Im Sommer 1964 stellte Herbert Marcuse(148) anlässlich einer Tagung auf der Adriainsel Korčula(1) eine interessante Frage: »Warum sollte die Überwindung der bestehenden Ordnung eine unbedingte Notwendigkeit für Menschen sein, die gute Kleidung, eine wohlgefüllte Vorratskammer, ein Fernsehgerät, ein Auto, ein Haus und so weiter bereits besitzen oder jedenfalls darauf hoffen können, und all das innerhalb der bestehenden Ordnung?«[1] Mehr als vierzig Jahre zuvor hatten sich die Teilnehmer an einem marxistischen(323) Sommersymposium in der Stadt Ilmenau(9) in Thüringen(5) mit einer Krise des revolutionären Sozialismus beschäftigt, nachdem die Revolution in Deutschland(112) gescheitert war und die bolschewistische Revolution großen Erfolg gezeitigt hatte. Jene sogenannte Erste Marxistische Arbeitswoche führte ein Jahr später zur Gründung des Instituts für Sozialforschung und zur Neuformulierung des Marxismus(324).
In Korčula bemühte sich jetzt eine andere Gruppe von Marxisten(325) darum, eine anders geartete Krise des revolutionären Sozialismus zu verstehen: die Krise in einer Welt des Kalten Krieges, einer Welt, welche zwischen dem kapitalistischen Westen und dem Ostblock aufgeteilt war. Im Westen ging es den Massen zu gut; im Osten wurden – wenn zutraf, was Marcuse(149) in seinem Buch Soviet Marxism (1958) oder Fromm(148) in Marx(326)’s Concept of Man (1961) behaupten – die Bürger durch eine totalitäre Bürokratie geistig vernichtet, die nur mehr eine Perversion der marx(327)schen Philosophie darstelle.
Bei aller ideologischen Hitze, die beide Seiten während des Kalten Krieges entfalteten, entdeckte Marcuse(150) etwas wie Freuds(78) Vorstellung vom Narzissmus der kleinen Differenzen. Er blieb der Lehre der Frankfurter Schule treu, dass der Monopolkapitalismus ebenso sehr eine Form von Totalitarismus sei wie der Nationalsozialismus oder der Sowjetmarxismus. Tatsächlich sah Marcuse in seinem Buch Der eindimensionale Mensch aus dem Jahr 1964 das westliche Gegenstück zu seinem Soviet Marxism: A Critical Analysis. Er war der Meinung, dass sich der kapitalistische Westen in Opposition zu seinem Feind, der Sowjetgesellschaft, zusammengeschlossen und konsolidiert habe. Und die »total verwaltete« fortgeschrittene Industriegesellschaft mit ihrer Verbrauchermentalität, ihrem Militarismus und der sexuellen Unterdrückung, die sich als erotische Freizügigkeit tarne, bilde eine Reaktion und eine Parallele zur sprichwörtlichen Trostlosigkeit des Lebens unter Stalin(22) und seinen Handlangern.
Der Veranstaltungsort war bezeichnend. Korčula(2) ist eine kroatische Insel, die damals, als Marcuse(151) seinen Vortrag hielt, zur Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien(1) gehörte. Seit 1948, als Staatsoberhaupt Josip Tito(1) mit Stalin(23) und dem Ostblock brach, war Jugoslawien(2) ein blockfreies Land. Die Sommerschule fand in einem Pufferstaat zwischen den beiden Seiten des Kalten Krieges statt. Organisiert wurde sie von »Praxis«, einer Gruppe jugoslawischer Philosophen, die sich als humanistische Marxisten(328) verstanden. Der Begriff verwies auf eine Rückkehr zu den Werken des jungen Marx(329), vor allem seinen Ökonomisch-philosophischen Manuskripten aus dem Jahr 1844, in denen es Marx(330) vor allem um die Entfremdung der Arbeiter ging, im Unterschied zu späteren Werken, in denen größeres Gewicht auf strukturelle Merkmale des Kapitalismus gelegt wurde. Viele Teilnehmer waren humanistische Marxisten(331), allerdings nicht alle: Einer der Gäste war der Pater Gustav Wetter aus dem Vatikan. Ebenfalls anwesend war der marxistische(332) Philosoph Ernst Bloch(9), der nach dem Mauerbau 1961 vom Osten Deutschlands in den Westen übergewechselt war, der französische marxistische(333) Philosoph Lucien Goldmann(1) und schließlich noch jüngere und ältere Denker der Frankfurter Schule, unter ihnen Marcuse(152) und Fromm(149) sowie Habermas(34), den Adorno(482) 1964 nach Frankfurt(66) zurückgeworben hatte, auf den Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie, den zuvor Horkheimer(279) – er war mittlerweile emeritiert – innegehabt hatte.
Für die orthodoxen Sowjetmarxisten der Ära nach Chruschtschow(1) war der marxistische(334) Humanismus eine gefährliche Häresie. Nach Meinung des französischen Marxisten(335) Louis Althusser(1), dessen gefeierte strukturalistische wissenschaftliche Darstellung des Marxismus(336) Für Marx(337) im darauffolgenden Jahr veröffentlicht wurde, beschäftigten sich die humanistischen Marxisten(338) mit Texten von Marx(339), die man besser zugunsten des angeblich reiferen Werkes beiseitelassen sollte. Doch eben diese frühen Werke hatten die Neomarxisten(340) der Frankfurter Schule gedanklich angeregt und das Fundament für die Entwicklung der Kritischen Theorie in den 1930er Jahren geliefert. Natürlich könnte man einwenden, dass es nicht ganz einleuchtet, die Frankfurter Schule überhaupt mit dem Marxismus(341) in Verbindung zu bringen; immerhin waren, wie wir gesehen haben, Begriffe wie Kapitalismus und Marxismus(342) während des amerikanischen Exils aus den Texten entfernt worden, und seit der Rückkehr nach Frankfurt(67) hatte Horkheimer(280) sogar Texte abgelehnt, in denen eine Revolution lediglich implizit befürwortet wurde, da man sonst das Ausbleiben von Geldern und Aufträgen vonseiten der Bundesregierung riskierte. Zwei Mitglieder der Frankfurter Schule jedoch, Habermas(35) und Marcuse(153), waren in den frühen 1960er Jahren auf der Suche nach etwas nicht unmittelbar Eingängigem. Sie bemühten sich, den Marxismus(343) neu zu denken: als einen Marxismus(344) ohne Proletariat und infolgedessen ohne Klassenkampf.
Habermas(36) gesteht in seinem 1963 veröffentlichten Essay »Between Philosophy and Science, Marxism as Critique« ein, dass man angesichts des allgemeinen Wohlstands in fortgeschrittenen Industriegesellschaften den Eindruck gewinnen konnte, der Marxismus(345) sei überflüssig geworden. Dieser Wohlstand bedeute, »daß das Interesse an der Emanzipation der Gesellschaft nicht mehr unmittelbar in ökonomischen Ausdrücken formuliert werden kann«. Es bedeute auch, dass »sich der designierte Träger einer künftigen sozialistischen Revolution, das Proletariat, als Proletariat, aufgelöst« hat.[2] Wenn allerdings das Proletariat ausgedient hatte – hieß das zwingend, dass auch der Marxismus(346) aufgelöst werden musste? Vielleicht nicht: »Die Befreiung von Hunger und Elend ist nicht unbedingt gleichbedeutend mit der Befreiung aus Knechtschaft und Erniedrigung.«[3]
Für Habermas(37), Fromm(150) und Marcuse(154) war die im Westen verbreitete Verbrauchermentalität zum neuen Opium der Massen geworden. Die fortgeschrittene Industriegesellschaft hatte nicht nur massenhaft Konsumartikel hergestellt, sondern sorgte auch für deren massenhafte Abnahme. Marcuse schreibt in Der eindimensionale Mensch: Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft(155):
Wenn der Arbeiter und sein Chef sich am selben Fernsehprogramm vergnügen und dieselben Erholungsorte besuchen, wenn die Stenotypistin ebenso attraktiv hergerichtet ist wie die Tochter ihres Arbeitgebers, wenn der Neger einen Cadillac besitzt, wenn sie alle dieselbe Zeitung lesen, dann deutet diese Angleichung nicht auf das Verschwinden der Klassen hin, sondern auf das Ausmaß, in dem die unterworfene Bevölkerung an den Bedürfnissen und Befriedigungen teil hat, die der Erhaltung des Bestehenden dienen(156).[4]
Der Triumph des Konsumkapitalismus und das Ausbleiben von ernsthaften Wirtschaftskrisen, die seine Zukunft während der 1950er und 1960er Jahre womöglich noch hätten gefährden können, brachten mit sich, dass Marxisten(347) wieder einmal ihre Philosophie überdenken mussten.
