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Die Befreiung des Eros

1950 und 1951 hielt Herbert Marcuse(94) an der Washington(4) School of Psychiatry eine Reihe von Vorträgen. Damit kehrte er, nachdem er über längere Zeit die amerikanische Regierung bei ihrem Kampf gegen den Nationalsozialismus unterstützt hatte, zur Philosophie und zum Schreiben zurück. Die Vorträge markierten den Moment, da die Kritische Theorie sich aufspaltete in die pessimistische Frankfurter Version von Horkheimer(256) und Adorno(455) und die hoffnungsfroheren amerikanischen Varianten von Marcuse(95) und Fromm(99), die beide auf der anderen Seite des Atlantiks blieben.

Für Horkheimer(257) und Adorno(456) dienten The Authoritarian Personality und das Gruppenexperiment als empirische Rechtfertigungen für ihre düstere Einschätzung der Möglichkeiten, das praktische Ziel der Kritischen Theorie umzusetzen – der radikalen Veränderung der Gesellschaft. Marcuse(96) hingegen erklärte in seinen Vorträgen, dass eine solche Veränderung möglich sei. Er widersprach der trostlosen Diagnose der Dialektik der Aufklärung, dass »die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt«, nicht direkt, allerdings thematisierte er einen Komplex, der in Horkheimers(258)(457) und Adornos Philosophie nicht vorzukommen schien: das subversive Potential sexuellen Begehrens. Die Vorträge bildeten die Grundlage für Marcuses(97) 1955 erschienenes Buch Eros and Civilisation: A Philosophical Inquiry into Freud(44), das seiner ersten Frau, der Mathematikerin und Statistikerin Sophie Wertheim(1) gewidmet ist; sie starb 1951 an Krebs. 1955 heiratete Marcuse(98) Inge Neumann(1). Sie war die Witwe seines Freundes Franz Neumann(30), der 1954 in der Schweiz(5) bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. In diesen Jahren unterrichtete Marcuse(99) Politische Philosophie, zuerst an der Columbia University, später dann in Harvard(2).

Das subversive Potential sexuellen Begehrens war kein neues Thema. In seinem 1938 erschienenen Essay »Zur Kritik des Hedonismus« hatte Marcuse(100) geschrieben:

Die unverklärte, unrationalisierte Freigabe der sexuellen Beziehungen wäre die stärkste Freigabe des Genusses als solchen und die totale Entwertung der Arbeit um der Arbeit willen … Die Trostlosigkeit und Ungerechtigkeit der Arbeitsverhältnisse würden eklatant das Bewußtsein der Individuen durchdringen und ihre friedliche Einordnung in das gesellschaftliche System der bürgerlichen Welt unmöglich machen(101).[1]

Diese Vorstellungen bedeuteten eine Herausforderung sowohl der freud(45)schen Lehre als auch des klassischen Marxismus(304), dem die Idee fremd war, sexuelle Befreiung könne das Gesellschaftssystem der bürgerlichen Welt erschüttern. In Eros and Civilisation geht Marcuse(102) allerdings noch weiter. Vor allem setzt er sich mit Freuds(46) pessimistischstem Buch Das Unbehagen in der Kultur auseinander und nutzt dessen Leitideen für seine befreienden, hoffnungsvollen Schlussfolgerungen. Der Moment, die Möglichkeiten sexueller Befreiung zu thematisieren, war günstig. Das Nachkriegsamerika war vom Thema Sex geradezu besessen. Alfred Kinsey(1) hatte 1947 an der Indiana University das Institute for Sex Research gegründet und war berühmt geworden für seine beiden Bücher Sexual Behaviour in the Human Male (1948) (Das sexuelle Verhalten des Mannes, 1955) und Sexual Behaviour in the Human Female (1953) (Das sexuelle Verhalten der Frau, 1954). Außerdem erlangte der in Österreich(10) geborene, unkonventionelle psychoanalytische Theoretiker und Marxist Wilhelm Reich(6) als ein Prophet der sexuellen Befreiung großen Ruhm in Amerika(50). In The Invasion of Compulsory Sex-Morality schreibt er: »Eine sexuelle Revolution ist auf dem Vormarsch, und keine Macht der Erde wird sie aufhalten können.«[2]

Während der 1930er Jahre hatten Mitglieder der Frankfurter Schule, auch Marcuse(103) und Fromm(100), Reichs(7) Schriften gelesen, und die im Zusammenhang damit entstandene Darstellung des Faschismus war auch tatsächlich von Reichs Buch Massenpsychologie des Faschismus beeinflusst. Reich ging 1939 in die USA ins Exil und entwickelte dort seinen »Orgonakkumulator«, einen hölzernen, metallgefütterten, mit Stahlwolle isolierten Schrank. Albert Einstein(1), den Reich(8) eingeladen hatte, den Akkumulator auszuprobieren, war skeptisch hinsichtlich der Behauptung seines Erfinders, das Gerät könne die »orgiastische Potenz« des Benutzers und in Verbindung damit seine geistige Gesundheit verbessern. Viele führende amerikanische Schriftsteller der Nachkriegszeit hingegen – darunter Norman Mailer(1), J. D. Salinger(1), Saul Bellow(2), Allen Ginsberg(1) und Jack Kerouac(1) – rühmten die Wohltaten, die man beim Gebrauch von Reichs(9) Schrank genoss. Später veröffentlichte William Burroughs(1) einen Zeitungsartikel unter dem Titel »Sämtliche Akkumulatoren, die ich je besaß«: »Ihr unerschrockener Reporter gelangte im Alter von 37 Jahren in einem Orgonakkumulator, der in einem Orangenhain in Pharr, Texas, aufgestellt war, zu einem spontanen Orgasmus ohne manuelle Unterstützung.« Woody Allen(1) stellt die Apparatur in seinem Film Der Schläfer aus dem Jahr 1973 als Orgasmatron satirisch dar. Darüber, dass es zu einem Zugewinn an orgiastischer Potenz bei Frauen kam, haben wir jedoch nichts erfahren.

Mitte der 1950er Jahre geriet Reich(10), der unter paranoiden Wahnvorstellungen von UFO-Angriffen auf die Erde litt, allerdings unter Beobachtung durch die Food and Drugs Administration, mit der Begründung, er stelle falsche Behauptungen über den Orgonakkumulator auf. »Wenn seine Behauptungen im Zusammenhang mit seinem Orgonakkumulator nichts weiter als haltloses, lächerliches Gerede eines Quacksalbers waren«, so die Frage von Christopher Turner(1), Autor von Adventures in the Orgasmatron: Wilhelm Reich(11) and the Invention of Sex, »wie die Ärzte der FDA unterstellten, und wenn er lediglich ein paranoider Schizophrener war, wie ein Gerichtspsychiater es formulierte, warum empfand ihn die US-Regierung dann als eine solche Gefahr?«[3] Eine mögliche Antwort wäre, dass die sexuelle Befreiung, für die sich ein marxistischer(305) Psychoanalytiker stark machte, in einem zunehmend paranoiden Amerika(52) auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges als eindeutige, akute rote Gefahr angesehen wurde. Ebenfalls möglich ist, dass Reichs(12) Vorstellung einer sexuellen Befreiung eine Bedrohung der in Amerika so hochgeschätzten Werte wie Arbeitsethik und Monogamie darstellte. Eine dritte mögliche Antwort: Ein Scharlatan, der mit seiner Wunderkur Geld macht, ist praktisch für jedes Gemeinwesen untragbar.

