Während Marcuse(227) in Amerika(64) von Utopia träumte, verzweifelte Adorno (489) in Europa(33). »Keine Universalgeschichte führt vom Wilden zur Humanität, sehr wohl eine von der Steinschleuder zur Megabombe«,[1] schreibt er in Negative Dialektik, dem Buch, das er 1966 unter dem langen Schatten von Auschwitz(14) und der Bedrohung eines nuklearen Weltuntergangs veröffentlichte. Der Holocaust hatte den Menschen einen »neuen kategorischen Imperativ« aufgezwungen: »ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe«. In Adornos(490) Frankfurter Umgebung hatte Marcuses(228) kalifornische Träumerei keine Zukunft. Negative Dialektik ist eine unzeitgemäße Meditation – antisystemisch, antiutopisch und bar jeder Hoffnung. »Es dürfte wohl wenige philosophische Bücher geben, bei denen sich derart unabweisbar der Eindruck von Nutzlosigkeit aufdrängt wie bei der ›Negativen Dialektik‹«, so Kołakowski(2) in seinem Werk Hauptströmungen des Marxismus(363).[2] Marcuse(229) hatte noch angenommen, Utopia könne in dieser Welt Wirklichkeit werden, sogar in gar nicht allzu ferner Zukunft; Adornos implizite Antithese in Negative Dialektik ist, dass Utopia nur in der Kunst verwirklichbar sei, und auch dort nur – per definitionem – imaginativ.
»Die Formulierung Negative Dialektik verstößt gegen die Überlieferung«, merkt Adorno(491) in der Vorrede des Buches an. »Dialektik will bereits bei Platon(2), daß durchs Denkmittel der Negation ein Positives sich herstelle … Das Buch möchte Dialektik von derlei affirmativem Wesen befreien, ohne an Bestimmtheit etwas nachzulassen.«[3] Vor Platon hatte Heraklit(3) erklärt, dass sich die Welt im konstanten Fließen befinde. In Bezug auf die dialektische Vorstellung knüpfte man an diesen Gedanken an und versuchte, Ordnung in den Wandel zu bringen. Für Dialektiker – und Adorno(492) war lebenslang Mitglied in diesem Dialektikklub – stellte sich die Frage: Wenn die Welt wesentlich von Wandel und nicht von Stillstand bestimmt ist, wohin zielt dieser Wandel dann?
Seit Platon(3) hat die Antwort gelautet, dass Wandel, vor allem aber historischer Wandel, ein Ziel – ein Telos habe. Hegels(50) Idee war es gewesen, dass die Geschichte sich in einem dialektischen Prozess entfalte. Der paradoxe Begriff »aufheben« mit seinen drei Bedeutungen des Aufbewahrens, des Hochhebens und des Zurücknehmens (in englischsprachigen philosophischen Texten üblicherweise als »to sublate« wiedergegeben, Anm. d. Ü.) ist in diesem Zusammenhang wichtig. Der Übersetzer und Philosoph Walter Kaufmann(1) schrieb: »Man könnte sagen, dass Hegel vor Augen führen möchte, wie etwas hochgehoben wird, damit es nicht mehr so da ist, wie und wo es vorher da war, allerdings wird es nicht völlig weggenommen (aufgehoben), sondern eben hoch- oder (auf-)gehoben, auf dass es auf einer anderen Ebene behalten werden, das heißt aufgehoben sein könne.«[4] Entscheidend bei Hegel ist, dass in diesem Prozess nichts ausgeschieden wird – alles wird von einer historischen Epoche in die nächste mitgenommen. Für ihn war die Geschichte eine Entwicklung der menschlichen Freiheit zum Absoluten hin und – was dasselbe ist – der Ausdruck des Weltgeistes. Für Hegel(51) war »alles, was wirklich ist, vernünftig«, das heißt: Alles hatte seinen Ort im sich entfaltenden dialektischen Prozess. Demzufolge kann von einer »Identität von Identität und Nicht-Identität« gesprochen werden. Geschichte, so verstanden, ist vergleichbar mit einem Recyclingprojekt von kosmischen Ausmaßen, in dem nichts auf der Mülldeponie landen darf. Das Ganze war für Hegel(52) konsequenterweise das Wahre gewesen. Für Adorno(493) war das Gegenteil der Fall: »Das Ganze ist das Unwahre.«[5]
In all seinen Schriften zeigte sich Adorno(494) skeptisch gegenüber Philosophien, die harmonische Versöhnung anbieten. So bezweifelte er beispielsweise die Vision des jungen Lukács(45) von einer epischen Ganzheit im antiken Griechenland, Heideggers(17) Vorstellung eines vollendeten Seins, das mittlerweile tragisch in Vergessenheit geraten ist, und Benjamins(445) Glauben an eine vor dem Sündenfall existierende Einheit von Name und Sache.[6] In der Negativen Dialektik geht es ihm allerdings nicht hauptsächlich um die Dekonstruktion solcher regressiven Phantasien, sondern um Widerspruch gegen die Vorstellung, dass dialektische historische Prozesse unbedingt ein Ziel haben müssen. Vor allem verwirft er die Idee, dass das geschichtliche Narrativ notwendigerweise auf ein Happy End zulaufe. In Opposition zu Hegels(53) »Identität von Identität und Nicht-Identität« formuliert Adorno(495) die noch unergründlichere Vorstellung der »Nicht-Identität von Identität und Nicht-Identität«. Damit stellt Adorno(496) die Behauptung auf, dass der Gegenstand in seinem Begriff nicht restlos aufgehe. Doch ein Gegenstand muss restlos in seinem Begriff aufgehen, wenn Identitätsdenken Sinn ergeben soll. Wenn ein Gegenstand nicht restlos in seinem Begriff aufgeht, dann stellen sämtliche Begriffe, insofern als jedes Denken in Begriffen stattfindet, ihre Gegenstände fehlerhaft dar, und jedes Denken ist mit einem Akt der Brutalität gegenüber seinem Gegenstand verbunden. Das ist jedenfalls Adornos Schlussfolgerung.
Faktisch benutzte Adorno(497) die marx(364)sche Vorstellung des Tauschprinzips retrospektiv, um Löcher in die hegel(54)sche Identitätsphilosophie zu bohren: Indem Hegels Philosophie Identität bewerkstellige, so Adorno(498), behaupte sie die Gleichwertigkeit von etwas, das nicht gleichwertig ist.[7] Anstelle dieses brutalen Identitätsdenkens schlug Adorno(499) versuchsweise einen anderen Zugang zum Wissen vor, eine Methode, die als Konstellationstheorie bekannt wurde, wobei der Begriff »Konstellation« aus Walter Benjamin(446)s Der Ursprung des deutschen Trauerspiels stammt. Konstellationsdenken wendet sich gegen das Identitätsdenken, womit man einen Gegenstand versteht und ihn auf einen Begriff bringt. Einen Gegenstand verstehen, hieß für Adorno(500) nicht, ihn auf den Begriff zu bringen, sondern ihn in eine dialektische historische Beziehung zu einer Konstellation anderer Gegenstände zu setzen. Insofern gibt es eine deutliche Parallele zwischen Konstellationsdenken und Benjamins(447) Begriff des dialektischen Bildes. Die Verwendung des Begriffs Konstellation macht eine Nähe zu den Verfahren moderner Kunst und Literatur deutlich, die für Benjamin eine Rolle spielten – filmische Montage, kubistische Collage, Baudelaires(7) correspondances oder die Epiphanien von Joyce(2).
Vor allem ähnelten die Konstellationen Benjamins(448) Prousts(26) Vorstellung der mémoire involontaire. Als er den Geschmack einer Madeleine schmeckt, belebt sich für den Erzähler in Prousts(27) À la recherche du temps perdu ungewollt seine gesamte Kindheit. Auf derartige plötzliche Erkenntnisblitze hoffte Adorno(501) mit seiner Konstellationstheorie des Wissens. Durch solche wechselnden Konstellationen und solche flüchtigen Blitze konnte sich dem wohlwollenden Beobachter die Wahrheit enthüllen. Adorno(502) hatte diese Erkenntnismethode bereits in seiner Antrittsvorlesung am Institut für Sozialforschung in Frankfurt(70) im Jahr 1931 umrissen, allerdings stieß er damit bei seinen Zuhörern auf Unverständnis. In der Negativen Dialektik versucht er, eine neue Version darzulegen. Er verwendet dafür eine Analogie, die sich ausnimmt, als sei der Philosoph eine Mischung aus einem Safeknacker, der nach Arbeitsschluss im Tresorraum einer Bank zugange ist, einem buddhistischen Virtuosen in Sachen Achtsamkeit und einem Quantenphysiker, der sich darüber im Klaren ist, dass seine Untersuchung die Natur dessen verändern wird, was er untersucht:
Nur ein Wissen vermag Geschichte im Gegenstand zu entbinden, das auch den geschichtlichen Stellenwert des Gegenstandes in seinem Verhältnis zu anderen gegenwärtig hat; Aktualisierung und Konzentration eines bereits Gewußten, das es verwandelt. Erkenntnis des Gegenstands in seiner Konstellation ist die des Prozesses, den er in sich aufspeichert. Als Konstellation umkreist der theoretische Gedanke den Begriff, den er öffnen möchte, hoffend, daß er aufspringe etwa wie die Schlösser wohlverwahrter Kassenschränke: nicht nur durch einen Einzelschlüssel oder eine Einzelnummer, sondern eine Nummernkombination.[8]
Erkenntnis, so sie denn überhaupt erzielt werden kann, wird nur von jenen Eingeweihten erreicht, die das Identitätsdenken hinter sich gelassen haben. Doch selbst dann ergibt sich Erkenntnis lediglich blitzartig – aus Konstellationen. Diese verhalten sich wie mobile Metaphernschwärme, verändern sich ständig, flimmern in die Reichweite des Betrachters hinein und wieder heraus. Die logische Folge der Negativen Dialektik war allerdings, dass solche Erkenntnisblitze das einzige Mittel waren, durch das wir einem ansonsten geschlossenen Wahnsystem entkommen können.