Vor allem erkannte Marcuse(157), dass das Proletariat nicht mehr dem entsprach, was Marx(348) und Lukács(43) in ihm gesehen hatten. Marx(349) hatte eine Revolution der Arbeiterklasse vorausgesagt, weil diese die absolute Negation der bürgerlichen Ordnung repräsentierte. Das Problem war nur: Die Revolution hatte nicht stattgefunden. Die Arbeiterklassen in den fortgeschrittenen westlichen Industriegesellschaften waren zwischen den 1920er und den 1960er Jahren sicherlich nicht zu den Totengräbern des Kapitalismus geworden. Bereits in seinem Buch Reason and Revolution aus dem Jahr 1941 hatte Marcuse(158) angemerkt, dass in diesen Gesellschaften ungefähr seit der Jahrhundertwende der Fortschritt in der kapitalistischen Produktivität die Entwicklung eines revolutionären Bewusstseins verhindert habe. »Der technische Fortschritt vermehrte die Bedürfnisse und die Mittel, sie zu befriedigen, wobei seine Ausnutzung sowohl die Bedürfnisse als auch die Mittel ihrer Mittel repressiv machte: gerade sie erhalten Unterwerfung und Herrschaft aufrecht«, schreibt er. Das entsprach nicht dem, womit die Vertreter des klassischen Marxismus(350) gerechnet hatten. Marcuse(159) stellt in Reason and Revolution fest, zentral für die marx(351)sche Idee des Sozialismus seien »die Reife der inneren Widersprüche des Kapitalismus und der Wille zu ihrer Abschaffung« gewesen.[5] Ohne ersteres fehlte letzterem die Dringlichkeit. Steigende Lebensstandards, zumindest in entwickelten Ländern, hatten die Arbeiterklassen für eine Revolte zu behäbig gemacht. Doch, so Marcuse(160) auf Korčula(3), wenn das Proletariat nicht mehr die Negation des Kapitalismus sei, dann unterscheide es sich auch nicht mehr von den anderen Klassen und sei also auch nicht mehr fähig, eine bessere Gesellschaft herbeizuführen.[6]
Allerdings bedeutete steigender Lebensstandard in den Arbeiterklassen des fortgeschrittenen industrialisierten Westens nicht automatisch, dass der Marxismus(352) sich überlebt hatte. Lange bevor Habermas(38) sagte, dass es eine falsche Interpretation des Marxismus(353) sei, die Emanzipation der Gesellschaft lediglich in ökonomischen Begriffen zu fassen, hatte Marcuse(161) in Reason and Revolution formuliert: »Der Marx(354)sche Begriff der Verelendung schließt das Bewußtsein der geknebelten Anlagen des Menschen und der Möglichkeit ihrer Verwirklichung, das Bewußtsein der Entfremdung und Entmenschlichung ein.«[7] Diese Form der Verelendung aber war mit steigenden Lebensstandards durchaus vereinbar: So gefasst standen Armut und größerer materieller Wohlstand in einer positiven und nicht, wie man eigentlich erwarten würde, konträren Beziehung zueinander.
Marcuses(162) These lief faktisch darauf hinaus, dass diejenigen, die im reichen Westen lebten, umgeben von den Autos, Waschmaschinen und bügelfreien Hosen der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, eigentlich die Ärmsten waren. Und sie waren nicht nur arm, sondern nahezu psychisch krank. Oliver Sacks(1) beschreibt in seinem Buch Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, einen Fall, in welchem einer der Patienten des klinischen Neurologen sich mit einem ontologischen Irrtum abmühte, der als Geisteskrankheit bezeichnet werden kann; etwas ganz Ähnliches beschrieb Marcuse(163): In der eindimensionalen Gesellschaft begreifen wir uns fälschlich als Gebrauchsgüter. »Die Menschen erkennen sich in ihren Waren wieder; sie finden ihre Seele in ihrem Auto, ihrem Hi-Fi-Empfänger, ihrem Küchengerät.«[8]
In der hegel(47)schen Subjektphilosophie, auf die sich Marcuse(164) stützte, lagen die Dinge anders. Das hegelsche Subjekt ist sowohl Sein an sich als auch Sein für sich. Letzteres ist es in dem Ausmaß, als es ein seiner selbst bewusstes Subjekt ist: fähig, seine Energien und Möglichkeiten durch Handlung, weniger durch Kontemplation oder Konsum, zu entwickeln. Das Subjekt offenbart seine Natur, indem es seine Fähigkeiten an der objektiven Welt zur Geltung bringt. In Marx(355)’s Concept of Man konstatiert Fromm(151), Hegel(48), Marx(356), Goethe(9) und der Zenbuddhismus hätten alle diese Vision, dass der Mensch seine Selbstentfremdung überwindet, indem er sich auf die objektive Welt bezieht. Er schreibt: »Sie haben die Ideen gemeinsam, daß der Mensch die Subjekt-Objekt-Spaltung überwindet. Der Gegenstand ist ein Gegenstand, er hört jedoch auf, ein Gegenstand zu sein, und durch diese neue Haltung wird der Mensch eins mit dem Gegenstand, obgleich er selbst und der Gegenstand zwei bleiben«[9]
In der eindimensionalen Gesellschaft existiere die Freiheit nicht, sich als authentisches Individuum selbst zu erschaffen, da, so Marcuses(165) Argument, die Mitglieder dieser Gesellschaft ihre wahren Bedürfnisse nicht kennen. Marcuse traf eine Unterscheidung zwischen wahren und falschen Bedürfnissen. Erstere umfassen »Nahrung, Kleidung und Wohnung auf dem erreichbaren Kulturniveau«. Letztere sind und »bleiben, was sie seit Anbeginn waren – Produkte einer Gesellschaft, deren herrschendes Interesse Unterdrückung erheischt«. Marcuses(166) düstere Vorstellung war, dass wir die Freiheit nicht haben zu wissen, was gut für uns ist – und natürlich rollten seine Kritiker nur allzu gern die Augen angesichts des Umstands, dass zumindest Marcuse es besser wusste. Er notierte: »In letzter Instanz muss die Frage, was wahre und was falsche Bedürfnisse sind, von den Individuen selbst beantwortet werden, das heißt sofern und wenn sie frei sind, ihre eigene Antwort zu geben.«[10] Das impliziert, dass Individuen zwar frei zu sein scheinen, tatsächlich jedoch überall in Ketten liegen – gefesselt an ihre Waschmaschinen und Fernsehgeräte. Alle, außer – wahrscheinlich – Marcuse(167).
Für Marcuse(168) war also die Freiheit von materieller Bedürftigkeit zu einem Mittel geworden, Knechtschaft zu erzeugen. Verbrauchermentalität, Reklame und Massenkultur unterstützen die Stabilisierung des Kapitalismus und darüber hinaus verändern sie die Persönlichkeitsstrukturen jener, die in diesem System leben, indem sie sie in befriedete, zuvorkommende, einfältige Menschen verwandeln.
Die Erzeugnisse durchdringen und manipulieren die Menschen; sie befördern ein falsches Bewußtsein, das gegen seine Falschheit immun ist. Und indem diese vorteilhaften Erzeugnisse mehr Individuen in mehr gesellschaftlichen Klassen zugänglich werden, hört die mit ihnen einhergehende Indoktrination auf, Reklame zu sein; sie wird ein Lebensstil, und zwar ein guter – viel besser als früher –, und als ein guter Lebensstil widersetzt er sich qualitativer Änderung.[11]
Natürlich gilt das nicht für alle Produkte. Ein signifikantes Gegenbeispiel ist Der eindimensionale Mensch. »Die eigentliche Besonderheit von Der eindimensionale Mensch«, so die witzige Beobachtung des schottischen Moral- und politischen Philosophen Alasdair MacIntyre(1), »ist wohl darin zu sehen, dass das Buch überhaupt geschrieben wurde. Denn falls seine These stimmt, dann müssten wir die Frage stellen, wie es dazu kam, dass das Buch geschrieben werden konnte, und ganz sicher müssten wir fragen, wie es möglich war, dass es Leser fand. Man könnte auch sagen: Im selben Ausmaß, als das Buch Leser findet, ist Marcuses(169) These falsch.«[12] Das Buch führt einen performativen Widerspruch mit sich: Wäre es nicht gelesen worden, dann wäre seine These wahr; wäre es nicht veröffentlicht worden, noch wahrer; am wahrsten aber, wenn es gar nicht geschrieben worden wäre. Aber vielleicht irrt sich MacIntyre(2) hinsichtlich des Bucherfolgs: Vielleicht war dieses finster pessimistische Buch nicht aus dem Grund von allen Büchern Marcuses dasjenige, das sich am besten verkaufte, weil darin so eine trostlose Diagnose formuliert wird, sondern weil es entgegen seiner eigentlichen Intention als Leitfaden für das Leben in einer eindimensionalen Gesellschaft interpretiert werden konnte.