Reich(13) starb im November 1957 im Lewisburg Federal Penitentiary in Pennsylvania an einem Herzanfall, wo er zwei Jahre einsaß, weil er gegen die Verfügung verstoßen hatte, seine Maschine zu vermieten oder zu verkaufen. Wir wissen nicht, ob Herbert Marcuse(104) sich in Reichs(14) Akkumulator begeben, noch weniger, ob er seine Wohltaten verspürt hat, aber beides ist wohl eher unwahrscheinlich. Marcuse kannte zwar die Schriften Reichs und war von ihnen beeinflusst, allerdings war er nicht so genital fixiert wie sein Exilgenosse. In Eros and Civilisation argumentiert er jedenfalls nicht im Sinne einer größeren Quantität und Qualität von Orgasmen. Er stellt vielmehr fest, Reichs(15) Fehler sei gewesen, »die sexuelle Befreiung an sich als Allheilmittel gegen individuelle und soziale Nöte« anzusehen: »Das Problem der Sublimierung verliert bei ihm an Bedeutung. Zwischen repressiver und nicht-repressiver Sublimierung besteht kein wesentlicher Unterschied, und der Fortschritt der Freiheit erscheint als bloße Freisetzung von Sexualität(105)[4]

In seinem Buch Das Unbehagen in der Kultur aus dem Jahr 1930 hatte Freud(47) ausgeführt, dass Kultur die Unterordnung von Glück und sexuellem Vergnügen unter Arbeit, Monogamie und soziale Zurückhaltung erfordere. Freud(48) zufolge sind soziale Zwänge notwendig, damit die menschliche Gesellschaft sich entwickeln kann. Rohstoffe sind knapp, weil sie schwer zu finden sind; also bedarf es harter Arbeit. Das ungehemmte Schwelgen in den physischen und psychischen Bedürfnissen des Menschen – im Sinne des von Freud(49) sogenannten Lustprinzips – beeinträchtigt die Freiheit anderer und muss daher mithilfe von Regeln und Disziplin – dem, was Freud(50) das Realitätsprinzip nannte – eingeschränkt werden. Das freud(51)sche Narrativ von der Art und Weise, wie Individuen ihre Bedürfnisse unterdrücken und sublimieren, sieht folgendermaßen aus: Zunächst treiben uns unsere Triebe (bei Freud(52): das Es) dazu, Lust zu suchen und Schmerz zu vermeiden. Im Zuge seiner Entwicklung geht jedoch dem Individuum die traumatische Erkenntnis auf, »daß völlige und schmerzlose Befriedigung der Bedürfnisse unmöglich ist« (so die Formulierung Marcuses(106)). Und nun kommt also das Realitätsprinzip (in der Psyche des Individuums repräsentiert durch das Ich) zum Tragen und vermittelt dem Individuum, was sozial zulässig ist. In diesem Prozess ist dann das Individuum nicht mehr länger nur auf Lust fixiert, sondern es wird »ein bewusstes, denkendes Subjekt, das auf eine ihm von außen auferlegte Rationalität ausgerichtet ist«.[5]

Freud(53) war davon ausgegangen, dass diese Triebe unveränderlich seien. Marcuse(107) hingegen argumentierte, dass Triebe, wenn sie unterdrückt werden können, nicht unveränderlich seien; und wichtiger noch: Die spezifische Ausprägung der Gesellschaft, in der sich ein Individuum zu einem bewussten, denkenden Subjekt entwickelt, spielt bei der Ausprägung der Triebe eine Rolle. Faktisch historisierte Marcuse Freud(54) von einer marxistischen(306) Warte aus und behauptete, die von Freud(55) vergegenständlichten Triebe seien unter dem Einfluss des Gesellschaftssystems veränderlich. Das wurde klar, als Marcuse seine grundlegende Unterscheidung zwischen notwendiger und überschüssiger (»Surplus«-)Unterdrückung einführte (eben jene Unterscheidung, die er in Reichs Lobpreisungen des Orgasmus als höchstem Gut vermisste). Erstere ist die Art von Triebunterdrückung, die, so Marcuse(108), »für das Fortbestehen der Gattung Mensch in der Kultur« notwendig sei. Letztere hingegen, die Surplus-Unterdrückung, ziele darauf, die Triebe in Übereinstimmung mit dem »Leistungsprinzip« zu bringen, in den Augen Marcuses die vorherrschende Form des Realitätsprinzips.

Marcuse(109) war der Meinung, dass das Realitätsprinzip im Kapitalismus in eine neue Form mutiere. In Eros und Kultur schreibt er:

Das Leistungsprinzip, das das herrschende Prinzip einer auf Erwerb und Wettstreit ausgerichteten Gesellschaft im Prozeß ständiger Ausdehnung ist, setzt eine lange Entwicklung voraus, während derer die Herrschaft zunehmend rationalisiert wurde: die Kontrolle über die soziale Arbeitsleistung sichert jetzt die Fortdauer der Gesellschaft in vergrößertem Maßstab und unter sich verbessernden Bedingungen … Für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung werden Ausmaß und Art der Befriedigung durch ihre eigenen Anstrengung bestimmt, aber diese Anstrengung ist Arbeit für einen Apparat, den sie nicht selbst lenken, der als eine unabhängige Macht wirkt, der die Individuen sich zu unterwerfen haben, wenn sie leben wollen. Und diese Macht wird um so fremder, je spezialisierter die Arbeitsteilung wird. Die Menschen leben nicht ihr eigenes Leben, sondern erfüllen schon vorher festgelegte Funktionen. Während sie arbeiten, befriedigen sie damit nicht ihre eigenen Bedürfnisse und Fähigkeiten, sondern arbeiten entfremdet.[6]

Marcuse(110) stellte also eine Verbindung zwischen freud(56)scher Verdrängung und dem marx(307)schen Entfremdungsbegriff her – der Arbeiter wird dergestalt manipuliert, dass die Einschränkungen seiner Libido als vernünftige Gesetze erscheinen, die dann internalisiert werden. Das Unnatürliche – dass es unsere vorherbestimmte Funktion sein soll, Waren und Gewinn für den Kapitalisten zu produzieren – wird für uns natürlich, zur zweiten Natur. Das Individuum definiert sich also in Übereinstimmung mit dem Apparat. Oder in Marcuses(111) Formulierung: Es wünsche, was es wünschen soll, das »›was nützlich ist‹ … Aber nun liegen weder seine Wünsche noch seine Veränderung der Wirklichkeit länger in seiner eigenen Entscheidung: sie werden jetzt von der Gesellschaft ›organisiert‹. Und diese ›Organisation‹ verdrängt und verwandelt seine ursprünglichen Triebbedürfnisse in der Substanz selbst.«[7]

Marcuse(112) schrieb im Amerika(53) der 1950er Jahre, zu einer Zeit, da, wie er annahm, Werbung, Verbrauchermentalität, Massenkultur und Ideologie die Amerikaner in eine friedliche Unterwerfung unter das Gesellschaftssystem der bürgerlichen Welt einbänden und sie Dinge wünschen ließen, die sie nicht brauchten. Marcuse(113) unterrichtete an amerikanischen Universitäten und hielt einen engen Kontakt mit seinen früheren Kollegen Adorno(458) und Horkheimer(259) in Frankfurt(64) aufrecht, und in wesentlichen Punkten ähneln sich ihre Kritikansätze. Für alle drei war der holzschnittartige Individualismus der US-Gesellschaft, der während des Kalten Krieges rhetorisch gegen den Kollektivismus des Sowjetsystems ausgespielt wurde, ein Mythos: Amerikaner seien infantilisierte, unterdrückte Pseudoindividuen. So verbrachte etwa Adorno(459) während der Jahre 1952 und 1953 zehn Monate in Kalifornien(14) und analysierte Astrologiekolumnen in Zeitungen, im Radio ausgestrahlte Soap Operas und das neue Medium Fernsehen, und was er dazu zu sagen hatte, war dem, was Marcuse(114) in Eros and Civilisation schrieb, durchaus verwandt. Adorno(460) stellte für alle diese Formen der Massenkultur Parallelen zur faschistischen Propaganda fest: Sowohl die Massenkultur als auch die faschistische Propaganda würden die Abhängigkeitsbedürfnisse des pseudoindividuellen Charakters ansprechen und sie manipulieren, »womit sie konventionelle, konformistische und zufriedene Haltungen fördern«.[8]