Das alles ist ziemlich schwere Kost und selbst für Anhänger der Kritischen Theorie kaum zu schlucken. Die extrem flüchtige Qualität des Nicht-Identität-Denkens, wie sie in der Negativen Dialektik dargelegt wird, war der Grund, warum Adornos(503) junger Kollege Jürgen Habermas(39) sich von Adorno(504) distanzierte. In einem Interview aus dem Jahr 1979 sagte Habermas, er könne der Voraussetzung nicht mehr zustimmen, »dass die instrumentelle Vernunft eine solche Vorherrschaft gewonnen habe, dass es aus einem geschlossenen Wahnsystem keinen Ausweg mehr gibt, in welchem Erkenntnis nur aufgrund von Erkenntnisblitzen von einzelnen Individuen zu erlangen ist(40)«.[9]
So abstrus das Vorhergehende auch klingen mag, so muss doch darauf hingewiesen werden, dass Adorno(505) zu seiner Theorie des Denkens der Nicht-Identität fand, weil er dem Leiden »eine Stimme leihen« wollte, das andernfalls zum Schweigen verurteilt war. »Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit. Denn Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet.«[10] Das Leiden, an das Adorno(506) dachte, war das Ungesehene in unserer eindimensionalen Welt – jenes Leiden, das durch die unmenschliche Unterdrückung anderer verursacht wird. Wenn allerdings jedes Denken, insofern es notwendig begrifflich ist, zwingend mit Brutalität verbunden ist, dann ist nur schwer zu verstehen, wie Adorno(507) überhaupt seine Kritik am Identitätsdenken formulieren konnte, da er sich dafür ja der von ihm verschmähten Begriffe bedienen musste. Habermas(41) merkte an, Adorno(508) sei sich durchaus des performativen Widerspruchs in seinem philosophischen Schreiben bewusst gewesen.[11] So war gewissermaßen die verdrehte Natur des in der Frankfurter Schule üblichen Begriffs immanenter Kritik beschaffen, durch welchen die zu dekonstruierende Ideologie mit ihren eigenen Werkzeugen zerstört wurde. In der Dialektik der Aufklärung ereifern sich Adorno(509) und Horkheimer(282) angesichts des Umstands, dass die Vernunft während der Aufklärung zu einem Instrument geworden war und sich damit der Macht untergeordnet hatte. Das führte zum Verlust ihrer kritischen Potenz. Allerdings, so (42)Habermas 1985 in Der philosophische Diskurs der Moderne,[12] sei die Kritik (510)Adornos und Horkheimers(283) insofern befremdlich, als sie »das Totalitärwerden der Aufklärung mit deren eigenen Mitteln denunziert«.
In der Negativen Dialektik bleibt Adorno(511) dieser paradoxen philosophischen Strategie treu – den Leichnam der Vernunft zu verwenden und ihn über die Umstände des eigenen Todes sprechen zu lassen. In der Stanford Encyclopaedia of Philosophy heißt es dazu:
Adorno(512) verwirft die Notwendigkeit begrifflicher Identifikation nicht … und seine Philosophie erhebt auch nicht den Anspruch, unmittelbaren Zugang zum Nicht-Identischen zu haben. Unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen kann das Denken nur mittels der begrifflichen Kritik von falschen Identifikationen Zugang zum Nicht-Identischen haben. Solche Kritik muss in »bestimmten Negationen« bestehen und spezifische Widersprüche aufzeigen zwischen dem, was das Denken behauptet, und dem, was es faktisch erbringt.[13]
Der Traum von Utopia, zu dem sich Marcuse(230) in den 1960er Jahren verführen ließ, war Adornos(513) Sache nicht.
Adorno(514) greift in der Negativen Dialektik nicht nur Hegels(55) Philosophie an, sondern nimmt auch Marx(365) ins Visier. Marx(366) tauschte den hegelschen Weltgeist gegen den Klassenkampf aus, behielt jedoch die dialektische Vorstellung von Geschichte bei. Das Telos, auf das die Geschichte in diesem dialektischen Prozess zulief, war für Marx(367) die Befreiung der Menschheit in der kommunistischen Gesellschaft. Diese Utopie sollte sich in der Revolution des Proletariats verwirklichen, durch die die herrschende Klasse beseitigt werden könnte. In der Negativen Dialektik wendet Adorno(515) der Zukunft den Rücken zu und verwirft die Vorstellung von Hegel(56) und Marx(368), dass sich die Geschichte dialektisch auf ein gutes Ende zubewege. Allerdings bedeutete das nicht, dass, wie ein Kritiker schrieb, Adorno(516) in die »Verteufelung der Geschichte« verwickelt war, und auch nicht, dass die Negative Dialektik die Heilsgeschichte durch eine Unheilsgeschichte ersetzte: »Was an (57)Hegel verurteilt wurde, wird ein weiteres Mal auf den Kopf gestellt: das fundamental Böse – das Böse als solches wird in die Stellung des Weltgeistes erhoben.«[14]
Doch es gibt in der Negativen Dialektik keinen Weltgeist. Es ist nicht notwendig, dass sich die Dinge auf eine bestimmte Weise entwickeln, obwohl deutsche Philosophen häufig dachten, sie würden es doch tun. Marx(369) beispielsweise hatte gehofft, dass mithilfe der Revolution Theorie und Praxis vereinigt werden könnten. Für Adorno(517) funktionierte das nicht. Daher hält er zu Beginn seiner Einleitung fest: »Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward. Das summarische Urteil, sie habe die Welt bloß interpretiert, sei durch Resignation vor der Realität verkrüppelt auch in sich, wird zum Defaitismus der Vernunft, nachdem die Veränderung der Welt mißlang.«[15]
Als Gershom Scholem(20) die Negative Dialektik las, fragte er sich, ob aus der Kritischen Theorie jetzt eine Spielart der marx(370)schen Analyse des Kapitalismus ohne Klassenkampf geworden sei. Sollte das der Fall sein, dann gilt dasselbe auch für Marcuses(231) Der eindimensionale Mensch. Während jedoch Marcuse die 1960er Jahre damit zubrachte, nach einem revolutionären Subjekt Ausschau zu halten, das die Stelle des Proletariats einnehmen konnte, war die Philosophie Adornos(518) eine Umkehrung des Marxismus(371): Nie würde sie dazu beitragen, die Welt zu verändern, sie konnte sie nur eingehender interpretieren. Wenn Philosophie eine Funktion hat, dann die, Systeme anderer Philosophen in Schutt und Asche zu legen und so leichtgläubige Leser von ihren Illusionen zu befreien.
In seinem 1964 erschienen Buch Jargon der Eigentlichkeit greift Adorno(519) beispielsweise die in der deutschen Nachkriegsphilosophie aufgekommene Tendenz an, trügerische Zuflucht in subjektiver Innerlichkeit zu suchen. Diese Art von existentieller Wende in der Philosophie, die er bereits in Vorkriegstexten über Husserl(3) und Kierkegaard(4) kritisiert hatte, fand er besonders unerträglich in den Schriften von Heidegger(18), Martin Buber(1) und Karl Jaspers(1). Er hielt ihre Werke für Selbstbeweihräucherung. Jeder entwickelte auf seine Art elitäre Philosophien mit abstrusen Begriffen, um sich nicht mit gesellschaftlichen Realitäten konfrontieren zu müssen; badete im angeblichen Glanz von Wörtern wie Angst und Sprung, und lenkte sich damit von der Dunkelheit der Zeiten ab. Was Wittgenstein(7) von seiner Mission sagte, traf auch auf Adornos(520) Mission im Jargon der Eigentlichkeit zu: »Derartiges muss gestoppt werden. Schlechte Philosophen sind wie Vermieter von Elendsquartieren. Meine Aufgabe ist es, sie arbeitslos zu machen.«[16]
Im Jahr 1961 traf Adorno(521) anlässlich einer Arbeitstagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Tübingen mit Karl Popper(3) zusammen. Beide waren Hauptredner eines Symposiums, bei dem es um die Frage der angemessenen Forschungsmethoden in den Sozialwissenschaften ging. Es hätte eine explosive Begegnung werden können, ein Preiskampf zwischen zwei Vertretern zweier miteinander unvereinbarer philosophischer Positionen; oder eine für den Kalten Krieg typische Konfrontation der rivalisierenden Ideologien von liberaler Demokratie und Marxismus(372).[17]
In der blauen Ecke saß der in Wien(10) geborene Popper(4), Professor für Logik und wissenschaftliche Methodenlehre an der University of London(15), von dem sein englischer Schüler Bryan Magee(1) einmal sagte: »Er erinnert mich an einen Schneidbrenner.«[18] Popper verteidigte die offene Gesellschaft gegen diverse Spielarten des Totalitarismus, er war ein Meister der Wissenschaftsmethodologie, bissiger Kritiker der von ihm sogenannten Pseudowissenschaften, wie beispielsweise der Psychoanalyse; und er(5) war fest davon überzeugt, dass das dialektische Denken, auf das sich die Mitglieder der Frankfurter Schule spezialisiert hatten, nicht nur falsch, sondern gefährlich war.
