Kurz vor seinem Tod äußerte Theodor Adorno(1) gegenüber einem Journalisten: »Ich habe ein theoretisches Denkmodell aufgestellt. Wie konnte ich ahnen, dass Leute es mit Molotow-Cocktails verwirklichen wollen?«[1] Für viele bestand eben darin das Problem mit der Frankfurter Schule: Ihre Vertreter ließen sich nie auf revolutionäres Handeln ein. »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern«, schrieb Karl Marx(1).[2] Die Denker der Frankfurter Schule jedoch stellten diese elfte These über Feuerbach(1) von Karl Marx(2) auf den Kopf.
Seit seiner Gründung im Jahr 1923 hielt sich das marxistische(3) Forschungsinstitut, das später unter dem Namen »Frankfurter Schule« bekannt wurde, abseits von jeglicher Parteipolitik und kultivierte eine deutliche Skepsis gegenüber politischen Kämpfen. Seine führenden Köpfe – Theodor Adorno(2), Max Horkheimer(1), Herbert Marcuse(1), Erich Fromm(1), Friedrich Pollock(1), Franz Neumann(1) und Jürgen Habermas(1) – kritisierten virtuos die Schändlichkeit des Faschismus und den sozial vernichtenden, geistig erdrückenden Einfluss des Kapitalismus auf die Gesellschaften des Westens, doch ihre Bereitschaft, das zu verändern, was sie kritisierten, blieb weit hinter dieser theoretischen Virtuosität zurück.
Die eklatante Verkehrung von Marx’(4) Denken durch die Frankfurter Schule verärgerte andere Marxisten(5) zutiefst. Der Philosoph Georg Lukács(1) warf Adorno(3) und anderen Mitgliedern der Frankfurter Schule einmal vor, sie würden in einem Etablissement residieren, das er als »Grand Hotel Abgrund« bezeichnete. Dieses schöne Hotel sei, so schrieb er, »mit allem Komfort ausgestattet – am Rande des Abgrunds, des Nichts, der Absurdität(2)«. Zu den früheren Bewohnern gehörte aus Lukács’ Sicht unter anderem auch der pessimistische Frankfurter Philosoph Arthur Schopenhauer(1), in dessen Werk das Leiden an der Welt aus sicherem Abstand ein fester Bestandteil sei: »Der tägliche Anblick des Abgrunds, zwischen behaglich genossenen Mahlzeiten oder Kunstproduktionen, kann die Freude an diesem raffinierten Komfort nur erhöhen«(2), kommentierte Georg Lukács sarkastisch.[3]
Lukács(3) war der Meinung, die Denker der Frankfurter Schule seien keinen Deut besser. Wie vor ihnen schon Schopenhauer(3) so hätten auch die kürzlich eingetroffenen Gäste des Grand Hotels Abgrund ein perverses Vergnügen am Leiden – in ihrem Fall handelte es sich um das Leiden angesichts des Monopolkapitalismus, der, während sie sich über die Brüstung der Terrasse lehnten, tief unter ihnen den menschlichen Geist zerrüttete. Für Lukács(4) hatte die Frankfurter Schule die notwendige Verbindung von Theorie und Praxis aufgegeben, wobei letztere die Umsetzung ersterer in Handlung bedeutete. Beide waren nur zu rechtfertigen, wenn sie miteinander verbunden waren, wenn eines das andere in einer dialektischen Beziehung verstärkte. Sonst, so Lukács(5), verkomme die Theorie zu einer elitären Interpretationsübung – was bis zum Auftreten von Karl Marx(6) sämtliche Philosophien gewesen seien.
Als Adorno(4) seine Bemerkung über Molotowcocktails machte, bezog er sich auf den Rückzug der Frankfurter Schule auf die Theorie, der sich zu einer Zeit vollzog, da viele im Umfeld Adornos und seiner Kollegen zum Handeln aufriefen. Die Studentenbewegung und die Neue Linke hatten den Höhepunkt ihrer Wirkmacht erreicht, und viele waren – fälschlich, wie sich herausstellte – überzeugt, dass eben dank einer solchen Praxis ein radikaler politischer Wandel unmittelbar bevorstehe. Die damalige Zeit war politisch äußerst turbulent. Überall zwischen Berkeley(1) und Berlin(1) revoltierten die Studierenden; beim Parteitag der Demokraten in Chicago(1) waren gegen den Vietnamkrieg Protestierende von der Polizei attackiert worden; und erst kürzlich waren sowjetische Panzer nach Prag gerollt, um das tschechoslowakische Experiment eines »Sozialismus mit menschlichem Gesicht« zunichtezumachen.