War man selbst Amerikaner, dann muss einem das ungeheuerlich herablassend vorgekommen sein. Adorno(461) lobte aber immerhin die Verfasser von Horoskopen für ihren Einfallsreichtum. Ihre Leser waren ja nicht völlig ahnungslos: Sie wussten aus ihrem eigenen Leben, dass »nicht alles so rund läuft, wie die Kolumne es zu suggerieren scheint, und nicht alles erledigt sich von allein«; die Leser machten vielmehr durchaus die Erfahrung, dass das Leben widersprüchliche Anforderungen an sie stellte. Auf eine Art, die derjenigen der Nazipropagandisten vergleichbar ist, »muss die Kolumne diese Widersprüche aufgreifen, wenn sie daran interessiert ist, dass die Leser bei der Stange bleiben«. Eine Methode, wie die Verfasser von Horoskopen das zustande brachten, war, dass sie für unterschiedliche Tageszeiten unterschiedliche Aktivitäten empfahlen: Der Vormittag gehöre der Arbeit, der Realität und dem Ich-Prinzip; der Nachmittag demzufolge »den triebgesteuerten Antrieben des Lustprinzips«. Die Freuden des Nachmittags, so Adorno(462), würden als Belohnungen oder Kompensationen für die Arbeit des Vormittags angesehen. Allerdings seien die Freuden des Nachmittags nur zu rechtfertigen, wenn sie letztlich dem »verborgenen Zweck von Erfolg und Selbst-Optimierung« dienten.[9] Infolgedessen werden Vergnügen, Genuss und Lust selbst zu einer Pflicht, einer Art von Arbeit: Was aussieht wie nachmittägliches Vergnügen nach einem Morgen der Arbeit, ist alles andere als das. Eros hatte sich dem Logos zu unterwerfen. Statt der Freisetzung des Lustprinzips hatte diese Teilung die Funktion, das Diktat des Realitätsprinzips über jeden einzelnen Aspekt des Lebens auszudehnen. Was in der Psychoanalyse als biphasisches Verhalten bezeichnet wird, sei ein Symptom von Zwangsneurose, so Adorno(463). Die Autoren von Horoskopkolumnen schienen ihren Lesern Mittel an die Hand zu geben, mit den Widersprüchen des Alltags fertigzuwerden, in Wahrheit jedoch machten sie sie zu Zwangsneurotikern, die diese Widersprüche internalisierten, statt ihnen die Stirn zu bieten.

Adorno(464) sah in dieser zwangsneurotischen Teilung in Vormittag und Nachmittag ein typisches Zeichen der amerikanischen Massenkultur. Statt dass sich die Bürger mit den Widersprüchlichkeiten der Gesellschaft auseinandersetzten, verinnerlichten sie sie auf neurotische Weise; indem sie die Tage in Arbeit und Vergnügen unterteilten, wurde ihr Leben nicht erfüllter, sondern entfremdet. Was Adorno(465) an den amerikanischen Horoskopkolumnen diagnostizierte, verallgemeinerte Marcuse(115) auf die amerikanische, ja auf jede fortgeschrittene Industriegesellschaft. Er formuliert in Eros und Kultur seine Hoffnung auf eine radikale Veränderung dieser Gesellschaften, auf eine Befreiung des Lustprinzips aus der Diktatur des Leistungsprinzips, auf Menschen, die wieder erotisiert sein – die zu Ganzheit, Erfüllung und Freiheit finden würden.

Freud(57) hatte festgestellt, diese Art von Umgestaltung sei unmöglich: Kulturen müssten Freiheit gegen Sicherheit eintauschen. Die Vereinigten Staaten(54) der 1950er Jahre waren offensichtlich eine Kultur, die sich in Richtung Sicherheit, weg von der Freiheit bewegte, während ihre Rhetorik das Gegenteil annehmen ließ. Richard Yates(1) wies darauf hin, dass sein Roman Revolutionary Road, der 1961 veröffentlicht wurde und im Jahr 1955 angesiedelt ist, von einer Zeit handle, die »eine Art blindes, verzweifeltes Sich-Klammern an Sicherheit um jeden Preis« verkörpere.[10] Die Amerikaner hatten Todesangst vor dem Kommunismus und einem Atomkrieg; und die Arbeit von Nixon(2) und McCarthy(4) im Komitee für unamerikanische Umtriebe flößte den Männern und Frauen Angst davor ein, sich frei zu äußern oder unabhängig zu agieren. Die amerikanische Gesellschaft, ja in dieser Hinsicht jede andere zivilisierte Gesellschaft, die sich in den 1950er Jahren als frei und wohlhabend darstellte, steckte in der Zwangsjacke der Konformität.

Die entscheidende Aussage von Freuds(58) Unbehagen in der Kultur lautet, dass der vordergründige Fortschritt der Kultur mit einer Unterdrückung einhergehe, vor der es kein Entkommen gebe. Marcuse(116) widersprach diesem Pessimismus. Er merkte an, in fortgeschrittenen Industriegesellschaften wie den Vereinigten Staaten(55) spiele die Knappheit der Ressourcen, die Freud(59) als einen Grund dafür angeführt hatte, warum das Lustprinzip vom Realitätsprinzip eingeschränkt werden müsse, keine Rolle mehr. »Gerade der Fortschritt der Kultur und Zivilisation unter dem Leistungsprinzip hat einen Stand der Produktivität mit sich gebracht, angesichts dessen die Ansprüche der Gesellschaft auf Verausgabung von Triebenergie in entfremdeter Arbeit um ein Beträchtliches vermindert werden könnte[n]«, so Marcuse(117).[11] Freuds(60) Argument der Knappheit mag für vergangene Zeiten Gültigkeit besessen haben, doch heutzutage dient scheinbare Knappheit ideologisch dazu, uns weiterarbeiten zu lassen, auch wenn ein Teil dieser Arbeit nicht mehr notwendig ist, um die Bedürfnisse zu erfüllen. Dieser Teil bildet mithin einen Überschuss, der die Herrschaft der Kapitalisten über die Arbeiter stützt.

Die ideologische Funktion harter Arbeit gibt es wohl nach wie vor. In seinem Artikel aus dem Jahr 2013 »On the Phenomenon of Bullshit Jobs« und in seinem Buch Bullshit Jobs (2018) stellt der Anarchist, Anthropologe und Aktivist der Occupy-Bewegung David Graeber(1) fest, dass der Ökonom John Maynard Keynes(2) 1930 vorhergesagt habe, bis Ende des Jahrhunderts werde sich die Technik so weit entwickelt haben, dass in Ländern wie England(9) und den USA nur noch 15 Stunden pro Woche gearbeitet werden müsse. Graeber meint wie Marcuse(118), dass wir technologisch gesehen durchaus in der Lage wären, unsere Arbeitszeit auf diesen Umfang zu reduzieren. Aber das geschah nicht. Graeber sagt: »Stattdessen wurde die Technik dazu genutzt, herauszufinden, wie wir alle zu mehr Arbeit angehalten werden können. Riesige Menschenmengen, vor allem in Europa(31) und Nordamerika, verbringen ihr gesamtes Arbeitsleben mit Aufgaben, die sie für überflüssig halten. Der moralische und spirituelle Schaden, der sich aus dieser Situation ergibt, ist immens. Es ist eine Wunde in unserer Kollektivseele. Aber praktisch niemand spricht darüber(2)[12] Was Marcuse als »Trostlosigkeit und Ungerechtigkeit der Arbeitsbedingungen« und als die »friedliche Unterordnung der Arbeiter unter das Gesellschaftssystem der bürgerlichen Welt« bezeichnete, gilt heute nicht weniger als vor sechzig Jahren.

Allerdings kritisiert Marcuse(119) in Eros und Kultur nicht Bullshit-Jobs als solche; er führt vielmehr an, dass eine durch entfremdete Arbeit erreichte erhöhte Produktivität die Knappheit beseitigt habe, die es erforderlich gemacht hatte, dass wir hart arbeiten. Unser Problem in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften ist somit heute nicht mehr Knappheit, sondern das Fehlen einer gerechten, angemessenen Verteilung der Ressourcen. Marcuses optimistische Vision besteht darin, dass der Arbeitstag verkürzt wird, dass die Bedürfnisse aller Menschen durch eine bessere Verteilung von Gütern und Dienstleistungen und eine bessere Aufteilung der Arbeit erfüllt werden und dass infolgedessen erotische Energien freigesetzt werden können. Erotische Energien auf diese Weise freizusetzen, so Marcuse(120), würde uns von der Art genitaler Fixierung befreien, die er bei Wilhelm Reich(16) bemängelt. Der Körper, der nicht mehr lediglich als Arbeitsinstrument funktionieren muss, könne resexualisiert werden. Marcuse weist darauf hin, dass die Philosophie über zu lange Zeit hinweg das »Sein« als reines, abstraktes Bewusstsein behandelt habe. Der Eros wird vom Logos unterdrückt. Auch der Kapitalismus schränkt den Eros ein, indem er ihn unter genitale Vorherrschaft zwingt und in den Dienst von Monogamie und Fortpflanzung stellt(121).