In der roten Ecke: Adorno(522), ein Mann, den selbst der eingeschworene, wohlwollende Anhänger Martin Jay(8) als überragend fähig bezeichnete, »vernichtende Kritik« zu äußern.[19] Adorno(523) bezweifelte, dass sich die liberale, angeblich offene Gesellschaft, die Popper(6) in Abgrenzung vom Totalitarismus pries, so wesentlich von letzterem unterschied. Er war wie andere Theoretiker der Frankfurter Schule von der freud(90)schen Psychoanalyse beeindruckt. Am wichtigsten war beim Aufeinandertreffen der beiden Männer Adornos Skepsis hinsichtlich der Behauptung, wissenschaftliche Methoden seien ein objektives Mittel zur Wahrheitsfindung. »Die Idee wissenschaftlicher Wahrheit kann nicht von der Idee einer wahren Gesellschaft abgespalten werden«, schrieb Adorno(524).[20] Infolgedessen gilt: Wenn wir nicht in letzterer leben, entzieht sich erstere unserem Zugriff. Diese Vorstellung wissenschaftlicher Wahrheit sollte Auswirkungen haben – nicht nur auf die Naturwissenschaften, sondern auch auf das Thema des Symposiums: die Frage nach der Vorgehensweise der Soziologie.
Für die Denker der Frankfurter Schule waren die Wissenschaften, sowohl die Natur- als auch die Sozialwissenschaften, zu Werkzeugen geworden, die von den kapitalistischen Unterdrückern dafür verwendet wurden zu verhindern, dass sich eine wahre Gesellschaft bildete. Auch die Philosophie wurde, indem sie den kritischen Blick auf die gesellschaftliche Realität aufgab, zu einem Werkzeug der Unterdrückung statt der Befreiung. Diese Perspektive wird am prägnantesten in einem Kapitel von Der eindimensionale Mensch dargestellt, in welchem Marcuse(232) mit Nachdruck das kritisiert, was er als »eindimensionale Philosophie« bezeichnet.[21] Formale Logik, die linguistische Wende des Wiener Zirkels logischer Positivisten und die von Philosophen wie Wittgenstein(8) und J. L. Austin(1) unternommene Analyse der Alltagssprache seien alle darauf angelegt, so Marcuse, »mentale Operationen mit denen der gesellschaftlichen Realität zu koordinieren«, und seien somit »wesenhaft ideologisch«. Formale Logik ist also weniger eine Methode, unsere Gedanken zu ordnen, damit wir nicht philosophischen Irrtümern oder Illusionen anheimfallen, sondern vielmehr ein Herrschaftsinstrument. »Die Idee formaler Logik selbst ist ein historisches Ereignis in der Entwicklung der geistigen und materiellen Instrumente für universelle Kontrolle und Berechenbarkeit«, konstatiert Marcuse. Seine Auffassung von formaler Logik traf sich hier mit Adornos(525) Kritik am Identitätsdenken, das er in der Negativen Dialektik entwickelt. Positivismus war für die Frankfurter Intellektuellen bestenfalls quietistisch: So wie sie in Wien(11), Oxford(8), Cambridge(4) und an einigen amerikanischen Colleges betrieben wurde, war Philosophie zu einem fesselnden Spiel geworden, das Philosophen davon abhielt, rationale Kritik an einer irrationalen Gesellschaft zu üben. Auch die Naturwissenschaften fielen unter dieses Veto: Die naturwissenschaftliche Methode war sogar das hervorragendste Mittel, sowohl die Natur als auch die Menschen zu beherrschen.
Ein neuer Gedanke war das nicht; es war vielmehr eine fundamentale Verpflichtung der Frankfurter Theoretiker zu kritischem Denken, die zuerst von Max Horkheimer(284) in seinem Aufsatz aus dem Jahr 1937 »Traditionelle und Kritische Theorie« und dann in Vorlesungen an der Columbia University 1944 entwickelt wurde, sie gab die Grundlage für sein 1947 erschienenes Buch Zur Kritik der instrumentellen Vernunft ab und bildete bis 1961 eine unerschütterliche Basis der Frankfurter Schule. Horkheimer beschreibt in seinem(285) Buch kritisch, wie Vernunft in Irrationalität zusammenbricht, wenn instrumentelle Interessen zu stark betont werden. Vertreter der instrumentellen Vernunft beschäftigten sich mit den Mitteln, die zur Erlangung eines Ziels nötig waren, ohne über die Ziele als solche nachzudenken. Horkheimer(286) unterschied zwischen subjektiver und objektiver Vernunft beziehungsweise zwischen Verstand und Vernunft: Verstand befasst sich mit Mitteln, Vernunft mit Zielen.
Warum aber wird Verstand als subjektiv bezeichnet? Weil, so Horkheimers(287) Gedanke, es dem Verstand um die Selbsterhaltung des Subjekts gehe, wohingegen die objektive Vernunft Wahrheit und Bedeutung in Ausdrücken einer umfassenden Totalität zu verankern suche. Horkheimer(288) schrieb einmal: »Sozialphilosophie hat es mit der Sehnsucht nach einer neuen Interpretation eines Lebens zu tun, das in der Falle seines individuellen Glücksstrebens gefangen ist.«[22] Die Aufgabe, vor die sich die Gelehrten der Frankfurter Schule gestellt sahen, bestand darin, die unterdrückte, leidende Menschheit aus dieser Falle zu befreien, aus einer Denkungsart, die die Individuen im Streben nach Glück gefangen hielt und sie daran hinderte zu hinterfragen, warum sie dieses Ziel anstrebten. Weil die Irrationalität dieser Ziele nicht kritisch reflektiert wurde, wurde das Projekt der Aufklärung Horkheimer(289) zufolge selbstzerstörerisch. Die Aufklärung sollte die Menschen mithilfe der Vernunft dabei unterstützen, sich von Mythos und Aberglaube zu befreien, stattdessen aber ersetzte sie eine Form des Mythos durch eine andere.
Im selben Jahr, als Zur Kritik der instrumentellen Vernunft erschien, schreiben Horkheimer(290) und Adorno(526) zu Beginn der Dialektik der Aufklärung: »Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.«[23] Was aber haben diese Gedanken über das Wesen der Aufklärung mit wissenschaftlicher Methode und formaler Logik zu tun? Für Horkheimer(291) fielen sämtliche nicht kalkulier- und formalisierbaren Teile der Natur aus dem wissenschaftlichen Weltbild der Aufklärung heraus. Faktisch schuf die Aufklärung eine Welt, die in ihr wissenschaftliches Weltbild passte. Aber diese konstruierte Welt ist eine Verfälschung. Der erbarmungslose Trieb der instrumentalen Vernunft – wozu naturwissenschaftliche Methodik, Mathematik und formale Logik gehören – hat zur Folge, dass dieses verzerrte Bild als einzig wahres Bild der Welt wahrgenommen wird. Wir haben ein falsches Gefühl der Verbundenheit mit einer Welt, die uns nur begrenzt sehen lässt, wie die Welt sein kann. Mit anderen Worten: Gewisse Dinge wissen wir nur auf Kosten anderer Dinge.[24] Was aussieht wie ein Projekt mit dem Ziel, die Menschen von ihren Wahnvorstellungen zu befreien, muss eher als Austausch einer bestimmten Sorte mentaler Fesseln gegen eine andere gesehen werden. In Marcuses(233) Behandlung dieser Frage sind wir zu eindimensionalen Menschen geworden, mehr oder weniger Drohnen in fortgeschrittenen Industriegesellschaften, und nicht unzufrieden mit unserem Los.
Während Adorno(527), Horkheimer(292) und Marcuse(234) die wissenschaftliche Methode als Element eines triumphalen Unheils und als wichtigstes Mittel verstanden, mit welchem Kapitalisten ihre Beherrschung der Natur und ihre Unterdrückung der Menschheit durchsetzten, arbeitete Karl Popper(7) an seiner Verteidigung der wissenschaftlichen Methode. Er führte an, es sei möglich und notwendig, dass es Fortschritt in der Wissenschaft gebe; und dass dieser Fortschritt auch tatsächlich stattfinde.
Er(8) argumentierte, als hätte er die Dialektik der Aufklärung nie gelesen – oder, falls er es doch getan hatte, als hätte er sie der Erwähnung nicht für wert befunden. Seine erste Rede bei der Tagung in Tübingen beendete er mit einem Zitat von Xenophanes(1), in dem seine Vision von wissenschaftlichem Fortschritt prägnant zum Ausdruck kommt:
Nicht vom Beginn an enthüllten die Götter den Sterblichen alles.
Aber im Laufe der Zeit finden wir, suchend, das Bess’re.[25]
Entscheidend für Popper(9) war allerdings, die Dinge besser kennenzulernen, was er als Ausgangspunkt dieses Projekts betrachtete:
Soweit man überhaupt davon sprechen kann, daß die Wissenschaft oder die Erkenntnis irgendwo beginnt, so gilt folgendes: Die Erkenntnis beginnt nicht mit Wahrnehmungen oder Beobachtungen oder der Sammlung von Daten oder von Tatsachen, sondern sie beginnt mit Problemen. Kein Wissen ohne Probleme – aber auch kein Problem ohne Wissen. Das heißt, daß sie mit der Spannung zwischen Wissen und Nichtwissen beginnt: Kein Problem ohne Wissen – kein Problem ohne Nichtwissen(10).[26]
Poppers(11) Auffassung von Wissenschaft war für die Vertreter der orthodoxen Wissenschaft ebenso eine Herausforderung wie für die Mitglieder der Frankfurter Schule. Popper folgt in seinem Buch Logik der Forschung aus dem Jahr 1934 dem schottischen Philosophen der Aufklärung David Hume(3), der darauf hingewiesen hatte, dass es einen Widerspruch gebe in der Vorstellung, alles Wissen sei aus der Erfahrung abgeleitet, und allgemeine Aussagen – also auch Naturgesetze – seien durch den Bezug auf Erfahrung verifizierbar. Auf dieser Vorstellung baute der Empirismus wie auch der Positivismus auf. Hume hatte dagegen argumentiert, dass keine wissenschaftliche Hypothese letztlich bestätigt werden, dass also kein Naturgesetz als definitiv wahr gelten könne.[27] Wenn beispielsweise alle Schwäne, die wir bisher gesehen haben, weiß sind, dann heißt das nicht, dass der Satz »Alle Schwäne sind weiß« wahr ist. Es war dies das Problem der Induktion, allerdings, so Hume, bleibe uns nichts anderes übrig, als induktives Denken einzusetzen, auch wenn wir die Resultate nicht als Wissen ausgeben dürfen.
