Werden wir Eltern, tritt eine riesige Veränderung ein, von der wir zuvor nicht ahnten, was diese mit uns macht. Jede Reise durch die Elternschaft ist individuell und nicht mit einer anderen vergleichbar. Was uns vereint, ist vermutlich, dass wir ein bestimmtes Bild oder ein gewisses Ideal in uns tragen, wie wir uns ein Leben mit Kind(ern) vorstellen.
Je nach unseren Erfahrungen und Vorbildern stehen wir den Herausforderungen gelassen oder eher angespannt gegenüber. Ich erinnere mich sehr gut daran, dass ich, als ich vor vierzehn Jahren das erste Mal Mutter wurde, keine Sekunde daran zweifelte, dass mir diese Aufgabe spielend von der Hand gehen würde. Ich war mir sehr sicher, für diesen „Job“ gewappnet zu sein, schließlich hatte ich Kindheitspädagogik studiert und bereits viele Erfahrungen im Umgang mit Kindern gesammelt. Was ich dabei völlig außer Acht ließ, war, dass ich im Job die Verantwortung nur stundenweise trug. Ich wusste so viel – und irgendwie gleichzeitig auch nichts. Und obwohl im Laufe der Jahre meine Erfahrungen als Mutter wuchsen, so fühlte und fühle ich mich durch neue Entwicklungsschritte immer wieder neu auf die Probe gestellt. Auch meine anfängliche Überzeugung, dass ich mit jedem weiteren Kind und wachsender Erfahrung gelassener werden würde, musste ich überdenken, denn mit jedem weiteren Kind, das ich in unserer Familie begrüßen durfte, lernte ich ein neues und einzigartiges Individuum kennen.
Welche Eltern wir sind und wie wir unsere Elternschaft empfinden, hängt mit so vielen Faktoren zusammen und anders als anfangs gedacht, war mein Studium nicht der Garant dafür, die „perfekte“ Mutter zu sein. Um unserer Wunschvorstellung von dem Elternteil, das wir gerne sein würden, zu entsprechen, befinden wir uns auf einer – ich würde meinen – lebenslangen Reise, auf der es keine Pausen gibt. Manchmal fühlt sich diese wie Urlaub an und manchmal wie schwere Arbeit. Und all das darf sein und ist okay!
Mein persönlicher Weg veränderte sich grundlegend, als ich begann, mich mit einer achtsamen und bedürfnisorientierten Begleitung von Kindern zu beschäftigen und diese in mein Leben zu integrieren.3 In diesem Buch möchte ich dich ohne Anspruch auf Vollständigkeit ein Stück an meinen Erkenntnissen teilhaben lassen, die für mich im täglichen Miteinander einen Unterschied machen. Und bei all dem ist das Entscheidende nicht, was wir tun, sondern vielmehr, wie wir es tun. Unsere innere Haltung ist ausschlaggebend. Hierbei spielen drei Grundpfeiler für mich eine wichtige Rolle: unsere Gefühle, unsere Bedürfnisse und unsere Grenzen.4
Die eigenen Gefühle spüren, erkennen und ausdrücken zu können und letztlich zu regulieren, ist für unsere Gesundheit wichtig. Denn wenn wir auf unsere Gefühle nicht hören, diese unterdrücken oder auch fehldeuten, versperren wir den Gefühlen ihre wichtige Funktion. Gefühle sind in uns spürbar, sie gehören uns selbst, und auch wenn es sich oft anders anfühlen mag, sie werden nicht von außen hervorgerufen. Mein Ärger und meine Wut gehören mir, genauso wie meine Freude. Sie entstehen zum einen durch Gedanken, denn je nachdem, wie wir über etwas denken, so fühlen wir auch.5 Stell dir vor, du hast es gerade eilig und denkst: „Ich komme sicher zu spät und dann bekomm ich richtig Ärger.“ Vermutlich wirst du angespannter und ängstlicher sein, als wenn du denkst: „Wenn ich Ruhe bewahre, schaffe ich alles. Ich brauche mir keine Sorgen zu machen, alles ist gut so, wie es ist.“
Zum anderen entstehen Gefühle durch Bedürfnisse. Wir können unsere Gefühle wie einen inneren Kompass nutzen, denn sie zeigen uns an, ob unsere Bedürfnisse erfüllt sind oder um Erfüllung bitten oder gar drängen. Daher ist es in der bedürfnisorientierten Begleitung ein Ziel, die Kinder in ihren Gefühlen feinfühlig wahr- und ernst zu nehmen, sodass sie lernen, ihre eigenen Gefühle zu verstehen, zu übersetzen und zu regulieren. Hierbei weisen mir verschiedene Grundsätze den Weg.