Es wird jedoch nicht ganz klar, wie sich die Sexualpraktiken verändern würden, wenn der Eros befreit ist. Marcuse(122) verdammt zwar beispielsweise Koprophilie und Homosexualität nicht, aber er bemerkt, dass sie in einer nichtrepressiven Gesellschaft »mit einem Fortschritt zu höheren Formen kultureller Freiheit vereinbar sind«.[13]

Der Bezug auf »Freiheit« ist allerdings problematisch: Wenn es in Marcuses(123) nichtrepressiver Welt sexuelle Normen gibt, würden diese dann nicht die erotischen Energien hemmen, die gerade erst entfesselt wurden? Natürlich sprach er sich nicht für die Gründung einer Sittenpolizei aus, die sein nichtrepressives Utopia kontrolliern würde, sondern wollte wohl eher andeuten, dass sich dort die Sexualpraktiken von ihrem derzeitigen Zustand wegentwickeln. Welche Formen sie annehmen werden, ist für uns als unterdrückte, entfremdete Subjekte unter dem Joch des Monopolkapitalismus natürlich schwer vorstellbar.

Eine der Institutionen, die dem Ende repressiver Kultur und der Freisetzung libidinöser Energie zum Opfer fallen würden, so die verlockende Verheißung Marcuses(124), wäre die Kleinfamilie, die im Amerika(57) der 1950er Jahre geradezu Kultstatus hatte. »Der Körper in seiner Gesamtheit würde ein Objekt der Besetzung, ein Ding, dessen man sich erfreuen kann – ein Instrument der Lust«, so Marcuse. »Diese Veränderung im Wert und im Ausmaß der libidinösen Beziehungen würde zu einer Auflösung der Institutionen führen, in denen die privaten zwischenmenschlichen Beziehungen organisiert waren, besonders der monogamen und patriarchalen Familie.«[14] Sex stünde hinfort nicht mehr »im Dienst der Fortpflanzung«, sondern hätte die »›Funktion der Lustgewinnung aus Körperzonen‹«.[15] Und damit nicht genug: Nicht nur der gesamte Körper würde erotisiert, sondern auch alles, was man tue – soziale Beziehungen, Arbeit, Kulturschaffen.

Noch verblüffender ist, was Marcuses(125) nichtrepressive Kultur für die Begriffe Produktion und erfüllende Arbeit bedeutet, die bereits oben angesprochen wurden. Für Hegel(46) hatte der Mensch seine Identität durch produktive Tätigkeit, durch Leistung verwirklicht, indem »er sich aus der Nacht der Möglichkeit in den Tag der Gegenwart übersetzt«, und auch Marx(308) hatte betont, dass zur Selbstverwirklichung als Mensch die Herstellung von etwas gehöre. Schließlich hatte Erich Fromm(101) das Ideal eines »produktiven Menschen« vorgestellt, einen normativen Charakter, der in dem Ausmaß lebendig ist, wie er »seine eigenen spezifisch menschlichen Kräfte zum Ausdruck bringt«. Für Marcuse(126) hingegen verstärkte diese Betonung der Produktion die kapitalistische Arbeitsethik und das Leistungsprinzip. Sein Argument zeigt, wie weit sich die Kritische Theorie von der marxistischen(309) Orthodoxie entfernt hatte: Marx(310) wurde hier tatsächlich als Philosoph dargestellt, der sich der kapitalistischen Ideologie annäherte, indem er sich für Selbstverwirklichung durch Arbeit aussprach (wobei es sich natürlich um nicht entfremdete Arbeit handeln musste). Das eigentliche Angriffsziel Marcuses(127) war jedoch nicht Marx(311), sondern Fromm(102): Marcuse war der Meinung, Fromm(103) hätte in seine Kritik des kapitalistischen Systems kapitalistische Werte hineingeschmuggelt – ein Punkt, den er später im Zuge eines erbitterten Streits zwischen den beiden Männern noch weiter ausformulierte.

Allerdings war Marcuse(128) nicht lediglich ein Hedonist, der sich dafür aussprach, dass wir lieber spielen als arbeiten sollen. Er forderte vielmehr, dass die Trennung von Arbeit und Spiel überwunden werden müsse. In der Nachfolge Schillers stand er für Spiel und Kunst als emanzipatorische Aktivitäten ein, die das Potential haben, Menschen zu verwandeln, und die vor allem ihre Beziehung zur Arbeit verändern können. Statt entfremdet in Berufen zu arbeiten, die uns spirituell schrumpfen lassen und uns körperlich ruinieren, meinte er, dass in einer nichtrepressiven Gesellschaft erotische Energien in sexuelle Befriedigung, Spiel und kreative Arbeit fließen könnten. Teilweise bezog Marcuse(129) diese utopische Vision von dem französischen utopischen Sozialisten und Prämarxisten(312) Charles Fourier(1), der im 19. Jahrhundert gelebt hatte. Dieser strebte eine ähnliche Gesellschaft an wie jene, von der Marcuse in Eros und Kultur träumt. Fourier sei es, so Marcuse, um »die Schaffung von ›Luxus, um Genuß, der alle fünf Sinne anspricht‹, die Bildung von libidinös orientierten (Freundschafts- und Liebes-)Gruppen, und die Begründung einer harmonischen Ordnung [gegangen], die diese Gruppen organisierte, damit sie in Übereinstimmung mit der Entwicklung des Individuums tätig sein konnten«. Die fatalste Schattenseite von Fouriers Utopia war der Umstand, dass es von einer gigantischen Organisation verwaltet werden musste, die, so die Annahme Marcuses, nur eine Neuauflage des repressiven Systems sein würde, dem man entkommen wollte.[16]

Das alles darf nun jedoch nicht den Eindruck erwecken, als könne Marcuses(130) repressionsfreie libidinöse Revolution ganz ohne Arbeit zustande kommen. Immerhin hat Freud(61) Eros als das Streben definiert, »die Substanz zu immer größeren Einheiten zu formen, auf dass das Leben verlängert und auf eine höhere Entwicklungsstufe gebracht werden kann«.[17] Das hört sich nach Arbeit an, und Marcuse erkennt das auch durchaus an – die Freisetzung des Lustprinzips, die er vorschlägt, würde zwar die Art der Arbeit verändert, aber es ist und bleibt doch Arbeit.

Das erotische Ziel, den gesamten Körper als Subjekt / Objekt der Lust zu erhalten, verlangt die kontinuierliche Revolution des Organismus, die Intensivierung seiner Rezeptivität, die Zunahme seiner Sinnlichkeit. Das Ziel erzeugt sich seine eigenen Verwirklichungsstrategien: die Abschaffung mühevoller Arbeit, die Verbesserung der Umgebung, den Kampf gegen Krankheit und Verfall, die Schaffung von Luxus. All diese Aktivitäten ergeben sich unmittelbar aus dem Lustprinzip, aber gleichzeitig bedeuten sie Arbeit.[18]

