In Jonathan Franzen(1)s 2001 erschienenem Roman Die Korrekturen löst Chip Lambert(1) seine Bibliothek auf. Er verkauft seine Sammlung von Büchern der Frankfurter Schule, außerdem »seine Feministen, seine Formalisten, seine Strukturalisten, seine Poststrukturalisten, seine Freudianer und seine Schwulen«, denn er braucht Geld, um seine neue Freundin beeindrucken zu können. Lambert(2) ist genau die Art von Typ, der meterweise marxistische(382) kulturkritische Bände auf seinen Regalbrettern stehen hat. Ehemaliger Assistenzprofessor im Fachbereich Text-Artefakte, Lehrer für Verbrauchernarrative, Dozent zum Thema Phallusängste im Tudor-Drama, hatte Lambert(3) das Universitätsleben gerade hinter sich gelassen, um Drehbücher zu verfassen. Vor allem die Trennung von seinen von den Frankfurter Gelehrten geschriebenen Büchern ist ein schmerzensreicher Prozess. »Er wandte sich von ihren vorwurfsvollen Rücken ab und erinnerte sich, wie jedes einzelne von ihnen damals, in den Buchhandlungen, eine radikale Kritik der spätkapitalistischen Gesellschaft verheißen hatte … Aber Jürgen Habermas(176) hatte nicht Julias lange, kühle Birnbaumbeine, Theodor Adorno(631) nicht Julias traubigen Duft lüsterner Geschmeidigkeit, Fred Jameson(2) nicht Julias geschickte Zunge.«[1]
Ich weiß, was Sie sich fragen: Wenn Adorno(632) Julias traubigen Duft lüsterner Geschmeidigkeit ausgestrahlt hätte – hätte Chip Lambert(4) dann sein Exemplar von Dialektik der Aufklärung behalten? Ich würde sagen – nicht einmal dann.
Lambert(5) bringt seine Bücher in den Strand Bookstore in Lower Manhattan. Seine Bibliothek hatte ihn fast viertausend Dollar gekostet; der Wiederverkaufswert belief sich auf fünfundsechzig. Er steckt die Einnahmen in »Norwegischen Wildlachs, handgeangelt« für 78,40 Dollar – in einem exklusiven Feinkostladen namens »Albtraum des Konsums«. Das alles geschieht in den 1990er Jahren, zu einer Zeit, so möchte Franzen(2) offenbar nahelegen, da der Konsumerismus so schamlose Züge angenommen hatte, dass es für luxuriöse Delikatessengeschäfte vorteilhaft und erfolgversprechend war, sich ironisch der Rhetorik der Kapitalismuskritik für die Namen ihrer Läden zu bedienen.
In diesem Jahrzehnt wurde außerdem der Albtraum der Frankfurter Theoretiker wahr. Es gab, wie Margaret Thatcher(2) es formulierte, keine Alternative: Keine Alternative zum Kapitalismus, zur eindimensionalen Gesellschaft, zur liberalen Demokratie. Als wollte er diesen Umstand endgültig besiegeln, beschloss der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama in den 1990er Jahren(1), ein Fragezeichen zu tilgen. 1989 hatte er einen Aufsatz verfasst unter dem Titel »Das Ende der Geschichte?«, in welchem er die These vertritt, dass es zeitlich jenseits der liberalen Demokratie kein neues Stadium mehr geben könne, und zwar eben aus dem Grund, weil dieses System das größtmögliche Ausmaß, ein Individuum anzuerkennen, bot. Drei Jahre später, als Fukuyama sein Buch The End of History and the Last Man (deutsch: Das Ende der Geschichte: Wo stehen wir?) veröffentlichte, war das Fragezeichen verschwunden. Möglicherweise schmuggelte er seine neokonservative Agenda in seine postideologische Abhandlung hinein, doch Fukuyamas(2) Vision, dass die großen ideologischen Schlachten zwischen Ost und West Vergangenheit waren und dass die liberale westliche Demokratie triumphiert hatte, schien unbestreitbar.