Jedes Gefühl darf sein. Gute oder schlechte Gefühle gibt es nicht. Natürlich gibt es Gefühle, die wir lieber fühlen als andere. Verstehen wir hingegen die Funktion von Gefühlen, dann erkennen wir, dass ihre Bewertung uns daran hindert, sie ganz neutral als Signalgeber zu nutzen. Im Grunde fühlen wir immer, auch im Schlaf, und tun somit uns selbst und auch unseren Kindern Gutes, wenn wir lernen, unsere bunte Gefühlspalette anzunehmen, statt sie zu unterdrücken oder zu beurteilen. Dadurch können wir – mit etwas Übung – diese innere Kraft, die unsere Gefühle mit sich bringen, für uns gebrauchen. Studien haben gezeigt, dass bereits circa sechs Monate alte Babys Ärger und auch Angst empfinden, wenn sie einen entsprechenden Reiz wahrnehmen. Während Angst uns Menschen beschützen will, motivieren uns Ärger und Frustration, für uns einzustehen und Grenzen zu setzen. Spüren wir Trauer, dann bedauern oder betrauern wir etwas, was uns sehr am Herzen liegt. Und bei jedem Gefühl werden bestimmte Körperreaktionen ausgelöst.
Körperliche Reaktionen auf Gefühle
Es gibt Situationen, in denen wir uns unseren Gefühlen hingeben, während wir sie in anderen eher unterdrücken, überspielen oder uns von ihnen ablenken. Meist holen uns die Gefühle früher oder später ein und machen auf sich aufmerksam, sofern wir sie nicht zugelassen haben. Das kann Minuten, Tage oder auch Jahre später sein, und schlimmstenfalls führt eine Unterdrückung von Gefühlen zu psychischen Störungen. Daher ist es umso wichtiger, Kinder zu befähigen, ihren eigenen Kompass von Beginn an verstehen zu lernen und ihnen dabei als Übersetzer:in zur Seite zu stehen.
Als ich mir diese Aufgabe zu Herzen nahm, erkannte ich, dass dies bedeutete, dass ich zuerst meinen eigenen Kompass verstehen lernen und „verschüttete“ Gefühle neu entdecken musste. Begleiten wir also Kinder in ihren Gefühlen nach dem Grundsatz, dass jedes Gefühl willkommen ist, – so gilt dies auch für uns. Auch wir dürfen traurig, wütend, verärgert, einsam, ängstlich, fröhlich, glücklich und zufrieden sein. Während dies für einige Menschen so normal ist, wie zu atmen, so weiß ich aus meinen Fortbildungen und Beratungen, dass für andere Menschen der Weg zum Fühlen und Übersetzen der eigenen Gefühle verschlossen scheint. Sätze wie: „Sei nicht so wütend!“ oder „Du brauchst nicht traurig sein!“ führen dazu, dass wir Gefühle verkennen und verneinen und schlussendlich verlernen, sie als Signalgeber wahrzunehmen.