Was Marcuse(131) als kontinuierliche Revolution bezeichnet, klingt stark nach Sisyphusarbeit. Entscheidend ist jedoch, dass diese Arbeit eben keine entfremdete, repressive Arbeit ist, die das Leistungsprinzip aufrechterhält, sondern eher der Arbeit von zwei anderen klassischen mythologischen Gestalten ähnelt, die Marcuse anführt: Orpheus und Narziss. Orpheus widersetzt sich repressiver Sexualität und sucht die Vereinigung mit dem Objekt seines Begehrens, während Narziss erotische Impulse hat, die seine gesamte Persönlichkeit durchfluten. Marcuse(132) befindet auch als bemerkenswert, dass Narziss nicht von der Natur getrennt, sondern Teil von ihr sei und es als lustvoll empfinde, sich in ihr gespiegelt zu sehen. Dieser Teil von Marcuses Analyse hat einen klaren Bezug zu Adornos und (466)Horkheimers(260) Kritik an der Ausbeutung der Natur in der Dialektik der Aufklärung. Für alle drei musste jede wünschbare Veränderung mit einer Wiedervereinigung der Menschen mit der Natur einhergehen. Die Natur sollte nicht länger, wie es seit Francis Bacon(4) geschah, lediglich als zu beherrschende und auszubeutende Sphäre verstanden werden. Orpheus und Narziss waren für Marcuse(133) »Urbilder der ›Großen Weigerung‹; der Weigerung, die Trennung vom libidinösen Objekt (oder Subjekt) zu ertragen. Die Weigerung zielte auf Befreiung ab – auf die Wiedervereinigung dessen, was getrennt wurde.«[19] Eros war vom Logos abgeschnitten und unterworfen worden; die Menschheit hatte sich von der Natur getrennt und sie unter ihre Herrschaft gebracht. Die Arten von Wiedervereinigung, die Marcuse anstrebte, waren natürlich mit Arbeit verbunden, allerdings mit der Art von selbstverwirklichender Arbeit, die Fromm(104) in seinem Buch Marx(313)’s Concept of Man aus dem Jahr 1961 beschreibt.

Mit seinem Werk Eros und Kultur dachte Marcuse(134) den Marxismus(314) neu. Für ihn stellte sich im Jahr 1955 die Geschichte aller bislang existierenden Gesellschaften nicht lediglich – wie ein Jahrhundert zuvor für Marx(315) und Engels(11) im Kommunistischen Manifest – als Geschichte von Klassenkämpfen dar; es war auch ein Kampf um die Unterdrückung unserer Triebe. Die fortgeschrittene Industriegesellschaft hindere uns daran, eine nichtrepressive Gesellschaft zu errichten, »die auf einer völlig andersartigen Daseinserfahrung, auf einer völlig anderen Beziehung zwischen Mensch und Natur, auf völlig anderen existentiellen Beziehungen beruht«.[20] Im Unterschied zu Horkheimers(261) und Adornos(467) Philosophie war diejenige von Marcuse jedoch optimistisch, er ging davon aus, dass eine nichtrepressive Gesellschaft möglich war und dass »eine neue grundlegende Daseinserfahrung die menschliche Existenz in ihrer Ganzheit verändern wird«.

In Eros und Kultur zieht Marcuse(135) Freuds(62) pessimistische Vision dessen heran, was Kultur mit sich brachte, um eben jene Möglichkeit zu umreißen, die Freud(63) ausgeschlossen hatte: nämlich eine nichtrepressive Kultur. Das klingt sehr stark nach neofreudianischem Revisionismus. Sein Buch aber endet mit einem Epilog, der mit »Kritik des Neo-Freudianischen Revisionismus« überschrieben ist. Er beschuldigt darin mehrere prominente Psychoanalytiker, Freuds(64) Werk so verändert zu haben, dass dessen kritische Implikationen weggefallen seien. Zu denen, die ins Visier Marcuses(136) geraten, gehört ein weiteres Mal auch Erich Fromm(105). Marcuse war der Meinung, Fromm(106) und die anderen Neofreudianer hätten sich von bestimmten entscheidenden Erkenntnissen Freuds(65) getrennt: etwa seiner Libidotheorie, dem Todestrieb, dem Ödipuskomplex und der Hordentheorie, welcher zufolge ein dominanter Mann wegen seiner sexuellen Rechte über die Frauen in prähistorischer Zeit getötet wurde, was eine Schuld erzeugte, die durch die menschliche Geschichte hindurch weitergegeben wurde.

Fromm(107) hat eine marxistische(316) Kritik an Freud formuliert(66), die derjenigen von Marcuse(137) in dessen Eros und Kultur nicht unähnlich ist. Er bezweifelte, dass der ödipale Kampf die ewige Wahrheit über Vater-Sohn-Beziehungen wäre, sah in ihm vielmehr eine Auseinandersetzung, die durch die Bedingungen der kapitalistischen Gesellschaft begünstigt wurde. Marcuse(138) geht allerdings mit seinem Vorwurf des Revisionismus gegenüber Fromm(108) noch weiter. Er meint, sein ehemaliger Kollege habe sich von der Triebbasis der menschlichen Persönlichkeit entfernt und stattdessen ein »positives Denken« übernommen, er richte sein Augenmerk auf »Oberflächenerscheinungen« und kritisiere die »›Marktwirtschaft und ihre[] Ideologie … Aber damit ist die Sache erledigt.«[21] Marcuse behauptet, Fromms(109) Unterscheidungen zwischen gut und schlecht, zwischen produktiv und unproduktiv würden aus eben jener kapitalistischen Ideologie stammen, die er angeblich kritisiert hat. Und schlimmer noch: Er(139) beschuldigt Fromm(110), dem konformistischen Slogan »Betone das Positive« zu huldigen.[22]

Ist das fair gegenüber Fromm(111)? Wie Marcuse(140) so hatte auch Fromm(112) beschlossen, nach dem Krieg im Land seines Exils zu bleiben. Von allen Frankfurter Gelehrten war Fromm(113) derjenige, der sich in Amerika(58) am wohlsten fühlte – er lernte schneller Englisch (schrieb später in dieser Sprache auch mit größerer Gewandtheit und Leichtigkeit, und das nicht nur im Vergleich mit seinen deutschen Kollegen, sondern auch mit vielen Muttersprachlern) und integrierte sich mit größerer Bereitwilligkeit in die US-Gesellschaft. Das heißt nicht, dass er dieser Gesellschaft gegenüber unkritisch gewesen wäre: Faktisch waren seine im Exil entstandenen Texte so kritisch, dass man ihn anfangs für einen natürlichen Verbündeten Marcuses hätte halten können. So bezieht sich Fromm(114) beispielsweise in dem 1942 erschienenen Werk The Fear of Freedom (Die Furcht vor der Freiheit) zwar explizit auf totalitäre Gesellschaften und auf die Art und Weise, wie diese sich einer tief verwurzelten menschlichen Sehnsucht danach bedienen, der Freiheit der modernen Welt zu entfliehen und in den Mutterschoß zurückzukehren; doch er erkennt durchaus an, dass kapitalistische Demokratien ebenfalls eine, wenn auch andere Form der Flucht vor der Freiheit bieten. In seinem 1955 veröffentlichten Buch The Sane Society (Wege aus einer kranken Gesellschaft) führt er aus, dass der Frühkapitalismus eine »hortende Orientierung«[23] aufgewiesen habe, wobei sowohl Besitztümer als auch Gefühle gehortet worden seien; im Nachkriegskapitalismus hingegen sei ein neuer Typus aufgetreten: der »Marketing-Charakter«. »An die Stelle einer rationalen oder irrationalen, aber offenen Autorität ist die anonyme Autorität der öffentlichen Meinung und des Marktes getreten. Das individuelle Gewissen wird durch das Bedürfnis, sich anzupassen und die Billigung der anderen zu finden, ersetzt; an die Stelle des Gefühls des Stolzes und der Herrschaft über die Welt ist ein ständig zunehmendes, wenngleich meist unbewußtes Gefühl der Ohnmacht getreten.«[24] Ein solcher Menschen sei nicht dazu in der Lage, jemanden wirklich gern zu haben – »nicht weil er so egoistisch ist, sondern weil seine Beziehung zu anderen und zu sich selbst so dünn ist«.[25] Gegen den Marketingcharakter grenzt Fromm(115) seinen idealen Typus ab, den »produktiven Charakter«, der liebt und schöpferisch tätig ist, und für den Sein wichtiger ist als Haben. Solche produktiven Charaktere werden in der Marktökonomie demotiviert. Faktisch stellen sie geradezu eine Bedrohung für den Markt dar.