Adorno(5) selbst, dieser – wie er selbst zugab – dickliche, 65-jährige Professor, die prominenteste Gestalt der Frankfurter Schule in Deutschland(1), wurde an der Universität Frankfurt(1) von Anführern des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes dafür angegriffen, dass er nicht radikal genug war. Seine Vorlesungen wurden von Demonstranten gestört; einer schrieb an die Tafel: »Wer nur den lieben Adorno(6) läßt walten, der wird den Kapitalismus ein Leben lang behalten.«[4]
Bezeichnenderweise wurde das Institut für Sozialforschung der Universität Frankfurt(2) für eine kurze Zeitspanne von Demonstranten übernommen und erhielt den neuen Namen »Abteilung Spartakus«, nach der politischen Bewegung, die unter der Führung von Rosa Luxemburg(1) und Karl Liebknecht(1) gestanden hatte, jener deutschen Revolutionäre, die fünfzig Jahre zuvor ermordet worden waren. Der Namenswechsel sollte zugleich Vorwurf und Erinnerung sein: Vorwurf, weil die Spartakisten im Jahr 1919 etwas getan hatten, was die Denker der Frankfurter Schule im Jahr 1969 ganz offensichtlich nicht zu tun gedachten; und Erinnerung, insofern als die Frankfurter Schule ihre Existenz zum Teil den Bemühungen marxistischer(7) Theoretiker verdankte, die nach einer Antwort auf die Frage suchten, warum die Spartakisten mit ihrem Versuch gescheitert waren, in Deutschland(2) das nachzuahmen, was die Bolschewiken in Russland(1) zwei Jahre davor geschafft hatten.
1969 hielten Anführer der Studentenbewegung wie Rudi Dutschke(1) und Daniel Cohn-Bendit(1) den Zeitpunkt für gekommen, Theorie und Praxis zu vereinen, die Universitäten zu revolutionieren und den Kapitalismus zu zerschlagen. Die deutsche Intelligentsia durfte ausgerechnet jetzt, in dieser Stunde der Abrechnung, nicht wieder scheitern. Adorno(7) aber zögerte. Seine Bedenken sind höchst aufschlussreich hinsichtlich der Frage, was die Frankfurter Schule war und ist und warum sie damals und teils auch heute noch von vielen Linken so skeptisch beurteilt wurde beziehungsweise wird. In seinem Aufsatz »Marginalien zu Theorie und Praxis« aus dem Jahr 1969 schrieb Adorno(8), dass einem Studenten sein Zimmer verwüstet worden sei, weil er lieber gearbeitet habe, als sich an den Studentenprotesten zu beteiligen. Irgendjemand hätte sogar an die Wand des Zimmers die Worte geschmiert: »Wer sich mit Theorie beschäftigt, ohne praktisch zu handeln, ist ein Verräter am Sozialismus(9).«
Adorno(10) empfand diesen Studenten offensichtlich als verwandten Geist – ein kritischer Theoretiker, kein Straßenkämpfer – und er wollte ihn verteidigen. Er tat das, indem er die Theorie gegen eine Art von Praxis in Stellung brachte, die er in der Studentenbewegung und der Neuen Linken diagnostizierte. »Praxis wurde nicht ihm [dem Studenten, dessen Zimmer verwüstet wurde] allein gegenüber zum ideologischen Vorwand von Gewissenszwang«, schrieb Adorno(11).[5]
Dieses Paradox – der gewaltsam-autoritäre Aufruf zu befreiender Aktion – bereitete Adorno(12) und vielen anderen Denkern der Frankfurter Schule Unbehagen. Jürgen Habermas(2) bezeichnete das Phänomen als »linken Faschismus«; und Adorno(13), sein früherer Lehrer, befürchtete das Aufkommen einer grauenerregenden neuen Mutation jener autoritären Persönlichkeiten, die in Deutschland(3) unter den Nationalsozialisten und in der Sowjetunion unter den Stalinisten gewütet hatten.