Einige Kritiker warfen Marcuse vor, in Der eindimensionale Mensch unerträglich herablassend zu sein. »Die Massen haben kein Ich, kein Es, ihren Seelen mangelt es an innerer Spannung oder Dynamik: Ihre Vorstellungen, ihre Bedürfnisse, ja sogar ihre Träume ›gehören ihnen nicht‹: Ihr Innenleben ist ›vollständig verwaltet‹, darauf programmiert, genau diejenigen Wünsche zu erzeugen, die vom gesellschaftlichen System befriedigt werden können, und keine anderen«, so der New Yorker Professor und Marxist Marshall Berman(2), der vor allem durch sein Buch All That is Solid Melts into Air: The Experience of Modernity bekannt wurde.[13] Berman kritisiert darin das von ihm sogenannte »eindimensionale Paradigma« für das damit verbundene elitäre Denken, für seine bequeme Vorannahme, dass die Massen aus dummen Tröpfen bestehen, die unfähig sind, die kontrollierenden, konsumfördernden Nachrichten der Werbeindustrie zu hinterfragen. Obwohl Der eindimensionale Mensch zu einem zentralen Text für die Neue Linke der 1960er Jahre wurde – Studierende von Berkeley(5) bis Frankfurt(68) lasen ihn –, meint Berman(3), dass sein Autor, der vermeintlich radikale Held dieser Studenten, dieselbe Verachtung für die Massen an den Tag gelegt habe wie die »Möchtegern-Aristokraten der politischen Rechten im 20. Jahrhundert«. T. S. Eliot(3) habe seine »hohlen Menschen«, Marcuse(170) habe seinen »eindimensionalen Menschen«: beides Symbole, so Berman, für eine Verachtung der modernen Männer und Frauen.[14]
Seit Der eindimensionale Mensch kehrte Marcuse(171) immer wieder zur Vorstellung einer intellektuellen Diktatur zurück.[15] So fühlte er sich beispielsweise im Jahr vor seinem Tod stark von den Ideen des ostdeutschen Schriftstellers und Dissidenten Rudolf Bahro(1) angezogen, der in seinem 1978 erschienenen Buch Die Alternative die Vorstellung eines über- und eines untergeordneten Bewusstseins entwickelt. Dahinter stand die Idee, dass die Massen zu tief in die Konsum- und Populärkultur und in den Kampf um bessere Bezahlung verstrickt seien, als dass sie an kreativer Arbeit, kulturellen Idealen oder gesellschaftlicher Veränderung interessiert sein könnten(2). Die vornehmlichen Träger eines übergeordneten Bewusstseins gehörten zu einer großen Gruppe von Intellektuellen – dazu rechnete Marcuse(172) Naturwissenschaftler, Techniker, Kulturarbeiter und sehr wahrscheinlich Vertreter der Kritischen Theorie –, aus denen sich eine Führungselite formieren sollte.
1964 hielt Marcuse(173) noch immer Ausschau nach einem Ersatz für das Proletariat und hoffte, ihn »unter der konservativen Volksbasis« zu finden: die »Geächteten und Außenseiter: die Ausgebeuteten und Verfolgten anderer Rassen und anderer Farben, die Arbeitslosen und die Arbeitsunfähigen. Sie existieren außerhalb des demokratischen Prozesses; ihr Leben bedarf am unmittelbarsten und realsten der Abschaffung unerträglicher Verhältnisse und Institutionen.«[16] Nur sie konnten sich als revolutionäre Vorhut qualifizieren, weil sie »vermutlich unberührt sind vom Todeskuss der Moderne«.[17] Allerdings geht Marcuses(174) Pessimismus in Der eindimensionale Mensch so weit, dass er nicht einmal diese Personengruppe für eine verlässliche Vorhut hielt, denn »die ökonomischen und technischen Kapazitäten der bestehenden Gesellschaften sind umfassend genug, um Schlichtungen und Zugeständnisse an die Benachteiligten zu gestatten, und ihre bewaffneten Streitkräfte hinreichend geübt und ausgerüstet, um mit Notsituationen fertig zu werden.«[18]
Wirklich außergewöhnlich ist nun allerdings im Rückblick, dass der Verfasser dieser düsteren Worte für einen Moment lang ebenso sehr der Gegenstand einer quasireligiösen Verehrung wurde wie Jagger(1), Lennon(1) oder Dylan(1). Berman(4) erinnerte sich – zusätzlich zu seinem Argwohn gegenüber dem Paradigma der Eindimensionalität und Marcuses(175) Elitedenken – an einen Freitagabend in den 1960er Jahren, als er auf den Beginn eines Konzerts an der Brandeis University in der Nähe von Boston, Massachusetts, wartete:
Plötzlich wurde das Gerücht laut: »Marcuse(176) ist hier!« Sofort wurde es still, und die Menschenmenge teilte sich, um einen Weg freizumachen. Ein großer, hoch aufgerichteter, vor Energie sprühender Mann schritt den Gang hinunter, lächelte Freunden links und rechts zu, strahlend, dabei aber auch bemerkenswert distanziert, eher wie ein Aristokrat, der gleichzeitig ein Held des Volkes ist – vergleichbar vielleicht mit Egmont in den Straßen Brüssels. Die Studenten hielten den Atem an und bestaunten ihn ehrfurchtsvoll. Nachdem er an seinem Sitzplatz angekommen war, entspannten sie sich, es kam wieder Bewegung in die Menge, das Chaos kehrte zurück.[19]
Beim Lesen dieser Passage fällt es schwer, nicht an die Szene in Annie Hall zu denken, in der Alvy Singer, gespielt von Woody Allen(2), unklugerweise mit einer Reporterin von Rolling Stone zu einem Konzert von Bob Dylan(2) geht. »Reporterin: Er ist Gott! Also, dieser Mann ist Gott! Er hat Millionen Anhänger, die um die ganze Welt kriechen würden, um nur den Saum seines Gewandes berühren zu können. Alvy: Tatsächlich? Das muss ja ein toller Saum sein.«
Diejenigen, die versuchten, Marcuses(177) Saum zu berühren, wurden enttäuscht. Berman(5), der im Jahr 1981 für Ehrfurcht gegenüber Marcuse nicht mehr anfällig war, hielt hierzu fest: Die jungen Radikalen, die dafür kämpften, die Gesellschaft zu verändern, auf dass die Menschen ihr Leben wieder selbst in die Hand nehmen konnten, hätten einfach ihren Marcuse nicht genau genug gelesen. Andernfalls hätten sie merken müssen, dass sein »›Paradigma der Eindimensionalität‹ verkündete, dass ein Wandel nicht möglich war und dass diese Leute faktisch gar nicht wirklich lebten(6)«.[20] In Der eindimensionale Mensch geht es Marcuse nicht darum, die Swinging Sixties zu rühmen, sondern sie zu begraben. Die gesellschaftliche Freizügigkeit der 1960er Jahre war nicht, was sie zu sein schien – eine Befreiung aus einer spießigen Gesellschaft –, sondern vielmehr ein Herrschaftsinstrument. »Diese Gesellschaft«, so Marcuse(178), »verwandelt alles, was sie berührt, in eine potentielle Quelle von Fortschritt und Ausbeutung, von schwerer Arbeit und Befriedigung, von Freiheit und Unterdrückung. Die Sexualität bildet keine Ausnahme.«[21]
Während in der Vergangenheit unbefriedigende Sexualität eine Bedrohung für die Gesellschaftsordnung gewesen war, da sich hier Unzufriedenheit staute, war die Bedrohung der Gesellschaftsordnung in der Gesellschaft, die Marcuse(179) beschreibt, durch die Befreiung der Sexualität überwunden. Diese sexuelle Befreiung jedoch war nicht subversiv, sondern sorgte eher dafür, dass die bestehende unterdrückerische Ordnung unangetastet blieb. Hegel(49) hatte das »unglückliche Bewußtsein« thematisiert, womit er ein Bewusstsein beschrieben hatte, das zwischen dem, was sein könnte, und dem, was ist, zerrissen wird. Sexuelle Frustration war eine Form von unglücklichem Bewusstsein. In der repressiv entsublimierten Gesellschaft jedoch ist das unglückliche Bewusstsein überwunden. Die Mitglieder der eindimensionalen Gesellschaft erfreuen sich des glücklichen Bewusstseins, sowohl in sexueller wie in jeder anderen Hinsicht zu bekommen, was sie wollen. Dabei hätten sie, so Marcuse(180), keine Ahnung von der Tatsache, dass sie für das, was sie wollen, empfänglich gemacht worden sind.
