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Die Frankfurter Spinne

Im Januar 2010 wurde Jürgen Habermas(51) Opfer eines Internetschwindels.[1] Ein anonymer Witzbold richtete einen Twitter-Feed ein, der vorgab, Jürgen Habermas zu gehören, dem emeritierten Professor für Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe(12)-Universität Frankfurt(78). »Ich war irritiert, denn die Identität des Absenders war eine Fälschung«, sagte mir Habermas, als ich ihn interviewte. Wie Steve Jobs(1), der Mitbegründer von Apple, Robert Mugabe(1), ehemaliger Präsident von Simbabwe, und Condoleezza Rice(1), frühere Außenministerin der USA, war Habermas Opfer einer Twitterjacking-Aktion geworden.

Twitter nahm den gefälschten Habermas(52)-Feed aus dem Netz, allerdings erst nachdem er in der Blogosphäre größte Aufmerksamkeit erregt hatte. War es möglich, dass der damals achtzigjährige deutsche Denker sich den Twitterati anschloss? Versuchte er tatsächlich, seine ethisch-politischen Theorien in maximal 140 Anschlägen zu vermitteln? Einige glaubten es, andere hatten Zweifel. Ein Blogger bemerkte skeptisch: »Erstens scheint mir der Satz ›Sprechen Sie Deutsch, bitte?‹ nicht von einem deutschen Muttersprachler zu stammen – dieser hätte einfach gefragt: ›Sprechen Sie Deutsch?‹ oder gesagt: ›Sprechen Sie bitte Deutsch.‹«

Einige der Tweets waren im O-Ton von Habermas(53). So erschien beispielsweise am 29. Januar um 17:38 folgender Tweet: »It’s true that the internet has reactivated the grass-roots of an egalitarian public sphere of writers and readers.« Um 17:40 hieß es: »It also counterbalances the deficits from the impersonal and asymmetrical character of broadcasting insofar as …« Um 17:41: »… it reintroduces deliberative elements in communication. Besides that, it can undermine the censorship of authoritarian regimes …« Um 17:44: »But the rise of millions of fragmented discussions across the world tend instead to lead to fragmentation of audiences into isolated publics.«

Neugierig geworden kopierte ich diese Tweets, gab sie bei Google ein, und fand schnell heraus, dass sie alle aus der dritten Fußnote der englischen Übersetzung des Aufsatzes »Political Communication in Media Society: Does Democracy Still Enjoy an Epistemic Dimension?« stammten. Warum sollte Habermas(54) aus seinem eigenen Text Teile ausschneiden und in einen Feed einfügen? Natürlich stellte sich heraus, dass er das nicht getan hatte.

Um herauszufinden, wer es gewesen war, postete ich Aufrufe mit der Bitte um Information auf Philosophie-Blogs von Chicago(4) bis Leiden(1). Ob sich der wahre Schöpfer der gefälschten Nachricht von Habermas(55) bitte melden könnte? Nach wenigen Wochen erhielt ich eine Email von einer Person namens Raphael, einem Brasilianer, der in den USA an seiner Promotion im Fach Politik arbeitete. Er bekannte, den Feed erstellt zu haben. Zuerst hatte er ihn genutzt, um »die Leute über seine [Habermas’] neuesten Veröffentlichungen zu informieren«, als eine Art Ehrenbezeigung für den Mann, den er schon als Studienanfänger bewundert hatte. Eines Tages aber erhielt er eine Anfrage von einem österreichischen(11) Professor, der ihn fragte, ob er der echte Habermas sei. »Ich dachte, es müsste doch witzig sein, ein bisschen zu schummeln. Ich habe also Passagen aus dem Absatz über das Internet und die Fragmentierung der Öffentlichkeit zitiert. Es war interessant, die Reaktionen der Leute zu beobachten.«

Aus Verlegenheit wollte Raphael seinen Nachnamen nicht nennen, auch nicht mitteilen, wo er studierte. Indem er allerdings die Gedanken von Habermas(56) im Internet via Twitter öffentlich machte, gelang es ihm, die Aufmerksamkeit vieler Philosophen und Soziologen zu erregen. Sie waren fasziniert von der Frage, welcher Stellenwert »Öffentlichkeit« – einer der habermasschen Schlüsselbegriffe, den er in seinem 1962 erschienenen Buch Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt hatte – im Internetzeitalter zukommen würde. Diese Frage ist keineswegs unwichtig: In einer Zeit, da die traditionelle demokratische Parteipolitik zutiefst verachtet wird und das sogenannte Demokratiedefizit das politische Zusammenwachsen Europas wie einen raffinierten Plan aussehen lässt, den Eliten mit Selbstbedienungsmentalität ausgeheckt haben, löst das Internet Hoffnung auf einen Wandel aus.

Habermas(57) verwendet den Begriff Öffentlichkeit in einem ganz bestimmten Sinn. »Unter ›Öffentlichkeit‹ verstehen wir zunächst einen Bereich unseres gesellschaftlichen Lebens, in dem sich so etwas wie eine öffentliche Meinung bilden kann«, schrieb er. »Als Publikum verhalten sich die Bürger, wenn sie ungezwungen, also unter der Garantie, sich frei versammeln und vereinigen, frei ihre Meinung äußern und veröffentlichen dürfen, über Angelegenheiten allgemeinen Interesses verhandeln.«[2] Die Öffentlichkeit erlebte in einem bestimmten historischen Moment Habermas zufolge eine Blütezeit. Unmittelbar vor Ausbruch der industriellen Revolution zu Beginn des 18. Jahrhunderts kamen Männer und Frauen in den Coffee Houses Londons(16), in den Pariser(47) Salons und Deutschlands Tischgesellschaften zu Treffen zusammen, die Habermas als »rational-kritische Diskussion« bezeichnet. Gleichzeitig war es die Ära literarischer Journale und einer aufkommenden freien Presse, und auch diese gehörten zur Öffentlichkeit, die als Prüfinstanz absolutistischer Herrscher fungierte.

»In ihrem Zusammenstoß mit den arkanen und bürokratischen Praktiken des absolutistischen Staats«, so Habermas(58) in einem Satz, der für einen Tweet zu lang wäre, »ersetzte das sich herausbildende Bürgertum allmählich eine Öffentlichkeit, in der die Macht des Herrschers vor dem Volk lediglich repräsentiert wurde, durch eine Öffentlichkeit, in der die Autorität des Staats durch den sachkundigen, kritischen Diskurs des Volks öffentlich überwacht wurde.«[3] Neue Rechte ermöglichten diese bislang unbekannte Sphäre und gewährten Vereinigungsfreiheit wie auch in begrenztem Ausmaß Pressefreiheit. Die so entstandenen neuen Gesellschaften waren freiwillige Zusammenschlüsse und, was für Habermas entscheidend ist, unter einem gemeinsamen Ziel vereint: nämlich im Gespräch von ihrer Vernunft Gebrauch zu machen. Zum ersten Mal sei, so konstatierte Habermas, die öffentliche Meinung aus Kaffeehausvereinigungen und Literaturjournalen herausgetreten und hätte sich die Idee des Gemeinwohls entfaltet. Und diese Idee diente dazu, die Mächte dafür zu kritisieren, dass sie im Europa(36) der damaligen Zeit unrepräsentative und geschlossene Regierungsformen etabliert hatten.

Doch die »Öffentlichkeit« des 18. Jahrhunderts wurde im Lauf des 20. Jahrhunderts beseitigt. Habermas(59) fand auf der Mordwaffe viele unterschiedliche Fingerabdrücke: Diese stammten vom Wohlfahrtsstaat, von den Massenmedien, der aufkommenden Public Relations, der Unterhöhlung der Parlamentspolitik durch das Aufkommen von politischen Parteien. Dass die meisten unter uns heute mehr über Kim Kardashian wissen als über das post-endogene Wachstum, dürfte kaum Abhilfe dabei schaffen, diesen Fall aufzuklären. Genau die Pressefreiheit, die es ermöglichte, die Stimmen gegen die absolutistische Herrschaft zu erheben, brachte auch jene Massenblätter hervor, die sich zu gewinnbringenden kapitalistischen Organisationen entwickelten. Damit aber habe die Öffentlichkeit, so Habermas(60), ihre autonome und kritische Macht eingebüßt.

Allerdings eröffnet sich in der habermas(61)schen Geschichte ein gewisses Problem. Wir Menschen des 21. Jahrhunderts können uns demokratische Politik nicht anders vorstellen als einen Widerspruch in sich und die Öffentlichkeit des frühen 18. Jahrhunderts, die von Habermas so gepriesen wird, vermag uns kaum als Modell zu dienen. Jene Kaffeehausvereinigungen und literarischen Journale boten Räume für gebildete Männer, die über Grundbesitz oder andere beträchtliche Mittel verfügten. Darüber hinaus dürfte sich deren Idee eines Gemeinwohls wahrscheinlich extrem von den Vorstellungen jener Personen unterschieden haben, die nicht zu dieser besagten Öffentlichkeit gehörten – der Frauen, der Bauern und des Proletariats, das damals gerade im Entstehen begriffen war. Habermas’ Gedanken sind nostalgisch getönt: Wenn wir nur stärker all jenen belesenen, wohlinformierten, kritisch gesinnten Kaffeehausbesuchern gleichen könnten, dann hätte die Demokratie im 21. Jahrhundert vielleicht eine Chance. Habermas bemerkte, die Prinzipien dieser Vereinigungen seien vernünftig und tragfähig gewesen: Im Prinzip waren sie zwanglos und gewährten jedem Zutritt. Ansehen, Klasse, Geschlecht und Vermögen spielten für die Zulassung zu dieser Öffentlichkeit und der Teilnahme am sachkundigen, kritischen Diskurs keine Rolle. Prinzip und Praxis unterschieden sich selbstverständlich unverkennbar voneinander. Entscheidend war, dass Menschen zusammenkamen, um frei von Zwängen miteinander zu argumentieren. In dieser Sphäre, so Habermas, sei das Ideal demokratischer Politik entstanden.

Man muss hinsichtlich des Ortes, den er als Geburtsstätte jenes demokratischen Ideals bestimmte, nicht unbedingt einverstanden sein, aber die utopischen Hoffnungen von Habermas(62) und sein Engagement, demokratische Einrichtungen wieder zu beleben, müssen deswegen ja nicht infrage gestellt werden. Allerdings sind utopische Hoffnungen und das Engagement für die Wiederbelebung der Demokratie nicht die Werte, auf die sich die erste Generation der Frankfurter Schule stützte. Adorno(600) und Horkheimer(297) verbanden mit Emanzipation negative Vorstellungen: Sie vermochten wenig zu ändern, konnten zum vorhandenen Stand der Dinge lediglich Nein sagen. Marcuse(257) war von ähnlichem Temperament, schrieb über die Macht des negativen Denkens und versuchte sich erst dann – jedoch wenig überzeugend – im Ausmalen von Utopien, als er sich von der oberflächlichen Euphorie der Neuen Linken in den späten 1960er Jahren anstecken ließ.