Adorno(14) und die anderen Mitglieder der Frankfurter Schule kannten sich mit autoritären Persönlichkeiten zur Genüge aus. Als jüdischer, marxistischer(8) Intellektueller, der gezwungen war, ins Exil zu fliehen, um nicht von den Nazis ermordet zu werden – was für die meisten Mitglieder der Frankfurter Schule galt –, war man quasi automatisch Fachmann für das Spezialgebiet »autoritäre Persönlichkeit«. Sämtliche führenden Denker der Frankfurter Schule arbeiteten intensiv an Theorien über den Nationalsozialismus; sie versuchten zu erklären, wie ausgerechnet das deutsche Volk darauf verfallen konnte, sich in solchem Ausmaß dominieren zu lassen, anstatt sich in einer sozialistischen Revolution gegen seine kapitalistischen Unterdrücker zu erheben.
Frappierend an Adornos(15) kritischem Denken im Jahr 1969 ist nun allerdings, dass er den autoritären Persönlichkeitstypus, der sich im Hitlerregime entfaltete, und den damit einhergehenden Geist des Konformismus als quicklebendigen Wiedergänger in der Neuen Linken und in der Studentenbewegung diagnostizierte. Beide gerierten sich als antiautoritäre Bewegungen, reproduzierten dabei jedoch gleichzeitig die repressiven Strukturen, die sie angeblich überwinden wollten. »Die am heftigsten protestieren«, so Adorno(16), »gleichen den autoritätsgebundenen Charakteren in der Abwehr von Introspektion.«[6]
Es gab in der Frankfurter Schule lediglich ein Mitglied, das den Bestrebungen der Radikalen in den ausgehenden 1960er Jahren keine Abneigung entgegenbrachte: Herbert Marcuse(2), damals tätig an der University of California in San Diego(1), versuchte sich an politisch militanten Aktionen, während sich seine Kollegen der Frankfurter Schule gleichzeitig darüber mokierten. Zwar verachtete er den ehrenwerten Vater der Neuen Linken, dennoch ließ Marcuse sich eine Zeitlang vom Enthusiasmus der Bewegung anstecken und erlaubte sich die Vorstellung, ein repressionsfreies Utopia stehe unmittelbar bevor. Studenten verehrten ihn dafür, allerdings sah er sich gezwungen, abzutauchen, nachdem er(3) mehrere Morddrohungen erhalten hatte. In Paris(1) hielten protestierende Studenten ein Transparent hoch, auf dem die Worte prangten: »Marx(9), Mao(1), Marcuse« – die triumphale Verkündigung einer neuen revolutionären Dreifaltigkeit.
Was allerdings die Frankfurter Schule betraf, so war Marcuse(4) sicherlich eine Ausnahmeerscheinung. Adorno(17) äußerte sich differenzierter und pointierter teils in Essays zu aktuellen Themen, teils in verärgertem Briefwechsel mit Marcuse(5): Das Gebot der Stunde sei nicht kopfloser Aktionismus, sondern vielmehr die mühevolle Anstrengung des Denkens. »Das von ihnen diffamierte Denken strengt offenbar die Praktischen ungebührlich an: Es bereitet zuviel Arbeit, ist zu praktisch«, so Adorno(18).[7] Vor dem Hintergrund einer deplatzierten Praxis war die Theorie keine reaktionäre Flucht in ein Grand Hotel Abgrund, sondern der von Prinzipien geprägte Rückzug in eine Festung des Denkens, in eine Zitadelle, aus der immer wieder radikale Jeremiaden drangen. Der eigentlich radikale Akt war für Adorno(19) das Denken und nicht Sit-ins und Barrikaden. »Wer denkt, setzt Widerstand; bequemer ist, mit dem Strom, erklärte er sich auch als gegen den Strom, mitzuschwimmen.«[8]
Und Adornos(20) Kritik reichte noch weiter: Er entdeckte in der Studentenbewegung genau jenes Phänomen, das der Frankfurter Schule zur Last gelegt wurde – nämlich Impotenz. »Gegen die, welche die Bombe verwalten«, so sein Argument, »sind Barrikaden lächerlich.«[9] Eine vernichtende Beobachtung: Die Neue Linke und die studentischen Revolutionäre hätten unpassenderweise die revolutionären Taktiken übernommen, die 1789, 1830 und 1845 noch funktioniert hätten, die allerdings im Jahr 1969 für jeden effektiven Kampf, der sich die Zerstörung des westlichen Kapitalismus zum Ziel gesetzt hatte, zur Bedeutungslosigkeit verurteilt waren(21). Oder wie Marx(10) es in einem anderen Kontext formulierte: Die Geschichte wiederhole sich als Farce. Womöglich wäre Adornos Analyse anders ausgefallen, wenn sich die Neue Linke mit Nuklearwaffen ausgerüstet hätte.
