition gegen alles, was den Anschein von Tyrannei erweckt«) und der »echte Liberale« (er »kann als das aufgefaßt werden, was Freud als ideales Gleichgewicht zwischen Über-Ich, Ich und Es ansah.«)[40]

Adorno(450) gab nicht an, zu welchem Typus er gehörte, aber man wird wohl nicht fehlgehen in der Annahme, dass er sich selbst als echten Liberalen eingestuft hätte.[41]

Nach der Veröffentlichung von The Authoritarian Personality im Jahr 1950 wurde die F-Skala aus vielen Gründen kritisiert, nicht zuletzt wegen der Vorannahme, dass Konservatismus und Autoritarismus miteinander zusammenhingen. Angegriffen wurde sie auch, weil clevere Personen die implizite Zielrichtung der Fragen bemerken, darauf dann passend reagieren und so die Resultate verzerren konnten. Edward Shils(1), Soziologe an der University of Chicago(3), fragte, warum Autoritarismus in der Arbeit von Adorno(451) und seinem Team mit Faschismus statt mit Kommunismus verknüpft wurde. Würde sich eine K-Skala entscheidend von einer F-Skala unterscheiden? 1950 bestand ja doch die entscheidende Opposition zwischen liberalen Demokratien und dem Totalitarismus, sei er nun faschistischer oder kommunistischer Couleur. Der Kalte Krieg hatte begonnen, es war also überflüssig, die Persönlichkeitstypen zu erforschen, die Hitler(66) unterstützt hatten; wichtig war jetzt vielmehr, die Persönlichkeitstypen, die Stalin(21) und seine Nachfolger unterstützten, in den Blick zu nehmen und nach Möglichkeit jene mit kommunistischen Tendenzen auszumerzen. Aus einer umformulierten F-Skala konnte eine R-Skala (R wie Rot) werden; und eine andere Skala konnte so kalibriert werden, dass sie die wünschbaren Typen aufdeckte, die der roten Gefahr Widerstand leisten würden. Die dahinter liegende Absicht dürfte gewesen sein, die unglücklichen sadomasochistischen Massen des Ostblocks gegen die freien, lebenstüchtigen, individuellen Persönlichkeitstypen in Stellung zu bringen, wie sie sich im freien Westen entfalten konnten. Adorno(452) und die Frankfurter Schule insgesamt weigerten sich jedoch, den sowjetischen(41) Totalitarismus gegen den individualistischen, nichtideologisch verbogenen, liberalen Westen auszuspielen. In ihren Augen war überall Herrschaft am Werk – in faschistischen und in sozialistischen ebenso wie in liberal-kapitalistischen Staatswesen.

In The Authoritarian Personality geht Adorno(453) sogar so weit, die Rhetorik des Individualismus, die im Kalten Krieg gegen den sowjetischen(42) Kollektivismus eingesetzt wurde, ihrerseits als Herrschaftsinstrument zu interpretieren. »Individualismus, im Gegensatz zu unmenschlichem Schubladendenken, kann sich letztlich zu einer nur mehr ideologischen Verschleierung entwickeln in einer Gesellschaft, die faktisch unmenschlich ist und deren intrinsische Tendenz zur ›Unterordnung‹ von allem und jedem sich ihrerseits in der Klassifizierung der Menschen selbst zeigt.« Adorno(454) formuliert die kühne These, Menschen seien in einer vom Klassensystem geprägten Gesellschaft nur wenig mehr als Vertreter von Typen. »Mit anderen Worten: Sehr viele Menschen sind nicht mehr – beziehungsweise waren nie – ›Individuen‹ im Sinn der traditionellen Philosophie des 19. Jahrhunderts … Übermächtige gesellschaftliche Prozesse … lassen dem ›Individuum‹ nur wenig Freiheit für Handlung und echte Individuation.«[42]