Diese erste Generation verschwand jedoch rasch: Adorno(601) starb 1969, Horkheimer(298) 1973, Marcuse(258) 1979 und Fromm(152) 1980. Abgelöst wurde sie von einer zweiten Generation unter der Führung von Jürgen Habermas(63). Frankfurt(79) verließ Habermas allerdings im Jahr 1971 und wurde Ko-Direktor von jenem Institut, das in der idyllischen, an einem See gelegenen Stadt Starnberg(1) in der Nähe von München(4) unter dem vielversprechenden Namen »Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt« firmierte. Die Lebensbedingungen von (64)Habermas in dieser wissenschaftlich-technischen Welt waren ausgesprochen komfortabel. In Starnberg(2), das regelmäßig an der Spitze der deutschen Städte mit dem höchsten verfügbaren Pro-Kopf-Einkommen steht, ließen er und seine Frau Ute – sie hatten (1)1955 geheiratet – sich ein spektakuläres, rein weißes Haus in einem von dem Wegbereiter der modernen Architektur Adolf Loos(1) inspirierten Stil bauen, erfüllt von Licht und Büchern. Der nüchterne Optimismus des Hauses, das zwar nicht konsequent nach den Prinzipien der Neuen Sachlichkeit gebaut ist, aber zweifellos modern wirkt und sich kühl von einer protzig-postmodernen Welt absetzt, passt zu Habermas. Das Ehepaar Habermas(65) zog in diesem Haus drei Kinder groß und wohnte dort weiterhin, als Habermas 1983 an die Universität Frankfurt auf den Lehrstuhl für Philosophie zurückkehrte.

Hätte Habermas(66) nicht gegen seine Lehrer rebelliert, wäre aus ihm eine weitere philosophische Kassandra geworden; stattdessen wurde er eher zur Pollyanna der Frankfurter Schule. Das überrascht, denn immerhin verlebte Habermas seine Jugendjahre im Nachkriegsdeutschland. Im entsprechenden Eintrag in der Stanford Encyclopedia of Philosophy wird vermerkt: »Die Nürnberger Prozesse waren ein entscheidendes prägendes Moment, sie machten ihm das Ausmaß von Deutschlands moralischem und politischem Scheitern in der Zeit des Nationalsozialismus bewusst.«[4] Hätte er(67) dann nicht eher ebenso wie sein Lehrer Adorno(602) verzweifeln müssen? Adorno(603) meditierte im Bewusstsein der Schuld eines Menschen, der den Holocaust überlebt hatte, »ob nach Auschwitz(15) noch sich leben lasse, ob vollends es dürfe, wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen«.[5] Die hoffnungsvolle Richtung, die Habermas(68) für die deutsche Philosophie vorgab, wirkte wie eine rebellische Antwort auf (604)Adornos philosophische Verzweiflung. Adornos negative Dialektik war eine Art von Denken, das jegliche Methode verschmähte und sich der Schaffung eines systematisch theoretisierten, rational erzielten Konsenses verweigerte, der hingegen die Leitvorstellung des h(69)abermasschen Denkens bildete.

Dabei geht es nicht nur um ödipale Rebellion. Entscheidend ist außerdem der Umstand, dass Habermas(70) kein Jude ist. Und er ist auch im Unterschied zu den Männern der ersten Generation der Frankfurter Schule kein Überlebender des Holocaust. Wenn es irgendetwas gibt, das darauf hindeutet, dass er wegen seines Einsatzes für Hitler(67) in seiner Jugendzeit Schuld oder Scham empfand (für beides finden sich zumindest in seinen Texten keine Hinweise), dann unterscheiden sich seine Gefühle jedenfalls äußerst stark von denen Adornos(605). Das Schuldgefühl des Überlebenden, das Adorno(606) in einem Brief an seine Mutter nach dem Tod seines Vaters im Jahr 1946 beschrieb, konnte Habermas(71) nicht teilen.

»Bekanntlich war es den Juden untersagt, der Zukunft nachzuforschen«, schrieb Benjamin(451) in seiner Abhandlung »Über den Begriff der Geschichte«. »Die Thora und das Gebet unterweisen sie dagegen im Eingedenken. Dieses entzauberte ihnen die Zukunft, der die verfallen sind, die sich bei den Wahrsagern Auskunft holen. Den Juden wurde die Zukunft aber darum doch nicht zur homogenen und leeren Zeit. Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte.«[6] Für Habermas(72) gab es diesen Vorbehalt nicht. Wenn Benjamin recht hatte, dann beschäftigen sich Juden eher mit der Erinnerung an vergangene Leiden, als dass sie sich Horizonte der Zukunft erdenken, in denen Leid und Ungerechtigkeit nicht mehr vorkommen. Ganz anders Habermas. Im Unterschied zu Heidegger(19) übernahm er Verantwortung; Verzweiflung war für ihn im Vergleich zu Adorno(607) keine Option. Außerdem bemühte er sich im Unterschied zu seinem Lehrer, ein System und eine Methode zu entwickeln; es ging ihm, wie er mir gegenüber ausführte, darum, herauszuarbeiten, »wie die Bürger einer politischen Gemeinschaft durch den demokratischen Prozess immer noch kollektiven Einfluss auf ihr gesellschaftliches Schicksal nehmen können«. Im Unterschied zu Benjamin wagte Habermas, in die Zukunft zu blicken und sich eine Utopie auszumalen – auch wenn dies eine Utopie ist, für die sich nur wenige so begeistern können wie er.

Kein deutscher Philosoph und Sozialtheoretiker seit Kant(13) und Hegel(58) hat ein vergleichbar komplexes intellektuelles System ausgearbeitet. Dabei beruht dieses interdisziplinäre System auf einer einzigen schlichten Idee: Wir überwinden unsere egozentrischen und ethnozentrischen Perspektiven und unsere Voreingenommenheiten, indem wir vernünftig kommunizieren, und gelangen so zu einem Konsens oder errichten sogar eine Gemeinschaft der Vernunft. Wir können also zum »größeren Selbst« fortschreiten, wie dies (2)der amerikanische Philosoph der pragmatischen Schule George Herbert Mead bezeichnete, der Habermas(73) nachhaltig beeinflusste. Nietzsche(10) persiflierte Kant(14) als ein »Verhängnis von Spinne«: Diese spinnt die Philosophie in ein verrücktes Netz intellektueller Konstrukte ein – ein Netz aus Phänomenen, Noumina, transzendentalen Einheiten, Imperativen, Kategorien und Urteilen.

Ganz ähnlich wie der große Systembauer der Aufklärung ist auch Habermas empfänglich für ein solches Netz: Die Hunderttausende von Wörtern, die er im letzten halben Jahrhundert auf den Gebieten Philosophie, Sozialtheorie, politische Theorie, Ethik, Moraltheorie und Rechtstheorie geschrieben hat, ergeben ein gigantisches Netz, allerdings keine düstere intellektuelle Falle, sondern eine heroische Konstruktion, entworfen von einem Mann, der dem Faschismus, der Postmoderne und der Verzweiflung seines Lehrers etwas entgegensetzen will. Der große Unterschied zwischen Kant(15) und (74)Habermas besteht darin, dass Kants System monologisch war. Das kantsche Individuum konnte noch ein ganzes, universalisierbares Moralsystem aus der eigenen, auf Gründen aufbauenden Vernunft erzeugen, wohingegen das System von Habermas(75) dialogisch verfasst ist: Für Habermas können wir lediglich durch vernünftige Diskussion in dem Rahmen, den er als »unbegrenzte Kommunikationsgemeinschaft« bezeichnet, zu einem rationalen Konsens gelangen. Dies ist seine professorale Vision von Utopia. Man könnte Habermas durchaus eine nachkantische philosophische Spinne nennen – der Begriff »Verhängnis« erübrigt sich bei ihm.

Stanley Fish(1), Professor für Englische Literatur und Rechtstheorie an der Duke University, einer der schärfsten Kritiker von Jürgen Habermas(76) in den USA, äußerte sich besonders kritisch zu der habermasschen Vorstellung, dass wir mittels rationaler Diskussion unsere Voreingenommenheiten hinter uns lassen könnten. Um sich auf ein Gespräch einzulassen, in welchem man womöglich die eigenen Vorurteile ablegt, muss man seine Vorurteile gleich am Anfang beiseitelassen – so wie Habermas es für jene Kaffeehausbesucher in der öffentlichen Sphäre des frühen 18. Jahrhunderts voraussetzte. Fish(2) bezweifelte, dass ein solcher Schritt möglich ist:

Problematisch am Denkansatz von Habermas(77) ist, dass man diesen ersten Schritt gar nicht tun kann. Denn dieser erste Schritt ist faktisch der letzte. Ich bin seit jeher verblüfft von der Aufmerksamkeit, die (78)Habermas erregt. Was er über diese Themen denkt, kommt mir offenkundig falsch vor. Ich kann mir das nur dadurch erklären, dass Habermas für etwas einsteht, das viele Menschen gerne glauben würden: Er scheint einen möglichen Ausweg aus dem ätzenden Relativismus der Gegenwart zu weisen(3).[7]

Doch selbst wenn es stimmt, was Fish(4) hier sagt, und der Weg, den Habermas(79) weist, auch nur wieder eine Sackgasse ist, so war doch der Impuls, jegliche Form von Relativismus zu vermeiden – also die Auffassung, dass es nicht eine Wahrheit, sondern viele Wahrheiten, kein richtiges moralisches Urteil, sondern lediglich ein Stimmengewirr unterschiedlicher moralischer Forderungen gibt –, ein wichtiger Teil dessen, was Habermas(80) dazu veranlasste, an seinem Netz aus Wörtern mehr als ein halbes Jahrhundert lang weiterzuspinnen. Sein Kampf gegen den Relativismus des postmodernen Denkens ist zentral für das Verständnis seines Werkes.

Wichtiger für das Verständnis ist jedoch der bereits erwähnte, von Adorno(608) formulierte Gedanke: »Hitler(68) hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz(16) nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.«[8] Dieser Gedanke und die moralische Verpflichtung, die sich daraus ergab, motivierten Habermas(81) dazu, mit seiner Arbeit sicherzustellen, dass Menschen sich nie wieder zu solchen Grausamkeiten hergeben. Erstaunlicherweise sprach Adorno(609) von einem kategorischen Imperativ – jener Idee, die im Mittelpunkt von Kants(16) Ethik stand –, denn eigentlich verschmähte Adorno(610) von seiner Veranlagung her das, was Habermas durchaus schätzte: nicht nur den für die deutsche Philosophie und Sozialtheorie typischen Hang zur Errichtung von Systemen, sondern auch die hoffnungsfrohe Perspektive der Aufklärung, dass der Vernunftgebrauch eine Möglichkeit war, die Menschen aus der Knechtschaft zu befreien, sei es nun Knechtung durch Aberglauben oder durch politische Unterdrückung.

Immanuel Kant(17) schwebte vor, ein moralisches System mit den Mitteln der Vernunft schaffen zu können. Dieses System sollte dann, weil es frei war von persönlichen Vorurteilen, Interessen und Leidenschaften, universalisierbar sein: Die Vernunft ist ein Gerichtshof, vor dem jedes menschliche Wesen garantiert gerecht behandelt wird, und die Vernunft erzielt Ergebnisse, die unanfechtbar sind.

David Hume(5) konstatierte, dass die Vernunft der Sklave der Leidenschaften sei, womit er praktisch die Möglichkeit des kant(18)schen Moralsystems abgetan hatte, noch bevor die Spinne von Königsberg mit ihrer Arbeit anfing. Für Kant(19) war eine Handlung, wenn sie den Leidenschaften entsprang, per definitionem nicht moralisch; nur Handlungen, die mit dem kategorischen Imperativ übereinstimmten, also mit den Mitteln begründender Reflexion zustande gekommen waren, waren universalisierbar, das heißt fähig, wahrhaft moralisch zu sein. Was aber, wenn Hume recht hatte und alle unsere begründeten Urteile lediglich auf Leidenschaften beruhen? Dann, so muss man annehmen, würde das System Kants zusammenbrechen. Humes(6) Moralpsychologie war für Kant(20) untragbar. Für ihn war eine solche Versklavung durch die Leidenschaften unangemessen, wenn der Mensch reif, selbstbeherrscht und autonom werden soll. Leidenschaften müssen beherrscht werden, und wenn wir nicht reif genug sind, uns selbst zu beherrschen, dann müssen uns andere dabei helfen. Der kategorische Imperativ bildete das Herz seiner Moraltheorie, die seine aufgeklärte Festlegung auf den Vernunftgebrauch zur Erlangung individueller Autonomie zum Ausdruck brachte. Für ihn demonstrierte der Gebrauch der Vernunft Mündigkeit, also die Fähigkeit, selbst zu denken.