Allerdings hatte das, was Adorno(22) den Studierenden als lächerliche Attitüde vorwarf, ja durchaus Methode. Für diejenigen, die an der für die Frankfurter Schule spezifischen Kritischen Theorie interessiert sind, ist die Frage noch nicht erschöpfend beantwortet, was es damit auf sich hatte, dass sich radikale Studenten in den späten 1960er Jahren das revolutionäre Erbe, auf die Barrikaden zu gehen, aneigneten. Der Philosoph und Zeitkritiker Walter Benjamin(1), ein wichtiger Impulsgeber der Frankfurter Schule, thematisiert in seinem späten Aufsatz »Über den Begriff der Geschichte«,[10] wie sich Revolutionäre durchaus bewusst bei vergangenen Helden bedienten. Man greift damit auf die Vergangenheit zurück, um Solidarität mit früheren Rollenmodellen zum Ausdruck zu bringen: Man ehrt deren Kämpfe, indem man ihre Ikonographie in den Dienst einer neuen revolutionären Anstrengung stellt.
So eignete sich beispielsweise die Französische Revolution im Jahr 1789 die Bräuche und Einrichtungen des antiken Rom an. Benjamin(2) bezeichnete das als »Tigersprung ins Vergangene«. Durch diesen Sprung setze man sich über die vergangene Zeit hinweg und ziele auf einen Zeitpunkt, den man als Resonanz der aktuellen Situation empfinde. »So war für Robespierre(1) das antike Rom eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit, die er aus dem Kontinuum der Geschichte heraussprengte.« Dieses Kontinuum oder das, was Benjamin »homogene und leere Zeit« nannte, war die Zeitordnung der herrschenden Klassen und sie wurde negiert durch die besagten zeitübergreifenden Sprünge radikaler Solidarität.
Auf ähnliche Weise brachten möglicherweise jene enragés, die in den späten 1960er Jahren in Paris(2) auf die Straße gingen und Barrikaden errichteten, dadurch ihre Solidarität mit den Revolutionären jener fast zwei Jahrhunderte zurückliegenden Periode zum Ausdruck. Allerdings war der Tigersprung ein gefährlicher Akt, der durchaus auch danebengehen konnte. Benjamin(3) erklärte: »Nur findet er in einer Arena statt, in der die herrschende Klasse kommandiert.«[11] Und trotzdem, so fügte er hinzu, entspreche dieser Sprung dem marx(11)schen Verständnis von Revolution. Der Sprung war dialektisch, da durch ihn die Vergangenheit durch die Aktion in der Gegenwart erlöst wurde, ebenso wie die Gegenwart durch ihre Zuordnung zu ihrem Gegenstück in der Vergangenheit erlöst wurde.