Alle Menschen haben die gleichen Bedürfnisse, nutzen hingegen unterschiedliche Strategien, sich diese zu erfüllen. Unsere Bedürfnisse sind unser Antrieb, und in jedem Augenblick versuchen wir, uns mit unserem Tun unsere Bedürfnisse bestmöglich zu erfüllen. Wir Menschen, unabhängig von Alter oder Herkunft etc., haben die gleichen Bedürfnisse und meist auch mehrere zur gleichen Zeit in unterschiedlicher Ausprägung. Um uns ein Bedürfnis zu erfüllen, gibt es viele unterschiedliche Wege, diese nennen wir Strategien. Wir Erwachsenen sind selbst verantwortlich für die Strategie, die wir zur Erfüllung eines Bedürfnisses wählen. Kinder benötigen hierbei oft Unterstützung. Beobachtest du beispielsweise, wie Sami auf dem Spielplatz ein anderes Kind schubst, ist das Schubsen die Strategie, mit der er sich ein Bedürfnis – möglicherweise nach Verbindung, Kontakt oder Spiel – erfüllen möchte. Während wir Strategien beobachten können, also beispielsweise das Schubsen, sind Bedürfnisse als solche nicht sichtbar. Dies macht es uns oft schwer, die Bedürfnisse hinter einer Handlung zu deuten. Unsere Bedürfnisse lösen keine Konflikte aus, sondern es sind vielmehr unsere Strategien, die mit der Strategie eines anderen kollidieren oder gar eine Grenze überschreiten können. So auch, wenn Sami schubst und damit das Spiel des anderen Kindes stört.
Stell dir vor, ich beginne, neben dir Seil zu springen, während du gerade ein Buch liest. Du erfüllst gerade dein Bedürfnis nach Ruhe und Entspannung, wohingegen ich mich bewegen möchte. Unsere Strategien kommen sich vermutlich in die Quere und du spürst eine Grenze in dir, die sagt: „Ich will Ruhe und ich will nicht, dass du hier neben mir springst!“ Allein das Erkennen der eigenen und der Bedürfnisse anderer und das Wissen, dass unser Tun das Ziel hat, sich ein Bedürfnis zu erfüllen, kann Verständnis hervorrufen und befähigt uns, einander zu sehen und unsere Reaktion abzuwägen, statt in dem Konflikt zu verharren.
Jedes Verhalten hat einen Sinn und ist der Versuch, sich ein Bedürfnis zu erfüllen. Wir Menschen stehen für unsere Bedürfnisse ein und kämpfen immer für uns und nicht gegen andere. Diese Leitsätze haben mir persönlich eine neue Perspektive eröffnet und immer, wenn mir ein Verhalten begegnet, das ich nicht verstehe, das ich ablehne oder durch das ich mich herausgefordert fühle, denke ich, dass das Verhalten sich nicht gegen mich richtet. Der Mensch, und dabei kann es sich um ein wütendes Kind handeln oder um eine genervte Kassiererin, schützt damit sein bzw. ihr Bedürfnis. Die Strategie, die es oder sie dafür wählt, kann ich richtig doof finden und dies auch zum Ausdruck bringen. Wenn ich dieses Verhalten jedoch nicht als Angriff werte, so schütze ich mich davor, in den Kampf zu gehen. Diese Gedanken beruhigen mich, und dadurch verändern sich meine Gefühle. So bewahre ich auch mich selbst davor, gewaltvoll zu handeln. Und wenn ich selbst Verärgerung oder Trauer fühle, lädt mich dies dazu ein, meine Grenze zu erkennen und zu schützen. Sinnbildlich spüre ich meine Grenze wie einen Hula-Hoop-Reifen, der mich umgibt und durch die Handlungen oder Worte eines Gegenübers überschritten werden kann. Der Philosoph Immanuel Kant formulierte einst so treffend: Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt.