Alles was blieb, war eine Ewigkeit, die sehr stark nach Langeweile klang: »Das Ende der Geschichte wird eine sehr traurige Zeit sein«, schreibt er. »Der Kampf um Anerkennung, die Bereitschaft, sein Leben für ein abstraktes Ziel aufs Spiel zu setzen, der weltweite ideologische Kampf, der Kühnheit, Mut, Phantasie und Idealismus freisetzte – all das wird ersetzt durch ökonomische Kalkulation, das endlose Lösen technischer Probleme, Umweltsorgen und die Befriedigung der Bedürfnisse anspruchsvoller Konsumenten.«[2] Fukuyama(3) spekulierte, dass die Aussicht auf eine solche Langeweile der Geschichte ja zu einem Neustart verhelfen könnte.
Die Frage nach dem Kampf um Anerkennung stellte für Fukuyama(4) ein Schlüsselproblem dar. Sie stand auch im Zentrum der Forschungen von Axel Honneth(4), dem ehemaligen Leiter des Instituts für Sozialforschung, dessen Buch Kampf um Anerkennung: Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte im selben Jahr erschien wie Das Ende der Geschichte.[3] Die Frage der Anerkennung geht auf Platon(5) zurück, für den die Seele aus drei Teilen bestand: aus Vernunft, Eros und dem von Platon sogenannten Thymos, dem Streben nach Anerkennung. Jedes politische System, das auf Ungleichheit beruht, befriedigt das menschliche Bedürfnis nach Anerkennung bei einigen Mitgliedern, wohingegen sie anderen verweigert wurde. Megalothymia ist das Bedürfnis, den anderen gegenüber als überlegen anerkannt zu werden, während Isothymia das Bedürfnis ist, lediglich genauso viel Anerkennung zu bekommen wie andere. In Also sprach Zarathustra grenzt Nietzsche(11) die Megalothymia des von ihm vorgestellten höheren Wesens, des Übermenschen, von der gnadenlos missbilligten Isothymia des letzten Menschen ab. Der letzte Mensch, so Nietzsche(12), fühle sich in der Isothymia der Demokratie am wohlsten, in der es keine Unterscheidung zwischen Herrscher und Beherrschten mehr gibt, zwischen Starken und Schwachen, zwischen Überlegenheit und Mittelmäßigkeit.
In diesem Sinn ist das Ende der Geschichte, das Fukuyama(5) triumphierend ausmalte, jene Hölle, die Nietzsche(13) im Zarathustra geißelte: »Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar, wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten. ›Wir haben das Glück erfunden‹ – sagen die letzten Menschen und blinzeln.«[4] Für Fukuyama(6) war die mit dem Kapitalismus verbündete liberale Demokratie das beste Mittel, um ein Gleichgewicht zwischen materieller Gleichheit und Thymos herzustellen, was die größtmögliche Anerkennung des Individuums ermöglichte. Für Nietzsche(14) hingegen tötete dieses System jede Anerkennung ab, die diesen Namen verdiente: Statt unter dem Einsatz von Kühnheit, Mut, Phantasie und Idealismus um Anerkennung zu kämpfen, ging Nietzsche(15) davon aus, dass der letzte Mensch die Menschheit minderte, indem er das Ziel menschlichen Strebens auf Gleichberechtigung, Bequemlichkeit und Sicherheit reduzierte.
Axel Honneth(5) näherte sich dem Komplex Anerkennung von einer anderen Richtung an als Fukuyama(7). Er kam von der Kinderpsychologie her. Außerdem staubte er den Begriff der Verdinglichung ab, von dem sich seine Vorgänger in der Frankfurt(81)er Schule hatten anregen lassen, als sie ein halbes Jahrhundert zuvor Geschichte und Klassenbewußtsein von Georg Lukács(46) gelesen hatten. Honneth ging davon aus, dass wir als Babys andere Menschen als Personen erkennen würden, und behauptete, dies sei eine normative Haltung. In seinem Buch Verdinglichung: Eine anerkennungstheoretische Studie stellt Honneth(6) fest, dass das Subjekt erst später in seinem Leben für diese »vorgängige Anerkennung« blind werden könne.[5] Es sei möglich, dass ein »Vergessen der Anerkennung« eintritt, das entweder durch die Verdinglichung sozialer Gebräuche verursacht wird, welche die Individuen dazu bringt, Subjekte lediglich als Objekte wahrzunehmen; oder durch ideologische Glaubenssysteme, die einige Menschen gar nicht als Menschen oder wenn, dann als Untermenschen bezeichnen. Honneth(7) sieht eine Parallele zwischen Mutterliebe und der Notwendigkeit, dass Anerkennung in der Gesellschaft verankert ist: »So wie im Fall von Liebe Kinder durch die kontinuierliche Erfahrung der ›mütterlichen‹ Fürsorge das grundlegende Selbstvertrauen erwerben, dass ihre Bedürfnisse auf ungezwungene Weise erfüllt werden, so erwerben erwachsene Subjekte durch die Erfahrung rechtlicher Anerkennung die Möglichkeit, ihre Handlungen als allgemein respektierten Ausdruck ihrer Autonomie zu verstehen.«[6] Das war natürlich nicht die Anerkennung, um die es dem nietzsche(16)schen Übermenschen ging, sondern eher die jener Kreatur, die Nietzsche(17) als letzten Menschen abgetan hatte. Jegliche Anerkennung, die die Menschen vom Staat erhielten, beruhte auf der Vorbedingung, dass ein System gerecht ist, sie wurde nicht als Ausdruck der eigenen persönlichen Souveränität gebieterisch ergriffen.