Popper(12) fand Humes(4) Skeptizismus im Hinblick auf die rationale Grundlage der Induktion inspirierend, weil er die vorherrschende Auffassung infrage stellte, dass nur das, was durch Vernunft und Erfahrung bewiesen werden kann, akzeptierbar sei. Diese Perspektive auf die Funktionsweise der Wissenschaft, der sogenannte Justifikationismus, der die rhetorische Grundlage für einen großen Teil der wissenschaftlichen Anstrengung ausmacht, die Welt zu verstehen (um sie, wie die Frankfurter Theoretiker argumentieren würden, besser beherrschen zu können), war das Gegenteil dessen, worum es Popper ging. Wie die Denker der Frankfurter Schule, wenn auch aus völlig anderen Beweggründen, wollte auch er die Flügel der Wissenschaft beschneiden, um ihre Ansprüche abzuschwächen. Für ihn dehnte der wissenschaftliche Fortschritt nicht so sehr die Grenzen des menschlichen Wissens aus, als dass er vielmehr das riesige Reich unseres Unwissens enthüllte. In Tübingen sagte er(13): »Ja, es ist gerade der überwältigende Fortschritt der Naturwissenschaften … der uns immer von neuem die Augen für unsere Unwissenheit öffnet, gerade auch auf dem Gebiet der Naturwissenschaften selbst.«[28]
Für Popper(14) gehörte zu jeder Prüfung einer Hypothese der Versuch, sie zu widerlegen oder zu falsifizieren, wobei mit einem einzigen Gegenbeispiel die gesamte Theorie zunichtegemacht wird. Diese wissenschaftliche Methode des Prüfens von Hypothesen war aber auf die Psychoanalyse oder den Marxismus(373) nicht anwendbar. Weil es in beiden Theorien keinen Hinweis gab, der als falsch gewertet werden konnte, seien sie, so Popper, unwiderlegbar. Sowohl die Psychoanalyse als auch der Marxismus(374) waren in Poppers(15) Augen mit der Astrologie vergleichbar: Indem sie es ablehnten, mit Gegenbeispielen zu operieren, machten sie sich unwiderlegbar und damit trivial.
So wie Popper(16) die Logik wissenschaftlicher Forschung auffasste, ist nun natürlich durchaus nicht unumstritten, und sie wurde von späteren Wissenschaftsphilosophen, vor allem dem Amerikaner Thomas Kuhn(1), infrage gestellt. Kuhn(2) verwies darauf, dass Wissenschaftler eine größere Abneigung gegen das Aufgeben geliebter Hypothesen hätten, als Popper zugestand. Statt zuzulassen, dass ein einziges Gegenbeispiel für eine Hypothese den Untergang bedeutet, haben Wissenschaftler die Tendenz, sie mit Hilfshypothesen abzustützen. Diese sogenannte »konventionalistische Strategie« ist durchaus nachvollziehbar, vor allem wenn man viel Zeit, intellektuelle Anstrengung und Geld darauf verwendet hat, eine geliebte Hypothese zu testen. Wissenschaftler sind auch nur Menschen – ein Umstand, der in der Wissenschaftsphilosophie gerne vergessen wird.
Kuhn(3) konstatiert in seinem 1962 erschienenen Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, dass zur Wissenschaft konkurrierende Paradigmen gehörten, von denen jedes aus einer Kerntheorie und Hilfshypothesen bestehe.[29] Letztere verändern sich, erstere hingegen bleibt konstant – bis zu jenem erschütternden Moment, wenn es sich als unmöglich erweist, die Kerntheorie durch modifizierende Hypothesen noch weiter aufrechtzuerhalten. Das geschieht häufig, wenn die alte Garde, die die Kerntheorie vertrat, in den Ruhestand geht oder stirbt. Kuhns Darstellung ist abgesehen von allem anderen ein erfrischendes Gegenmittel für die Perspektive der Frankfurter Schule auf die Wissenschaft als einem wirkmächtigen Werkzeug beim Raubbau an der Natur und der Herrschaft über die Menschen. Und sie macht die Wissenschaft auch weniger unverhohlen rational als in Poppers(17) Vision.
Poppers(18) Perspektive auf die Vorgehensweise der Wissenschaft ist wichtig, weil sein Treffen mit Adorno(528) im Jahr 1961 als Beginn des Positivismusstreits gilt, der bis zum Ende des Jahrzehnts bei mehreren Tagungen an deutschen Universitäten weiterschwelte. Die Bezeichnung des Streits evoziert einen Zusammenstoß zwischen den Frankfurter Theoretikern und den Verteidigern jener anmaßenden Wissenschaftsauffassung, die während der Aufklärung aufkam und die darauf zielte, die Welt dem Verstehen und der Kontrolle durch den Menschen zu unterwerfen. Die Wahrheit ist allerdings komplizierter. Faktisch führt der Begriff »Positivismusstreit« in die Irre. Obwohl Popper in den 1930er Jahren viel für den Wiener Kreis geschrieben hatte, war er doch kein Positivist, jedenfalls lehnte er die Bezeichnung ab. Otto Neurath(5) hatte Popper(19) geradezu als die offizielle Konkurrenz zur Wiener Schule bezeichnet. Poppers Logik der Forschung war nur zwei Jahre vor dem Tübinger Symposium in einer aktualisierten englischen Fassung erneut veröffentlicht worden; sie enthält einen vernichtenden Angriff auf die Grundlage des logischen Positivismus, also auf das Verifikationsprinzip, das bedeutet, eine Aussage sei nur dann sinnvoll, wenn sie definitiv und endgültig als entweder wahr oder als falsch bestimmt werden kann, das heißt, entweder verifizierbar oder falsifizierbar ist. Dieses Prinzip wirkte sich auf weite Gebiete des menschlichen Diskurses so verheerend wie ein Schneidbrenner aus: Wenn das Verifikationsprinzip Gültigkeit hatte, dann waren ethische und ästhetische Urteile sinnlos, bestenfalls ein Grunzen der Zustimmung oder Missbilligung. Und jedes Gespräch über Religion entbehrte gleichermaßen jeglichen Sinn.
Das war ganz und gar nicht Poppers(20) Auffassung. Er ging mit seinem persönlichen Schneidbrenner gegen das Prinzip vor und hielt fest, notwendig sei nicht Verifikationismus, sondern Falsifikationismus. Letzterer bedeutet, wie wir gesehen haben, dass Hypothesen als wahrscheinlich, nie jedoch als gänzlich bestätigt angesehen werden können. Popper führte an, menschliches Wissen sei nie endgültig, sondern immer nur Vermutungswissen, hypothetisch – zwar strebe es nach Gewissheit, erziele aber lediglich Wahrscheinlichkeit. Menschliches Wissen war nach Poppers(21) Auffassung mit dem britischen Empire oder dem Dritten Reich vergleichbar: Die verbohrtesten Verfechter dieses Prinzips gingen wohl davon aus, dass die Grenzen endgültig festgelegt seien und die eroberten Territorien nie wieder aufgegeben werden müssten, in Wahrheit aber handelte es sich um provisorische, für Veränderungen anfällige Gebilde.
Allerdings hinderte der Umstand, dass Popper(22) kein Positivist war, Adorno(529) und seine Anhänger während des Positivismusstreits nicht daran, Popper und Gleichgesinnte, unter anderem den deutschen Philosophen Hans Albert(1), als solche zu bezeichnen. »Daß Popper und Albert vom spezifischen logischen Positivismus sich abgrenzen«, schreibt Adorno(530) in einer Fußnote seiner Einleitung zu einem Buch über den Streit, das nach dem Abklingen der Feindseligkeiten 1969 auf Deutsch erschien, »sei vorweg wiederholt. Warum sie trotzdem als Positivisten betrachtet werden, muß aus dem Text hervorgehen.«[30] Hier wird deutlich, dass Adorno(531) Popper(23) und Albert(2) als Positivisten bezeichnete, weil sie davon absahen, das zu tun, was die Dialektiker der Frankfurter Schule taten: nämlich die Autorität der Wissenschaft zu hinterfragen.[31]
Popper(24) nannte sich selbst einen kritischen Rationalisten, was die Markierung der Kampflinien in Tübingen zu einer echten Herausforderung macht. Denn Adorno(532) sah sich als einen kritischen Theoretiker. Was aber ist der Unterschied zwischen einem kritischen Rationalisten und einem kritischen Theoretiker? Horkheimer(293) differenziert in seinem Essay »Traditionelle und Kritische Theorie« zwischen dem Savant, dem nicht bewusst ist, dass die ökonomische (also gegenwärtig kapitalistische) Struktur der Gesellschaft das wissenschaftliche Arbeiten prägt, und dem kritischen Theoretiker, der über dieses Bewusstsein verfügt. Für die Denker der Frankfurter Schule war ein selbsternannter kritischer Rationalist wie Popper(25) genauso sehr ein Savant in diesem Sinn wie die anderen Positivisten, die sich selbst explizit als Positivisten bezeichneten. Wie aber verstand Popper selbst die Bezeichnung »kritischer Rationalist«? Er stellte eine eigene Unterscheidung zwischen kritischem Rationalismus und »unkritischem oder allumfassendem Rationalismus« auf. Letzterer war faktisch eine andere Bezeichnung für Positivismus, zumindest insofern er sich auf Philosophie und Wissenschaft bezog. Unkritischer Rationalismus behauptete, Information, die aus Sinneserfahrung gewonnen und durch Vernunft und Logik interpretiert wurde, sei die einzige Quelle für sämtliches maßgebliches Wissen.