Von Freud(79) stammt der Gedanke, dass das Lustprinzip und das Realitätsprinzip sich feindlich gegenüberstehen. Ungehindertes Schwelgen in den biologischen und psychologischen menschlichen Bedürfnissen, wie es dem Lustprinzip entspricht, beeinträchtigt die Freiheit der anderen und muss daher durch Regeln und Disziplin – also das Realitätsprinzip – eingedämmt werden. Folgt man Marcuse(181), dann ist in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften etwas geschehen, das so kontraintuitiv wie die Quadratur des Kreises und so unwahrscheinlich wie die Existenz des Steins der Weisen ist: Das Lustprinzip hat das Realitätsprinzip absorbiert. Der diabolische Geist, den Marcuse in der eindimensionalen Gesellschaft am Werk sah, war so beschaffen, dass Lust zu einem Werkzeug der Unterdrückung wurde. In dieser Gesellschaft sind Sex und zur Schau gestellte Sexualität überall anzutreffen. Infolgedessen verfällt der eindimensionale Mann (vielleicht auch die eindimensionale Frau, wobei Marcuse über ihre soziale Rolle kaum ein Wort verlor) auf den Gedanken, er sei in sexueller Hinsicht ein Revolutionär, der Jahrhunderte der Unterdrückung überwunden, der über Hemmungen und Ausflüchte, über Fischbein und Turnüren aus der Vergangenheit triumphiert hat. Ein Faktor, der diese zur Schau gestellte Sexualität möglich machte, war nach Marcuse der Rückgang schwerer körperlicher Arbeit: »Ohne daß er aufhört, ein Arbeitsinstrument zu sein, wird es dem Körper gestattet, seine sexuellen Züge in der alltäglichen Arbeitswelt und in den Arbeitsbeziehungen zur Schau zu stellen. Darin besteht eine der einzigartigen Leistungen der Industriegesellschaft – ermöglicht durch die Abnahme von schmutziger und schwerer körperlicher Arbeit; [und] dadurch, daß billige, attraktive Kleidung, Kosmetik und Körperhygiene vorhanden sind(182).«[22]
Man gewinnt den Eindruck, die Deindustrialisierung und die entsublimierte Sexualität wären zu einem mürrisch vulgären, lüsternen Lambada über die Auslegeware am Arbeitsplatz vermischt worden. Der Arbeiter hat den Grubenhelm und die Sicherheitsschuhe gegen Minirock und exzentrische Stiefel eingetauscht, und während Marcuse(183) gewiss nicht allzu großen Nachdruck auf den Umstand legte, dass an solchen sexualisierten Arbeitsplätzen mehr als je zuvor Frauen tätig waren – ebenso wenig ging er auf die Tatsache ein, dass Frauenkörper eine unentbehrliche Ware in diesem tristen Umfeld darstellten –, kommt all das doch implizit zum Ausdruck, wenn er anmerkte: »›Sexy‹ Büro- und Ladenmädchen, der ansprechende, virile Juniorchef und der Verkäufer, sind höchst marktgängige Waren, und der Besitz geeigneter Mätressen – einmal das Vorrecht von Königen, Fürsten und Lords – erleichtert die Karriere selbst der weniger hochstehenden Ränge in der Geschäftswelt.«[23]
In der Tat: Nicht nur Don Draper betätigt sich sexuell auf dem eindimensionalen Sex-Marktplatz, dem Büro von Marcuses(184) Philosophie der 1960er Jahre, sondern auch seine Juniorpartner. Marcuse zog nicht die Möglichkeit sexueller Zurschaustellung als radikaler Aktion gegen eine solche Kommerzialisierung und Verdinglichung von weiblichen Körpern in Betracht, und es ist auch unwahrscheinlich, dass er in der Raunch-Kultur den Protest von Frauen gegen den eindimensionalen Mann und seine verdinglichende Sexualität erkannt hätte.
An dieser Stelle dürfte es nützlich sein, näher auf Herbert Marcuse(185)s Sexleben einzugehen. Immerhin – wenn wir eines aus den 1960er Jahren gelernt haben, dann, dass das Persönliche das Politische ist. Nach dem Tod seiner ersten Frau Sophie(2) im Jahr 1951 zog Marcuse, der weder Auto fahren noch kochen konnte, bei seinem Freund Franz Neumann(31) und dessen Frau Inge(2) ein. Auf diese Besonderheit des Grand Hotel Abgrund kam Lukács(44) übrigens nicht zu sprechen – der exzellente Service, den die Bewohner des Grand Hotel genossen, während sie ihre Betrachtungen über den Abgrund anstellten, wurde von Frauen geleistet. Nachdem Franz Neumann(32) 1954 bei einem Autounfall ums Leben kam, heiratete Herbert Inge. Später hatte er eine Affäre mit einer Studentin, und als Inge(3) davon erfuhr, erteilte sie der Studentin Hausverbot, allerdings setzte das der Affäre kein Ende. »Soweit er einen sexuellen, genitalen Trieb hatte, verbarg er ihn«, berichtete sein Stiefsohn Osha Neumann(1). »Der Trieb existierte in Form seiner Affären, aber er wurde versteckt.«[24] Osha Neumann traute dem Ruf des Philosophen als einem Propheten sexueller Befreiung nicht so recht, und zwar nicht zuletzt aus dem Grund, weil sein Stiefvater Plüschtiere mochte. »Ein besonders enges Verhältnis hatte er zu Nilpferden, nicht solchen, die wirklich im Wald scheißen und kämpfen, sondern als Teddybärversion«, erinnerte sich Neumann (womit er unwissentlich die amüsante Frage aufwirft, ob Nilpferde tatsächlich in Wäldern kämpfen). »Er hatte gern, wenn er in seinem Sessel saß, ein ganz bestimmtes Plüschnilpferd auf dem Schoß und gab das Bild einer nicht aggressiven, nicht genitalen Sexualität ab.«[25] Marcuse(186) teilte diese Vorliebe mit Adorno(483), der, wie wir bereits erwähnten, seine Mutter als »Meine liebe, treue Wundernilstute« in Briefen anredete und gelegentlich auch selbst als »Nilpferdkönig Archibald« unterzeichnete. Wie kam es, dass Nilpferde zu einem so wichtigen Fetisch der Frankfurter Intellektuellen wurden? Wahrscheinlich werden wir das nie erfahren.
Osha Neumann(2) wandte sich von der eindimensionalen Gesellschaft ab und schloss sich einer Gegenkultur an, in der es viele gab, die seinen Stiefvater als Helden verehrten.[26] Er brach sein Geschichtsstudium in Yale(1) ab, um Künstler zu werden, und wurde später Mitglied in einer anarchistischen, in der New York(33)er Lower East Side beheimateten Protestgruppe, die sich »Up Against the Wall Motherfuckers« nannte. Der Anarchist, Aktivist und Mitgründer der Youth International Party Abbie Hoffman(1) beschrieb die Gruppe als »den Alptraum der bürgerlichen Mittelschicht … ein mediales Anti-Medien-Phänomen, schlicht aus dem Grund, weil ihr Name nicht gedruckt werden durfte«. Die Motherfuckers bezeichneten sich selbst als »street gang with analysis«. Zu ihren Protestaktionen gehörte ein erzwungener Zugang ins Pentagon im Jahr 1967 und 1968 die Besetzung der Columbia University; während eines Streiks der Müllabfuhr im selben Jahr warfen sie nicht abgeholten Abfall aus der Lower East Side in eine Brunnenanlage vor dem Lincoln Center in der Upper Westside; und sie schnitten 1969 die Zäune beim Woodstock-Festival durch, um den zahlreichen Außenstehenden freien Eintritt zu ermöglichen. »Wir sahen uns im Krieg gegen das System, gegen all die Konventionen, mit denen die Menschen an Waren gefesselt blieben«, so Osha Neumann(3). »Wir lebten 24 Stunden pro Tag Revolution und waren bereit, unser Leben für unsere Überzeugungen hinzugeben. Durch unsere Aktionen wollten wir die Möglichkeit aufzeigen, Furcht zu überwinden und die Institutionen direkt herauszufordern.«[27] In gewisser Weise leisteten die Motherfuckers jenem System gegenkulturellen Widerstand, das Marcuse(187) als eindimensionale Gesellschaft bezeichnet hatte.