Honneth(8) sah also nicht Revolution als Aufgabe an, sondern vielmehr eine Verbesserung des Kapitalismus und der Demokratie bis zu dem Punkt, an dem uns volle Anerkennung als menschliche Subjekte sicher ist. Mindestens einer seiner Vorgänger in der Frankfurter Schule hätte Bedenken angemeldet: Für Adorno(633) gab es nichts Richtiges in einem falschen System; das bestehende System aber war durch und durch verdinglicht. Adorno(634) starb allerdings im Jahr 1969, und die Frankfurter Schule unter Habermas(177) und anschließend Honneth(9) setzte sich dann nicht für die Revolution ein, sondern für die Verbesserung der Lebensbedingungen im Kapitalismus und in einer liberalen Demokratie.
Insofern mutierte Chip Lambert(6), indem er seine Bibliothek entrümpelte, von einem Anhänger Adornos(635) zu einem Mann, der eher im Einklang mit Honneths(10) Ethos der späten Frankfurter Schule stand. Lambert(7) »wollte gar nicht mehr in einer anderen Welt leben; er wollte bloß das: in dieser Welt ein Mann mit Würde sein.«[7] Der Terminus »Würde« ist verräterisch – Würde ist Thymos, das Bedürfnis nach Anerkennung. Doch die Würde, nach der Lambert(8) sucht, ist eher von dubioser Art. Denn was ist eine Würde wert, zu der es gehört, ein üppig gefülltes Bankkonto zu haben und wie ein Lachs am Haken der protzigen Wahnvorstellungen des Spätkapitalismus zu zappeln? Würde scheint hier als bewusst selbstbetrügerische, krankhaft gesunde Methode verstanden zu werden, oder, wie Adorno(636) es in Minima Moralia formuliert, als eine »gelungene Einpassung ins Unvermeidliche und als unvergrübelt praktischer Sinn … Diagnostizieren läßt die Krankheit der Gesunden sich einzig objektiv, am Mißverhältnis ihrer rationalen Lebensführung zur möglichen vernünftigen Bestimmung ihres Lebens.«[8]
Aber Würde muss nicht so gedacht werden. Die Würde, die Honneth(11) im Unterschied dazu für erstrebenswert hielt, umfasst die Möglichkeit, die eigenen Handlungen als allgemein anerkannten Ausdruck der eigenen Autonomie zu verstehen. Diese Art von Anerkennung belässt das System so, wie es ist, statt es herauszufordern, allerdings gehört mehr dazu, als in einem Geschäft namens Albtraum des Konsums Lachs einzukaufen.