Während nun aber Adorno(611) Mündigkeit ganz und gar negativ verstand, als Weigerung, sich an die bestehende Ordnung anzupassen, betonte Habermas(82), dass sie die Grundlage dafür bilde, demokratische Institutionen im eigentlichen Sinn zu schaffen. Zwar gestand er zu, dass Rationalität der Grund für unsere Probleme gewesen sein könnte, doch er besteht darauf, dass unsere Probleme auch nur durch Rationalität zu lösen sind. Nur durch jene Art kommunikativer Vernunft, die Habermas der Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts zuschreibt und die er sich für eine heutige, unter einem demokratischen Defizit leidende Gesellschaft ersehnt, kann die Menschheit das werden, wovon Adorno(612) befürchtete, sie werde nie so weit kommen: reif, autonom, frei.

Allerdings gingen die Meinungen von Adorno(613) und Habermas(83) bezüglich des Wesens der Aufklärung weit auseinander. Tatsächlich können viele Texte von Habermas als eine Umkehrung von Adornos und Horkheimers(299) Dialektik der Aufklärung gesehen werden, jenes grundlegenden, in den 1940er Jahren verfassten Textes. Schließlich wurde die Essaysammlung zu jener Zeit geschrieben, als das, was die Verfasser als die Barbarei des Nationalsozialismus, des Stalinismus und der komplett verwalteten Gesellschaft begriffen, das Erbe der Aufklärung ad absurdum führte. Die Aufklärung eines Rousseau(3), Voltaire(2), Diderot(2) und Kant(21) im 18. Jahrhundert sollte den Menschen vom Mythos befreien, ihm erlauben, selbst zu denken (wobei Frauen allerdings im angeblich emanzipatorischen Narrativ der Aufklärung nicht vorkamen). Doch mit der einsetzenden Industrialisierung und dem aufkommenden Kapitalismus im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert gingen mehr Bürokratie, Verwaltung, also Kontrolle einher. Adorno(614) und Horkheimer(300) machten Gebrauch von immanenter Kritik (also der Kritik eines Phänomens unter Verwendung von dessen eigenen Werten), indem sie anführten, die Aufklärung habe sich in ihrer eigenen Schlinge verfangen: Angeblich wurde die Freiheit möglich, indem Mythos und Opfer dominierten, allerdings war der Mensch nun gezwungen, seine Instinkte und natürlichen Triebe zu unterdrücken.[9]

Daher ihre Beschäftigung mit jener Episode aus der Odyssee, in welcher Odysseus(2) seine Kameraden auffordert, ihn an den Mast zu binden, damit er nicht gezwungen wird beziehungsweise außerstande ist, dem verführerischen Gesang der Sirenen nachzugeben. Homers(4) Epos war zwar ungefähr zehn Jahrhunderte vor Beginn der europäischen Aufklärung verfasst worden, doch fanden Adorno(615) und Horkheimer(301) darin die Geburt des menschlichen, für die Aufklärung typischen Impulses vor, sich vom Mythos zu befreien und die Natur zu beherrschen. Habermas(84) formulierte: »Herrschaft über eine objektivierte äußere und die reprimierte innere Natur ist das bleibende Signum der Aufklärung.«[10] In der Odyssee trennt sich der Mensch von der Natur, um sie besser beherrschen zu können. Nach Auffassung Adornos und Horkheimers sind wir lauter kleine Varianten von Odysseus, an unsere Masten gekettet, abgetrennt von der Natur und unseren Instinkten und Trieben. Natürlich abgesehen von Adorno(616) und Horkheimer(302).

Habermas(85) war nicht einverstanden. Er hatte als junger Mann die Dialektik der Aufklärung gelesen und war begeistert, allerdings gelangte er später zu der Auffassung, dass das Buch in seiner immanenten Kritik zu weit gegangen sei. Doch erst nach dem Tod seiner Autoren wagte er es, seine Bedenken öffentlich zu äußern. Und selbst dann gestand er in einer Vorlesung, die 1985 in dem Buch Der philosophische Diskurs der Moderne veröffentlicht wurde, wie schwierig es gewesen sei, sich von der Rhetorik seiner Lehrer nicht überwältigen zu lassen, sondern einen Schritt zurückzutun und wahrzunehmen, wie stark vereinfachend hier vorgegangen worden war. Habermas(86) war also ein neuer Odysseus(3), der den Sirenenruf dieser Rhetorik vernimmt und seinem natürlichen Impuls widersteht, sich davon verführen zu lassen. Seine Lehrer hatten angemerkt, die Vernunft selbst zerstöre die Menschlichkeit, die sie zuvor ermöglicht hatte, und dies sei geschehen wegen des »Antrieb[es] einer Selbsterhaltung … der die Vernunft verstümmelt, weil er sie lediglich in der Form einer zweckrationaler Natur- und Triebbeherrschung, eben als instrumentelle Vernunft, beansprucht.«[11] Für Habermas(87) hingegen gab es andere Formen der Vernunft, die er aus dem Erbe der Aufklärung retten wollte – insbesondere die kommunikative Vernunft, jene Variante, die in der Öffentlichkeit des frühen 18. Jahrhunderts gediehen war und dort angeblich Konsens erzeugt hatte und die für Habermas(88) die Grundlage der Hoffnung, demokratische Ideale in unserer Gegenwart wiederbeleben zu können, darstellt.

Entscheidend ist hier der Begriff instrumentelle Vernunft. Habermas(89) definiert ihn in seinem 1968 erschienenen Buch Technik und Wissenschaft als »Ideologie« als das Interesse daran, die Naturnotwendigkeiten und das Potential, Naturgesetze technisch nutzbar zu machen, zu verstehen und die lebende und tote Natur zu manipulieren. Diese Verfahren geben die Grundlage für die Naturwissenschaften ab.[12] Das klingt zunächst nicht weiter aufregend, Horkheimer(303) hatte jedoch dem in seinem 1947 veröffentlichten Buch Zur Kritik der instrumentellen Vernunft dargelegten Prozess einen rhetorischen, wenn nicht gar pathetischen Dreh gegeben, indem er ausführte, dass die instrumentelle Vernunft aus zwei entgegengesetzten Elementen bestehe. So »haben wir auf der einen Seite das Selbst, das abstrakte Ich, jeder Substanz entleert bis auf seinen Versuch, alles im Himmel und auf Erden in ein Mittel seiner Erhaltung zu verwandeln; und auf der anderen Seite haben wir eine leere, zu bloßem Material degradierte Natur, bloßen Stoff, der zu beherrschen ist, ohne jeden anderen Zweck als eben den seiner Beherrschung.«[13]

Die Aufklärung, so heißt es, habe uns vom Mythos befreit und die Welt entzaubert, sie habe die Götter umgebracht und die Menschen zu Herren über die vormals den Göttern zugehörigen Bereiche gemacht. Allerdings sei sie damit gescheitert, so die Verfasser der Dialektik der Aufklärung. 1797 fertigte Goya(1) eines der schrecklichsten und emblematischsten Bilder der Aufklärung, die Darstellung eines schlafenden Mannes in einem Raum voller grauenerregender geflügelter Kreaturen, und gab ihm den Titel Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Adorno(617) und Horkheimer(304) wiesen darauf hin, dass das Erwachen der Vernunft seinerseits Ungeheuer eigener Art geboren habe. Max Weber(9), notierte Habermas(90), habe sich vorgestellt, dass sich die alten, entzauberten Götter aus ihren Gräbern erhoben hätten, verkleidet als entpersonalisierte Kräfte, um ihre unversöhnlichen Kämpfe gegen die Dämonen wieder aufzunehmen. Diese entpersonalisierten Kräfte – Rationalisierung, Verwaltung, die Funktionsweisen des Kapitalismus als solche – zeigen, wenn man sie recht versteht, dass wir die alten Götter nicht getötet, sondern lediglich zugelassen haben, dass sie neue Masken auflegen. So pervertiert die Aufklärung ihre ureigenen Werte.

Damit war Habermas(91) einverstanden, allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt: »Wohl verstärkt sich mit kapitalistischer Wirtschaft und modernem Staat auch die Tendenz, alle Geltungsfragen in den beschränkten Horizont der Zweckrationalität sich selbst erhaltender Subjekte oder bestanderhaltender Systeme einzuziehen[14] Allerdings ist der rhetorische Sprung, den Adorno(618) und Horkheimer(305) von hier aus unternahmen, nicht berechtigt: »Damit ist noch nicht gezeigt, daß die Vernunft bis in ihre spätesten Produkte, bis in die moderne Wissenschaft, die universalistischen Rechts- und Moralvorstellungen und die autonome Kunst hinein dem Diktat der Zweckrationalität unterworfen bleibt.«[15] Die Wissenschaft ist mehr als nur eine Aktivierung der instrumentellen Vernunft, Kunst ist mehr als nur Kulturindustrie, und die universalistischen Grundlagen des Rechtswesens und der Ethik sowie einer verfassungsrechtlichen Regierung verdienen sehr viel mehr als nur Zensur. Die Aufklärung hat also für Habermas(92) gewissermaßen »einen gesunden Kern«. Dieser sei allerdings in Adornos(619) und (306)Horkheimers »zu stark vereinfachender Darstellung« übergangen worden. »Für ein Entrinnen aus dem zur sachlichen Gewalt geronnenen Mythos der Zweckrationalität läßt ja die Dialektik der Aufklärung kaum noch eine Aussicht.«[16]

Habermas(93) wollte mit seinen Texten einen theoretischen Weg aus dem Schatten des Verblendungszusammenhangs heraus weisen. 1979 sagte er in einem Interview: »Ich teile die Grundannahme der Kritischen Theorie nicht, die Annahme, dass die instrumentelle Vernunft so übermächtig geworden ist, dass es tatsächlich keinen Ausweg mehr aus einem umfassenden Verblendungszusammenhang gibt, in welchem Erkenntnis nur noch isolierten Individuen in blitzartigen Erleuchtungen möglich ist.«[17] Diese Art von Erkenntnis wirkte wechselweise elitär und hoffnungslos. Habermas äußerte Skepsis hinsichtlich der Frage, wie die erste Generation der Frankfurter Denker überhaupt dazu in der Lage gewesen sei, dem Einfluss dieses umfassenden Verblendungszusammenhangs zu entkommen, um dann seine Kritik zu formulieren: Wenn dieser Zusammenhang tatsächlich so umfassend sei, dann müssten ja auch sie selbst verblendet sein. Ein ähnliches Argument brachte er(94) gegen die Vertreter der Postmoderne vor: Wenn, wie sie behaupteten, alle Wahrheit relativ sei, dann würde auch die Behauptung, Wahrheit sei relativ, zu einer relativen Wahrheit. Für die erste Generation der Frankfurter Schule konnte dieser Verblendungszusammenhang lediglich durch den Zusammenbruch der fortgeschrittenen Industriegesellschaft und das Aufkommen des Sozialismus überwunden werden. Habermas(95) wandte sich gegen diese Perspektive und plädierte stattdessen für eine Reform des bestehenden Systems: Seiner Auffassung nach war es möglich, die Öffentlichkeitsidee des 18. Jahrhunderts wiederzubeleben, um den ideologischen Fängen des Systems Widerstand leisten zu können. Mündigkeit, Reife, Selbstbeherrschung und Eigenverantwortung, die für Kant(22) zentral gewesen waren, können auch in unserer Zeit realisiert werden, und damit ist es möglich, den Verblendungszusammenhang des Spätkapitalismus zu überwinden.