Aber lassen wir uns von den Protesten der Motherfuckers nicht allzu sehr hinreißen. Irgendjemand – und sicher nicht Osha(4) oder der Rest seiner »street gang« – schaffte schließlich den Müll aus den Brunnen vor dem Lincoln Center weg. Marcuses(188) Stiefsohn wurde später ein prominenter Bürgerrechtsanwalt, der sich auf die Vertretung Obdachloser in der Bay Area spezialisierte. Sein jugendlicher Protest gegen die Gesellschaft wirkt teilweise ödipal und erinnert an die Rebellion vieler Vertreter der Frankfurter Schule gegen ihre Väter. Faktisch gehörte zu Oshas Rebellion auch die Ablehnung des repressiven, bürgerlichen Lebensstils, den er bei seinem Stiefvater erlebte – einem Lebensstil, an dem Herbert Marcuse(189) festhielt, selbst dann noch, wenn er Bücher verfasste, in denen er bürgerliche Repression geißelte. Osha entsann sich, dass es in seiner Kindheit »sehr repressiv« zugegangen war. »Herbert bestand, was sein Privatleben anging, auf einem hohen Grad an Distanz und einem beträchtlichen Ausmaß an bürgerlicher Ordnung in seinem Leben, womit er sich schützte. Ich(5) erinnere mich, dass er sehr anerkennend von Thomas Mann(66) sprach, der – jedenfalls dem zufolge, was Herbert erzählte – jeden Morgen aufstand, Jackett und Krawatte anzog und sich dann an seinen Schreibtisch setzte und Bücher über Menschen schrieb, die von ihren Leidenschaften beherrscht wurden.«[28]
Und diese Bücher enthielten eine Botschaft für die verliebten Mitglieder der angeblich freizügigen Gesellschaft der 1960er Jahre: nämlich, dass sie in sexueller Hinsicht alles falsch machten. In Der eindimensionale Mensch verweist Marcuse(190) im Zusammenhang mit der Frage nach dem geeigneten Schauplatz eines »verliebten Treibens« auf den Unterschied zwischen einer Wiese und einem Automobil beziehungsweise zwischen einem Spazierweg draußen vor den Stadtmauern und auf einer Straße in Manhattan:
In den erstgenannten Fällen hat die Umgebung teil an der libidinösen Besetzung, kommt ihr entgegen und tendiert dazu, erotisiert zu werden. Die Libido geht über die unmittelbar erogenen Zonen hinaus – ein Vorgang nichtrepressiver Sublimierung. Demgegenüber scheint eine mechanisierte Umgebung ein solches Selbstüberschreiten der Libido zu unterbinden. Bedrängt in ihrem Bestreben, den Bereich erotischen Genusses zu erweitern, wird die Libido weniger »polymorph«, weniger der Erotik jenseits lokalisierter Sexualität fähig, und diese wird gesteigert.[29]
Marcuse(191) entwickelt hier einen Gedanken aus Eros and Civilisation weiter: Eros sei im Lauf der Geschichte immer mehr von der »monogamischen genitalen Vorherrschaft« dominiert worden, und wenn wir erst wirklich befreit wären von der Vorstellung, dass Sex im Dienst der Fortpflanzung und / oder der genitalen Befriedigung zu stehen habe, dann könnte unser ganzer Körper und unser ganzes Leben erotisiert werden. Zu der Zeit, als er Der eindimensionale Mensch verfasste, ging Marcuse offenbar davon aus, dass die Männer und Frauen in den entwickelten Industriegesellschaften die falsche Art von Orgasmus hatten, auch wenn diese Art ein intensiveres Vergnügen bot als die libidinöse Objektbesetzung, die Marcuse(192) als Alternative empfahl. Auch hier kann ich der Versuchung nicht widerstehen, Woody Allen(3) zu zitieren. In seinem Film Manhattan sagt eine Frau auf einer Party: »Ich hatte endlich einen Orgasmus, aber mein Arzt sagte mir, es war die falsche Art.« »Ach wirklich?«, erwidert Isaac Davis (Allen). »Ich hatte noch nie die falsche Art. Mein schlimmster war genau auf den Punkt.«
Marcuse(193) wollte sagen – wobei allerdings die Gefahr eines Rückfalls in rustikale Sehnsucht nach der vorindustriellen Gesellschaft nicht auszuschließen war –, dass die intensivierte sexuelle Energie, die beispielsweise Isaac Davis in seiner mechanisierten Umgebung (in seinem Fall Manhattan) erfährt, seinen Sublimierungsspielraum begrenzt. Wilhelm Reich(17) mochte im Orgasmus das höchste Gut gesehen haben, Marcuse(194) war jedoch anderer Meinung. Sublimierung, also die Umlenkung sexueller Energie auf einen sozialeren, moralischeren oder ästhetischeren Zweck, ist alles andere als schlecht; für Marcuse hat Sublimierung im Gegenteil utopische Potenz. In Der eindimensionale Mensch schreibt er: »Im Gegensatz zu den Vergnügungen der angepaßten Entsublimierung bewahrt die Sublimierung das Bewußtsein der Versagungen, die die repressive Gesellschaft dem Individuum auferlegt, und hält damit an dem Bedürfnis nach Befreiung fest.«[30] Er dachte dabei an den Künstler, der, Freud zufolge(80), seine sexuellen Impulse in die Schaffung von Kunstwerken sublimiert. Sexuelle Energie zu sublimieren, ist etwas anderes als sie zu unterdrücken, aber beide Umgangsformen damit seien, so Freuds(81) Vorstellung, Faktoren, ja sogar notwendige Faktoren der Kultur. Eine gewisse Unterdrückung, zu der auch gehört, dass ein Trieb ins Unbewusste verdrängt wird, ist notwendig: Ungehemmte Befriedigung libidinöser Triebe, also das, was Freud(82) als Programm des Lustprinzips bezeichnet hatte, »ist im Hader mit der ganzen Welt«. Was das Glück anbelangt, sind wir die verpfuschten Produkte eines unfähigen Schöpfers. In Das Unbehagen in der Kultur hält Freud fest(83):
Man möchte sagen, die Absicht, daß der Mensch »glücklich« sei, ist im Plan der »Schöpfung« nicht enthalten. Was man im strengsten Sinne Glück heißt, entspringt der eher plötzlichen Befriedigung hoch aufgestauter Bedürfnisse und ist seiner Natur nach nur als episodisches Phänomen möglich … wir sind so eingerichtet, daß wir nur den Kontrast intensiv genießen können, den Zustand nur sehr wenig. Somit sind unsere Glücksmöglichkeiten schon durch unsere Konstitution beschränkt. Weit weniger Schwierigkeiten hat es, Unglück zu erfahren (84).[31]
Marcuse(195) feilte diese freud(85)schen Gedanken in marxistischen(357) Begriffen aus, indem er nahelegte, dass es eine grundlegende und eine überschüssige Unterdrückung geben müsse – erstere ist notwendig für die Kultur, letztere ist ein Herrschaftsinstrument der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Sublimierung hingegen ist nicht so sehr die Abschiebung von Trieben ins Unbewusste, sondern ihre Umlenkung in andere Aktivitäten, die für die Kultur angeblich wertvoll sind. In Das Unbehagen in der Kultur, dem Buch, das Marcuses Überlegungen in Eros and Civilisation und Der eindimensionale Mensch befeuerte, bemerkt Freud(86) über Sublimierung: »Sie macht es möglich, daß höhere psychische Tätigkeiten, wissenschaftliche, künstlerische, ideologische, eine so bedeutende Rolle im Kulturleben spielen.«[32]
Marcuses(196) radikaler Zugriff auf Freuds(87) Gedanken besteht darin, dass solche Sublimierung in der Kunst, dem Gebiet menschlicher Aktivität, dem er in Der eindimensionale Mensch die größte Aufmerksamkeit widmet, nicht nur eine gesellschaftlich anerkannte Möglichkeit ist, libidinöse Triebe zum Ausdruck zu bringen, nicht nur eine Art psychisches Sicherheitsventil, das ein besseres Funktionieren der existierenden Ordnung garantiert, sondern dass es darüber hinaus dieser Ordnung fremd gegenübersteht. Dennoch bedroht so verstandene Kunst die Ordnung nicht. Für Marcuse stellte der Künstler, zumindest der große Künstler, ein unglückliches Bewusstsein dar, das Zeugnis für vereitelte Möglichkeiten ablegt, für unerfüllte Hoffnungen und verratene Versprechen. Was Marcuse(197) ganz ungeniert als »höhere Kultur« bezeichnet, existiert als eine Art inoffizielle Opposition zur bestehenden Ordnung – eine Mahnung für die Realität und ihre Widerlegung. »Die beiden antagonistischen Sphären der Gesellschaft haben immer nebeneinander bestanden; die höhere Kultur passte sich stets an, während die Wirklichkeit durch ihre Ideale und ihre Wahrheit selten gestört wurde.«[33]
Marcuse(198) scheint sich die höhere, zweidimensionale Kultur und ihr Funktionieren als eine Art halb autonomen Bereich vorzustellen, denn eine ernsthafte Bedrohung der herrschenden Wirklichkeit ist sie nicht. Insofern hatte Auden(2) recht: Dichtung verändert nichts, sie erschafft vielmehr einen imaginären Raum, in dem die Wirklichkeit als das gesehen werden kann, was sie ist, wo sie fiktiv angeklagt und fiktiv bestraft werden kann. Marcuse schreibt(199), höhere Kultur unterlaufe die Alltagserfahrung und »zeigt, dass sie verstümmelt und falsch ist«.[34] Allerdings werde diese zweidimensionale Kultur, die als eine Art inoffizielle, nicht bedrohliche Opposition zu den Lügen und Verzerrungen der Realität fungiert, in der technisierten Gesellschaft aufgesogen. Die zweite Dimension werde in den herrschenden Zustand einverleibt. »Die Werke der Entfremdung werden selbst dieser Gesellschaft einverleibt und zirkulieren als wesentlicher Bestandteil der Ausstattung, die den herrschenden Zustand ausschmückt und psychoanalysiert. Sie werden so zu Reklameartikeln – sie lassen sich verkaufen, sie trösten oder erregen.«[35]
Das ist jene Kulturindustrie, die von Horkheimer(281) und Adorno(484) beschrieben wurde, deren Rolle – ebenso wie diejenige einer repressiv entsublimierten Sexualität – darin besteht, ein geschmeidigeres Funktionieren des Kapitalismus zu gewährleisten. Und auch politische Kunst, die mit dem Anspruch auftritt, avantgardistisch zu sein, ist davon nicht ausgenommen: Man denke nur an das Schicksal von Mahagonny, einer Oper, die von Männern verfasst wurde, denen nicht klar war, dass das, was sie produzierten, nicht – wie sie es erhofften – die Revolution herbeiführen, sondern Bestandteil des kulinarischen Prinzips werden würde, über das sie spotteten.