Jedoch kann man Lamberts(9) Impuls verstehen. Es ist einfacher, das Mädchen, den Lachs und diese materielle Annäherung an die Glückseligkeit zu bekommen, als sich beispielsweise in Adornos(637) hoffnungslose Glücksparadoxien zu verwickeln. Ein gesundes, unbeschädigtes Individuum, so Adorno(638) in Minima Moralia, zeichne sich dadurch aus, dass es vom allgemeinen Unglück betroffen ist: »Was wäre Glück, das sich nicht mäße an der unmeßbaren Trauer dessen was ist?«[9] Im Unterschied dazu beruht (10)Lamberts Auffassung von Würde darauf, dass wir nicht, oder jedenfalls nicht lange, in der unmessbaren Trauer dessen leben können, was ist. Ganz ähnlich schreibt auch Virginia Woolf(1) in ihrem Roman Die Wellen: »Man kann kaum länger als vielleicht eine halbe Stunde außerhalb der Maschine leben.«[10]
Es ist also besser, sich an das Leben in der Maschine anzupassen. Oder, um mit Adorno(639) zu sprechen: Es könnte sein, »dass die zeitgemäße Krankheit gerade im Normalen besteht«.[11] Man kann sich vorstellen, wie Chip Lambert(11) seine trostlose Sammlung von Büchern der Frankfurter Theoretiker gegen eine optimistische neue Kollektion austauscht. Weg mit Der eindimensionale Menschen, Im Sog der Technokratie, mit der Dialektik der Aufklärung! Und her mit den peppigen neuen Bänden, die uns ermahnen, im neuen Jahrtausend glücklich zu werden: etwa Daniel Gilbert(1)s Stumbling on Happiness, Richard Schoch(1)s The Secrets of Happiness, Darrin McMahon(1)s The Pursuit of Happiness, Jonathan Haidt(1)s Die Glückshypothese und Richard Layard(1)s Happiness: Lessons from a New Science. In letzterem Werk nimmt der Ökonomieprofessor an der London(17) School of Economics für das Glück nicht Maß an der unmessbaren Trauer dessen, was ist, sondern an den von Depression verursachten Kosten für das Bruttoinlandsprodukt. Der Psychoanalytiker und Freudianer Adam Phillips(1) meinte mir gegenüber einmal, jede glücksbesessene Kultur müsse eigentlich verzweifelt sein. »Warum würde sich sonst jemand mit dieser Frage beschäftigen? … Mit denen, die in dieser Kultur leben, die Nachrichten anschauen und dann noch glücklich sein können – mit denen kann irgendetwas nicht stimmen.«[12]
Lamberts(12) Würde hat andere Hintergründe. Indem er die Bücher, in denen die Kritische Theorie behandelt wird, aus seiner Bibliothek aussortiert, beseitigt er kindische – oder jedenfalls spätpubertäre – Elemente. Von »spätkapitalistischer Gesellschaft« zu reden, war damals »ein Zeichen von Unreife, ein überholter College-Glaube. Die Sache ist möglicherweise mit uns alt geworden, aber der Begriff kann von Erwachsenen mittleren Alters, die in der realen Welt leben (also auf der Oberfläche der Erde abzüglich der College-Campusse), nicht mehr verwendet werden«, so der Kritiker Benjamin(453) Kunkel(1). »Dasselbe gilt für ›Postmodernismus‹, ein Wort, das mittlerweile genau die Verdrossenheit hervorruft, die es teilweise früher einmal zu beschreiben suchte.«[13]
Erwachsene Menschen kaufen handgeangelten Wildlachs, sie lesen nicht die Dialektik der Aufklärung. Die Geschichte ist an ihr Ende gelangt, und wir leben – wer wollte das bezweifeln? – in der besten aller möglichen Welten. In dieser besten aller möglichen Welten, am Ende der Geschichte, so Fredric Jameson(3) in Late Marxism (1990), sei »das Diktum über Gedichte nach Auschwitz(20) ersetzt durch die Frage, ob Adorno(640) und Horkheimer(310) sich am Swimmingpool lesen lassen«.[14] Und wenn Adorno(641) mit seiner Bemerkung über das Glück recht hatte, dann bestand es darin, seine und Horkheimers Bücher beiseitezulegen, wenn man sich entspannte. Adorno(642) malte sich das Glück nämlich folgendermaßen aus: »Rien faire comme une bête, auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen … Keiner unter den abstrakten Begriffen kommt der erfüllten Utopie näher als der vom ewigen Frieden.«[15] Wenn es stimmt, was Virginia Woolf(2) sagte, dass man also außerhalb der Maschine nicht länger als eine halbe Stunde leben könne, dann wäre ein solches Glück gleichermaßen unerträglich.