Statt Grenzen als Distanz und Abwehr zu betrachten, lade ich dich ein, sie als Instrumente der Selbsterhaltung zu sehen, die uns anzeigen: „Achtung, schütze dich!“ Unsere Grenzen machen deutlich, was wir wollen oder was wir nicht wollen. Manchmal kennen Erwachsene und Kinder keine besseren Strategien und schützen sich, indem sie dabei einen anderen Menschen von sich schubsen oder gar angreifen. Und ohne Frage wären an dieser Stelle andere Strategien besser. Wir haben es in der Hand, ob wir auf diese „Selbstverteidigung“ mit Gegengewalt reagieren oder mit Verständnis und Liebe. Ich bin definitiv für Letzteres und übe es an jedem Tag. Mal gelingt es gut, mal weniger, und das ist okay!
Viele Jahre hatte ich zwei Grundpfeiler der Bedürfnisorientierung fest im Blick, die Gefühle und die Bedürfnisse, übersah aber die Bedeutung der Grenzen. Die Folge davon kann Erschöpfung aufgrund dauerhafter „Bedürfnisvertagung“ sein oder auch Unzufriedenheit und Unsicherheit. Mich überkamen Zweifel, ob ich meinen Kindern haltgebend zur Seite stehen kann. Mittlerweile weiß ich: Ja, das geht! Dabei haben für mich die individuellen seelischen und auch körperlichen Grenzen immer mehr an Bedeutung gewonnen. Ich habe erkannt, dass es für unser familiäres Miteinander wichtig ist, meine eigenen Grenzen zu kennen und diese zu benennen. Dadurch werde ich besser verstanden und lebe den Kindern vor, wie auch sie ohne Sorge für sich einstehen können und lernen, die Grenzen anderer zu achten. Werde ich heute gefragt, ob ich am Nachmittag Plätzchen backen möchte, gehe ich einen Moment in mich und überlege sehr genau, ob ich dem beherzt zustimmen oder beispielsweise aufgrund von Zeitnot oder Erschöpfung bewusst ablehnen möchte oder eine Alternative vorschlage. Ich achte heute auch bewusst darauf, wo genau meine Grenzen verlaufen, um am Ende des Tages möglichst noch einen Hauch von Kraft für eine liebevolle Abendbegleitung übrig zu haben.
Der Erwachsene hat einen Erfahrungs- und Wissensvorsprung und steht den Kindern begleitend und schützend zur Seite. Bleiben wir einen Moment bei den Plätzchen: Für ein Kind ist das Backen eine tolle Idee, wenn es an den Geschmack von Keksen denkt oder an das lustige Matschen und Kneten des Teigs. Und aus der Idee heraus entsteht der dringende Wunsch, das Plätzchenbacken so schnell wie möglich umzusetzen. Es denkt nicht daran, wie lange das Herstellen des Teigs dauert, dass die Butter für das morgige Frühstück auch noch reichen muss oder wie aufwendig es ist, nach dem Spaß wieder aufzuräumen. Wir Erwachsene haben diesbezüglich viel mehr Erfahrung, an der wir die Kinder teilhaben lassen sollten. Auf ihrer Basis wägen wir den Wunsch ab und treffen eine Entscheidung. Dieses Szenario kann vielseitig ausfallen: Wir stimmen zu, weil wir sowohl die Zutaten, die Zeit und die Energie haben, wir finden einen Kompromiss oder wir entscheiden uns dagegen. Wünsche und Bedürfnisse sind nicht dasselbe. Hinter einem Wunsch steckt immer ein Bedürfnis und mit Wünschen versuchen wir, uns ein Bedürfnis zu erfüllen. So kann hinter dem Wunsch, Kekse zu backen, das Bedürfnis nach Verbindung, Neugierde, Spaß und Genuss stecken. Und dieses lässt sich vielleicht auch auf andere Weise stillen.