In seiner Eröffnungsrede in Tübingen stellte Popper(26) 27 Thesen vor und forderte Adorno(533) auf, sich zustimmend oder ablehnend dazu zu äußern. Er argumentierte, die Sozialwissenschaften könnten ebenso wie die Naturwissenschaften mithilfe objektiver Vorgehensweisen der Suche nach Wahrheit verpflichtet sein. In seiner elften These erklärte er jedoch, es sei gänzlich verfehlt zu glauben, dass die Objektivität einer Wissenschaft von der Objektivität des Wissenschaftlers abhänge. Popper(27) stellte damit Mannheims(9) Vorstellung vom freischwebenden Intellektuellen infrage, der sich über klassenspezifische und anders geartete Interessen erheben konnte, was ja auch – wenn auch aus anderen Gründen – die Frankfurter Gelehrten taten.
»Wir können dem Wissenschaftler nicht seine Parteilichkeit rauben, ohne ihm auch seine Menschlichkeit zu rauben. Ganz ähnlich können wir nicht seine Wertungen verbieten oder zerstören, ohne ihn als Menschen und als Wissenschaftler zu zerstören. Unsere Motive und unsere rein wissenschaftlichen Ideale, wie das Ideal der reinen Wahrheitssuche, sind zutiefst in außerwissenschaftlichen und zum Teil religiösen Wertungen verankert. Der objektive und der wertfreie Wissenschaftler ist nicht der ideale Wissenschaftler.«[32] Popper(28) war jedoch der Auffassung, dass die Wissenschaft sich über solche Werturteile und Klasseninteressen erheben könne: »Was man als wissenschaftliche Objektivität bezeichnen kann, liegt einzig und allein in der kritischen Tradition, die es trotz aller Widerstände so oft ermöglicht, ein herrschendes Dogma zu kritisieren.« Diese kritische Tradition sei »eine soziale Angelegenheit ihrer [sc. der verschiedenen Wissenschaftler] gegenseitigen Kritik, der freundlich-feindlichen Arbeitsteilung der Wissenschaftler, ihres Zusammenarbeitens und auch ihres Gegeneinanderarbeitens.«[33] Die Objektivität der Wissenschaft, ob nun Natur- oder Sozialwissenschaft, und das interesselose Streben nach Wahrheit wurden durch die Existenz einer solchen gedeihlichen kritischen Tradition garantiert.
Genau das aber stellte Adorno(534) in seiner Erwiderung zumindest für die Soziologie in Abrede. Er argumentierte, der Begründer der Soziologie im 19. Jahrhundert, der Franzose August Comte(3), sei eben derselbe gewesen, der die Disziplin des Positivismus entwickelt habe. Beide Disziplinen, so Adorno(535), entstanden zur Zeit der Ausbreitung des Kapitalismus aus dem Bedürfnis heraus, Klasseninteressen zu bedienen. Jede erweckte den Anschein, als verfolge sie einen unschuldigeren Zweck: die Unterstützung der menschlichen Aufklärung, indem die Grenzen des Wissens erweitert werden. In seiner Antwort auf Popper(29) sagte Adorno(536):
War bei Comte(4) der Entwurf der neuen Disziplin getragen von dem Willen, die produktiven Tendenzen seiner Epoche, die Entfesselung der Produktivkräfte, vor dem zerstörenden Potential zu beschützen, das damals bereits in ihnen heranreifte, so hat an dieser Ausgangssituation der Soziologie seitdem nichts sich geändert, es sei denn, daß sie zum Extrem sich zuspitzte, und das sollte die Soziologie in Evidenz halten.[34]
Adorno(537) zufolge musste die Soziologie kritisch werden, wenn sie nicht lediglich eine Hilfsfunktion bei der Aufrechterhaltung des Status quo erfüllen oder schlimmer noch dem Totalitarismus vorarbeiten wollte. »Angesichts der nackt hervortretenden Übergewalt der Verhältnisse«, fügte er hinzu, »enthüllt Comtes(5) Hoffnung, Soziologie könne die soziale Macht steuern, sich als naiv, es sei denn, sie liefere Pläne für totalitäre Machthaber.«[35]
Der Konflikt zwischen den beiden Männern reduzierte sich auf einen Unterschied in der Beurteilung, wie die fortgeschrittenen westlichen Industrienationen verfasst waren, in denen sie ihr ganzes Leben lang gelebt und gearbeitet hatten. Popper(30) räumte ein, dass die kritische Tradition, die die Voraussetzung für wissenschaftliche Objektivität bildete, in einigen Gesellschaften nicht vorhanden sei. Die Existenz dieser Tradition »hängt … zum Teil von einer ganzen Reihe von gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen ab, die diese Kritik ermöglichen«.[36] In seinen Büchern Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (1945) und Das Elend des Historismus (1957) verteidigte Popper(31) offene Gesellschaften (zu denen er liberale Demokratien wie die USA, England(11) und Westdeutschland rechnete) gegen geschlossene Gesellschaften wie diejenige, die Platon(4) in der Politeia fordert und die, so Popper, charakteristisch seien für die totalitären Regime etwa im nationalsozialistischen Deutschland(113) und in der Sowjetunion(45). Nur in offenen Gesellschaften sei der freie Gebrauch der Vernunft, also Kritik, möglich. Demzufolge können nur offene Gesellschaften zivilisiert sein, nur in ihnen ist die rationale Suche nach wissenschaftlicher Wahrheit beziehungsweise vielmehr die Falsifikation wissenschaftlicher Irrtümer möglich, denn nur in solchen Gesellschaften ist diese Bemühung durch den Wettbewerb zwischen Wissenschaftlern, durch wechselseitige Kritik und freie Diskussion objektiv garantiert.
Popper(32) war der Meinung, dies gelte für die Sozialwissenschaften ebenso wie für die Naturwissenschaften. »Die Methode der Sozialwissenschaften wie auch die der Naturwissenschaften besteht darin, Lösungsversuche für ihre Probleme – die Probleme, von denen sie ausgeht – auszuprobieren.«[37] Adorno(538) erwiderte darauf, dies stelle eine naive Verallgemeinerung der wissenschaftlichen Methode dar. Er zitierte, was Marx(375) in seinem Beitrag zur Kritik der Volkswirtschaftslehre geäußert hatte: »Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein bestimmt, sondern ihre soziale Existenz, die ihr Bewußtsein bestimmt.« Adorno(539) hielt dies für eine wichtige Einsicht im Hinblick auf die Wissenschaft und die Sozialwissenschaften: Was aussieht wie neutrale Forschung, ist alles andere als das. Für die Soziologie bedeutete das, dass das gesellschaftliche Sein des Wissenschaftlers, vor allem des Sozialwissenschaftlers, seine Denkweise, die Wahl des Gegenstands und die Untersuchungsmethode beeinflusste. Adorno(540) war zutiefst skeptisch gegenüber Poppers(33) Vorstellung, dieses gesellschaftliche Sein könne im Namen wissenschaftlicher Objektivität durch gegenseitige Kritik und offene Diskussion überwunden werden. Begutachtung war für Adorno(541) kein Allheilmittel, vor allem nicht innerhalb einer Disziplin, die im Dienst der bestehenden, repressiven Gesellschaft stand.
Und eben das bescheinigte Adorno(542) der Soziologie. Ob es sich bei der Art von Rationalität, auf die Popper(34) sich hier bezog, um Vernunft oder um Verstand handelte, wird nicht klar, allerdings war Adorno(543) mit Sicherheit der Auffassung, dass die Soziologie sich ganz in letzterem aufgelöst hätte – dass sie nie die Frage stellte, welchem Ziel ihr Forschen untergeordnet war. Er fürchtete, dass die Soziologie »eine kritische Theorie der Gesellschaft« aufgegeben habe, also »resignativ« werde. So sah der nicht angesprochene, zentrale Unterschied zwischen Popper und Adorno(544) aus: Adorno(545) war überzeugt, dass fortgeschrittene westliche Industrienationen mit »Bedingungen der Unfreiheit« einhergingen; Popper dachte, dass in diesen offenen Gesellschaften die Freiheit für die Entfaltung eines wissenschaftlich objektiven Strebens nach Wahrheit durchaus gegeben war.