Im neuen Jahrtausend hat sich allerdings etwas verändert. Statt eines ewigen Swimmingpool-Friedens machte die Geschichte einen Neustart, und auf dem Programm stand Revolution. »Was ist los?«, fragt der maoistische(3) französische Philosoph Alain Badiou(1) in Le Réveil de l’Histoire aus dem Jahr 2011 (englisch: The Birth of History; deutsch: Das Erwachen der Geschichte, 2013): »Die Fortsetzung einer erschöpften Welt, koste es, was es wolle? Eine heilsame Krise dieser Welt, die unter ihrer siegreichen Expansion ächzt? Das Ende dieser Welt? Die Ankunft einer anderen Welt?«[16] Nicht Langeweile hatte die Geschichte neu starten lassen, sondern eine Kapitalismuskrise. Sicher wäre es für Henryk Grossmann(63) wunderbar gewesen, wenn er das noch hätte erleben dürfen. Badiou schreibt über die unerwarteten Folgen der globalen Finanzkrise, vor allem über einzelne Bewegungen wie Occupy, Syriza und Podemos. Er hätte das Scheitern der USA und ihrer Verbündeten, den Irak(2) und Afghanistan(1) zu »demokratisieren«, hinzufügen können; außerdem die bolivianische(1) sozialistische Renaissance in Lateinamerika(1). In den genannten Bewegungen verlangten die Menschen nach dem, was ihnen im neoliberalen Kapitalismus verweigert worden war – eben Anerkennung. In Fukuyamas(8) Begriffen könnte man sagen: Was wie ein auf Isothymia beruhendes System ausgesehen hatte, gründete faktisch auf Megalothymia. Die von Axel Honneth(12) gepriesene rechtliche Anerkennung schien wie die liberale Demokratie lediglich eine Parodie von Anerkennung zu garantieren, nicht aber die Sache selbst.
Daher der von dem Occupy-Aktivisten und Anthropologen David Graeber(3) formulierte Slogan: »Wir sind die 99 %.« Daher auch das »Experiment in einer postbürokratischen Gesellschaft« der New York(35)er Occupy-Gruppe – ein Versuch, Anarchismus in einem System zu realisieren, das faktisch den Leuten die Möglichkeit verweigerte, ihre Handlungen als allgemein respektierten Ausdruck ihrer eigenen Autonomie zu verstehen. »Wir wollten zeigen, dass wir all die Dienstleistungen, die soziale Einrichtungen erbringen, ebenfalls erbringen können – und zwar ohne endlose Bürokratie«, erklärte mir (4)Graeber.[17] Die Anerkennung, die ihnen vom System verweigert wurde, fanden die Anarchisten im Zucotti Park im Zuge ihrer Selbstorganisation und sie erlangten damit auch ein Gefühl für Solidarität. In Valences of the Dialectic führt Jameson(4) aus, wenn die Wahrnehmung der Geschichte plötzlich in das Leben von Individuen eintrete, dann geschehe das häufig durch ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation: »Die Erfahrung der Generationalität ist … eine spezifische kollektive Erfahrung der Gegenwart: Sie markiert die Erweiterung meiner existentiellen Gegenwart in eine kollektive, historische Gegenwart hinein.«[18]
Benjamin(454) hatte davon geträumt, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen; die Erfahrungen, die Jameson(5) beschreibt, lassen diesen Traum Wirklichkeit werden. Die homogene, leere Zeit, die Benjamin mit dem Vormarsch von Kapitalismus und Positivismus assoziierte, wird – wenn auch nur kurz – angehalten und durch eine erfahrungsgesättigte, erlösende Wahrnehmung nicht linearer Zeit abgelöst. Das jedenfalls war es, was sich Jameson im Zucotti Park vermittelte.
In dieser Wiedergeburt der Geschichte, über die Badiou(2) schrieb, erlebte der Marxismus(383) ein Comeback. Und dasselbe gilt für die Kritische Theorie. Wenn Chip Lambert(13) seine Bibliothek bis ungefähr 2010 behalten hätte, dann hätte er einen besseren Preis dafür bekommen. Wir wollen aber auch nicht übertreiben: Wahrscheinlich hätte er sich statt einem zwei Lachse dafür kaufen können. Doch es gibt nach wie vor einen Hunger nach Büchern, in denen Kritik am Kapitalismus geübt wird. In einem anderen Albtraum des Konsums, dem Gift Shop der Tate Modern, gibt es mittlerweile eine umfangreiche Abteilung namens Kritische Theorie. Darin haben die Frankfurter Theoretiker allerdings kein Monopol mehr auf den Begriff – Kritische Theorie umfasst außerdem auch all jene Disziplinen, die ebenfalls in Chip Lambert(14)s Bibliothek vertreten waren.