Bedürfnisorientierung bedeutet:
Wir begegnen dem Kind auf Augenhöhe und mit Gleichwürdigkeit. Dies meint, dass wir die Bedürfnisse, Interessen, Gefühle und Grenzen eines jeden Menschen, unabhängig von Alter etc., ernst nehmen. Sage ich: „Du möchtest backen, aber ich nicht“, entkräfte ich mit dem Aber sofort den Wunsch des Kindes. Wenn wir seinen Wunsch gleichwürdig behandeln, wägen wir ab und sagen: „Du möchtest gern Plätzchen backen, und ich möchte mich jetzt gerne ausruhen.“ Unser Wissen über die kindliche Entwicklung hilft uns abzuschätzen, was wir unserem Kind zutrauen können. So wird ein Nein das Kind wahrscheinlich in der „Autonomiezeit“ stärker herausfordern als im Grundschulalter, und auch Charakter und Temperament sind ausschlaggebend. Kinder auf Augenhöhe und in Gleichwürdigkeit zu begleiten, meint auch, sie so, wie sie sind, anzunehmen und nicht mit anderen zu vergleichen.
Wir dürfen Nein sagen, und das Kind darf frustriert sein; und auch das Kind darf Nein sagen, und wir dürfen uns darüber ärgern. Auch das durfte ich in den letzten Jahren immer wieder üben: Ja zu sagen, wenn ich wirklich Ja meine, und Nein zu sagen, wenn ich nicht einverstanden bin. Denn sagen wir Ja und meinen Nein und reagieren dann vor Erschöpfung gereizt, fluchen und schimpfen oder geben dem Kind die Schuld für die „doofe Idee“, verletzen und beschämen wir es. Das tut weh und lässt sich vermeiden. Kinder haben ein Recht auf eine gewaltfreie Kindheit, fernab von Beschämungen und Strafen jeglicher Art.
Wir tragen die Verantwortung für die Erfüllung unserer Bedürfnisse. Und nun denkst du vielleicht, dass ein Nein dein Kind in große Frustration, Verärgerung und Wut versetzt und du diese Gefühlsstürme lieber vermeidest, indem du zustimmst. In der Tat kann es passieren, dass das Kind mit unserer Entscheidung nicht einverstanden ist. Dann erinnere ich mich an den Grundsatz, dass ein jedes Gefühl sein darf und ich ihm Raum schenke und es so annehme, wie es ist. Statt das Gefühl abzulehnen, spiegele ich es, halte den Raum und schenke meinem Kind Sicherheit. „Ich bin für dich da. Deine Gefühle sind okay. Du kämpfst für dich.“ Wir begleiten das Kind und co-regulieren, das bedeutet, dass das Kind durch unsere spiegelnde, einfühlende und unterstützende Begleitung seine emotionale Stabilität zurückerlangen kann. Wir geben ihm so die Möglichkeit zu erleben, wie es handlungsfähig bleibt oder wieder wird. Wir steuern in dem Moment nicht für, sondern mit dem Kind. Dies funktioniert jedoch nur dann gut, wenn wir selbst möglichst entspannt sind. Das heißt also: Selbstregulation kommt vor Co-Regulation.
Ob mir das immer gelingt, fragst du dich an dieser Stelle vielleicht. Nein, absolut nicht. „Wenn wir in unserer eigenen Kindheit nicht das Glück einer sicheren Bindung hatten, kann es besonders wichtig sein, aber auch besonders schwierig sein, uns im Hinblick auf unser pädagogisches Verhalten zu öffnen.“7 Es ist eine Reise auf einem Weg, der nicht immer einfach ist. Ich spüre hingegen, wie sehr die tägliche Übung und Erinnerung mir dabei helfen, mit mir und meinem Gegenüber milde zu sein.