Das lässt allerdings die Vermutung zu, dass Walter Benjamin(4) – wäre er nicht 1940 gestorben, sondern hätte vielmehr überlebt und wäre noch Zeuge der Studentenrevolten der ausgehenden 1960er Jahre geworden – die Studenten, die auf die Barrikaden gingen, in ihrer ganzen Lächerlichkeit, die ihnen von anderer Seite vorgeworfen wurde, womöglich verteidigt hätte. Vielleicht wäre er für die Vorstellung, Theorie mithilfe von Bomben durchzusetzen, aufgeschlossener gewesen als sein Freund Theodor Adorno(23). Letztlich ist es wohl eine zu starke Vereinfachung zu sagen, Benjamin(5) habe die Praxis romantisiert, Adorno(24) hingegen die Theorie, aber ein Körnchen Wahrheit steckt schon darin. Die Frankfurter Schule mit ihrem führenden Kopf Adorno(25) maß der Theorie mit Sicherheit größeres Gewicht bei, da nur sie einen Raum eröffnete, in dem die herrschende Ordnung angeklagt, wenn nicht gar gestürzt werden konnte. Die Theorie behielt – im Unterschied zu allem, was durch das der realen, gefallenen Welt Ausgesetztsein befleckt wurde – ihren Nimbus und ihren unbezwingbaren Geist bei. »Das nicht Bornierte wird von Theorie vertreten«, schrieb Adorno(26). »Trotz all ihrer Unfreiheit ist sie im Unfreien Statthalter der Freiheit(27).«[12]
In dieser Sphäre fühlten sich die Denker der Frankfurter Schule am wohlsten – anstatt sich von wahnhafter Revolutionseuphorie anstecken zu lassen, zog man es vor, sich in einen nichtrepressiven intellektuellen Raum zurückzuziehen, wo man frei seinen Gedanken nachgehen konnte. Diese Art von Freiheit ist natürlich eine Freiheit melancholischer Art, da sie aus dem Verlust an Hoffnung auf echte Veränderung entsteht. Wenn man sich allerdings mit der Geschichte der Frankfurter Schule und der Kritischen Theorie auseinandersetzt, dann entdeckt man gleichzeitig, wie sich diese Denker, sieht man einmal von Marcuse(6) ab, zunehmend ohnmächtig angesichts von Mächten fühlten, die sie zwar verachteten, aber auch für unüberwindlich hielten.
Es gibt jedoch eine konkurrierende Geschichte der Frankfurter Schule, ein Gegenstück zu diesem Narrativ einer programmatischen Ohnmacht. Ich spreche von einer Verschwörungstheorie, die besagt, eine kleine Gruppe deutscher marxistischer(12) Philosophen, die sogenannte Frankfurter Schule, habe ein System entwickelt, den sogenannten kulturellen Marxismus(13), der überkommene Werte untergrub, indem sich seine Urheber einerseits für Multikulturalismus, Political Correctness, Homosexualität und kollektivistische Wirtschaftsvorstellungen aussprachen.[13] Die führenden Denker des Instituts für Sozialforschung wären überrascht gewesen zu erfahren, dass sie auf den Sturz der westlichen Kultur hinarbeiteten; noch mehr allerdings darüber, wie erfolgreich sie damit angeblich waren. Andererseits handelte es sich bei diesen Männern ja überwiegend um Überlebende des Holocaust, und als solchen war ihnen in gewissem Ausmaß bewusst, welche verheerenden Konsequenzen Verschwörungstheorien, die im Dienst psychischer Bedürfnisse stehen, in der Realität haben können.
Einer von jenen, die sich diese Theorie zu eigen machten, war der rechtsradikale Terrorist Anders Breivik(1). Als er im Juli 2011 zu seinem mörderischen Amoklauf aufbrach, im Zuge dessen 77 Norweger und Norwegerinnen getötet wurden, hinterließ er ein 1513 Seiten umfassendes Manifest mit dem Titel: »2083: Eine europäische Unabhängigkeitserklärung«. Darin schreibt er dem Kulturmarxismus die Schuld an der angeblichen Islamisierung Europas zu. Mit seinen »Ideen« (wenn man denn diesen Terminus überhaupt verwenden will) bediente sich Breivik(2) einer Verschwörungstheorie, die ihren Ursprung in einem Essay mit dem Titel »The Frankfurt(3) School and Political Correctness« hatte, verfasst von Michael Minnicino(1) und veröffentlicht in Fidelio, einer Zeitschrift des Schiller-Instituts.[14] An einem argumentativen Kniff ließ es Minnicino jedoch in seiner Darstellung der Zerstörung des Westens durch die Frankfurter Schule fehlen. Angesichts der Tatsache, dass Mitglieder der Frankfurter Schule während des Zweiten Weltkriegs in den Geheimdiensten tätig waren, entwickelten sich diese Männer ja vielleicht nicht nur zu Virtuosen der Kritischen Theorie, sondern in diesem Umfeld auch zu Virtuosen in der Kunst, ihre teuflischen Absichten perfekt zu verschleiern. Aber auch das ist höchst unwahrscheinlich.