Was aber hat diese Verflüssigung höherer Kultur mit Sex und Sublimierung zu tun? Die Befreiung der Sexualität in den freizügigen 1960er Jahren sei, so Marcuse(200), ein Kontrollmechanismus gewesen, der uns glücklicher, ja sogar sexuell erfüllter machte. Eine Voraussetzung dieses größeren Glücks und der sexuellen Erfüllung ist allerdings größere Angepasstheit. Das erste Opfer dieser zunehmenden Konformität ist das unglückliche Bewusstsein, insbesondere der Künstler, der aufgrund seines Unglücks und seines Unbehagens in seinem Werk »die repressive Gewalt der bestehenden Welt der Befriedigung erhellt«.[36] Für Marcuse(201) gab es in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften nach wie vor Repression, allerdings zunehmend keine Sublimierung mehr: Erstere verlangt von den Menschen, dass sie sich der herrschenden Ordnung beugen; letztere hingegen erfordert ein gewisses Maß an Eigenständigkeit und Verstehen. Für Marcuse wurde Sublimierung in der Form vollendeter Kunst zu jenem wertvollen, wenn auch paradoxen Phänomen – einer Macht, die fähig war, »Unterdrückung zu besiegen, indem sie sich ihr beugte«.[37]
Allerdings gibt es heute keine Sublimierung mehr. Um das zu verdeutlichen, vergleicht Marcuse(202), wie Künstler der Nachkriegsära und deren Vorgänger Sex darstellten und dramatisierten. In Baudelaires(6) Les Fleurs du Mal oder Tolstois(1) Anna Karenina wird sexuelle Lust eher sublimiert als erfüllt. Vielleicht ist das beste Beispiel dieser sublimierten Sexualität ein Werk, das Marcuse nicht erwähnt: Wagners(6) Tristan und Isolde, in welchem Sex und Tod, Eros und Thanatos in ewiger Umarmung verschlungen sind. In solcherart sublimierten Kunstwerken ist nach Marcuse »Erfüllung … jenseits von Gut und Böse, jenseits gesellschaftlicher Moral und bleibt so jenseits der Reichweite des bestehenden Realitätsprinzips«.[38] Und Marcuse(203) führt als Vergleichspunkt die Art und Weise an, wie Sexualität in Werken der fortgeschrittenen Industriegesellschaft dargestellt wird. Er nennt »O’Neills(1) Alkoholiker und die Losgelassenen Faulkners(1)«, Endstation Sehnsucht, Die Katze auf dem heißen Blechdach, Lolita und »all die Geschichten von Orgien in Hollywood(23) und New York(34) und die Abenteuer vorstädtischer Hausfrauen« als Beispiele. Die in den letzten Fällen dargestellte Sexualität ist in den Augen Marcuses(204) »unendlich realistischer, gewagter, hemmungsloser« als in der klassischen oder romantischen Literatur. Sie ist entsublimiert, unvermittelt, unablässig präsent in ihrer banalen Ausdrücklichkeit, uninteressant und schamlos, nichts anderes als das, was sie ist.
Und was zwischen diesen beiden Literaturepochen verloren ging, war die Negation. Die frühere Epoche hatte Bilder, in denen die darin dargestellte Gesellschaft negiert wurde; die spätere hat diese Bilder nicht mehr. Jedenfalls war das die Argumentation Marcuses(205). In der klassischen Literatur kommen Charaktere wie Prostituierte, Teufel, Verrückte, rebellierende Dichter vor – Charaktere, die die bestehende Ordnung störten. In der Literatur der fortgeschrittenen Industriegesellschaft treten zwar solche Charaktere noch auf (in Marcuses Aufzählung: »der Vamp, der Nationalheld, der Beatnik, die neurotische Hausfrau, der Gangster, der Star, der charismatische Industriekapitän«), doch haben sie eine ihren Vorläufern entgegengesetzte Funktion: »Sie sind keine Bilder einer anderen Lebensweise mehr, sondern eher Launen oder Typen desselben Lebens, die mehr als Affirmation denn als Negation der bestehenden Ordnung dienen.«[39]
Stanley Kowalskis Urschrei unterscheidet sich also grundlegend vom Liebestod Tristans und Isoldes. Auf ersteren kann man mit Elektroden, Gefängnisaufenthalt oder der Prügeltherapie der University of Minnesota reagieren; letzterer widersetzt sich solchen Korrekturmethoden – bis die dicke Dame aufhört zu singen, ist soziale Negation angesagt. Sex in der Kunst der fortgeschrittenen Industriegesellschaft ist also »sicherlich wild und obszön, männlich und deftig, ganz unmoralisch – und eben deshalb völlig harmlos«.[40] »Völlig harmlos« trifft vielleicht das pädophile Verhalten von Humbert nicht ganz, aber Marcuse(206) ging es darum, dass Lolita keine Negation dieser Gesellschaft war.
Es dürfte auffallen, dass Marcuses(207) Beispiele das alte Europa(32) gegen das neue Amerika(60) ausspielen, als wolle er sagen, dass die europäische Kultur die unglücklich sublimierte, die amerikanische Kultur hingegen die glücklich entsublimierte Kultur sei. Ein alteuropäisches Seufzen angesichts dessen, was verlorengegangen ist, durchzieht die pessimistischen Seiten von Der eindimensionale Mensch. Die europäische Hochkultur, eine implizite Anklage gegen die vorindustrielle Gesellschaft, kann nicht wiederbelebt werden.[41] Pessimismus ist tatsächlich die Grundstimmung des Buches. Angesichts einer eindimensionalen Gesellschaft ohne überzeugendes revolutionäres Subjekt war das Einzige, das blieb, eine Haltung, deren Bezeichnung Marcuse(208) von dem Surrealisten André Breton übernahm: die Große Weigerung, die jedoch, wie Marcuse zugestehen muss, ebenso wie große oppositionelle Kunst, politisch ohnmächtig ist. Marcuse führt nicht aus, worin diese Weigerung besteht; seine Interpreten sind der Meinung, er schlage eine Abkehr von Formen der Unterdrückung und Herrschaft vor. Der Begriff hat bei aller Unschärfe, Ohnmacht und Untauglichkeit etwas Suggestives: Er fängt die Stimmung von Revolte ein, die während der 1960er Jahre durch die fortgeschrittenen Industriegesellschaften fegte – die Opposition gegen den Vietnamkrieg, der Kampf um atomare Abrüstung, die Neue Linke, die Hippies und die Studentenproteste. Derartige Opposition ist »eine elementare Kraft, die die Regeln des Spiels verletzt und es damit als ein aufgetakeltes Spiel enthüllt«.[42]
Die Protestierenden der Bürgerrechtsbewegung kann man zwar kaum als politisch ohnmächtig bezeichnen, allerdings können auch sie dem, was Marcuse unter(209) Großer Weigerung verstand, zugerechnet werden: »Wenn sie sich zusammenrotten und auf die Straße gehen, ohne Waffen, ohne Schutz, um die primitivsten Bürgerrechte zu fordern, wissen sie, daß sie Hunden, Steinen und Bomben, dem Gefängnis, Konzentrationslagern, selbst dem Tod gegenüberstehen. Ihre Kraft steht hinter jeder politischen Demonstration für die Opfer von Gesetz und Ordnung. Die Tatsache, daß sie anfangen, sich zu weigern, das Spiel mitzuspielen, kann die Tatsache sein, die den Beginn des Endes einer Periode markiert.«[43] Allerdings stellten die Bürgerrechtsproteste nicht lediglich eine Weigerung dar, das Spiel mitzuspielen: Die Protestierenden formulierten die Forderung, dass Afro-amerikaner dieselben Rechte haben sollten wie alle anderen auch – insofern waren die Bürgerrechtskämpfe affirmativ, nicht negativ.