Allerdings war Habermas(96), indem er am »gesunden Kern« der Aufklärung festhielt, ein Mann außerhalb seiner Zeit – er stand in Opposition nicht nur zu den radikalen Studenten in den späten 1960er Jahren, sondern auch zu den postmodernen Denkern in den Jahrzehnten danach. Für die Postmoderne war Habermas(97) nie zu haben, und das aus zwei Gründen. Erstens sah er darin ein Mittel, gegnerische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Seine diesbezügliche Kritik an der Postmoderne ist mit derjenigen des amerikanischen marxistischen(376) Denkers Fredric Jameson(1) verwandt, der meinte, die Postmoderne sei weniger eine Theorie als vielmehr eine systemische Modifikation des Kapitalismus. Diese kapitalistische Spielart wurde gegen die kritische Kraft dessen in Stellung gebracht, was Habermas als Projekt der Moderne verstand.[18] Für Jameson sind wir ohne ein solches Projekt, ohne einen kritischen Standpunkt dem globalen Kapitalismus wehrlos ausgeliefert. Während jedoch Jameson an der marxistischen(377) Vision eines neuen internationalen Proletariats festhielt, das sich gegen das globalisierte Kapital und die postmoderne Dekadenz auflehnte, hatte Habermas seine frühere marxistische Position(378) hinter sich gelassen. Zweitens hatte Habermas(98) für die Postmoderne nur Verachtung übrig, weil sie, darin vergleichbar mit der Politik Rudi Dutschke(5)s (die Habermas als linken Faschismus bezeichnet hatte), seiner Meinung nach mit Irrationalismus und Nihilismus flirtete und ihn damit an die Nazizeit erinnerte.

Die Poststrukturalisten bzw. Dekonstruktivisten sahen ihrerseits nicht weniger verächtlich auf das habermas(99)sche Projekt. Der französische Philosoph Jean-François Lyotard(3), Autor von Das postmoderne Wissen, schrieb: »Nach den enormen Massakern, die wir erlebt haben, kann keiner mehr an Fortschritt, Konsens, transzendente Werte glauben. Habermas setzt einen solchen Glauben voraus.«[19] In dieser Hinsicht konnte es fast scheinen, als sei anstelle von Habermas(100) eher Lyotard der Erbe von Adornos(620) Philosophie. Aber vielleicht auch wieder nicht: Wahrscheinlich hat Habermas doch mehr als jeder andere europäische Intellektuelle versucht, sich an Adornos neuem kategorischem Imperativ zu orientieren.

Im Jahr 1980 hielt Habermas(101) in Frankfurt(80) eine leidenschaftliche Rede, nachdem er den Adorno(621)-Preis erhalten hatte, der für herausragende Leistungen in den Bereichen Philosophie, Theater, Musik und Film vergeben wird. Sein Vortrag trug den Titel »Die Moderne – Ein unvollendetes Projekt«.[20] Darin verteidigt er das, was er als Werte der Moderne ansah, gegen diverse Poststrukturalisten bzw. Dekonstruktivisten – unter anderem Lyotard(4), Michel Foucault(1) und Jacques Derrida(1) –, außerdem gegen gewisse neokonservative Denker, die diese Werte für den Zerfall der westlichen Gesellschaft verantwortlich machten. In Der philosophische Diskurs der Moderne schreibt er: »Die Moderne kann und will ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen, sie muß ihre Normativität aus sich selber schöpfen[21] Das hieß nicht, dass die Moderne antihistorisch war; vielmehr wendete sie sich lediglich, wie Habermas(102) in seiner Frankfurter Rede ausführte, gegen »die falsche Normativität eines Geschichtsverständnisses, das sich wesentlich an der Nachahmung von Modellen der Vergangenheit orientiert«.

Walter Benjamin(452) hatte davon geträumt, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen; auch die Moderne unterlag einer veränderten Zeitvorstellung, die von der Autorität der Tradition befreit wurde. Mit dem Aufkommen der modernen Wissenschaft seit dem 17. Jahrhundert, dem damit verbundenen Anwachsen neuer Messtechniken, Testmethoden und mathematischer Theorien und dem Zunehmen technisch nutzbaren Wissens schwand die Autorität der Kirche ebenso wie die frühere aristotelische Art, wissenschaftlich zu forschen. Beider Autorität wurde durch die Autorität der Vernunft ersetzt. Besonders relevant für die habermas(103)sche These war, dass die Moderne die Menschen aus ihren traditionellen Rollen befreit und sie befähigt hatte, ihre eigenen Ziele zu wählen und autonom zu werden. Die kant(23)sche Moralphilosophie war hierfür wesentlich: Kant(24) hatte nachdrücklich gefordert, dass wir andere »nie lediglich als Mittel, sondern immer zugleich als Zweck behandeln« sollen, für ihn war also vom moralischen Standpunkt aus gesehen das wichtigste Merkmal der menschlichen Natur unsere Fähigkeit, frei unsere eigenen Zwecke zu wählen. Gegen eben diese Geschichte der Aufklärung bezieht Horkheimer(307) in seiner Kritik der instrumentellen Vernunft Stellung, indem er beschreibt, wie die Vernunft durch ihre Fokussierung auf instrumentelle Belange in Irrationalität zusammenbrach. Instrumentelle Vernunft war nach Horkheimers Verständnis dadurch gekennzeichnet, dass sie Mittel zum Zweck machte, ohne über die Zwecke selbst nachzudenken.

Die habermas(104)sche These zur Moderne hob also den markantesten Grundsatz der Frankfurter Schule auf: Die Vernunft hat die Menschen nicht, wie die Lehrer von Habermas behauptet hatten, versklavt, sondern befreit. Habermas(105) zufolge entband uns die Moderne vor allem von der monotheistischen jüdisch-christlichen Tradition und führte dazu, dass eine säkulare Moral entstand. Diese säkulare Moral entkoppelte die Menschheit auch von einer substantiellen Auffassung vom guten Leben. Das Gute war etwas Anderes als das Richtige oder das Gerechte – faktisch gab es seit der Aufklärung zahlreiche konkurrierende Auffassungen vom Guten.

Es ist bemerkenswert, dass Aspekte aus Kants(25) während der Aufklärung entstandenen Moraltheorie von zwei führenden Philosophen – einem Amerikaner und einem Deutschen – nahezu zeitgleich zwei Jahrhunderte später wieder aufgegriffen wurden. Man gewinnt fast den Eindruck, beide Philosophen hätten diese Aspekte wiederbelebt, als sie versuchten, sich vorzustellen, wie in westlichen Gesellschaften der Zusammenhalt auf gerechte und angemessene Weise gewährleistet werden könne – in Gesellschaften, die andernfalls offensichtlich dazu verurteilt waren, auseinanderzufallen. Natürlich konnte die Pluralität der Auffassungen vom Guten jenen Personen nicht entgangen sein, die wie Habermas(106) und der amerikanische Philosoph John Rawls(1) im zunehmend multikulturellen, multikonfessionellen Westen nach dem Zweiten Weltkrieg aufgewachsen waren. Moderne Gesellschaften werden nicht durch allumfassende Traditionen zusammengehalten, sie bestehen vielmehr aus Individuen, die sich als autonome Subjekte verstehen.

Womit also können solche Gesellschaften zusammengehalten werden? Eine Leitidee bei Rawls(2), die er in seinem immens einflussreichen, 1971 erschienenen Buch A Theory of Justice entwickelt, ist die Priorität des Richtigen vor dem Guten. Damit meinte Rawls, dass Ansprüche, die auf den Rechten der Individuen basieren, wichtiger seien und insofern Priorität vor Forderungen hätten, die auf dem Guten gründen, das sich für sie oder für andere ergeben würde, wenn diese Rechte verletzt würden. Die erste Pflicht des liberalen Staates bestand darin, die grundlegenden Bürgerrechte der Individuen zu schützen. Das impliziere, so Rawls, dass »der Verlust der Freiheit für einige« niemals »durch ein höheres, anderen zukommendes Gut zu rechtfertigen ist«. Die Unparteilichkeit des Rechtsbegriffs sicherte nach Rawls die soziale Stabilität beziehungsweise Harmonie.

Habermas(107) konnte vielem davon zustimmen: Sicher konnten moderne Gesellschaften nicht wie Gesellschaften der Vergangenheit durch einen umfassenden Begriff des Guten zusammengehalten werden. Außerdem sind unantastbare Freiheiten und Rechte eine notwendige Voraussetzung, um das Gedeihen und die Autonomie – die von Kant(26) so hochgepriesene Mündigkeit – der Menschen sicherzustellen. All das war für Habermas(108) notwendig, aber nicht hinreichend. Mit seiner Philosophie, Sozialtheorie und politischen Theorie kreiste er um sein Anliegen, uns vor den schlechten Folgen der Aufklärung zu beschützen. Deshalb bezeichnete er auch die Moderne als ein unvollendetes Projekt: Im Hinblick auf den technischen Fortschritt, das Wirtschaftswachstum, auf rationale Verwaltung und größere Autonomie haben wir davon profitiert, modern geworden zu sein, aber diese Umgestaltung hat uns auch zugleich verstört.

In seiner Adorno(622)-Preisrede sagte Habermas(109): »Das Projekt der Moderne, das im 18. Jahrhundert von den Philosophen der Aufklärung formuliert wurde, besteht … darin, die objektivierenden Wissenschaften, die universalistischen Grundlagen von Moral und Recht und die autonome Kunst unbeirrt in ihrem jeweiligen Eigensinn zu entwickeln.« Er zitierte Max Weber(10), der festgehalten hatte, dass sich mit dem aus der Aufklärung resultierenden Zusammenbruch religiöser und metaphysischer Weltanschauungen drei Wertsphären oder Diskurse gebildet hätten, die erstere ersetzten: Wissenschaft, Moral und Recht sowie die Künste. Jede dieser Sphären wurde institutionalisiert und damit zur Domäne von Experten, die selten miteinander und schon gar nicht mit Laien reden: Es wächst »… der Abstand zwischen den Expertenkulturen und dem breiten Publikum«.[22]

Das hatte die Verarmung der von Habermas(110) sogenannten »Lebenswelt« zur Folge. Der Begriff »Lebenswelt« spielt für seine Gesellschaftstheorie eine zentrale Rolle. Die Lebenswelt ist – neben dem System – eine der beiden unterschiedlichen Sphären des sozialen Lebens. Lebenswelt bedeutet für Habermas die vortheoretische Alltagswelt der Familie und des Zusammenlebens, der gemeinsamen Sinngebung und Einsichten, der zwanglosen Unterhaltungen, die in der Öffentlichkeit stattfinden. Im Unterschied dazu umfasst das System Strukturen und Muster instrumenteller Rationalität und Vorgehensweisen, vor allem in den Bereichen Finanzen und Macht; Hauptaufgabe des Systems ist die Herstellung und Verbreitung von Waren und Dienstleistungen. Zum System gehören die Wirtschaft, die staatliche Verwaltung und die staatlich sanktionierten politischen Parteien. Die Beziehung zwischen Lebenswelt und System ist wichtig für Habermas(111): Erstere, die Sphäre kommunikativer Vernunft und kommunikativen Handelns, ist in Gefahr, von letzterem, der Sphäre der instrumentellen Vernunft, besetzt zu werden. Das aber wirkt sich auf das Projekt der Moderne katastrophal aus.

Der optimistische Traum von Denkern der Aufklärung wie Condorcet(1) habe so ausgesehen, dass Künste und Wissenschaften »… nicht nur die Kontrolle der Naturkräfte, sondern auch die Welt- und Selbstdeutung, den moralischen Fortschritt, die Gerechtigkeit der gesellschaftlichen Institutionen, sogar das Glück der Menschen befördern würden«.[23] Das aber sei nicht geschehen. Stattdessen haben Macht- und Finanzsysteme dem menschlichen Handeln ihre Zwänge übergestülpt. Systeme sind von instrumenteller Rationalität dominiert. Statt über unsere Zwecke nachzudenken und sie zu verändern, nimmt das System eine eigene innere Logik an, die sich der Kontrolle durch den Menschen entzieht.