Unsere eigenen Bedürfnisse zu erkennen zu geben und auszusprechen, ist deshalb so entscheidend, weil es unserem Gegenüber die Möglichkeit gibt, uns zu verstehen und uns bei der Erfüllung unserer Bedürfnisse zu unterstützen. Nicht selten beginnen wir stattdessen, durch Schuldzuweisungen für unsere Bedürfnisse zu kämpfen. Diese Form der Kommunikation kostet Kraft und endet meist in einer Sackgasse.
Da ich davon überzeugt bin, dass das gegenseitige Verständnis der Schlüssel für harmonische Familienbeziehungen ist, schauen wir uns die Bedürfnisse und Grenzen in diesem Buch noch genauer an. Es ist ein lebenslanger Weg und wir dürfen diesen Schritt für Schritt gehen. Und wie sagte der Familientherapeut Jesper Juul vor vielen Jahren: Kinder machen nicht das, was wir sagen, sondern das, was wir tun. – Wir sind ihnen ein richtungsweisendes Vorbild. Sie beobachten uns und auch, wie wir Konflikte mit dem Partner oder der Partnerin leben: miteinander oder gegeneinander.
Meine Botschaft für dich
Einer meiner Leitsätze ist: Konflikte bedeuten Fortschritt. Scheust du dich davor, eigene Bedürfnisse und Grenzen zu formulieren aus Sorge, die Harmonie könnte darunter leiden? Dann möchte ich dir Mut zusprechen. Wenn du Unstimmigkeiten ansprichst und Konflikte eingehst, wird deine Familie daran wachsen!
Mir persönlich fiel die Notwenigkeit, meine Sprache und die Art unseres Miteinanders zu überdenken, besonders auf, als ich meine Kinder einmal während eines Streits beobachtete. Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Sie hielten mir den Spiegel direkt vor die Nase. Es war, als sähe ich mir und meinem Mann beim Diskutieren zu. Mir wurde klar: Wenn ich die Konfliktkultur und die Kommunikation der Kinder verändern möchte, dann „darf“ ich mit gutem Beispiel vorangehen.
Im Folgenden möchte ich noch genauer auf die Bedürfnisse unserer Kinder und unsere eigenen eingehen und dir eine Idee davon geben, wie wir ihnen im Familienalltag Raum geben können. Als Eltern kommt uns die Aufgabe zu, die Bedürfnisse aller im Blick zu haben und unseren Kindern ein Vorbild zu sein. Kinder brauchen Erwachsene, die für ihre eigenen Bedürfnisse Verantwortung tragen und sich gleichzeitig darum bemühen, das Wohlergehen des Kindes in den Fokus zu rücken – ohne sich dabei aus den Augen zu verlieren. Werden Bedürfnisse nicht gesehen, so wird die Ausschüttung wichtiger Hormone behindert, wodurch ein Mensch unglücklich und krank werden kann.
Bedürfnisse zu sehen, ist ein erster wichtiger Schritt und oft ähnlich wichtig wie die Erfüllung dieser. Es geht in der Bedürfnisorientierung nicht primär darum, wie ein kleiner Helikopter um die Kinder zu kreisen und ihnen alles abzunehmen. Im Gegenteil, vielmehr geht es um die Annahme von dem, was ist. Was ich damit meine? Stell dir vor, du kommst nach einem langen und sehr anstrengenden Tag nach Hause und sehnst dich nach einer leeren Wohnung oder nach einem Bad bei Kerzenschein. Dein Bedürfnis nach Erholung und Ruhe ist sehr groß. Beim Betreten der Wohnung erwarten dich stattdessen Kinderlachen, sich stapelnde Jacken am Eingang und eine piepsende Waschmaschine. Nun könnte dein Partner oder deine Partnerin dich mit den Worten begrüßen: „Mach nicht so ein Gesicht. Mein Tag war auch stressig!“ Wie würdest du dich wohl fühlen? Er oder sie könnte aber auch sagen: „Du siehst erschöpft aus, du kannst sicher etwas Ruhe vertragen. Lass uns die Bande früh ins Bett bringen, und dann machen wir es uns gemütlich!“
Dein Bedürfnis wird nicht sofort erfüllt, es wird aber gesehen und findet Raum. Allein das macht einen großen und entscheidenden Unterschied. Wir können Gefühle und Bedürfnisse negieren oder uns ihnen zuwenden. „Gesehen ist halb erfüllt“, sagen wir in unseren Seminaren gern. Und das trifft für dich und mich genauso zu wie für unsere Kinder. Eine Ausnahme möchte ich gerne betonen: Säuglinge und kleine Kinder sind auf die prompte Erfüllung ihrer Bedürfnisse durch eine feinfühlige Bindungsperson angewiesen, um sich gut und sicher entwickeln zu können. Erst mit zunehmendem Alter und mehr Reifung gelingt es Kindern, einige Bedürfnisse selbst zu erfüllen oder aufzuschieben. Andere Bedürfnisse sind aber unheimlich dringend und können nicht auf Erfüllung warten. Die Dringlichkeit legen nicht wir fest, sondern das Kind selbst!