Zu denen, die bei Marcuse(210) in den 1960er Jahren studierten, gehörte Angela Davis(4), spätere afroamerikanische Aktivistin, Feministin und Revolutionärin, die eine Zeitlang auf der Liste der meistgesuchten Personen des FBI stand; eine Frau, die von Richard Nixon(3) als Terroristin bezeichnet wurde; und Ronald Reagan(2) versuchte, sie von ihrer Universitätsstelle zu feuern. Davis wurde 1944 geboren und wuchs zur Zeit der Rassentrennung, vor Beginn der Bürgerrechtsbewegung, in Birmingham(1), Alabama, auf. Birmingham war während der Bürgerrechtsauseinandersetzungen dafür bekannt, dass auf Afroamerikaner, die sich um das Wahlrecht bemühten, Hunde gehetzt und Wasserwerfer gegen sie eingesetzt wurden – ja schlimmer noch(5): »Ich wuchs in einer Zeit auf, in der als Reaktion auf eine gemischtrassige Diskussionsgruppe, zu der ich gehörte, die Kirche niedergebrannt wurde, in der wir unsere Diskussionen abhielten. Ich wuchs in einer Zeit auf, in welcher als Reaktion darauf, dass Schwarze in die weiße Nachbarschaft auf der anderen Straßenseite unseres Hauses zogen, Bomben in die entsprechenden Häuser gelegt wurden(6).«[44]
Später erhielt sie(7) ein Stipendium an der Brandeis University und lernte bei einer Demonstration während der Kubakrise im Jahr 1962 Marcuse(211) kennen: Wegen der Stationierung von sowjetischen(43) Mittelstreckenraketen auf Kuba(2) waren die USA und die Sowjetunion(44) an den Rand eines Atomkriegs geraten. Sie wurde dann seine Studentin. Was sie in Marcuses Schriften ansprach, war teilweise das, was sie als »die emanzipatorische Verheißung der deutschen philosophischen Tradition« bezeichnete, und außerdem seine Fähigkeit, die barbarische Rückseite des amerikanischen Traumes zu zeigen. In ihrem(8) Vorwort zu einer Ausgabe von Marcuses Briefen schreibt sie: »Eben weil er so konkret und unmittelbar an der Bekämpfung des deutschen Faschismus beteiligt gewesen war, war er auch fähig und willens, faschistische Tendenzen in den Vereinigten Staaten(62) zu identifizieren.«[45] Zu den faschistischen Tendenzen in ihrem Heimatland aber, so Davis(9), gehöre an vorderster Stelle der Rassismus.
Einige der späteren Schriften und Aktivitäten von Davis(10) könnte man als fortgesetzte Analysen interpretieren, in denen sie die faschistischen Tendenzen ihres ehemaligen Lehrers beleuchtete. Sie sah in dem von ihr analysierten, sogenannten »Gefängnis-Industrie-Komplex« einen Verstoß gegen die Bürgerrechte, für welche Afroamerikaner während der Bürgerrechtsbewegung gekämpft hatten. Sie erklärte, der überdurchschnittlich hohe Anteil an in Haft befindlichen farbigen Personen sei das Ergebnis einer Kapitalverlagerung weg von Dienstleistungen wie häusliche Arbeit und Pädagogik, die am Menschen ausgerichtet sind, hin zu profitablen Bereichen. »Das führte dazu, dass es überall auf der Welt immens viele Menschen gibt, die nicht dazu in der Lage sind, sich selbst zu versorgen. Sie werden zum Überschuss und infolgedessen sind sie häufig gezwungen, in Sparten tätig zu sein, die als kriminell eingestuft werden. Also entstehen überall auf der Welt Gefängnisse, häufig mit Unterstützung privater Unternehmen, die von diesen überschüssigen Bevölkerungsanteilen profitieren(11).«[46] Marcuse(212) erlebte nicht mehr, wie positiv sich der Gefängnis-Industrie-Komplex entwickelte, allerdings hätte er zweifellos die scharfsinnige Diagnose seiner Studentin und ihr harsches Urteil gutgeheißen.
Wie viele andere Studierende in den 1960er Jahren war Davis(12) eine enthusiastische Leserin von Marcuses(213) 1965 erschienenem Essays »Pure Tolerance«, in welchem der Autor darlegt, dass in einer vorgeblich liberalen Gesellschaft Toleranz eine Form von Mystifikation darstelle, die die Gesellschaft dazu verleite, eine subtile Form der Beherrschung hinzunehmen. Es sei jedoch eine neue Art von Toleranz notwendig, zu der auch die Toleranz gegenüber revolutionärer Gewalt gehören müsse. Wie die Worte des Vorsitzenden Mao(2) wurde Marcuses(13) Essay äußerlich wie ein Gebet- oder Messbuch gestaltet und andächtig und hingebungsvoll bei studentischen Sit-ins rezitiert und studiert.[47] Einige Kritiker wie Alasdair MacIntyre(3) waren allerdings empört über die darin enthaltene Botschaft:
Die Wahrheit besitzen die revolutionären Minderheiten und ihre intellektuellen Wortführer wie Marcuse(214), und die Mehrheit muss befreit werden, indem sie in die Wahrheit dieser Minderheit eingeführt wird, die das Recht hat, rivalisierende, nachteilige Meinungen zu unterdrücken. Das ist wahrscheinlich die gefährlichste aller Doktrinen Marcuses, denn nicht nur ist das, was er behauptet, falsch, sondern die Doktrin, die er vertritt, würde, wenn sie sich durchsetzte, faktisch zu einer Barriere für jeglichen rationalen Fortschritt und jede Form von Befreiung werden(4).[48]
Angela Davis(14) eignete sich eine andere Aussage von Marcuse(215) an. »Herbert Marcuse hat mich gelehrt, dass es möglich war, Akademikerin, Aktivistin, Wissenschaftlerin und Revolutionärin zu sein.«[49] Sie studierte bei Marcuse in Brandeis und bei Adorno(485) in Frankfurt(69); dann, im Jahr 1966, als die Black Panther Partei gegründet wurde, fühlte sie sich gedrängt, in die USA zurückzukehren, teilweise, weil sie sich in radikalen Bewegungen engagieren wollte. Adorno(486) war skeptisch gewesen: »Er meinte, mein(15) Wunsch, in den radikalen Bewegungen der damaligen Zeit direkt mitzuarbeiten, sei so ähnlich, wie wenn ein Medienwissenschaftler als Radiotechniker tätig werden möchte.«[50]
Doch sie(16) schloss sich unverdrossen den Black Panthers und dem Che-Lumumba-Club an, einer nur aus Schwarzen bestehenden Gruppe innerhalb der US-amerikanischen Kommunistischen Partei. Und sie wurde Professorin für Philosophie an der University of California in Los Angeles(13), wurde dann allerdings wegen ihrer Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei entlassen. Später wurde sie wieder eingestellt, im Juni 1970 jedoch erneut entlassen, weil sie sich in Ansprachen aufrührerisch gegeben hatte, indem sie die Polizei als Schweine und Mörder bezeichnete – die Polizei hatte im People’s Park auf dem Campus von Berkeley(6) im Jahr davor einen Studentenprotest gewaltsam unterdrückt. Im August 1970 war sie(17) auf der Flucht vor der Justiz. Ihr Name landete auf der FBI-Liste der meistgesuchten Verbrecher, weil sie angeblich Gewehre an Black-Panther-Mitglieder geliefert hatte, mit denen versucht wurde, drei Männer, die sogenannten Soledad Brothers, aus einem Gerichtsgebäude herauszuholen, in dem sie wegen Mord an einem Gefängniswärter unter Anklage standen. Letztlich wurde sie verhaftet und der Verschwörung zu Entführung und Mord angeklagt – Anklagen, wegen denen sie hätte hingerichtet werden können. Bei ihrer Gerichtsverhandlung im Jahr 1972 wurde sie freigesprochen, wohingegen andere Mitangeklagte, ehemalige Black Panthers, zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden – teilweise zu mehr als fünfzig Jahren.