Vieles davon scheint mit Marcuses(141) Diagnose durchaus übereinzustimmen; umso schwerer ist verständlich, warum Fromm(116) im Epilog von Eros und Kultur so heftig angegriffen wird. Vor dem Hintergrund von Fromms(117) positivem Verhältnis zum Marxismus(317) ist es unwahrscheinlich, dass er die Psychoanalyse zu einer konformistischen Psychologie abgeändert hätte – doch genau das wirft Marcuse ihm vor. Der Epilog wurde in leicht modifizierter Form der Zeitschrift Dissent zum Abdruck vorgelegt, wo er 1955 veröffentlicht wurde und einen erbitterten Streit auslöste, der in der Zeitschrift über mehrere Ausgaben hinweg ausgetragen wurde. Die Wurzeln des Konflikts reichen allerdings bis in die 1930er Jahre zurück, als Fromms(118) zunehmende Abneigung gegen die freud(67)sche Orthodoxie zu einem Konflikt zwischen ihm, Horkheimer(262) und Adorno(468) führte, was 1939 Fromms(119) Entlassung aus dem Institut zur Folge hatte. Damals stimmten Adorno(469) und Horkheimer(263) Freuds(68) These zu, dass es zwischen dem Selbst und der Gesellschaft keine Harmonie geben könne. Die Triebe streben nach Freisetzung, und die Gesellschaft musste, um überleben zu können, diese Freisetzung beschneiden. Fromm(120) hegte bereits in den 1930er Jahren Bedenken gegen diese freud(69)sche Lehre: Seine Idee eines sozialen Charakters umfasste auch externe soziale Strukturen, die das innere Selbst prägen. Für Adorno(470) und Horkheimer(264), und später auch für Marcuse(142), war diese Revision von Freuds(70) Auffassung allerdings sozial konservativ. Fromm(121) stufte den Stellenwert herab, den Freud(71) den frühkindlichen sexuellen Erfahrungen und dem Unbewussten zugeschrieben hatte, und Marcuse warf ihm vor, an einer »idealistischen Moral« festzuhalten. Er merkte an, Fromms(122) Aufruf zu Produktivität, Liebe und Gesundheit evoziere eben genau die Möglichkeit, die Freud(72) ausgeschlossen hatte: dass es nämlich eine Harmonie zwischen dem Selbst und der Gesellschaft geben könne. Fromms(123) Revisionismus verharmloste nach Marcuses(143) Meinung Freuds Lehre(73) und ging so der kritischen Schärfe der freud(74)schen radikalen Sozialkritik verlustig. Fromms(124) »Weg zur Gesundheit« biete lediglich Linderungsmittel für »ein geschmeidigeres Funktionieren der bestehenden Gesellschaft«. Fromm(125) konterte, dass Marcuse, indem er die Möglichkeit kreativer Produktivität, von Glück und wahrer Liebe im Kapitalismus leugne, undialektisch denke und seinen Pessimismus bis in den Nihilismus hinein weitertreibe. Er meinte, es gebe im Kapitalismus begrenzte Möglichkeiten der Selbsttransformation, die im Lauf der Zeit das hervorbringen könnten, was er als einen sozialistischen Humanismus bezeichnete.

Marcuse(144) behauptete, ein solcher Weg zur Gesundheit existiere nicht. Vielmehr setze Fromms(126) Hinweis die Vorstellung eines autonomen Individuums voraus, das fähig sei, sich den herrschenden Gesellschaftsstrukturen zu entziehen. Freud(75) hingegen war es darum gegangen, und die Kritische Theorie folgte ihm darin, dass eine solche Figur ein Mythos ist, der im 19. Jahrhundert im Frühkapitalismus erfunden worden war und sich mittlerweile zu einem kompletten Anachronismus entwickelt hat, einem Atavismus aus präfreudianischer Zeit. Wer diesen Mythos immer noch heraufbeschwor, bediente damit zwangsläufig die Interessen der herrschenden Gesellschaft, die Fromm(127) ja doch angeblich kritisieren wollte. In der Dialektik der Aufklärung vergleichen Adorno(471) und Horkheimer(265) das Individuum mit einem Dorfladen, der durch einen Supermarkt überflüssig wurde. Das Individuum sei »der psychologische Dorfladen«, der sich aus den Beschränkungen der Feudalzeit als »eine dynamische Zelle ökonomischer Aktivität« entwickelt habe. Die freud(76)sche Psychoanalyse »repräsentierte das innerliche ›Kleinunternehmen‹, das sich auswuchs … zu einem komplexen dynamischen System des Bewußten und des Unbewußten: dem Es, dem Ich und dem Über-Ich«. Die freud(77)sche Psychoanalyse war also für diese Vertreter der Kritischen Theorie, wenn auch nicht für Fromm(128), die Theorie der menschlichen Psyche, die jenem Kapitalismus angemessen war, der sich im ausgehenden 19. und im 20. Jahrhundert entwickelte. Vor allem erklärten die Vertreter der Psychoanalyse das autonome Individuum zur Schimäre. Weder sind wir frei von unseren biologischen Trieben, noch können wir der Festlegung und Beherrschung durch die Gesellschaftsordnung entkommen. »Für den Menschen als Erwerbstätigen wird durch die Hierarchie der Verbände bis hinauf zur nationalen Verwaltung entschieden«, so Adorno(472) und Horkheimer(266), »in der Privatsphäre durchs Schema der Massenkultur, das noch die letzten inwendigen Regungen ihrer Zwangskonsumenten in Beschlag nimmt.«[26] Das autonome Individuum, die Figur, die Fromm(129) für die Konstruktion seines Weges zur Gesundheit brauchte, wurde von den kritischen Theoretikern kategorisch abgelehnt. Adorno(473) schrieb: »Während sie [die Revisionisten] unablässig über den Einfluß der Gesellschaft aufs Individuum reden, vergessen sie, daß nicht nur das Individuum, sondern schon die Kategorie der Individualität ein Produkt der Gesellschaft ist.«[27]

Die Dissent-Debatte, die Fromms(130) Verbannung aus der Sphäre der Kritischen Theorie markierte, wurde so erbittert geführt, dass sie der Freundschaft zwischen Marcuse(145) und Fromm(131) ein Ende setzte. Jahre später sah Fromm(132) Marcuse im Zug und ignorierte ihn geflissentlich. Kränkend für Fromm(133) war außerdem der Umstand, dass der Streit in einer Zeitschrift ausgetragen wurde, für deren Redaktionsleitung er selbst tätig gewesen war. Die Herausgeber, die New York(32)er Intellektuellen Irving Howe(1) und Lewis Coser(1), waren von ihrem Kollegen und seinen Ansichten so enttäuscht, dass sie kein Problem damit hatten, ihn durch die Veröffentlichung von Marcuses(146) Angriff zu verletzen. Sie räumten Marcuse sogar die Möglichkeit ein, eine Widerlegung von Fromms(134) Widerlegung zu veröffentlichen. Man mag das für ein marginales Problem halten, aber es zeigt doch, wie groß die Feindseligkeit gegen Fromm(135) war. Der Dissent-Streit wurde von Fromm(136) insofern als hinterhältiger doppelter Dolchstoß empfunden. Sein Biograph wies darauf hin, dass der Meinungsaustausch Fromms(137) Bemühungen um akademische Respektabilität untergraben und ihn in eine marginale Rolle gedrängt habe – eine Erfahrung, die mit derjenigen vergleichbar ist, die er als Kind in seinem Elternhaus gemacht hatte, oder damals im Jahr 1939, als er vom Institut entlassen wurde.[28] Auch wenn Fromms Ansehen(138) in akademischen Zirkeln durch den Streit beschädigt worden war und er zu einem »vergessenen Intellektuellen« wurde, wie eine Kritikerin es formulierte,[29] zeigt das doch vor allem, wie unwichtig das akademische Renommee für seine wachsende Rolle als in der Öffentlichkeit wirkender Intellektueller war. Nach dem Dissent-Debakel machte Fromm(139) einfach weiter und schrieb Bücher, in denen er sich für jene Art von sozialistischem Humanismus einsetzte, die seine Kollegen für unmöglich hielten. Mit vielen dieser Bücher errang er bemerkenswerte Erfolge.