Die Unterscheidung zwischen Lebenswelt und System verdankt einiges Heidegger(20), auch Marx(379), jedoch am meisten Habermas(112)’ Vorgängern in der Frankfurter Schule. Diese stellten mit Blick auf die Menschen der fortgeschrittenen Industriegesellschaften fest, sie seien in so extremem Ausmaß vom System bestimmt, dass es eine Lebenswelt gar nicht mehr gebe: Wir sind zu eindimensionalen Menschen geworden, sind nur noch Funktionsträger in einem kapitalistischen System; nicht mehr eigenständige Wesen, die der wahren Autonomie und Selbstbeherrschung, der kant(27)schen Mündigkeit, fähig wären.

In zweierlei Hinsicht unterscheidet sich Habermas(113) von seinen Vorgängern. Erstens ist er überzeugt, dass die Menschheit von der Aufklärung und dem Aufkommen der modernen Wissenschaften profitiert hat. Zweitens weigert er sich, die Hoffnung auf das Projekt der Moderne aufzugeben, wie sie es taten. In seiner Adorno(623)-Preisrede charakterisierte er seinen früheren Kollegen als einen Mann, für den sich »der emphatische Vernunftanspruch in die anklagende Geste des esoterischen Kunstwerkes zurückgezogen [hat], während die Moral einer Begründung nicht mehr fähig ist, und der Philosophie nur noch die Aufgabe verbleibt, in indirekter Rede auf die in der Kunst vermummten kritischen Gehalte zu verweisen«.[24] Diese Art eines Rückzugs von der Politik in die Esoterik entsprach Habermas’ Haltung durchaus nicht: Er hielt vielmehr am großartigen Versprechen der Aufklärung fest, von dem Adorno(624) angenommen hatte, er und Horkheimer(308) hätten es vernichtet. Ungefähr in der Mitte von Die Moderne – Ein unvollendetes Projekt sagt (114)Habermas:

… nach wie vor scheiden sich die Geister daran, ob sie an den Intentionen der Aufklärung, wie gebrochen auch immer, festhalten, oder ob sie das Projekt der Moderne verloren geben, ob sie zum Beispiel die kognitiven Potentiale, soweit sie nicht in technischen Fortschritt, ökonomisches Wachstum und rationale Verwaltung einfließen, so eingedämmt sehen wollen, dass eine auf erblindete Traditionen verwiesene Lebenspraxis davon nur ja unberührt bleibt.[25]

Doch selbst wenn wir, Habermas(115) folgend, das Projekt der Moderne fortsetzen würden, ist damit noch nicht klar, wie der Verarmung der Lebenswelt durch das System Einhalt geboten werden kann. Denn hier, in der Lebenswelt, sieht Habermas das potentielle Bollwerk gegen die Verarmung des sozialen Lebens durch Kapitalismus, Staat und das, was sein Kollege Marcuse(259) als eindimensionale Gesellschaft bezeichnet hatte. Hier findet Habermas die Öffentlichkeit, die früher einmal eine utopische Hoffnung auf ein rationales, autonomes, freiwilliges Zusammenkommen bot, wobei wir durch den Einsatz kommunikativer Vernunft und kommunikativen Handelns zu mehr- anstatt nur eindimensionalen Menschen werden können.

Kurz nach dem Twitterjacking-Angriff fragte ich Habermas(116), ob er es für möglich halte, dass das Internet und die sozialen Medien die Funktion der Öffentlichkeit erfüllen. Er war skeptisch. »Das Internet erzeugt eine zentrifugale Kraft«, antwortete er(117).

Es setzt eine anarchische Welle hoch fragmentierter Kommunikationskreise frei, die sich nur selten überschneiden. Natürlich kann die spontane und egalitäre Natur unbegrenzter Kommunikation unter autoritären Regimen subversiv wirken. Das Web selbst erzeugt jedoch keine Öffentlichkeiten. Seine Struktur ist ungeeignet, die Aufmerksamkeit eines disparaten Publikums aus Bürgern zu bündeln, das sich gleichzeitig Meinungen über dieselben Themen und Beiträge bildet, die zuvor von Experten geprüft und gefiltert wurden.

Vielleicht könnten sozial vernetzende Websites die Entstehung von Solidarität fördern? »Was den Einfluss auf die Öffentlichkeit angeht, so bietet eine beschleunigte Kommunikation ganz neue Möglichkeiten, um Aktivitäten zu organisieren und um weit voneinander entfernt lebende Adressaten in großem Ausmaß politisch zu mobilisieren … Allerdings bleiben sie kontingent in ihrer Beziehung zu den tatsächlichen Entscheidungsfindungsprozessen, die außerhalb des virtuellen Raums elektronisch vernetzter Monaden stattfinden.«[26]

Vielleicht täuschte sich Habermas(118) ja, als er sich so pessimistisch über das Potential des Internets und der sozialen Medien als mögliche Öffentlichkeitssphären äußerte, als virtuelle Räume für ein Gespräch, das von Status und Image unabhängig ist. Jene Art von politischer Einmischung, wie Habermas sie während seines gesamten Lebens als öffentlicher Intellektueller praktizierte, ist heutzutage mit Sicherheit zunehmend im Cyberspace verortet. Als ich ihn(119) interviewte, galt seine größere Sorge der Perspektive, dass Zeitungen im Zuge der Ausbreitung des Internets überflüssig werden könnten. »Auch in unseren Ländern ist die nationale Presse, die bislang das Rückgrat des demokratischen Diskurses war, akut gefährdet. Bis jetzt hat keiner ein Businessmodell entwickelt, welches das Überleben der wichtigen nationalen Zeitungen im Internet gewährleisten könnte.« Diese Sorge ist nachvollziehbar, wenn man bedenkt, welches Gewicht Habermas(120) auf die Vorstellung legt, dass Zeitungen (fallweise) »ideale Sprechsituationen« schaffen können, in welchen Bürger die Möglichkeit haben, moralische und politische Angelegenheiten zu thematisieren und ihren jeweiligen Standpunkt in rein rationaler Manier zu verteidigen. Er hoffte, Zeitungen könnten als Gegengewicht dazu dienen, dass die Lebenswelt durch das System ausgehöhlt wird, oder – anders formuliert – dass sie der Entmündigung durch das moderne parteipolitische System entgegenwirken könnten. Mit Sicherheit nimmt (121)Habermas – vielleicht mehr als jeder andere öffentliche Intellektuelle seiner Generation – seine Rolle als in dieser öffentlichen Sphäre aktiv Mitwirkender sehr ernst. Für die Wiederbelebung dieser Sphäre kommt den Intellektuellen eine Schlüsselrolle zu. Sie sollten die Diskussion in Richtung eines vernünftigen Konsenses führen, statt Meinungsmachern und anderen Medienmanipulatoren zu erlauben, die Meinungsfreiheit zu behindern und die Demokratie zu schwächen. Habermas(122) argumentierte, ein rational erzielter Konsens, den Adornos(625) Negative Dialektik unerbittlich ausgeschlossen hatte, sei für ein gutes Leben nach Auschwitz(17) nötig und möglich. Die Hemmnisse, die der Vernunft und gegenseitigem Verstehen im Weg standen, konnten identifiziert, ergründet und reduziert werden.

Typisch für Habermas(123)’ öffentliches Engagement in der deutschen Presse war seine Einmischung in den Historikerstreit, der sich um die Frage entzündet hatte, wie der Holocaust zu interpretieren sei. Diese Auseinandersetzung zog sich seit 1986 über vier Jahre hin. Der deutsche Historiker Ernst Nolte(1) hatte behauptet, dass »Auschwitz(18) … vor allem eine Reaktion auf die verheerenden Ereignisse der Russischen(16) Revolution war … die sogenannte Vernichtung der Juden während des Dritten Reiches war eine Reaktion beziehungsweise eine verzerrte Nachahmung, nicht ein erster Akt oder das Original«. Nolte erklärte, der Archipel Gulag sei Auschwitz vorausgegangen, und er schloss daraus, dass sich Deutschland(117) angesichts der bolschewistischen Bedrohung »vernünftigerweise« auf den Nationalsozialismus eingelassen habe.[27] Vier Jahrzehnte nach dem Sturz Hitlers(69) spürte Habermas, dass Nolte(2) und andere rechtsgerichtete Historiker versuchten, ihre Nation von der Verantwortung für die Greuel des Dritten Reiches freizusprechen. Erschwerend kam hinzu, dass einige der beteiligten Historiker, gegen die Habermas in seinen Texten Stellung bezog, Intellektuelle waren, die Kontakte zur christdemokratischen Regierung des westdeutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl(1) hatten. Nach Meinung von Habermas(124) stellte ihre revisionistische Darstellung der Endlösung einen politisch motivierten Missbrauch akademischer Geschichtsschreibung dar. Und zu den politischen Motiven gehörte sehr wahrscheinlich auch, dass Kohls Popularität in Deutschland(118) gestärkt und eine Einstellung der westdeutschen Reparationszahlungen an Israel(3) für den Holocaust gerechtfertigt werden sollten.

Habermas(125) sagte von seinen Gegnern, sie würden versuchen, die deutsche Geschichte zu normalisieren und das auszulöschen, was Nolte(3) als »Vergangenheit, die nicht vergehen will« bezeichnete. Diese Historiker, so Habermas, würden darauf abzielen, einer Nation aus ihrer tiefen Beschämung herauszuhelfen, indem sie suggerierten, der Nationalsozialismus sei ein von einer kleinen kriminellen Clique begangener Bruch mit der deutschen Geschichte gewesen. In einer Reihe von Artikeln, in denen er diesen Versuch, »Auschwitz(19) zu normalisieren«, angriff, schrieb er von der »Verpflichtung, dass wir in Deutschland(119) – selbst wenn es niemand sonst mehr auf sich nähme – unverstellt, und nicht nur mit dem Kopf, die Erinnerung an das Leiden der von deutschen Händen Hingemordeten wachhalten müssen«.[28] Während er diese Artikel zu Papier brachte, war dem Verfasser das Gespenst von Adornos(626) neuem kategorischem Imperativ ständig präsent.

Was ihn während des Historikerstreits im Besonderen aufbrachte, war die Wiederbelebung eines in seinen Augen unerträglichen Phänomens: eines deutschen Nationalismus. Habermas(126) verabscheut jede Form von Nationalismus, insbesondere aber einen deutschen Nationalismus. In Besorgnis versetzt ihn unter anderem der Umstand, dass in einem Nationalstaat, vor allem wenn er auf ethnischer Einheit gründet, andere ausgeschlossen werden. Eine weitere Sorge: Die Solidaritätsbande zwischen den Angehörigen einer Nation sind in einem Nationalstaat emotional, sentimental und affektbetont, also nicht offen für kommunikative Vernunft, die er als Voraussetzung für eine gedeihliche Öffentlichkeit ansieht beziehungsweise für eine Zivilgesellschaft, die als Kontrollinstanz für den Staat fungieren kann. Nationalismus hat jedoch die wichtige Aufgabe, das Funktionieren der Mechanismen dessen zu erleichtern, was Habermas(127) als das System bezeichnete, vor allem die staatliche Verwaltung, da Nationalismus den Bürgern das Gefühl vermittelt, zu einer einheitlichen politischen Gemeinschaft zu gehören. Die Bürger werden also eher nicht mit den sozialen Räumen und dem intellektuellen Rüstzeug ausgestattet, das sie zu einer kritischen Kontrollinstanz der Regierung machen würde. In habermas(128)schen Begriffen ausgedrückt: Dieser prädiskursive Nationalismus ist ein Phänomen, das in der Lebenswelt entsteht, aber vom System bestimmt werden kann. Einfacher gefasst: Nationalistische Gefühle können jederzeit ohne Weiteres von politischen Eliten manipuliert werden; genau das hatte Hitler(70) getan, und Habermas(129) empfand verständlicherweise Unbehagen bei dem Gedanken, dass sich die Geschichte wiederholte.