Die Wahrheit über die Frankfurter Schule ist weniger spektakulär als jene, mit welcher Verschwörungstheoretiker hausieren gehen. Die Einrichtung entstand zum Teil aus dem Versuch, Misserfolge zu verstehen, vor allem das Scheitern der Revolution in Deutschland(4) im Jahr 1919. In den 1930er Jahren verband man neomarxistische(14) Gesellschaftsanalyse mit freud(1)schen psychoanalytischen Theorien, um zu begreifen, warum deutsche Arbeiter sich nicht mithilfe einer sozialistischen Revolution vom Kapitalismus befreiten, sondern sich von der modernen Konsumgesellschaft und fatalerweise vom Nationalsozialismus verführen ließen.
Adorno(28) half während seines Exils in Los Angeles(1) in den 1940er Jahren, die kalifornische F-Skala zu entwickeln, einen Persönlichkeitstest zur Bestimmung von Personen, die Gefahr laufen, faschistischen oder autoritären Wahnvorstellungen zum Opfer zu fallen. Breivik(3) hätte das perfekte Beispiel des autoritären Charakters abgeben können, den Adorno(29) wie folgt beschrieb: eine Person, die »besessen ist vom scheinbar offensichtlichen Abstieg traditioneller Werte; unfähig, sich mit Veränderungen abzufinden; eingeschlossen in einem Hass auf all jene, die nicht als Teil der In-Group empfunden werden; und bereit, aktiv zu werden, um die Tradition gegen Entartung zu ›verteidigen‹«.[15] In seiner Einleitung zur Autoritären Persönlichkeit warnt Adorno(30):
Persönlichkeitsstrukturen, die als »pathologisch« eingestuft wurden, weil sie nicht mit den verbreitetsten offensichtlichen Trends oder den dominantesten Idealen innerhalb einer Gesellschaft übereinstimmten, haben sich bei näherem Hinsehen lediglich als Übertreibungen von Strömungen herausgestellt, die sich unter der Oberfläche einer Gesellschaft bereits weit ausgebreitet hatten. Was heute »pathologisch« ist, könnte unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen morgen zum dominanten Trend werden(31).[16]
Seine Erfahrungen während der Zeit des Nationalsozialismus machten Adorno(32) für dergleichen tragische Entwicklungen besonders sensibel.
Man muss aber gar nicht Anders Breivik(4) sein, um die Frankfurter Schule falsch zu verstehen. »Der kulturelle Marxismus(15) richtet immensen Schaden an, weil er zwar in analytischer Hinsicht großartig ist, für die menschliche Natur jedoch nicht viel Verständnis aufbringt und es ihm daher nicht gelingt, die Folgen abzuschätzen (wenn Einrichtungen, sei es der Staat, die Kirche, Familien oder das Gesetz, zerbrechen, leiden in der Regel die Schwächsten am meisten)«,[17] so Ed West(1) in der rechtskonservativen englischen Tageszeitung Daily Telegraph. In Wahrheit haben die Frankfurter Denker praktisch sämtliche Institutionen verteidigt, die der Analyse Wests zufolge vom kulturellen Marxismus(16) untergraben wurden. Adorno(33) und Horkheimer(2) verteidigten die Institution Familie als einen Bereich des Widerstands gegen totalitäre Kräfte; Habermas(3) erkor sich die katholische Kirche zum Verbündeten für seine Arbeit an der Errichtung einer funktionierenden modernen multikulturellen Gesellschaft; Axel Honneth(1), nun mehr ehemaliger Leiter der Frankfurter Schule, betont Gleichheit vor dem Gesetz als grundlegende Bedingung einer gedeihlichen menschlichen Entwicklung und individueller Autonomie. Habermas hofft zwar, der deutsche Staat werde sich zugunsten eines europaweiten Gemeinwesens auflösen, doch das ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass er als ehemaliger Hitlerjunge Angst vor einer Rückkehr des schädlichen Nationalismus hat, der seine Heimat zwischen 1933 und 1945 beherrschte.