Wir alle haben die gleichen Bedürfnisse, unabhängig von unserer Herkunft oder unserem Alter, und oft haben wir verlernt, in uns zu hören und zu fragen: Was brauche ich? Allein wenn ich über diese Frage nachdenke, spüre ich eine Form der inneren Zuwendung, wodurch ich automatisch eine Verbindung zu mir selbst aufbaue. Das ermöglicht es mir, das Unsichtbare sichtbar werden zu lassen. Ich gehe weg von einem Verhalten hin zu dem, wohin ein Verhalten oder auch die Gefühle uns lenken wollen. Das Wort Bedürfnis erzeugt für mich eine Brücke und ist zugleich der Schlüssel nach innen. Für Marshall Rosenberg, den Begründer der Gewaltfreien Kommunikation, sind Bedürfnisse „Offenbarungen des Lebens“8. Sie zeigen sich insbesondere dann, wenn sie unerfüllt sind, und werden meist durch schmerzhafte Gefühle sichtbar. Wie geht es dir mit Bedürfnissen? Welche Assoziationen ruft der Begriff in dir hervor?
Im Folgenden möchte ich dir einen kleinen Einblick in die Bedürfnisse der Kinder schenken (diese gelten daher auch für uns).
Es gibt verschiedene Modelle, die uns aufzeigen, was wir brauchen, damit es uns Menschen gut geht. Oft trennt man die körperlichen Grundbedürfnisse wie Schlaf, Nahrung, Trinken, Ausscheidung, Gesundheit, sicheren Lebensort, aber auch Sexualität und Bewegung sowie Ruhe und Erholung von den seelischen Bedürfnissen wie Autonomie, Verbindung, Wertschätzung etc. Im Grunde gehören sie zusammen. Bestimmte Grundbedürfnisse sollten wir besonders im Blick behalten, damit ein Kind sich gut entwickeln und gut sein kann.
Kinder benötigen die Erfahrung von Sicherheit und Bindung, um Autonomie und Freiheit erleben zu können. Das Hin und Her zwischen diesen beiden Polen findet unzählige Male am Tag statt: Ein Kind zieht los und kommt immer wieder zu seinem sicheren Hafen zurück. Das kann die Rückversicherung eines Kleinkindes auf dem Spielplatz durch Blickkontakt zur Bezugsperson sein oder auch ein Abendritual mit einem Vorschulkind nach einem aufregenden Tag. Um sich voller Neugierde und Entdeckerfreude den Abenteuern zu stellen, benötigen Kinder das Gefühl, dass sie sich unserer Unterstützung sicher sein können.