Der in Deutschland(120) aufkommende Nationalismus untergrub vor allem die Idee einer kommunikativen Vernunft, wie Habermas(130) sie in seinem 1981 erschienenen Hauptwerk Die Theorie kommunikativen Handelns ausgeführt hatte. Mittels kommunikativer Vernunft können Gesprächsteilnehmer voneinander und von sich selbst lernen und als selbstverständlich hingenommene Annahmen infrage stellen. Am Ende eines der in der Geschichtsschreibung brutalsten Jahrhunderte und angesichts der drohenden Gefahr, dass es noch schlimmer kommen könnte, klang das verlockend – wie eine Fortsetzung der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission. Doch genau das geschah offensichtlich nicht, als Ende der 1980er Jahre Deutschland(121) auf die Vereinigung zustürzte. Habermas(131) mahnte damals immer wieder zur Vorsicht; er befürchtete, Vereinigung sei lediglich eine höfliche Umschreibung dafür, dass eine wirtschaftlich erfolgreiche westliche Republik einen ehemaligen sowjetischen(46) Satellitenstaat annektierte.[29] Er hatte die Sorge, die Wiedervereinigung würde mit einer solchen Geschwindigkeit erfolgen, dass ostdeutsche Bürger von westdeutschen Bürokraten der Bundesrepublik(122) vereinnahmt würden, ohne auch nur ansatzweise die Möglichkeit zu erhalten, sich zu der Art von Gesellschaft, in der sie leben wollten, zu äußern. Wiedervereinigung sollte – so zumindest seine Hoffnung – mehr bedeuten als nur ökonomische Vorteile für die Bürger der ehemaligen DDR. Für Habermas(132) profitierten möglicherweise westdeutsche Politeliten davon, wie die Wiedervereinigung vorgenommen worden war, doch kommunikative Vernunft – jener dialogische Konsens, den er als Kennzeichen eines reifen Gemeinwesens ansah – musste dabei außen vor bleiben. Mit anderen Worten: Einmal mehr wirkte sich das System verarmend auf die Lebenswelt aus.

In seinen Texten aus den 1980er und 1990er Jahren brachte Habermas(133) seine Besorgnis zum Ausdruck, dass ein prädiskursiver Nationalismus das untergrub, was er an der Entwicklung seiner Heimat seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs schätzte. Er war einigermaßen stolz auf die Tatsache, dass sich die Bundesrepublik(123) zugunsten des von ihm sogenannten »konstitutionellen Patriotismus« vom Nationalismus abgewandt hatte. In seinem Essay Die nachholende Revolution heißt es: »Für uns in der Bundesrepublik(124) bedeutet Verfassungspatriotismus unter anderem den Stolz darauf, dass es uns gelungen ist, den Faschismus auch auf Dauer zu überwinden, eine rechtsstaatliche Ordnung zu etablieren und diese in einer halbwegs liberalen politischen Kultur zu verankern.«[30] Er hoffte, Verfassungspatriotismus könne an die Stelle des Nationalismus treten.

Man könnte jetzt natürlich einwenden, nur ein Akademiker könne Verfassungspatriotismus inspirierend finden. Jedoch ist der habermas(134)sche Wunsch, einen Ersatz für den wieder erstarkenden Nationalismus zu finden, vollkommen nachvollziehbar. Die unsäglichen Verbrechen, die zwischen 1933 und 1945 von der deutschen Nation begangen wurden, haben den Bürgern dieser Nation immerhin – im Unterschied zu anderen Europäern – die Möglichkeit eröffnet, sich mit den Verblendungen des Nationalismus auseinanderzusetzen. Mit Sicherheit haben die Engländer – teilweise wegen des triumphalistischen nationalen Narrativs, das zur giftigen Ausbeute ihres Sieges gehörte – nur selten über die Tücken eines exklusiven rassistischen Nationalismus nachgedacht, zu dem wir so häufig neigen. Wenn der habermassche Verfassungspatriotismus vielleicht auch nicht inspirierend wirkt, dann hat er doch etwas Bewundernswertes an sich, nicht zuletzt in einer Zeit, da Westeuropa zunehmend multikulturell wird. Wenn multikulturelle Gesellschaften funktionieren sollen, dann muss jeglicher Nationalismus überwunden werden, und zwar mit einer Form demokratischer Verfassung, in welcher sich Menschen sämtlicher unterschiedlichen Ethnien, Religionen und Kulturen zu Hause fühlen können.

Habermas(135) betonte auch, dass diese Verfassung mit dem moralischen Empfinden sämtlicher Gruppen in einem politischen Gemeinwesen übereinstimmen muss. Die westeuropäischen Länder können in Zukunft nicht mehr von der (traditionellerweise christlich geprägten) Vorstellung vom Wohl einer Mehrheit zusammengehalten werden. Verfassungspatriotismus, so wie sich Habermas ihn vorstellt, sollte als Bollwerk gegen den von ihm verabscheuten schlechten Nationalismus dienen, in welchem er Impulse am Werk sah, die Hitler(71) für seine Ziele ausgeschlachtet hatte. Außerdem sollte Verfassungspatriotismus weder ausschließend sein noch auf nur einer einzigen Idee des Guten basieren: Das Gute sollte etwas sein, dem jeder in einem Gemeinwesen zustimmen kann, da es den Stolz auf das freie, gerechte Funktionieren des Staates ausdrückt, der ständig unter der Beobachtung durch eine starke Öffentlichkeit oder Bürgergesellschaft steht. So sah jedenfalls die vermeintlich inspirierende Vorstellung von Habermas aus. Nicht davon inspirieren ließen sich offensichtlich jene Rassisten, die nach der Wiedervereinigung, als das neue Deutschland(125) mit wachsender Arbeitslosigkeit zu kämpfen hatte, in den ostdeutschen Städten Rostock und Hoyerswerda ausländische Gastarbeiter angriffen.

Habermas(136)’ skeptische Haltung zum Nationalismus prägte auch seinen Traum von einer europäischen Vereinigung – einer Vision, die, als das neue Jahrtausend in seine Teenagerjahre eintrat, utopisch wirkte: Damals drohte die griechische Schuldenkrise, die Eurozone und damit die Grundlage politischer Integration zu zerstören. In seinem 2009 erschienenen Buch Europe: Faltering Project(37) heißt es, »das monströse Ausmaß an Verbrechen des 20. Jahrhunderts« bedeute, dass Nationen nicht länger behaupten können, unschuldig und damit immun gegen internationales Recht zu sein.[31] Verfassungspatriotismus ist also eine Zwischenstation auf dem Weg zu dem größeren Ziel, kleinkarierte Nationalismen durch eine bessere, vernünftigere Organisation zu ersetzen, die auf weltweitem Konsens beruht.

Habermas(137) hoffte, ein stärker vereintes Europa(38) könne in enger Zusammenarbeit mit den USA eine stabilere, gerechtere internationale Ordnung begründen. 2010 sagte er mir, Europa müsse US-Präsident Barack Obama(1) bei seinen internationalen Zielen unterstützen, etwa bei der Abrüstung und Friedenssicherung im Nahen Osten; außerdem solle es Washington(5) ermutigen, die Finanzmärkte zu regulieren und dem Klimawandel entgegenzuwirken. »Aber wie schon so oft fehlt den Europäern der politische Wille und das nötige Stehvermögen. Misst man es an den Erwartungen, die ihm auf internationaler Ebene entgegengebracht werden, so ist Europa auf der internationalen Bühne ein ziemlicher Reinfall.«[32]

Im Titel des Buches – Ach, Europa(39) – kommt die Sehnsucht des Autors nach einer transnationalen Gemeinschaft zum Ausdruck, einer Gemeinschaft, mithilfe derer der europäische Albtraum des Nationalismus überwunden werden kann, der zu zwei Weltkriegen geführt hatte. Dass es in näherer Zukunft auf dem europäischen Kontinent zu einem Holocaust kommen würde, war unwahrscheinlich. Als unverdrossene Pollyanna ergatterte Habermas(138) noch aus dem Rachen scheinbarer Hoffnungslosigkeit ein Zipfelchen Optimismus: Als ich ihm gegenüber meinte, die Europäische Union sei zu weit entfernt von ihren Bürgern, um inspirierend wirken zu können, und jedenfalls würden doch die griechische Krise und die Haltung, die die deutsche Regierung dazu einnahm, die zukünftige Existenz der EU bedrohen, erwiderte Habermas: »Die griechische Schuldenkrise hatte eine positive Nebenwirkung. In einem Augenblick größter Schwäche wurde die Europäische Union in eine Diskussion über das zentrale Problem ihrer zukünftigen Entwicklung gezwungen.« Er räumte allerdings ein, dass der in Deutschland(126) wieder erstarkende Narzissmus eines der größten Probleme der EU und eine Hemmschwelle bei der Überwindung nationaler Grenzen sei. Das Schreckgespenst eines deutschen Nationalismus, das ihm bereits in den ausgehenden 1980er Jahren Sorgen bereitet hatte, ließ auch jetzt wieder Bedenken aufkommen. Mir gegenüber äußerte er, Angela Merkel(1)s Deutschland(127) sei genauso nationalistisch wie Thatchers(1) Großbritannien(12). »Die deutschen Eliten genießen offensichtlich den Komfort einer selbstzufriedenen nationalen Normalität: ›Wir können wieder wie die anderen sein!‹ … Die Bereitschaft eines vollständig besiegten Volkes, schneller zu lernen, ist verschwunden. Die narzisstische Mentalität eines mit sich selbst zufriedenen Kolosses in der Mitte von Europa ist nicht einmal mehr eine Garantie dafür, dass der labile Status quo der EU erhalten bleibt.«[33] Er befürchtete hier ebenso wie während des Historikerstreits, dass Deutschlands einzigartige Schande – seine Verantwortlichkeit für den Holocaust –, die dem Land eine einzigartige, geläutert-einsichtsvolle Identität auferlegt hatte, in Vergessenheit geriet.

Aber wie auch immer – wie ist es möglich, dass die europäische Einigung seinen Traum verwirklichen hilft, die Demokratie auszuweiten und zu bereichern, wenn diese Einigung auch weiterhin ein Elitenprojekt bleibt? Habermas(139) glaubt, dass Europa(40) – ähnlich wie das Internet – keine Öffentlichkeit geschaffen habe, in welcher Bürger ihre Meinungen frei und unabhängig von ihrem sozialen Status äußern können. Wie kann dieser Zustand verändert werden? Er erklärte, dass »eine Koordinierung der Wirtschaftspolitik in der Eurozone auch zur Integration der Politik in andere Bereiche führen würde. So könnte das, was bis jetzt tendenziell ein verwaltungstechnisches Projekt war, auch in den Köpfen und Herzen der nationalen Bevölkerungen Wurzeln schlagen.« Wieder so eine Pollyanna-Hoffnung: Das System kann – in einer virtuosen Spirale oder Feedbackschleife – der Lebenswelt dienen, die ihrerseits wieder das System bereichert. Allerdings scheint das doch eine recht vage Möglichkeit zu sein, vor allem jetzt, da die Führer und Führerinnen Europas sich in aggressiven, grenzüberschreitenden Sticheleien gefallen und nicht aus ihren Nationalismen herauskommen.