Zwar verbrachte er den Großteil seines Lebens nach der Auswanderung im Jahr 1933 bis zu seinem Tod 1980 in den Vereinigten Staaten(59), doch 1950 nahm er eine Stelle an der Nationalen Autonomen Universität in Mexico City(1) an. Er zog dorthin wegen des Gesundheitszustands seiner zweiten Ehefrau Henny Gurland(2), die er 1944 geheiratet hatte. Ihre Ärzte hatten ihr empfohlen, die radioaktiven Quellen in der Nähe von Mexico City aufzusuchen, um die Symptome ihres hohen Blutdrucks, ihre Herzprobleme und ihre Depression zu lindern. Im September 1940 hatte sich Gurland, eine Fotografin, unter jenen Flüchtlingen befunden, die zu Fuß über die Pyrenäen geflohen waren und zu denen auch Walter Benjamin(444) gehört hatte; vielleicht war sie die letzte Person, die ihn lebend sah, bevor er sich angeblich das Leben nahm. Während mehrerer Reisen nach Mexiko(1) linderten das Klima und die heißen Mineralquellen Hennys Schmerz tatsächlich und wirkten sich auch positiv auf ihre Depression aus. Fromm(140) hielt Mexiko für die letzte Hoffnung, zu seinem und ihrem früheren Glück zurückzufinden. 1952 starb Henny jedoch – möglicherweise an Herzversagen, allerdings ist es wahrscheinlicher, so Fromms(141) Biograph, dass sie(3) Suizid beging.

Es fällt schwer, Fromms(142) erfolgreichstes Buch Die Kunst des Liebens nicht vor dem Hintergrund seiner Jahre in Mexiko(2) zu lesen, dem Tod Hennys(4) und seinem Leiden daran. Er schrieb das Buch zum Teil, um der zunehmend sich ausbreitenden Vorstellung entgegenzutreten, dass der Aufbau einer Beziehung keine Arbeit verlange. Liebe wurde wie alles andere auch vom Konsumkapitalismus vergiftet, verdinglicht und ihrer potentiell verstörenden Gewalt beraubt. Die verbreitetste Form der Paarbildung bezeichnete er einen égoisme à deux, in dem zwei ichbezogene Personen eine Ehe oder eine Beziehung eingehen, nur um der Einsamkeit zu entkommen, so als wäre Liebe eine umfassende Versicherungspolice, die beide Teile vor der unbeständigen Wirklichkeit, vor Verlust und Enttäuschung zu schützen vermag. Doch keiner der beiden Egoisten sei bereit, Arbeit zu investieren, um das zu erreichen, was Fromm(143) als eine »Beziehung aus der Mitte« bezeichnet. Er merkt an, sogar die Sprache der Liebe leiste dieser Lüge Vorschub: »Diese Auffassung, nichts sei einfacher als zu lieben, herrscht noch immer vor, trotz der geradezu überwältigenden Gegenbeweise.«[30] Marxistisch formuliert: Die Gesellschaft behandelte Liebe als Ware, statt zu realisieren, dass es eine Kunst war, für deren Beherrschung man Zeit, Geschick und Hingabe braucht. Auch der Geliebte wurde verdinglicht, er wurde zu einem Objekt, das bestimmten förderlichen Zwecken dient, und hörte auf, eine Person zu sein.

Alle fünf Arten der Liebe, die Fromm(144) in Die Kunst des Liebens anführt, wurden ähnlich defizient – Nächstenliebe dadurch, das der Mensch zur Ware wurde; Mutterliebe durch Narzissmus; Selbstliebe durch Egoismus; Gottesliebe durch Abgötterei und erotische Liebe durch die Abwesenheit von Zärtlichkeit. Der Tod der Zärtlichkeit in der erotischen Liebe, so Fromms(145) Vorwurf, gehe auf die Verweigerung, persönliche Verantwortung zu übernehmen, zurück, auf Anspruchsdenken und auf die Tendenz, eher fordernd nach außen als nach innen zu blicken, in der Bereitschaft, sich zu verpflichten.

Es muss wohl kaum erwähnt werden, dass wir als Gesellschaft die Kunst des Liebens nicht gelernt haben. Eher spricht einiges dafür, dass wir Liebe zugunsten von Sex abgeschafft haben, denn für uns antiromantische Kapitalisten ist Liebe mit zu viel Arbeit, Verpflichtung und Risiko verbunden. Fromms(146) Buch liest sich daher sechs Jahrzehnte nach seinem Erscheinen wie eine Herausforderung und eine erfrischende Zurechtweisung: Wir leben in einem Zeitalter von Wegwerf-Lovern, in dem ausgeklügelte sexuelle Lust die Unvorhersehbarkeit der Liebe verdrängt hat, in dem die Suche nach Liebe etwas Ähnliches geworden ist wie Shoppen, und in dem wir von der Liebe verlangen, was wir auch von unseren anderen Einkäufen erwarten – Neuheit, Abwechslung, Verfügbarkeit. In Liquid Love schreibt der Soziologe Zygmunt Bauman(1), unsere Gesellschaft habe es versäumt, sich die Lehren aus Fromms(147) Buch anzueignen: »Versuche, das Eigenwillige zu zähmen und das Zügellose zu domestizieren, das Unerkennbare vorhersagbar zu machen und das freie Herumstreunen an die Kette zu legen – all diese Dinge sind das Grabgeläut für die Liebe. Eros wird Dualität nicht überdauern. Im Hinblick auf Liebe sind Besitz, Macht, Verschmelzung und Ernüchterung die vier Reiter der Apokalypse(2)[31]

Im Mai 1958 formulierte der 28-jährige Jürgen Habermas(24) in Frankfurt(65) einen politischen Protest. Der Deutsche Bundestag hatte im März jenes Jahres dafür gestimmt, dass deutsche Streitkräfte mit Atomwaffen der NATO ausgerüstet werden sollten. Die Bundeswehr existierte erst seit 1955, und seit ihrer Gründung war die Frage, ob sie über Nuklearwaffen verfügen sollte, heftig umstritten. Eine Protestgruppe, die sogenannten Göttinger Achtzehn, die sich aus führenden deutschen Atomwissenschaftlern zusammensetzte, gab zu bedenken, dass jede der in Erwägung gezogenen Waffen das Vernichtungspotential einer Hiroshimab(2)ombe hatte, und erklärte, dass es nicht angebracht wäre, sie in Deutschland(109) zu stationieren.

Die Frage, ob sich die Mitglieder der Frankfurter Schule in derartige Angelegenheiten einmischen sollten, war ebenfalls umstritten. Adorno(474) schien der Auffassung zu sein, dass es besser war zu schweigen, als falsch verstanden zu werden. Er schrieb: »Schwer wird es, selbst solche Aufrufe zu unterzeichnen, mit denen man sympathisiert, weil sie, der unvermeidlichen Rücksicht auf Wirkung zuliebe, allemal Unwahres enthalten … Mangel an Engagement muß kein moralischer Defekt, kann selber moralisch sein, Beharren auf der Autonomie: der eigenen Einsicht.«[32] Der hohe Wert, den Adorno(475) auf dergleichen Autonomie und Distanz zu politischem Einsatz legte, erinnert an die freischwebende Intelligenz, die Mannheim(8) in den frühen 1930er Jahren den Intellektuellen zugeschrieben hatte, doch konnten dergleichen Eigenschaften auch jene zur Verzweiflung bringen, die die Gesellschaft verändern wollten – zu ihnen gehörten nicht zuletzt Adornos Studenten während der Universitätsproteste im darauffolgenden Jahrzehnt, wie wir noch sehen werden.

Adorno(476) und sein Ko-Direktor Horkheimer(267) ließen es nicht an politischem Engagement fehlen, wenn es ihnen angemessen schien. 1956 schrieben sie beispielsweise einen Brief an das Nachrichtenmagazin Der Spiegel, in dem sie den Militäranschlag Frankreichs(14) und Englands(10) auf Ägypten(2) verteidigten, der von den Vereinten Nationen verurteilt worden war. »Kein Mensch bringt auch nur zur Sprache, daß diese arabischen Raubstaaten seit Jahren einzig darauf lauern, über Israel(2) herzufallen und die Juden, die dort ihre Zuflucht gefunden haben, abzuschlachten.«[33] Ganz überwiegend blieben die beiden Männer jedoch auf Distanz.