Ein Miniboom an popularisierenden Büchern über Kritische Theorie – dazu gehören Graphic Guides, Wörterbücher, womöglich sogar dieses Buch – ist eine der perversen Folgen der globalen Kapitalismuskrise, ebenso eine Erneuerung der kritischen Soziologie, die auf dem Erbe der Frankfurter Schule aufbaut. Die deutschen Soziologen Klaus Dörre(1), Stephan Lessenich(1) und Hartmut Rosa(1) hielten fest: »Wohin man auch schaut: Kapitalismuskritik ist urplötzlich zur Modeerscheinung geworden.« Ihr Buch Soziologie – Kapitalismus – Kritik liegt nicht nur im Trend, es haucht auch der Kritischen Theorie für neue Zeiten neues Leben ein; die Autoren stellen sich in der globalen Finanzkrise auf die Seite der Verlierer. »Unsere Analysen können als Kritik an der Selbstentwertung, Selbstentmächtigung und Selbstzerstörung der Gesellschaft im Kapitalismus gelesen werden.«[19]
Gegenwärtig braucht jeder, der die Kritische Theorie wiederbeleben will, eine gehörige Portion Ironie. Zu den Verlierern im Kapitalismus gehören Millionen überarbeiteter, unterbezahlter Arbeiter, die publikumswirksam von der größten sozialistischen Revolution der Menschheitsgeschichte (in China) befreit wurden und an den Rand des Selbstmords getrieben werden, damit die drüben im Westen mit ihren iPads spielen können. Das Proletariat denkt gar nicht daran, den Kapitalismus zu begraben; im Gegenteil, es erhält ihn künstlich am Leben. Auch hier gilt: Wäre Grossmann(64) noch am Leben, dann hätte er festgestellt, dass der Kapitalismus sein Ableben tatsächlich hinausgeschoben hat, indem die Ausbeutung der Arbeitskräfte ins Ausland verlagert wurden. Vielleicht gibt es in Lebensmittelläden in Lower Manhattan nach wie vor ein Überangebot an Thymos. In anderen Teilen der Welt wird er hingegen sicher schmerzlich vermisst. »Die weltweite Herrschaft des Kapitalismus hängt heute von der Existenz einer chinesischen Kommunistischen Partei ab, die delokalisierten kapitalistischen Unternehmen billige Arbeit zu niedrigeren Preisen verkauft und den Arbeitern das Recht vorenthält, sich selbst zu organisieren«, so Jacques Rancière(1), französischer Marxist und Professor für Philosophie an der Universität Paris(48) VIII, im Gespräch mit mir. »Glücklicherweise ist es möglich, auf eine Welt zu hoffen, die weniger absurd und gerechter ist als die gegenwärtige.«[20]
Und unsere Welt ist in der Tat absurd. »Wenn jeder einzelne Fahrgast in einem Zug auf ein kleines beleuchtetes Gerät starrt, dann ist das eine fast schon geschmacklose anti-utopische Vision«, schrieb Eliane Glaser(1), Verfasserin des Buches Get Real: How to Tell it Like it is in a World of Illusions[21] (Wie man in einer Welt der Illusionen sagt, wie es ist). »Die Technik scheint mir – in Verbindung mit dem Turbokapitalismus – die kulturelle und ökologische Apokalypse zu beschleunigen. Ich habe den Eindruck, der digitale Konsumerismus macht uns so passiv, dass wir nicht mehr dazu in der Lage sind, zu revoltieren oder die Welt zu retten.«[22] Wäre Adorno(643) noch am Leben, würde er sehr wahrscheinlich feststellen, dass die kulturelle Apokalypse bereits stattgefunden hat, und dass wir nur zu blind sind, das zu bemerken. Seine kühnsten Befürchtungen haben sich erfüllt. »Die Vorherrschaft des Pop ist praktisch vollendet, die Superstars dominieren die Medien und verfügen über die wirtschaftliche Macht von Industriemagnaten«, so Alex Ross(1).