Warum setzt Habermas(140) so viel Hoffnung auf ein vereintes Europa(41)? Warum hat er sich nicht für ein neoliberales Netzwerk europäischer Staaten entschieden, in dem jeder jeweils als eigennütziger Player in einer kapitalistischen Welt agiert? »Abgesehen von der Unempfänglichkeit für die externen Kosten der sozialen Unruhen, die [eine neoliberale Politik] stillschweigend voraussetzt«, so seine(141) Antwort,

regt mich das Fehlen eines historischen Verständnisses für die Verschiebungen in der Beziehung zwischen Markt und politischer Macht auf. Seit Beginn der Moderne hatten expandierende Märkte und Kommunikationsnetzwerke eine explosive Kraft, mit zugleich individualisierenden und befreienden Folgen für die einzelnen Bürger; jede einzelne dieser Öffnungen jedoch wurde abgelöst durch eine Neuorganisierung der alten Solidaritätsbeziehungen innerhalb eines erweiterten institutionellen Netzwerks.

Typisch Habermas(142): Statt sich in die Hoffnungslosigkeit eines marxistisch(380) inspirierten Philosophen fallen zu lassen, der sich einem haltlos grassierenden, für die Art der von ihm angestrebten egalitären Politik extrem destruktiven Kapitalismus gegenübersieht, erzählte er mir eine Geschichte über die Vergangenheit, die darauf hinzuweisen scheint, dass die Dinge gar nicht so hoffnungslos sind, wie wir es befürchtet haben. »Wieder und wieder wurde ein hinreichendes Gleichgewicht zwischen Markt und Politik erreicht, mit dem es möglich war zu verhindern, dass das Netzwerk der sozialen Beziehungen zwischen den Bürgern eines politischen Gemeinwesens heillos beschädigt wurde. Diesem Rhythmus zufolge müsste auf die gegenwärtige Phase einer vom Finanzmarkt gesteuerten Globalisierung ebenfalls eine Stärkung der internationalen Gemeinschaft folgen.«[34] Also eine dialektische Version der jüngsten Geschichte – allerdings sicher keine, die von Adorno(627) stammen könnte.

Im Unterschied zu seinen Lehrern fand Habermas(143) immer Gründe, sich seine positive und ambitionierte Einstellung zu politischen Reformen zu bewahren. Seine Laufbahn kann als eine heroisch hoffnungsvolle Reaktion auf die pessimistischen Werke seiner Lehrer und auf den in Europa(42) vorherrschenden intellektuellen Zeitgeist betrachtet werden. Adorno(628) hatte sich ebenso wie Marx(381) nur sehr sparsam zu der Frage geäußert, wie eine gute oder vernünftige Gesellschaft aussehen sollte, und Poststrukturalisten wie Foucault(2) waren gegenüber Institutionen generell extrem argwöhnisch. Habermas(144) verbrachte im Unterschied dazu einen Großteil seines Lebens damit, Bücher zu schreiben, in welchen er die Bedingungen formulierte, die für die Autonomie des Individuums am produktivsten sind, und die es fähig machen, sich der homogenisierenden Natur des Kapitalismus und den destruktiven Auswirkungen staatlicher Verwaltung zu entziehen. Horkheimer(309) und Adorno(629) hatten Emanzipation mit der Weigerung verknüpft, sich an die gegebene soziale Realität anzupassen; die außergewöhnliche Hoffnung des Jürgen Habermas(145) besteht darin, dass die soziale Realität veränderbar ist, indem wahrhaft demokratische Einrichtungen geschaffen werden, mit denen gegen die zerstörerischen Auswirkungen des Kapitalismus vorgegangen werden kann.

Aber war Adorno(630) nicht vielleicht doch zu Recht verzweifelt? Gut, wir haben das Dritte Reich hinter uns gelassen, allerdings leben wir in einer Zeit, da das Bekenntnis zur Demokratie offensichtlich nicht hoch im Kurs steht. Die Vorstellung einer gut funktionierenden Öffentlichkeit scheint der verrückte Traum eines grotesk unverbesserlichen Optimisten zu sein. »Es gibt gute Gründe, sich Sorgen zu machen«, antwortete Habermas(146), als ich ihn damit konfrontierte:

Einige Leute denken bereits, autoritär strukturierte Massendemokratien würden unter den Rahmenbedingungen einer globalisierten Weltwirtschaft das funktional überlegene Modell abgeben … Heute sind viele Menschen von der zunehmenden sozialen Komplexität eingeschüchtert, die die Individuen in immer komplexere Handlungs- und Kommunikationskontexte einspannt. In dieser Stimmung wird die Vorstellung, die Bürger eines politischen Gemeinwesens könnten nach wie vor mit Hilfe demokratischer Prozeduren auf ihr soziales Schicksal kollektiven Einfluss nehmen, auch von Intellektuellen als fehlgeleitetes Erbe der Aufklärung schlechtgeredet. Das liberale Vertrauen in die Idee autonomen Lebens ist heute beschränkt auf die individuelle Wahlfreiheit der Konsumenten, die am Tropf zufälliger Anreizstrukturen hängen.[35]

Doch diese Wahlfreiheit, das wusste Habermas(147) von der ersten Frankfurter Gelehrtengeneration, insbesondere von Marcuse(260), war alles andere als Freiheit. Ebenso wie Marcuse kämpfte Habermas darum, sich seinen Weg aus der eindimensionalen Gesellschaft heraus zu theoretisieren.

Bedeutende Kritiker wie die Philosophen Richard Rorty(1) und Slavoj Žižek(3) meinten, das von Habermas(148) gesponnene immense intellektuelle Theorienetz sei unangebracht. Sie legten dar, die Öffentlichkeit als einen Raum für ausschließlich rationale, unabhängige Auseinandersetzungen habe es nie gegeben, und die von Habermas so hochgeschätzte und pedantisch theoretisierte Vorstellung kommunikativen Handelns sei ein professoraler utopischer Traum, der niemals umgesetzt werden könne. Die Möglichkeit ungehinderter Diskussion als Grundlage politischer Legitimität sei eine schöne, allerdings verblendete Hoffnung. Gegen dergleichen Kritik nahm Habermas(149) – der Unzeitgemäße, der Utopist und Modernist in einer postmodernen Dystopie, gleichzeitig aber auch der Engagierteste von allen europäischen öffentlich wirksamen Intellektuellen – in einem Interview Stellung: »Wenn ich mir einen Rest Utopie bewahrt habe, dann ist es allein die Vorstellung, dass Demokratie – und der offene Streit um ihre besten Formen – den Gordischen Knoten der schier unlösbaren Probleme zerhauen kann. Ich sage nicht, dass uns das gelingen wird. Wir wissen nicht einmal, ob es uns gelingen könnte. Aber weil wir es nicht wissen, müssen wir es wenigstens versuchen(150)[36]

Die Intensität, mit der Habermas(151) sich bemühte, diesen Gordischen Knoten durchzuhauen, hatte eine unerwartete Konsequenz. Wenige Jahre nach 9 / 11 publizierte er »Ein Bewusstsein von dem, was fehlt« (Haupttitel der später in englischer Übersetzung erschienenen Ausgabe: An Awareness of What is Missing: Faith and Reason in a Post-Secular Age), das einen bemerkenswerten Bruch mit seiner früheren Philosophie darstellt. Früher hatte er festgehalten, dass »die Autorität des Heiligen sukzessive durch die Autorität eines jeweils für begründet gehaltenen Konsenses ersetzt wird«.[37] Das, so seine Annahme, sei eines der guten Vermächtnisse der Aufklärung gewesen: Das Aufkommen einer säkularen Ethik und die Abnahme religiöser Autorität erlaubten uns, selbst zu denken und uns unsere eigene Vorstellung vom Guten zu entwickeln.

Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends überdachte er(152) allerdings die Rolle der Religion im öffentlichen Leben noch einmal neu:

Mit dem Vernunftdefätismus, der uns heute sowohl in der postmodernen Zuspitzung der »Dialektik der Aufklärung« wie im wissenschaftsgläubigen Naturalismus begegnet, kann das nachmetaphysische Denken alleine fertig werden. Anders verhält es sich mit einer praktischen Vernunft, die ohne geschichtsphilosophischen Rückhalt an der motivierenden Kraft ihrer guten Gründe verzweifelt, weil die Tendenzen einer entgleisenden Modernisierung den Geboten ihrer Gerechtigkeitsmoral weniger entgegenkommen als entgegenarbeiten(153).[38]

Allerdings kann der liberale Staat, der auf einer Grundlage prozeduraler Rationalität aufruht, seine Bürger nicht zu tugendhaften (im Unterschied zu eigennützigen) Handlungen motivieren, weil »der aufgeklärten Vernunft die religiös konservierten Bilder vom sittlichen Ganzen – vom Reich Gottes auf Erden – als kollektiv verbindliche Ideale entgleiten müssen«.[39] Zu seiner(154) Vorstellung vom Verfassungspatriotismus hatte ein solches Ideal gehört, ein Ideal, das unterschiedliche Gruppen in einer multikulturellen Gesellschaft würde ansprechen können, selbst dann, wenn jede dieser Gruppen ihrer eigenen Vorstellung vom Guten nachging. Allerdings war dieser Verfassungspatriotismus ganz offensichtlich für Bürger weniger inspirierend als für den Professor. Man füge also Religion hinzu, um zu leisten, wozu Vernunft und Aufklärung offensichtlich nicht imstande waren.

Habermas(155) ließ es bei seiner Beschäftigung mit der Religion damit nicht bewenden. Im Jahr 2004 trafen sich zwei ältere Herren, beide ehemalige Mitglieder der Hitlerjugend, anlässlich einer Veranstaltung der Katholischen Akademie in Bayern, um sich über das Thema »Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates« auszutauschen. Einer der Herren war Habermas, Professor und Linksintellektueller; der andere Kardinal Ratzinger(2)(2), der wenig später Papst Benedikt XVI. werden sollte. Habermas führte an, der liberale Staat solle »mit allen kulturellen Quellen schonend umgehen, aus denen sich das Normbewusstsein und die Solidarität von Bürgern speist«, nicht zuletzt weil sie wichtige Verbündete im eigenen Kampf gegen die entfremdenden Mächte der modernen Welt seien. Ratzinger erwiderte gleichermaßen entgegenkommend, das »göttliche Licht der Vernunft« müsse bei der Kontrolle der »Pathologien der Religion« eine Rolle spielen.[40]

Liest man das Transkript ihrer Unterhaltung, fällt einem respektloserweise unwillkürlich der Schluss von Orwell(1)s Farm der Tiere (Animal Farm) ein, wo es über die vor dem Bauernhaus stehenden Tiere heißt: »Die Tiere draußen schauten von Schwein zu Mensch und von Mensch zu Schwein, und dann nochmals von Schwein zu Mensch; aber es war bereits unmöglich zu sagen, wer was war.« Teilweise konnte man während der Debatte zwischen Ratzinger und (3)Habermas(156) kaum sagen, wer der Kardinal und wer der einstige Streiter für das profane Erbe der Aufklärung war.