Kurz: Die Frankfurter Schule verdient es, dass man sie vor ihren Verleumdern in Schutz nimmt, vor denen, die wissentlich oder unwissentlich die Leistungen jener für eigene Ziele eingespannt haben. Außerdem muss man sich von der Vorstellung befreien, dass sie uns heutzutage, in einem neuen Jahrtausend, nichts mehr zu sagen hat.
In diesem Buch möchte ich mich unter anderem mit folgenden Punkten beschäftigen. Zwar gibt es viele exzellente historische Darstellungen über die Frankfurter Schule und die Kritische Theorie sowie viele gute Biographien zu ihren führenden Denkern, doch ich hoffe, dass mein Buch einen anderen fruchtbaren Ansatz bietet, einen neuen, vielleicht sogar überzeugenden Zugang zu der für die Frankfurter Schule charakteristischen Perspektive auf die Welt.
Grand Hotel Abgrund ist zum Teil eine Gruppenbiographie, die zu beschreiben versucht, wie die führenden Gestalten der Schule sich gegenseitig beeinflussten und miteinander intellektuelle Kämpfe austrugen; und wie ihre frühen Erfahrungen, in vornehmlich wohlhabenden jüdischen Elternhäusern aufgewachsen zu sein, zu ihrer Absage an den Mammon und die Hinwendung zum Marxismus(17) beitrugen. Ich strebe außerdem mit diesem Buch an, eine Geschichte zu erzählen, die sich von 1900 bis heute erstreckt, also von der Ära der Pferdekutschen bis in unser Zeitalter, in dem unbemannte Drohnen als Mittel der Kriegsführung eingesetzt werden. In meinem Buch befasse ich mich mit der behüteten deutschen Kindheit dieser Denker und damit, wie sie von ihren Vätern erzogen wurden und sich gegen sie auflehnten; mit ihren Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, ihrer Begegnung mit dem Marxismus(18) im Zusammenhang mit der gescheiterten deutschen Revolution und mit der neomarxistischen(19) Theorie, die sie entwickelten, um eine Erklärung für dieses Scheitern zu finden; mit der Zunahme industrieller Massenproduktion und der Massenkultur während der 1920er Jahre, mit dem Aufstieg Hitlers(1) und in der Folge mit ihrer Auswanderung nach Amerika(1), einem Land, das sie zugleich anwiderte und verführte; mit ihrer jeweils unerquicklichen Rückkehr in ein Nachkriegseuropa(1), das für alle Zeiten vom Holocaust versehrt war; dann mit ihrer heiklen Beziehung zur revolutionären Euphorie der Jugend in den 1960er Jahren und schließlich mit der Bemühung der Frankfurter Schule im neuen Jahrtausend zu ergründen, was den Zusammenbruch der multikulturellen Gesellschaften im Westen verhindern könnte.
Es ist eine Geschichte, die einige auffallende Kontraste und Widersprüchlichkeiten bietet – etwa den jungen Herbert Marcuse(7), der im Berlin(2) des Jahres 1919 als Mitglied eines kommunistischen Verteidigungskommandos auf rechtsgerichtete Heckenschützen schießt; oder Jürgen Habermas(4), der in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends einen spirituellen Verbündeten im ebenfalls vormals der Hitlerjugend angehörenden Joseph Ratzinger(1)(1) findet, besser bekannt als Papst Benedikt XVI. Marxistische Denker arbeiteten während des Zweiten Weltkriegs für den Vorläufer der CIA; Adorno(34) spielte bei Partys in Hollywood(1) Klavier für Charlie Chaplin(1), während er gleichzeitig das Werk des Komödianten in seinen Büchern gnadenlos verriss; die Mitglieder der Frankfurter Schule tilgten das M-Wort »Marxismus« aus ihren wissenschaftlichen Aufsätzen, um ihren amerikanischen Gastgebern und potentiellen Sponsoren keinen Stein des Anstoßes zu liefern.