Am Ende der ersten Runde im Positivismusstreit blieb bei vielen der Eindruck von zwei Boxern zurück, zwischen denen es nicht zu einem Kontakt im engeren Sinn gekommen war. Ralf Dahrendorf(2), damals Professor für Soziologie in Tübingen und Berichterstatter beim Symposium, bezweifelte, »ob Popper(35) und Adorno(546) sich auch nur auf eine Prozedur zu einigen vermöchten, mit deren Hilfe sich ihre Unterschiede entscheiden ließen«.[38] Das Symposium war die Eröffnung einer Auseinandersetzung, in welcher Adorno(547) und Popper(36) dann durch ihre angriffslustigeren Jünger ersetzt wurden. 1963 beschuldigt Jürgen Habermas(43) in einer Festschrift für Adorno(548) Popper(37) wegen seiner Wesensbestimmung wissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Forschung, gerade auch in einer Phase zunehmender sozialer Unruhen, der politischen und intellektuellen Naivität. Habermas unterstreicht, dass die Frankfurter Denker in ihrer »dialektischen« Kritik im Verhältnis zu dem überlegen seien, was er unter Poppers kritischem Rationalismus verstand. Das veranlasste Poppers(38) Anhänger, die Jünger Adornos als Irrationalisten und Totalitaristen zu dämonisieren.[39] So verurteilte beispielsweise Hans Albert(3) die Vertreter der Frankfurter Schule dafür, dass sie sich Überlegenheit über den popperschen kritischen Rationalismus anmaßten: »Der dialektische Kult der totalen Vernunft ist zu anspruchsvoll, um sich mit ›partikularen‹ Lösungen zu begnügen. Da es keine Lösungen gibt, die seinen Ansprüchen genügen, ist er genötigt, sich mit Andeutungen, Hinweisen und Metaphern zufriedenzugeben.«[40]
Klug wartete Adorno(549) ab, bis es so weit war, dass er das Buch, das diese Schmähreden enthält, herausgab; dann erst gab er sein Urteil über Alberts(4) Ausbruch ab. Er merkte an, die dialektische Theorie »betreibt gar keinen Kult der totalen Vernunft; sie kritisiert jene. Hochmut gegen partikulare Lösungen ist ihr fremd, nur läßt sie von ihnen nicht das Maul sich stopfen.«[41] Nachdem der Streit jedoch vorüber war, hatte offenbar keine der beiden beteiligten Parteien sehr viel von der jeweils anderen gelernt. Sicherlich fühlten die Mitglieder der Frankfurter Schule sich nie gedrängt, Poppers(39) Vision der Wissenschaft als einer Art von Marktplatz zu übernehmen, wo dank intellektuellen Wettstreits und gegenseitiger Kritik die schlechtesten Hypothesen falsifiziert werden. Stattdessen sähen die Frankfurter Gelehrten sich, so Adornos Formulierung, auf dem richtigen Weg. »Dialektik verhält sich in diesem Streit intransigent, weil sie dort weiterzudenken glaubt, wo ihre Widersacher innehalten, vor der unbefragten Autorität des Wissenschaftsbetriebs.«[42]
Am 5. April 1969 schrieb Marcuse(235) aus seinem Büro der University of California in San Diego(2) an Adorno(550) in Frankfurt(71). »Lieber Teddy: Es fällt mir wahrhaftig schwer, diesen Brief zu schreiben, aber es muß sein und ist immer noch besser als Divergenzen zwischen uns zu vertuschen.«[43] Gegenstand der Differenzen waren die Studentenproteste, die damals Europa(34) und Amerika(66) in Unruhe versetzten. Marcuse regte sich vor allem darüber auf, dass Adorno(551) im Januar jenes Jahres die Polizei gerufen hatte, um eine Gruppe protestierender Studenten zwangsweise aus dem Gebäude des Instituts für Sozialforschung entfernen zu lassen. Marcuse(236) schrieb seinem alten Freund und brachte seine Enttäuschung darüber zum Ausdruck, dass dieser sich im Kampf für die falsche Seite entschieden hatte: »Ich glaube immer noch, daß unsere Sache (die ja nicht nur unsere ist) eher bei den rebellierenden Studenten aufgehoben ist als bei der Polizei, und hier in Kalifornien(15) wird mir das beinahe jeden Tag vordemonstriert (und nicht nur in Kalifornien).«
Es war das letzte Schreiben in einem Briefwechsel zwischen den beiden Männern, der erst im August jenes Jahres mit Adornos(552) Tod sein Ende fand. Diese bemerkenswerte Korrespondenz zeigt die sehr unterschiedlichen Reaktionen der beiden Männer auf das, was beide als versuchten Vatermord der Studenten diagnostizierten. »Wir können die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß diese Studenten von uns (und sicher nicht am wenigsten von Dir) beeinflußt sind – ich bin darüber sehr froh und bin gewillt, mich mit dem Vatermord abzufinden, obwohl es manchmal weh tut.« Die führenden Köpfe der Frankfurter Schule hatten gegen ihre Väter rebelliert, und nun forderten ihre Studenten ebenfalls die Autorität ihrer – symbolischen – Väter heraus.
Die Studentenbewegung richtete sich gegen den imperialistischen amerikanischen Krieg in Vietnam(2), gegen die Aufrüstung im Kalten Krieg und gegen die Drohung eines atomaren Weltuntergangs. Gleichzeitig unterstützten die Studenten Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt und veranstalteten Sit-ins, auf denen sie eine demokratische Neustrukturierung des Bildungswesens forderten. Wie die Vertreter der Kritischen Theorie auf die Proteste reagieren sollten, war eine vertrackte Frage. Habermas(44) meinte, es könnte »eine Strategie der Überwinterung« ratsam sein – den Kopf unten behalten, während alle anderen offenbar den ihren verloren. Marcuse(237) hingegen war überzeugt, dass die Sache der Kritischen Theorie eigentlich genau die Sache der Protestierenden sei. Wenn er recht hatte, dann hätten die Frankfurter Gelehrten eigentlich das Grand Hotel Abgrund verlassen und sich den Studenten auf den Barrikaden anschließen müssen. Adorno(553) hatte nur Spott und Hohn für diesen Vorschlag übrig. Mit der für ihn typischen Scharfzüngigkeit bemerkt er in seinem Essay »Marginalien zu Theorie und Praxis«: »Gegen die, welche die Bombe verwalten, sind Barrikaden lächerlich; darum spielt man Barrikaden, und die Gebieter lassen temporär die Spielenden gewähren.«[44]
Zu Beginn der Proteste hatte Adorno(554) jedoch durchaus noch Solidarität mit den protestierenden Studierenden gezeigt. In einem seiner Soziologieseminare im Jahr 1967 ging er so weit zu sagen, die Studenten hätten »ein wenig die Rolle der Juden übernommen«. Eine Vorlesung im Juni desselben Jahres leitete er ein mit der Aufforderung an die Studenten, sich zu erheben »zum Gedächtnis unseres toten Berliner(72) Kommilitonen Benno Ohnesorg(1)«. Ohnesorg war von einem Polizeiobermeister erschossen worden, und zwar während einer von Studenten durchgeführten Demonstration gegen die Sicherheitsmaßnahmen in Berlin(73), die man aus Anlass des Staatsbesuchs des Schahs von Persien ergriffen hatte – einem Diktator, der Gegner foltern ließ und die Meinungsfreiheit unterband.[45]
Adorno(555) stand auch der Forderung der Studenten nach einer Verbesserung überholter autoritärer Universitätsstrukturen aufgeschlossen gegenüber. Natürlich waren die Studenten über die undemokratische Macht aufgebracht, die ihre Professoren über sie ausübten. Bei einer Protestaktion wurde beispielsweise eine Rektoratsfeier der Universität Hamburg(4) durch zwei Studenten gestört, die ein Transparent mit dem Slogan vor sich hertrugen: »Unter den Talaren Muff von tausend Jahren.« Weniger Verständnis brachte Adorno(556) für Vorlesungsunterbrechungen und den Zwang zur Selbstkritik auf, der den Universitätsangehörigen auferlegt wurde. Er erklärte seinen Studenten in einer Vorlesung über Ästhetik, dass es gewisse Regeln geben müsse, und dass formalisierte Verhaltensregeln von einem Menschen nicht als komplett negativ beurteilt werden könnten, der weiß, »was es bedeutet, wenn morgens um sechs die Schelle geht und man nicht weiß, ob es die Gestapo oder der Bäcker ist«. Die Mitwirkenden an der Kritische Theorie vertraten zwar schon seit langem die Auffassung, dass es Parallelen zwischen dem Faschismus und der total verwalteten fortgeschrittenen Industriegesellschaft gebe, doch diesen Augenblick nutzte Adorno(557), um für die Bundesrepublik(114) gegen jene Partei zu ergreifen, die sie einen faschistischen Staat nannten. Er warnte seine Studenten davor, den Fehler zu begehen, »gegen die wie immer auch verbesserungswürdige Demokratie eher anzugehen als gegen den sich schon sehr mächtig regenden Gegner«.[46]
Doch waren die protestierenden Studenten durchaus nicht die einzigen, die das Schreckgespenst des Faschismus heraufbeschworen. Habermas(45), den Adorno(558) 1964 nach Frankfurt(72) auf den Posten des emeritierten Max Horkheimer(294) als Professor für Philosophie und Soziologie zurückgeworben hatte, tat im Juni 1967 dasselbe, als er sich an einer Diskussionsveranstaltung in Hannover mit den Führern der Studentenbewegung, Rudi Dutschke(3) und Hans-Jürgen Krahl,(1) beteiligte, bei der es um das Thema »Universität und Demokratie: Bedingungen und Organisation von Widerstand« ging. Habermas nahm zum Programm der radikalen Studenten positiv Stellung, nicht aber zu den von ihnen gewählten Mitteln. Er griff Dutschke(4) für dessen Haltung an, die Revolution »mit allen notwendigen Mitteln« voranzutreiben: »Meiner Meinung nach hat er eine voluntaristische Ideologie entwickelt, die man im Jahr 1848 utopischen Sozialismus genannt hat und die man unter den heutigen Umständen … ›linken Faschismus’ nennen muß.«[47]
Adorno(559) distanzierte sich nicht von dem, was Habermas(46) gesagt hatte, und das hatte – trotz all seiner Meetings mit Studenten, in denen er mit ihnen über Bildungsreformen diskutierte, und seines in Interviews immer wieder angedeuteten Verständnisses für die Anliegen der Studenten – teilweise zur Folge, dass er eines der prominentesten Angriffsziele des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) wurde. Als er in jenem Jahr an der Freien Universität Berlin(74) einen Vortrag über Goethes(11) Iphigenie auf Tauris hielt, entfalteten zwei Studenten ein Transparent: »Berlins(75) linke Faschisten grüßen Teddy, den Klassizisten«. Sie wollten ihn nötigen, sich unterstützend zu dem Studenten und selbsternannten Spaßguerrilla Fritz Teufel(1) zu äußern. Teufel war inhaftiert und befand sich im Hungerstreik; ihm stand – wegen seiner Rolle bei der Demonstration, die zum Tod von Benno Ohnesorg(2) geführt hatte – eine Anklage wegen Verrat bevor.[48] Teufel war in Deutschland(115) aufgrund seiner Beteiligung am sogenannten »Puddingattentat« auf den amerikanischen Vizepräsidenten Hubert Humphrey(1) zu einer Berühmtheit geworden. Er und andere Protestierende hatten geplant, während des Staatsbesuchs mit Pudding und Joghurt gefüllte Tüten zu werfen. Adorno(560) weigerte sich jedoch und fuhr mit seiner Vorlesung fort, an deren Ende eine Frau versuchte, ihm einen roten Teddybären zu überreichen. Adorno(561) gab vor, von diesem »missbräuchlichen Verhalten« nicht weiter erschüttert zu sein. Allerdings nahm sein Ärger über die Studenten zu; an Marcuse(238) schrieb er, viele würden versuchen, »ihre Art Praxis mit einer nicht vorhandenen Theorie zu synthetisieren«.[49] Nicht zum ersten Mal sah er faschistische Tendenzen hinter der Flower-Power-Studenten-Bewegung am Werk.