Sie leben im Prinzip im irrealen Reich der Superreichen, verstecken sich jedoch hinter einer volkstümelnden Fassade, schlingen bei den Oscar-Verleihungen Pizza runter und feuern Sportmannschaften aus ihren VIP-Logen an … Oper, Ballett, Dichtung und anspruchsvolle Romane werden nach wie vor mit dem Etikett »elitär« versehen, obwohl die wahren Machthaber dafür praktisch keine Verwendung haben. Die alte Hierarchie von Oben und Unten ist zur Augenwischerei geworden: Die herrschende Partei ist der Pop.[23]
Adorno(644) und Horkheimer(311) sind gestorben, bevor sie Twitterjacking-Angriffen zum Opfer fallen oder sich ein Profil in den sozialen Medien zulegen konnten, aber sie hätten vieles von dem, was das Internet anbietet, als Bestätigung ihrer These gesehen, dass die Kulturindustrie »die Freiheit bietet, das immer Gleiche zu wählen«. »Kultur ist so monolithisch wie nie zuvor, einige wenige gigantische Unternehmen – Google, Apple, Facebook, Amazon – herrschen über Monopole von bislang nicht gekannten Ausmaßen«, fügte Ross(2) hinzu. »Der Internet-Diskurs ist enger, rigider geworden.«
In den späten 1990er Jahren gab ich – damals Kulturredakteur beim Guardian – einen Artikel in Auftrag, in dem untersucht werden sollte, welche Gefahren die Kultur der Kundenanpassung in sich birgt. Es ging darum, die maßgeschneiderte Zurichtung kultureller Produkte auf den Geschmack des Kunden infrage zu stellen, diese Idee von »Wenn Ihnen jenes gefallen hat, dann werden Sie dieses toll finden«. Ich fragte mich, ob der Sinn von Kunst denn nicht vielmehr darin bestehe, das Kontinuum des persönlichen Geschmacks aufzusprengen, statt sich daran anzubiedern. John Reith(1), erster Generaldirektor der BBC, sagte einmal, guter Rundfunk gebe den Menschen etwas, wovon sie noch nicht wissen, dass sie es brauchen. Als der Artikel dann abgeliefert wurde, fragten viele meiner Mitarbeiter, was denn so schlecht sei an kundenangepasster Kultur. Ist es denn nicht gut, mehr von dem zu bekommen, wovon wir wissen, dass wir es mögen? Woraufhin ich klagte, dass guter Rundfunk und bedeutende Kunst aber doch eine Art von glückverheißendem Entdeckungspotential enthalten, das die eigenen Horizonte ausweitet und einen nicht in der Fessel einer ewigen Feedbackschleife festhält.
Seit dem Erscheinen dieses Artikels hat sich die Kulturindustrie in einer Art und Weise triumphal durchgesetzt, die sich nicht einmal Adorno(645) und Horkheimer(312) hätten vorstellen können. Im neuen Jahrtausend scheint die Onlinekultur regelrecht darauf zu zielen, uns dabei zu unterstützen, vor solchen Entdeckungspotentialen hermetisch abgeschirmt zu bleiben. Das Internet ist ein Instrument, um genau das zu erreichen – ein High-Tech-Verhütungsmittel gegen die Verseuchung durch Ideen, die die eigene Weltsicht herausfordern könnten.
Was ebenfalls plattgewalzt wurde, ist Adornos(646) esoterische Vision von Kunst. »Stendhals(2) Diktum von der promesse du bonheur sagt, daß Kunst dem Dasein dankt, indem sie akzentuiert, was darin auf die Utopie vordeutet«, so Adorno(647) in seinem letzten Buch, der postum veröffentlichten Ästhetischen Theorie. »Das aber wird stets weniger, das Dasein gleicht immer mehr bloß sich selber. Kunst kann darum immer weniger ihm gleichen. Weil alles Glück am Bestehenden und in ihm Ersatz und falsch ist, muß sie das Versprechen brechen, um ihm die Treue zu halten.«[24]
Das heißt: Kunst ist aufgrund der Verarmung des Daseins, dem sie eigentlich huldigen wollte, unmöglich geworden. Uns bleiben nur noch die leicht konsumierbaren Produkte der Kulturindustrie. Was Ernst Bloch(10) als Geist der Utopie bezeichnete, kann in der Onlinekulturindustrie, für die unter anderem Steve Jobs(2), Mark Zuckerberg(1) und Jeff Bezos(1) verantwortlich sind, wegfallen. Diese Industrie liefert uns nur immer mehr vom Gleichen; sie entwickelt Algorithmen, mit denen sie uns besser an unseren Geschmack ketten kann; und sie lässt uns wünschen, beherrscht zu werden. In einer auf diese Art kundenangepassten Kultur, die glückliche Zufallsfunde abschafft, für menschliche Würde nur Hohn und Spott übrighat und aus der Befreiung des Menschen eine schreckenerregende Perspektive macht, haben uns die besten Texte der Frankfurter Denker noch viel zu sagen – nicht zuletzt über die Unmöglichkeit und die Notwendigkeit, anders zu denken.