Habermas(157) wies sogar darauf hin, dass religiöse Vorstellungen ihre Parallelen in der säkularen Vernunft hätten und dass infolgedessen die Aufklärung mit jüdisch-christlichen Werten durchsetzt sei. So findet etwa die biblische Vision von der Gottebenbildlichkeit des Menschen ihren profanen Ausdruck im Prinzip der Ebenbürtigkeit aller Menschen. Beim Transfer kam allerdings etwas abhanden: »Als sich Sünde in Schuld und das Vergehen gegen göttliche Gebote in einen Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelten, ging etwas verloren.« Das klingt so, als wolle Habermas(158) zum Ausdruck bringen, dass die Aufklärung eine gottförmige Leerstelle habe und dass der säkulare Bereich für sein Gedeihen nicht ohne das Religiöse auskommen könne, von dem er sich programmatisch distanziert hatte. Habermas(159) führte aus: »Unter den modernen Gesellschaften wird nur diejenige, die wesentliche Gehalte ihrer religiösen, über das bloß Humane hinausweisende Überlieferungen in die Bezirke der Profanität einbringen kann, auch die Substanz des Humanen retten können(160)[41]

Was aber wollte er damit sagen? 2007 nahm Habermas(161) an einem Gespräch mit vier jesuitischen Akademikern in München(5) teil, das später unter dem Titel »Ein Bewusstsein von dem, was fehlt« veröffentlicht wurde. Darin erinnert er sich an das Begräbnis eines Freundes, der während seines Lebens »jedes Glaubensbekenntnis verweigerte«, allerdings vor seinem Tod den Wunsch äußerte, dass sein Gedenkgottesdienst in der Kirche St. Peter in Zürich(3) abgehalten werde. Habermas meint dazu, sein Freund habe »die Peinlichkeit nichtreligiöser Bestattungsformen empfunden und durch die Wahl des Ortes öffentlich die Tatsache dokumentiert, dass die aufgeklärte Moderne kein angemessenes Äquivalent für eine religiöse Bewältigung des letzten, eine Lebensgeschichte abschließenden rîte de passage gefunden hat«(162). Sehr überzeugend klingt die Geschichte nicht: Viele Atheisten und Agnostiker haben ihre geliebten Verstorbenen bei Begräbnisveranstaltungen betrauert, die nicht auf heiligem Boden stattfanden, ohne das Gefühl von Hilflosigkeit oder Versagen empfunden zu haben, das Habermas seinem Freund unterstellt. Dennoch beschreibt er es »als ein paradoxes Ereignis … das uns etwas über die säkulare Vernunft sagt(163)«.[42]

Was Habermas(164) uns über die säkulare Vernunft vermitteln möchte, auf deren Ruhm und Lobpreis er den größten Teil seines Lebenswerks gewendet hat, sowie über den modernen säkularen Staat, ist der Umstand, dass beiden fehlt, was eine religiöse Autorität den Gläubigen bietet: nicht nur Erlösung, sondern die Motivation für eine tugendhafte Lebensweise. Die säkulare Vernunft kranke an einer »motivationalen Schwäche«, da sie nicht dazu in der Lage war, die Bürger zu tugendhaften Handlungen zu inspirieren. Habermas(165) verwirft die säkulare Vernunft nicht gänzlich. Er möchte an den »kognitiven Errungenschaften der Moderne« festhalten – an Toleranz, Gleichheit, Freiheit des Individuums, Gedankenfreiheit, Weltoffenheit und wissenschaftlichem Fortschritt. Er möchte auch den Fundamentalismen etwas entgegensetzen, die sich bewusst abschneiden von allem, was am Projekt Aufklärung gut ist. Er schlägt aber noch ein Weiteres vor, das Stanley Fish(5) als »nicht so sehr eine Fusion, sondern eher« als »ein Abkommen zwischen Handelspartnern« charakterisierte:[43]

Die religiöse Seite muss die Autorität der »natürlichen« Vernunft anerkennen als die fehlbaren Ergebnisse der institutionalisierten Wissenschaften und die Grundsätze eines universalistischen Egalitarismus in Recht und Moral. Umgekehrt darf sich die säkulare Vernunft nicht zum Richter über Glaubenswahrheiten aufwerfen, auch wenn sie im Ergebnis nur das, was sie in ihre eigenen, im Prinzip allgemein zugänglichen Diskurse übersetzen kann, als vernünftig akzeptiert(6).[44]

Habermas(166) empfiehlt also, dem Glauben gegenüber eine tolerante Haltung einzunehmen, die an das erinnert, was der amerikanische Journalist H. L. Mencken(1) einmal folgendermaßen umriss: »Wir müssen die Religion des Mitmenschen akzeptieren, allerdings nur in dem Sinn und in dem Ausmaß, wie wir seine Theorie akzeptieren, dass seine Frau hübsch und seine Kinder klug sind.«[45] So geartete Toleranz war immerhin eine Errungenschaft der Aufklärung, an der man zu Recht festhalten durfte.

Habermas(167) jedoch erklärt, dass das grandiose Ergebnis der Aufklärung, die säkulare Vernunft, »über sich selbst unaufgeklärt« sei – sie weiß nicht, wozu sie da ist. Er hat also in der Mitte seines intellektuellen Netzes etwas diagnostiziert, das die Vertreter der Kritischen Theorie so virtuos in den Theorien anderer Denker aufgedeckt hatten: eine Aporie (ein aus dem Griechischen stammendes Wort, das »Kein Durchgang« bedeutet und häufig auf Ratlosigkeit verweist). Zwei seiner Interpreten versuchten, die habermassche Darstellung der säkularen Vernunft mit ihrer aporetischen Natur auf den Punkt zu bringen. Wenn der moderne Westen als mehr wahrgenommen werden möchte denn lediglich als »gottlos«, so Edward Skidelsky(1), »wenn er nicht nur Angst, sondern auch Respekt einflößen soll, dann muss er seine ethische Substanz wiederentdecken«. Das aber machte eine Versöhnung mit seinem religiösen Erbe notwendig.[46] Und Stanley Fish(7) merkte an: »Das Problem ist: Eine politische Struktur, die sämtliche Weltanschauungen auf dem Marktplatz der Ideen willkommen heißt, sich selbst jedoch durchweg von allem fernhält, hat keine Grundlage, um die Ergebnisse zu beurteilen, die durch die Handlungsweisen dieser Struktur verursacht werden.«[47]

Aber die ausgefeilten intellektuellen habermas(168)schen Systeme – seine Diskursethik und sein Programm politischer Theorie – waren ausdrücklich mit dem Ziel entworfen, dass sich das, was Fish(8) als »die auf dem Marktplatz der Ideen willkommen geheißenen Weltanschauungen« bezeichnete, gedeihlich entwickeln konnte, solange es die moralische Ordnung einer liberalen Gesellschaft nicht umstürzte.

Habermas(169) macht einen Unterschied zwischen Ethik und Moral: Erstere bezieht sich auf Fragen des individuellen Glücks und des Wohles von Gemeinwesen; letztere hat mit der Entscheidung zu tun, ob Handlungen im Hinblick auf gültige Normen richtig oder falsch sind. Moralische Ordnung ist davon abhängig, dass die meisten Beteiligten diesen Normen zustimmen, und das werden sie nur tun, wenn in diesen Normen klar und deutlich ein verallgemeinerbares Interesse zum Ausdruck kommt.

So verstandene Moralität ist kantisch; der Ethik hingegen liegt eine aristotelische Vorstellung des guten Lebens und der guten Gemeinschaft zugrunde. Fishs(9) Beschreibung der habermas(170)schen säkularen Vernunft ist also nicht ganz zutreffend: Die politische Struktur, die sämtliche Weltanschauungen auf ihrem Marktplatz der Ideen zulässt, hat durchaus eine Möglichkeit, mit der sie die Ergebnisse der vertretenen Handlungsweisen beurteilen kann: Eine Handlung ist richtig oder falsch, je nachdem, ob sie aufgrund einer nachweislich gültigen Norm, der die Handelnden zustimmen können, erlaubt oder verboten ist, und sie stimmen jenen Normen zu, die für ein allgemeines Interesse stehen – etwa: Verhalte dich nicht grausam gegenüber deinen Kindern oder sei nett zu Freunden. Eben weil sie einem solchen universellen Interesse unterliegen, können sie dazu beitragen, die Gesellschaft zusammenzuhalten, auch eine Gesellschaft, die aus unterschiedlichen Religionen, Ethnien und Vorstellungen vom guten Leben besteht. Allerdings sind solche Normen dann wahrscheinlich sehr allgemein. So wie Rawls(3) dem Recht einen Vorrang vor dem Guten einräumte, teilweise um Fairness und Stabilität in der modernen liberalen Gesellschaft zu gewährleisten, so wiegt für Habermas die Moral mehr als die Ethik: Gültige Normen sollten vor inhaltlich bestimmten Konzepten vom Guten, die im engeren Sinn ethisch sind, den Vorrang haben.

Hier tut sich allerdings im Zusammenhang mit der habermas(171)schen Diskursethik ein Problem auf. Habermas möchte Normen von Werten trennen – Normen sind universalisierbar, also moralisch; Werte sind nicht universalisierbar, also ethisch. Kritiker wie Thomas McCarthy(1) und Hilary Putnam(1) haben dagegen argumentiert, dass die Unterscheidung zwischen Normen und Werten nicht so scharf sei, wie Habermas(172) sie zu sehen wünschte, da sich moralische Normen aus Werten wie Freundschaft und Freundlichkeit entwickeln.[48] Das Anliegen von Habermas war eine Art Immunisierungsprojekt, das die moralische Ordnung davor schützen sollte, durch ethische Werte infiziert zu werden. Er hoffte, eine solche Immunisierung würde die Ausbreitung von Konflikten in multikulturellen Gesellschaften aufhalten. Kritiker wie (2)McCarthy und Putnam(2) wiesen jedoch darauf hin, dass die moralische Ordnung säkularer Staaten Normen vertrete, die bereits getränkt seien mit ethischen, teilweise religiösen Werten.

Habermas(173) geht es in »Ein Bewusstsein von dem, was fehlt« darum, dass diese religiösen Werte im Übergang vom säkularen zum postsäkularen Zeitalter (ein seiner Meinung nach notwendiger Übergang) berücksichtigt werden müssen, weil sie dazu dienen können, den Zusammenhalt von Gesellschaften zu gewährleisten. Der liberale Staat sollte sämtliche kulturellen Quellen, aus denen sich das normative Bewusstsein und die Solidarität der Bürger speist, mit Sorgfalt behandeln. Der militante Atheismus eines Richard Dawkins(2) oder des verstorbenen Christopher Hitchens(1), die in der Religion ein Phänomen sahen, das aus der säkularen Gesellschaft verbannt werden musste, ist ganz und gar nicht seine Sache: »Der liberale Staat muss von seinen säkularen Bürgern erwarten, dass sie in ihrer Rolle als Staatsbürger religiöse Äußerungen nicht für schlechthin irrational halten.«[49] Religion könnte geradezu zweckdienlich sein; er setzt seine Hoffnung darauf, dass sie eingesetzt werden könnte, um sozialen Brüchen und der Entfremdung vom modernen liberalen Staat entgegenzuwirken. Faktisch wird Religion von Habermas(174) instrumentalisiert. In einem Vortrag im Jahr 2001 beschrieb er 9 / 11 als eine Reaktion auf »eine beschleunigte und radikal entwurzelnde Modernisierung«.[50] Die Terrorangriffe und die Ausbreitung von religiösem Fundamentalismus waren Reaktionen auf eine Entfremdung von dieser Modernisierung, und er hoffte, eine nicht fundamentalistische Religion könne dabei behilflich sein, diese Entfremdung zu überwinden. Ob allerdings die katholische Kirche tatsächlich bereit war, für diese Aufgabe vereinnahmt zu werden, ist weniger klar.

Die Begegnung des Jürgen Habermas(175) mit der Religion macht so mancherlei auf packende Weise deutlich – nicht zuletzt die Lücken in seinem eigenen intellektuellen System und die Schwierigkeit, ein relativ reibungsloses Funktionieren moderner liberaler Gesellschaften aufrechtzuerhalten. Im Zusammenhang mit unserer Fragestellung markiert sie aber auch die lange Reise, die die Frankfurter Vertreter der Kritischen Theorie seit der Gründung des marxistischen Forschungsinstituts in den frühen 1920er Jahren hinter sich gebracht haben. Statt Religion als Opium für das Volk anzusehen, das sich in einer kommunistischen Gesellschaft erübrigt haben würde, betrachteten die Frankfurter Denker die Religion jetzt als unverzichtbare Verbündete.