Keiner der beiden teilte die wachsende Abneigung unter einigen deutschen Intellektuellen gegen das Risiko einer neuen deutschen Armee, vor allem wenn sie mit Nuklearwaffen ausgerüstet wurde. Im Gegenteil: Sie verärgerten einige jüngere Mitglieder des Instituts dadurch, dass sie keine Bedenken hatten, eine Studie für das Verteidigungsministerium durchzuführen; in deren Rahmen sollten Kriterien für die Auswahl von Personen und die Bestimmung von deren Demokratieverständnis erarbeiten werden, welche sich freiwillig für den Eintritt in die Bundeswehr meldeten. Habermas(25) befürchtete, dass sich vor allem Horkheimer(268), seit einem Vierteljahrhundert Leiter der Frankfurter Schule, zu eng mit der Bundesrepublik(110) verband. »Sein öffentliches Verhalten und seine Institutspolitik erschienen uns fast schon als Ausdruck einer opportunistischen Anpassung, die nicht im Einklang stand mit der kritischen Tradition, die Horkheimer(269) doch verkörperte.« Adorno(477) und Horkheimer(270) erklärten in einem Schreiben an Marcuse(147), warum sie sich in Westdeutschland wohler fühlten als in Ostdeutschland, wo sie als Kritiker der Gesellschaft »ohne Frage längst umgebracht« worden wären. Sie gingen so weit, die Freiheit, die sie ihrer Meinung nach im Westen genossen, als paradiesisch zu bezeichnen.[34]

Was aber machte man mit dieser Freiheit? Nachdem Habermas(26) seinen Frankfurter Protest formuliert hatte, verfasste er einen Artikel für eine Studentenzeitung mit der Überschrift »Unruhe erste Bürgerpflicht«, in dem er die Worte seines Lehrers Adorno(478) anführt, dass die Aufgabe zeitgemäßer Philosophie darin bestehe, »ihren Lebensnerv am Widerstand« zu haben. Der Beitrag von Habermas war eine Gegenstimme zu einem zur selben Zeit veröffentlichten Artikel von Franz Böhm(1), der nicht nur Mitglied in der CDU und Bundestagsabgeordneter war, sondern auch Vorsitzender des Stiftungsvorstands des Instituts.[35] Böhm bezichtigte die Opponenten, gegen seine Partei (die CDU) zu hetzen und mit gegen den Westen agierenden Diktatoren zusammenzuarbeiten, die die politische Diskussion brutalisierten und den Weg für eine neue Form des Nationalsozialismus bereiteten. Kurz, Böhm warf Protestierenden wie Habermas linken Faschismus vor – ein Jahrzehnt bevor Habermas(27) seinerseits protestierenden Studenten wie Rudi Dutschke(2) genau diesen Vorwurf machen sollte. Habermas legte dar, die Proteste würden sich gegen »die Staatsmänner, die in unserem Auftrag regieren«, richten, und er forderte dazu auf, das Volk wegen der Bewaffnung der Bundeswehr mit Nuklearwaffen zu befragen (die Volksbefragung wurde später im selben Jahr durch das Bundesverfassungsgericht verboten).[36]

Indes sorgten die politischen Aktivitäten von Habermas(28) innerhalb des Café Max für Unruhe. Es waren nicht nur dessen öffentliche Redeauftritte und seine Polemiken, die Horkheimer(271) Sorgen bereiteten, sondern auch die politischen Überzeugungen, die Habermas in seinen wissenschaftlichen Texten für das Institut zum Ausdruck brachte. 1957 verfasste er einen Aufsatz unter dem Titel »Zur philosophischen Diskussion um Marx(318) und den Marxismus(319)«. Darin drängt er offenbar auf eine »Entwicklung der formellen zur materialen, der liberalen zur sozialen Demokratie«.[37] Horkheimer(272) argwöhnte jedoch, dass Habermas(29) ursprünglich etwas anderes geschrieben hatte. Er war überzeugt, dass Habermas ursprünglich zur Revolution hatte aufrufen wollen, dass aber dann Adorno(479) diese Passage gestrichen und durch die oben zitierten Worte ersetzt hatte, um das Institut nicht in Verlegenheit zu bringen. Sollte das der Fall gewesen sein, dann lag die veröffentlichte Version ganz auf der Linie der institutsspezifischen »aesopischen Sprache« – was Horkheimer(273) allerdings nicht beruhigen konnte: Der Aufruf zur Revolution war für jeden Leser immer noch klar vernehmbar. »Wie soll denn das Volk, das ›in den Fesseln einer bürgerlichen Gesellschaft in liberal-rechtsstaatlicher Verfassung gehalten wird‹, in die sogenannte politische Gesellschaft übergehen, für die es nach H. [Habermas] ›längst reif‹ ist, wenn nicht durch Gewalt?«, so Horkheimer(274) in einem Brief an Adorno(480). »Solche Bekenntnisse im Forschungsbericht eines Instituts, das aus öffentlichen Mitteln dieser fesselnden Gesellschaft lebt, sind unmöglich.«[38] Womit er ja recht hatte: Aufforderungen zu einer gewaltsamen Revolution wären kaum dazu geeignet, dem Institut zu Forschungsaufträgen aus dem Verteidigungsministerium zu verhelfen.

Kurz gesagt: Horkheimer(275) wollte Habermas(30) herausdrängen. Er erreichte dieses Ziel trotz Adornos(481) Bedenken mit einem cleveren Vorwand. Habermas beabsichtigte, seine Habilitation über den Struktur- und Funktionswandel in der bürgerlichen Öffentlichkeit zu schreiben (das Resultat war das 1962 veröffentlichte, einflussreiche Buch Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft), Horkheimer(276) bestand jedoch darauf, dass Habermas(31) sich zunächst einer anderen Studie zuwandte, die drei Jahre in Anspruch genommen hätte. Habermas kündigte daraufhin entnervt und ging nach Marburg, wo er seine Arbeit bei dem marxistischen(320) Juristen Wolfgang Abendroth(1) abschloss.

Die Irritation, die für Horkheimer(277) aus den Texten Habermas’(32) hervorging, rührte daher, dass der Nachwuchsforscher die politische Struktur der Gesellschaft kritisierte, von der das Überleben des Instituts abhing. Die Arbeiten von Habermas(33) waren zu marxistisch(321). Habermas hatte außerdem eine Einführung zu einer empirisch-soziologischen Studie unter dem Titel »Student und Politik« verfasst, in der die politische Beteiligung von Studenten und ihre Einstellung zur Demokratie untersucht werden sollten. Dort konstatiert er, die deutsche Gesellschaft befinde sich an einer Wegscheide, wo sie sich zwischen einem autoritären Wohlfahrtsstaat und materialer Demokratie im engeren Sinn zu entscheiden hätte. Für Habermas hatte die Bundesrepublik(111) dem westdeutschen Volk viele Grundrechte im sogenannten Grundgesetz zugestanden und ihm politische Partizipationsmöglichkeiten auf Bundesebene durch die Bundestagswahlen gegeben. Doch, so die Beobachtung von Rolf Wiggershaus(3), der Bundestag habe seine Macht an die Exekutive, die Bürokratie und an Lobbyistenverbände abgetreten.[39] Wahlen boten nur scheinbar Zugang zu demokratischer politischer Macht, tatsächlich jedoch waren sie eine Farce. Habermas schrieb: »Mit dem Zurücktreten des offenen Klassenantagonismus hat der Widerspruch seine Gestalt verändert: Er erscheint jetzt als Entpolitisierung der Massen bei fortschreitender Politisierung der Gesellschaft selbst.«[40] Dass Habermas die liberale Demokratie als Heuchelei kritisierte und implizit zur Revolution aufrief, brachte für Horkheimer(278) das Fass zum Überlaufen. Er beschloss, die Studie »Student und Politik« nicht vom Institut veröffentlichen zu lassen. Der Text erschien dann an anderer Stelle, die Frankfurter Schule wird darin kaum erwähnt.

Ganz klar: Das Café Marx(322) war tot. Lang lebe das Café Max. Weniger klar war, wie die Rolle der Frankfurter Schule und der Kritischen Theorie in den 1960er Jahren aussehen sollte.