Mich faszinierte an der Frankfurter Schule vor allem, wie deren Vertreter einen überzeugenden kritischen Apparat entwickelten, um die Zeitläufte zu verstehen, in denen sie lebten. Sie fassten den Marxismus(20) neu, indem sie Ideen aus der freud(2)schen Psychoanalyse einbrachten, um zu begreifen, wie die dialektische Bewegung der Geschichte hin zu einer sozialistischen Utopie offensichtlich aufgehalten werden konnte. Sie befassten sich mit dem Aufkommen jenes Phänomens, das sie als Kulturindustrie bezeichneten, und erkundeten in diesem Zusammenhang eine neue Beziehung zwischen Kultur und Politik, in welcher erstere als Lakai des Kapitalismus fungierte, wobei ihr gleichzeitig das – überwiegend nicht realisierte – Potential innewohnte, dessen Totengräber zu sein. Vor allem beschäftigten sie sich mit der Frage, wie das Alltagsleben zum Schauplatz einer Revolution werden könnte, das faktisch jedoch überwiegend das Gegenteil war, nämlich von einem Konformismus durchsetzt, der jeden Wunsch, ein repressives System zu überwinden, zunichtemachte.
Man kann wohl sagen, dass wir noch immer in einer Welt leben, die derjenigen ähnelt, die von den Frankfurter Theoretikern so harsch kritisiert wurde – auch wenn wir mehr Wahlfreiheiten haben als je zuvor. Adorno(35) und Horkheimer(3) waren der Meinung, dass es sich bei der Wahlfreiheit, auf die fortgeschrittene kapitalistische Gesellschaften so stolz waren, lediglich um eine Schimäre handele. In der Dialektik der Aufklärung heißt es: »Aber die Freiheit in der Wahl … erweist sich in allen Sparten als die Freiheit zum Immergleichen.«[18] Dort argumentieren sie auch, die menschliche Persönlichkeit sei durch das falsche Bewusstsein so korrumpiert, dass es kaum mehr etwas gebe, das diesen Namen überhaupt verdiene: »personality bedeutet kaum mehr etwas anderes als blendend weiße Zähne und Freiheit von Achselschweiß und Emotionen.«[19] Menschen waren in wünschenswerte, einfach auszutauschende Handelsgüter verwandelt worden, und die einzige Wahl, die man noch treffen konnte, betraf die Option zu wissen, dass man manipuliert wurde. »Das ist der Triumph der Reklame in der Kulturindustrie, die zwangshafte Mimesis der Konsumenten an die zugleich durchschauten Kulturwaren.«[20] Die Frankfurter Schule ist für unsere Zeit relevant, weil diese Art von Gesellschaftskritik heute noch angebrachter ist als zu jener Zeit, da diese Worte geschrieben wurden.
Warum? Weil(1) die Herrschaft der Kulturindustrie und der Konsumzwänge über den Menschen heute offensichtlich stärker ist als je zuvor. Und schlimmer noch: Was einst ein Herrschaftssystem innerhalb europäischer und nordamerikanischer Gesellschaften war, hat seinen Wirkungsbereich ausgeweitet. Wir leben nicht mehr in einer Welt, in der Nationen und Nationalismen eine Schlüsselrolle spielen, sondern in einem globalisierten Markt, auf dem wir vordergründig frei sind zu wählen – wenn allerdings die Diagnose der Frankfurter Schule zutrifft, dann können wir nur das wählen, was immer dasselbe ist, nur das, was uns geistig abstumpfen lässt und in uns die Bereitschaft wachhält, uns widerspruchslos einem repressiven System zu unterwerfen.
1940 schrieb Max Horkheimer(4) an einen Freund: »Angesichts dessen, was jetzt über Europa(2) und vielleicht über die ganze Welt hereinbricht, ist … unsere gegenwärtige Arbeit wesentlich zur Überlieferung durch die Nacht hindurch bestimmt, die kommen wird: eine Art Flaschenpost.(5)«[21] Das Dunkel, von dem er sprach, waren natürlich der Zweite Weltkrieg und der Holocaust.
Doch sind die Texte aus dem Kreis der Frankfurter Schule nutzbringend auch für uns, die wir gegenwärtig – in einer anderen Art von Dunkel leben. Wir leben nicht in einer Hölle, die von den Denkern der Frankfurter Schule geschaffen wurde – vielmehr in einer Hölle, die sie uns helfen kann zu verstehen. Es ist also ein guter Zeitpunkt, ihre Flaschenpost zu öffnen.