Im Jahr danach, 1968, ausgehend von den Mairevolten in Paris(45), eskalierte der Protest im Westen flächendeckend. In Frankfurt(73) wurden von Studenten Streiks organisiert, die hofften, die Arbeiter würden sich davon inspirieren lassen. In diesem Kontext nahm Adorno(562) zusammen mit Habermas(47) und dem späteren Nobelpreisträger Günter Grass(2) an einer Diskussionsveranstaltung auf der Frankfurter Buchmesse teil, zu der auch Hans-Jürgen Krahl(2), einer der von Adorno(563) geförderten Studenten, gehörte. Man sprach über das Thema »Autorität und Revolution«. Als Krahl gegen seinen Mentor Stellung bezog, begann das Gespräch sich in eine ödipale Richtung zu entwickeln: »Als wir vor einem halben Jahr die Sitzung des Hochschulrats Frankfurter Universität belagerten, kam als einziger Professor Herr Adorno(564) zu den Studenten, zum Sit-in«, so Krahls(3) Erinnerung. »Er wurde mit Ovationen überschüttet, lief schnurstracks auf das Mikrophon zu und bog kurz vor dem Mikrophon ins Philosophische Seminar ab; also kurz vor der Praxis wiederum in die Theorie.« Adorno(565) erwiderte: »Ich weiß nicht, ob ältere Herren mit einem Embonpoint die richtigen Personen sind, in einer Demonstration mitzumarschieren.«[50] In einem Brief an Günter Grass(3) schrieb er später: »Ich habe mit dem bornierten Praktizismus der Kinder, der bereits in abscheulichen Irrationalismus übergeht, nichts zu tun. In Wahrheit habe nicht ich meine Position geändert, sondern jene die ihre.«[51]
Aber es sollte noch schlimmer kommen. Adornos(566) Soziologieseminar wurde von streikenden Studenten besetzt, die eine Reform der Lehrveranstaltung verlangten: »Die kritische Theorie ist so autoritär organisiert, dass ihr soziologischer Wissenschaftsbetrieb den Studenten keine Chance zur Selbstorganisation des Studiums einräumt«, behauptete man in einem von den besetzenden Studenten verteilten Flugblatt. »Wir haben es satt, uns in Frankfurt(74) zu halbseidenen politischen Linken ausbilden zu lassen, die nach dem Studium das integrierte Alibi des autoritären Staates abgeben.«[52] Das kam für einen kritischen Theoretiker wie Adorno(567) einer schallenden Ohrfeige gleich. Immerhin hatte Walter Benjamin(449) vor dem Ersten Weltkrieg als Studentenführer gegen eine Universitätsausbildung rebelliert, die lediglich obrigkeitshörige Staatsfunktionäre produzierte. »Wir müssen aufwachen aus der Existenz unserer Väter«, so Benjamin später im Passagen-Werk. Und genau das war es, was in gewisser Weise Krahl(4) und seine protestierenden Kommilitonen vom SDS taten: Sie erwachten aus der väterlichen Autorität Adornos und forderten, dass Bildung mehr sein müsse als das, was das Institut für Sozialforschung anbot. In dieser belastenden Situation schrieb Adorno(568) an Marcuse(239) und lud ihn nach Frankfurt ein, in der Hoffnung, dass seine Gegenwart, des Lieblings der Studentenbewegung und Vaters der Neuen Linken, eine besänftigende Wirkung auf die angeblichen Kinder der Revolution ausüben würde.
Marcuse(240) jedoch hatte Bedenken, Adorno(569) zu unterstützen, nachdem er gehört hatte, was im Institut im Januar 1969 geschehen war. Damals hatte eine von Krahl(5) angeführte Gruppe von SDS-Studenten einen Raum besetzt und sich den Aufforderungen von Adorno(570) und Habermas(48) widersetzt, den Raum zu verlassen. »Wir mußten die Polizei rufen, die dann alle verhaftete, die sich in dem Raum befanden«, wandte sich Adorno(571) an Marcuse(241). Die Studenten waren über Adornos Verrat außer sich vor Empörung. »Adorno(572) als Institution ist tot«, erklärte ein Flugblatt, das im April von einer Gruppe radikaler Soziologiestudenten verteilt wurde. Und auch Marcuse war überzeugt, dass sein Freund einen Fehler gemacht hatte. Er schrieb an Adorno(573): »Besetzung von Räumen (außerhalb meiner Wohnung) ohne solche Gewaltdrohung ist für mich noch kein Grund, die Polizei zu rufen. Ich hätte sie dort sitzen lassen und es jemand anderem überlassen, die Polizei einzuladen.« Marcuse ging noch weiter: Er war auch bezüglich der Analyse seiner früheren Frankfurter Kollegen anderer Meinung, was die Vorgehensweise der Studenten betraf, und er(242) hatte eine andere Auffassung vom Verhältnis zwischen Theorie und Praxis als Adorno(574). Er brachte das folgendermaßen auf den Punkt:
Du kennst mich gut genug, um zu wissen, daß ich eine unmittelbare Umsetzung der Theorie in Praxis genau so emphatisch verwerfe wie Du es tust. Aber ich glaube, daß es Situationen, Momente gibt, in denen die Theorie von der Praxis weitergetrieben wird – Situationen und Momente, in denen die sich von der Praxis fernhaltende Theorie sich selbst untreu wird … Aber dieselbe Situation ist so grauenhaft, so erstickend und erniedrigend, daß die Rebellion gegen sie zu einer biologischen, physiologischen Reaktion zwingt: man kann es nicht mehr ertragen, man erstickt und muß sich Luft schaffen … Und ich würde an mir (an uns) verzweifeln, wenn ich (wir) auf der Seite einer Welt erscheinen würden, die den Massenmord in Vietnam(3) unterstützt oder zu ihm schweigt und die alle Bereiche außer dem Bereich ihrer eigenen unterdrückenden Macht zur Hölle verwandelt(243).[53]
Unter diesen Umständen beschloss Marcuse(244), nicht nach Frankfurt(75) zu gehen, um Adorno(575) aus der Klemme zu helfen und den Konflikt zwischen ihm und seinen Studenten zu entschärfen.
Adorno(576) schrieb verärgert zurück und sagte, er bedaure nicht im Geringsten, die Polizei gerufen zu haben. Er warf dem SDS sowohl Stalinismus (wegen der Unterbrechung seiner Vorlesungen und der Forderung, Selbstkritik zu üben) als auch Faschismus vor (wegen ihrer gewaltsamen Methoden und ihrer Angewohnheit, unliebsame Kritiker zum Schweigen zu bringen). Angesichts ihrer empörenden Vorgehensweisen und ihrer infantilen politischen Vorstellungen, die sein alter, verblendeter Freund zu teilen schien, warf Adorno(577) Marcuse(245) vor, sich auf die Seite der Studenten zu stellen. Er notierte: »Wir, Du nicht anders als ich, haben seinerzeit eine noch viel schauerlichere Situation, die der Ermordung der Juden, ertragen, ohne daß wir zur Praxis übergegangen wären; einfach deshalb, weil sie uns versperrt war. Ich halte es für eine Sache der Selbstbesinnung, daß man sich über das Moment der Kälte in einem selbst klar ist.« Marcuse hatte sich über den von Habermas(49) auf die Studenten gemünzten Begriff »linker Faschismus« beschwert. »Aber Du bist doch ein Dialektiker«, fauchte Adorno(578) in seiner Antwort zurück. »Als ob es solche contradictiones [in adiecto] nicht gäbe – als ob nicht eine Bewegung, kraft ihrer immanenten Antinomik, in ihr Gegenteil umschlagen könnte. Kein Zweifel scheint mir daran, daß die Studentenbewegung in ihrer hiesigen Gestalt, und zwar recht unmittelbar, auf eben die Technokratisierung der Universität hinausläuft, die sie angeblich verhindern will.«
Wenn auch Adorno(579) sich selbst im Vergleich mit Marcuse(246) für den besseren Dialektiker hielt, der fähig war zu sehen, wie die Methoden der Spaßguerilla, von Flower Power und der erotischen Befreiung in eine eigene Form von Unterdrückung umschlagen konnten, dann war es ihm nicht vergönnt zu genießen, dass er sich als der Klügere herausstellte. Am 22. April musste er eine schlimme Erniedrigung hinnehmen. Er begann seine Vorlesungsserie »Einführung in das dialektische Denken«, indem er die Studenten einlud, ihm Fragen zu jedem beliebigen Thema zu stellen. Zwei Studenten verlangten, er solle dafür, dass er, um das Institut räumen zu lassen, die Polizei gerufen und rechtliche Schritte gegen Krahl(6) unternommen hatte, einen Akt der Selbstkritik vollziehen. Währenddessen schrieb ein Student an die Tafel: »Wer nur den lieben Adorno(580) läßt walten, der wird den Kapitalismus ein Leben lang behalten.« Andere schrien: »Weg mit dem Denunzianten!« Adorno(581) sagte, er wolle allen Anwesenden fünf Minuten geben, in denen sie entscheiden konnten, ob er mit der Vorlesung fortfahren solle. Daraufhin umringten ihn drei Studentinnen auf dem Podium, entblößten ihre Brüste und bewarfen ihn mit Blütenblättern. Adorno(582) griff daraufhin nach seinem Hut und Mantel, verließ fluchtartig den Hörsaal und brach die Vorlesungsreihe ab.[54] Die Dialektik war zu einem Stillstand gekommen, wenn auch nicht ganz auf die ersprießliche Weise, die Benjamin(450) sich in seinem Passagen-Werk ausgemalt hatte.