Für Davis(18) war ihr früherer Professor eine intellektuell befreiende Figur:
Marcuse(216) spielte während der späten 60er und frühen 70er Jahre eine wichtige Rolle, indem er die Intellektuellen ermutigte, gegen Rassismus, gegen den Vietnamkrieg, für die Rechte der Studenten ihre Stimme zu erheben. Er betonte die wichtige Rolle der Intellektuellen innerhalb von Oppositionsbewegungen, was meiner Meinung nach mehr Intellektuelle dazu motiviert hat, ihre Arbeit mit diesen Bewegungen zu verknüpfen, als es ohne Marcuses Einfluss geschehen wäre. Und Marcuses Denken legte offen, wie entscheidend er selbst von den Bewegungen seiner Zeit beeinflusst war und wie sein Engagement für diese Bewegungen andererseits sein Denken belebte(19).«[51]
Der überraschendste Einfluss Marcuses(217) auf Davis(20) lag wohl in der Art und Weise begründet, wie er ihre Ansichten über die in bildender Kunst, Literatur und Musik enthaltenen utopischen Möglichkeiten prägte. Aber war er dafür denn nicht zu stark der europäischen Hochkultur verhaftet? Als ich 2014 Davis(21) interviewte, merkte ich an, dass Marcuse doch sicher kein Gespür für Popmusik hatte, die sich als Widerstand gegen den Status quo verstand, sondern diesen Bereich eher so beurteilte, wie Adorno(487) den Jazz beurteilt hatte: als Teil der Kulturindustrie also, die den Status quo zu stabilisieren half. Davis(22) antwortete: »Er begann, seine Meinung zu ändern. Er brachte diese ganz klassische, europäische Bildung mit, Kultur war für ihn also gleichbedeutend mit Hochkultur; später jedoch begann er einzusehen, dass wir uns nicht damit aufhalten sollten, Hochkultur gegen eine ›niedrige‹ Populärkultur auszuspielen. Wir sollten uns eher fragen, was Kultur bewirkt.«[52] In ihrem 1998 erschienenen Buch Legacies and Black Feminism thematisiert Davis die Art und Weise, wie Sängerinnen wie Gertrude »Ma«(1) Rainey, Bessie Smith(1) und Billie Holiday(1) »einen kulturellen Raum für die Gemeinschaftsbildung unter schwarzen Frauen aus der Arbeiterklasse schufen … in welchem die Zwänge der bürgerlichen Vorstellungen von sexueller Reinheit und ›wahrer Weiblichkeit‹ nicht vorkamen«.[53] Das Buch(23) ist geprägt von Marcuses Vorstellungen von Kunst als einem halb autonomen Bereich, von einer anderen Dimension, in welcher Utopien ausgemalt werden können, die in Opposition zu den herrschenden, infrage gestellten Kulturen stehen.
Marcuse(218) schrieb in Anlehnung an Adorno(488), der sich seinerseits auf Stendhal bezog, von Kunst als einer promesse du bonheur. Was er damit meinte, erklärt er in Der eindimensionale Mensch: Die herrschende Ordnung bleibe »von einer anderen Dimension überschattet, durchbrochen und widerlegt … welche der Ordnung des Geschäfts unversöhnlich antagonistisch gegenüberstand, sie anklagte und verneinte«.[54] Marcuse fand diese promesse du bonheur in Bildern von holländischen(4) Malern des 17. Jahrhunderts, in Goethes(10) Wilhelm Meister, im englischen Roman des 19. Jahrhunderts und bei Thomas Mann(67); Angela Davis(24) hörte sie bei Bessie Smith(2) und Billie Holiday(2). Im weiteren Verlauf der 1960er Jahre gelangte Marcuse(219) zu der Vorstellung, dass die promesse du bonheur nur in der ästhetischen Dimension umgesetzt werden könne (der Titel seines letzten Buches lautet: The Aesthetic Dimension: Toward a Critique of Marxist Aesthetics [Die Permanenz der Kunst: Wider eine bestimmte marxistische(358) Ästhetik]), dass die Utopie aber in Reichweite sei. In seinem Text An Essay on Liberation aus dem Jahr 1969 begeht er die schlimmste denkbare Häresie der Frankfurter Schule: Er gibt sich positivem Denken hin. »Was als ›utopisch‹ gebrandmarkt wird, ist nicht mehr das, was ›keinen Ort‹ hat und im historischen Universum auch keinen haben kann, sondern vielmehr das, was durch die Macht der etablierten Gesellschaften daran gehindert wird, zustande zu kommen«, so seine Worte. »Den technischen und technologischen Kräften des fortgeschrittenen Kapitalismus und Sozialismus wohnen utopische Möglichkeiten inne, und die rationale Nutzbarmachung dieser Kräfte in weltweitem Ausmaß würde in durchaus absehbarer Zukunft Armut und Knappheit beenden(220).«[55]
Das entsprach dem Selbstverständnis der Frankfurter Denker durchaus nicht mehr. Die Kritische Theorie umfasste ein Prinzip, das mit dem jüdischen Tabu vergleichbar war, den Namen Gottes zu nennen: Es zu tun, wäre verfrüht, weil das messianische Zeitalter noch nicht angebrochen ist. Ebenso wäre es für die Vertreter der Kritischen Theorie verfrüht gewesen, eine utopische Vision zu entwerfen; ihre selbst gewählte Aufgabe bestand darin, die Wahrheit der existierenden Ordnung zu negieren, nicht aber, Entwürfe für eine bessere Zukunft zu liefern. Und trotzdem wagt es Marcuse(221) in seinem Versuch über die Befreiung, sich einen neuen Menschentyp vorzustellen, der die Werte der etablierten Gesellschaften ablehnt. Dieser neue Mensch ist nicht aggressiv, er ist unfähig, Kriege zu führen oder Leid zu verursachen, und statt nur seine eigenen Interessen zu verfolgen, arbeitet er glücklich sowohl im Kollektiv als auch allein daran, eine bessere Welt zu schaffen.[56]
Und wie stand es um die Frauen? In seinem Essay »Marxismus(359) und Feminismus« aus dem Jahr 1974 merkt Marcuse an(222), dass »weibliche« Qualitäten wie Gewaltlosigkeit, Zärtlichkeit, Empfänglichkeit und Sensibilität eine Negierung männlicher Werte darstellten. »Sozialismus muß als qualitativ andere Gesellschaft diese Antithese enthalten, die entschiedene Negation der aggressiven und repressiven Notwendigkeiten des Kapitalismus als Form einer von Männern dominierten Kultur.«[57]
Vielleicht war es einfach sein Ansehen als sogenannter Vater der Neuen Linken (ein Ehrentitel, von dem er sich selbst distanzierte), der Marcuse(223) dazu verleitete, sich utopische Zustände auszumalen. Es gab Stimmen, die seine Vision lächerlich fanden: In seinem Werk Die Hauptströmungen des Marxismus(360): Entstehung, Entwicklung, Zerfall beschreibt der Ideengeschichtler Leszek Kołakowski(1) Marcuses Utopie als antimarxistisch(361), als Vision, die Freud(88) auf den Kopf stelle, damit soziale Regeln zugunsten einer »Neuen Welt des Glücks« ausrangiert werden könnten. Gleichzeitig handele es sich um eine neue Welt, die »despotisch von einigen Aufgeklärten regiert wird, wobei die Aufgeklärten ihren Herrschaftsanspruch vor allem damit begründen, dass sie in ihren Köpfen die Einheit von Logos und Eros hergestellt haben, indem sie sich der bedauerlichen Abhängigkeit von der Logik, der Mathematik und den empirischen Wissenschaften entledigten«.[58]
Trotz Marcuses(224) radikalem Chic und seinem Ansehen in der gegenkulturellen Szene ließ sich sein Rivale um den Titel »Held der Neuen Linken und der Studentenbewegung« nicht verführen. Als Jean-Paul Sartre(2) und Marcuse in den späten 1960er Jahren ein Treffen im Restaurant La Coupole in Paris(44) vereinbarten, machte Sartre sich Sorgen, wie er den Lunch überstehen würde, ohne die Wahrheit offenbaren zu müssen. »Ich habe kein Wort von dem gelesen, was Marcuse geschrieben hat«, vertraute er seinem zukünftigen Biographen John Gerassi(1) an. »Ich weiß, dass er versucht, Marx(362) und Freud(89) zu verbinden. Und ich(3) weiß, dass er studentische Aktivisten unterstützt. Aber ich kann unmöglich bis nächste Woche seine Bücher lesen. Außerdem möchte ich meine Flaubert(1)-Studien nicht unterbrechen. Also kommen Sie bitte mit. Und wenn Marcuse zu philosophisch wird, wenn er auch nur ein einziges Mal das Wort Verdinglichung erwähnt, dann unterbrechen Sie ihn und sagen irgendetwas Provokatives und Politisches(4).«
Als es dann so weit war – es wurde Cassoulet serviert –, verfiel Sartre(5) auf eine geniale Strategie, mit der er sein Unwissen verbarg. Er stellte Fragen, die eine größere Vertrautheit mit Marcuses(225) Werk vermuten ließen, als er tatsächlich hatte. »Jedes Mal, wenn er antwortete, pickte ich mir eine scheinbare Schwachstelle aus seiner Antwort heraus und stellte eine weitere Frage. Da die Schwachstelle allerdings offensichtlich war, konnte er meine Frage zu seiner größten Zufriedenheit beantworten. Und so segelte er in seiner Selbstgefälligkeit glücklich dahin.« Das war tatsächlich so: Gerassi(2) brachte Marcuse zum Taxi, und Marcuse(226) »schüttelte mir beide Hände mit echter Dankbarkeit und sagte: ›Ich hatte ja keine Ahnung, dass er(6) mein Werk so gut kennt.‹«[59]