Ein Bericht in der Frankfurter Rundschau unter der Schlagzeile »Adorno(583) als Institution ist tot: Wie der Bewusstseinsveränderer aus dem Hörsaal vertrieben wurde« verglich das, was als »Busenattentat« bezeichnet werden sollte, mit dem Faschismus: »Die rüpelhafte Behandlung von Adorno(584) ist alles andere als ein Vorzeichen der Entstehung eines neuen, post-bourgeoisen Stils … Sie verweist auf einen vorbürgerlichen, ja vorzivilisatorischen Rückfall in die Barbarei.« Adorno(585) konnte seinerseits gar nicht fassen, dass er angegriffen worden war: »Gerade bei mir, der sich stets gegen jede Art erotischer Repression und gegen Sexualtabus gewandt hat! … Der Heiterkeitseffekt, den man damit erzielt, war ja doch im Grunde die Reaktion des Spießbürgers, der Hihi! kichert, wenn er Mädchen mit nackten Brüsten sieht.«[55] Der Zwischenfall stürzte Adorno(586) in eine »extreme Depression«, so seine Formulierung gegenüber Marcuse(247), der für eine Vortragsreise über den Atlantik gekommen war und hoffte, Adorno(587) und Habermas(50) im Sommer treffen zu können.
Während Adorno(588) erniedrigt wurde, wurde Marcuse(248) bei seiner Rückkehr nach Europa(35) gefeiert. Das Magazin Konkret beschrieb ihn als »den einzigen Vertreter der ›Frankfurter Schule‹, der diejenigen unterstützt, die die Forderungen der Kritischen Theorie umsetzen wollen: die Studenten, jungen Arbeiter, verfolgten Minderheiten in den Großstädten und die Unterdrückten der Dritten Welt.« Wenige Wochen später wurde jedoch das marcusesche Love-In von Daniel Cohn-Bendit(2), einem der Anführer der Pariser(46) Studentenaufstände im Mai ’68, jäh unterbrochen. »Marcuse(249), warum kommst du in die Theater der Bourgeoisie?«, rief Cohn-Bendit, als Marcuse versuchte, im Teatro Eliseo in Rom einen Vortrag zu halten. »Herbert, sag uns, warum die CIA dich bezahlt.«[56] Der rote Danny reagierte damit auf Berichte in einer linksgerichteten Berliner(76) Tageszeitung, in denen behauptet wurde, dass Marcuse – noch lange nachdem er ostentativ die Arbeit für den amerikanischen Secret Service 1951 niedergelegt hatte – für die CIA gearbeitet habe. War es tatsächlich möglich, dass der radikal schicke, gnadenlose Kritiker des amerikanischen Imperialismus in Wahrheit sein Lakai war? War der Mann, der eine Theorie der eindimensionalen Gesellschaft entwickelt hatte, faktisch einer von denen, die für ihr Fortbestehen verantwortlich waren? Das ist doch wohl unwahrscheinlich. Marcuse(250) fand die römische Erfahrung allerdings eindeutig ungemütlich, wenn auch nicht so erniedrigend wie das »Busenattentat« auf Adorno(589): Zeitungsberichten zufolge verließ er den Vortragsraum, obwohl er im Briefwechsel mit Adorno(590) Wert auf die Feststellung legte, dass die Veranstaltung nicht mit studentischem Protest zu Ende gegangen war.
Marcuse(251) war zwar aufgebracht über Adornos(591) rüde Behandlung in Frankfurt(76) und betroffen von der Hänselei durch den roten Danny in Rom, doch seine Haltung zu den protestierenden Studenten revidierte er deswegen nicht. Zwar waren sie nicht das revolutionäre Subjekt, auf das er(252) auf der Suche nach einem Ersatz für die enttäuschenden Arbeiterklassen seine Hoffnung gesetzt hatte, doch immerhin waren sie fähig zu »einem Protest gegen den Kapitalismus«. Aus Cabris in der Provence schrieb er Ende Juli an Adorno(592):
Ich habe natürlich nie den Unsinn behauptet, daß die Studentenbewegung selbst eine revolutionäre ist. Aber sie ist heute der stärkste, vielleicht der einzige Catalysator für den inneren Verfall des Herrschaftssystems. Als solcher Catalysator hat die Studentenbewegung in den Vereinigten Staaten(67) in der Tat schon eingreifend gewirkt: in der Entwicklung des politischen Bewußtseins, in der Aktivierung der Ghettos, in der radikalen Entfremdung bisher integrierter Schichten von dem System und, besonders wichtig, in der Mobilisierung weiter Kreise der Öffentlichkeit gegen den amerikanischen Imperialismus.[57]
Marcuse(253) war der Meinung, die Frankfurter Gelehrten müssten den Studenten helfen, statt ihre Verhaftung zu veranlassen. »Ich habe öffentlich genug die Parole der Destruktion der Universität als selbstmörderische Aktion bekämpft. Ich glaube, daß gerade in dieser Situation es unsere Aufgabe ist, der Bewegung zu helfen, sowohl theoretisch als auch in der Verteidigung gegen Repression und Denunziation.«[58]
Wenn sich das Institut der Studentenbewegung in den Weg stellte, dann würde es sein Erbe verraten, so die Argumentation Marcuses(254). Er war bereits besorgt wegen des Umstands, dass seine radikale Glaubwürdigkeit durch seine offenkundige Unterstützung der amerikanischen Außenpolitik Schaden genommen hatte. Besonders wütend war Marcuse über die Verteidigung der Rolle Amerikas(68) in Vietnam(4) durch Horkheimer(295), der 1964 als Institutsleiter in den Ruhestand getreten war. Friedrich Pollock(35) zufolge sah Horkheimer(296) im Vietnamkrieg einen »berechtigten Versuch, dem Vordringen der Chinesen(1) in Asien(2) Einhalt zu tun«, und er war der Meinung, dass ein Rückzug der USA ein Blutbad zur Folge haben würde, »das auch den Weg der Chinesen(2) zum Rhein wesentlich beschleunigen würde«.[59] Nach Marcuses Meinung bekämpfte die Studentenbewegung den US-amerikanischen Imperialismus und verdiente die Unterstützung durch die Frankfurter Schule. Er schrieb an Adorno(593):
Die große, ja in der Tat, geschichtliche Arbeit des Instituts verlangt, ihrer eigenen Dynamik nach, eine klare Stellungnahme gegen den amerikanischen Imperialismus und für den Befreiungskampf in Vietnam(5), und es geht eben nicht, von den »Chinesen(3) am Rhein« zu sprechen, solange der Kapitalismus die Priorität der Ausbeutung hat. Schon 1965 hörte ich in Deutschland(116) von der Identifizierung des Instituts mit der amerikanischen Politik.[60]
Adorno(594) antwortete darauf mit einem handgeschriebenen Brief, der Marcuse(255) am 6. August erreichte, dem Tag, an dem Adorno(595) starb. Er und seine Frau Gretel(11) verbrachten die Ferien in den Schweizer Alpen, in der Hoffnung, dass sich ein »schwer ramponierter Teddie«, wie er sich selbst gegenüber Marcuse beschrieb, von den Torturen in Frankfurt(77) mit einigen ausgedehnten Spaziergängen in den Alpen erholen könne. Er berichtete: »Daß ich neulich wieder, bei einer Klausur, Tränengas abbekam, nur nebenbei, bei meiner schweren Bindehautentzündung sehr lästig.« Er wollte in seinem letzten Brief an Marcuse(256) ein Missverständnis beseitigen: Er lehnte die Studentenbewegung nicht ab, obwohl sie ihm in den letzten paar Jahren das Leben ziemlich zur Hölle gemacht hatte. Allerdings hatte er einen gewichtigen Einwand: »… es ist ihr ein Quentchen Wahn beigemischt, dem das Totalitäre teleologisch innewohnt, gar nicht erst – obwohl dies auch – als Reperkussion.«
Trotz Warnungen von seinem Arzt, körperliche Anstrengungen zu vermeiden, fuhr Adorno(596) mit der Seilbahn auf einen 3000 Meter hohen Berg in der Schweiz(6). Auf dem Gipfel setzten Herzbeschwerden ein, und so begab er sich noch am selben Tag in das Krankenhaus von Visp(1), wo er am Morgen darauf einen Herzinfarkt erlitt und starb. Im nächsten Monat hätte er seinen 66. Geburtstag gefeiert. Im Jahr vor seinem Tod hatte Adorno(597) an seinen Freund Peter Szondi(3) geschrieben, dass er genug habe von den studentischen Aktivitäten, und dass er befürchte, die Studenten würden ihn und seine Kollegen manipulieren. Als »Vatermord mit Galgenfrist« bezeichnete er das Vergehen der Studenten.[61] Allerdings wäre es vorschnell zu behaupten, die Galgenfrist sei nur kurz gewesen und Adorno(598) sei von seinen Studenten umgebracht worden.
Jedenfalls überlebten nicht nur die Texte von Adorno(599) und seinen Kollegen das Ableben ihrer Autoren, vielmehr sollte sich die Frankfurter Schule dank seines ehemaligen Assistenten nun bald auch in eine neue Richtung entwickeln.