Um sich verbunden und gebunden zu fühlen, braucht ein Kind Aufmerksamkeit, Liebe, Verständnis, Geborgenheit, ein Gefühl der Zugehörigkeit und Anleitung. Es braucht das Vertrauen: Mama und Papa sind für mich da und fangen mich auf, wenn ich falle. Dem gegenüber steht sein Bedürfnis nach Autonomie und Erkundung. Es liegt in der Natur des Menschen, dass Kinder die Fähigkeit erlangen, langfristig unabhängig von ihren Eltern zu leben, sich eine eigene Identität, ein eigenes Selbst aufzubauen. Sie lernen sich abzugrenzen, Nein zu sagen und eigene Ideen zu verfolgen. Nicht selten wird Elternschaft herausgefordert, wenn das Kind seinen eigenen Willen entdeckt und mit Stärke zum Ausdruck bringt und sein Bedürfnis nach Autonomie auf die Bedürfnisse der Eltern trifft: „Ich will klettern und du willst mich beschützen!“ Autonomie lässt sich am besten in einem vertrauten und sicheren Raum bzw. Umfeld erproben, in dem fehlerfreundliches Lernen möglich ist.
Ein jeder Mensch sehnt sich danach, mit seinen Eigenschaften, seiner Liebenswürdigkeit und vielleicht auch seltsamen Eigenarten gemocht und geschätzt zu werden. Um sich gut zu entwickeln, brauchen Kinder Selbstachtung10 bzw. Selbstwerterhaltung. Das Selbstbild eines Kindes („Ich bin gut so, wie ich bin!“) hängt von den Erfahrungen ab, die es macht und die mit emotionalen Bewertungen verknüpft und als Erinnerungen gespeichert werden. Wenn bestimmte Erfahrungen wiederholt auftreten, formen sie das Selbstbild eines Menschen. Ein Kind wird demnach ein positives Selbstbild entwickeln, wenn es Zuspruch, Anerkennung, Wertschätzung, Empathie, Würde, Resonanz, Verständnis und Akzeptanz erfährt. Dadurch wächst in ihm die Sicherheit, für andere Menschen von Wert sowie geliebt und geschätzt zu sein. Wenn ein Kind ermutigt wird, neue Dinge auszuprobieren und seine eigene Bedeutung in der Welt zu entdecken, stärkt dies seine Selbstachtung und es fühlt sich liebenswert. Um ein gesundes Selbst entwickeln zu können, braucht ein Kind eine Umgebung und Bezugspersonen, die es darin unterstützen, die eigenen Gefühle und Bedürfnisse auszudrücken und diese als ebenso wichtig anzuerkennen wie die einer anderen Person. Es erfährt dadurch: „Du bist wichtig, deine Gefühle und Bedürfnisse werden gesehen“, wodurch auch sein Bedürfnis nach Selbstausdruck Erfüllung findet.
Im Gegensatz dazu entwickeln Kinder, die beschämt, kleingemacht und emotional übersehen werden, ein negatives Selbstbild. Dies beschreibt das Bedürfnis nach Selbstwerterhaltung.11 Wie wir die Kinder sehen und wie wir mit ihnen sprechen, prägt ihr späteres Bild von sich selbst. Wünschen wir uns sich ihrer selbst bewusste Kinder, ist es an uns, sie in ihren Gefühlen, Bedürfnissen und Grenzen zu respektieren. Nur wenn wir diese achten, können wir darauf setzen, dass Kinder auch lernen, die der anderen zu achten.
Aber damit nicht genug, ein weiteres und vermutlich unterschätztes Bedürfnis von Kindern bzw. uns Menschen ist das Bedürfnis nach Orientierung und (Selbst-)Kontrolle. Wir brauchen die Erfahrung, dass das Leben vorhersehbar ist. Zum Beispiel: Wenn wir auf die Klingel drücken, ertönt ein Signal. Ähnlich ist es mit dem Bedürfnis nach Grenzen. Sie ermöglichen Kindern zu erfahren, dass sie mit ihren Bedürfnissen gesehen werden und gleichzeitig auch die Gefühle, Bedürfnisse und Grenzen anderer Menschen eine tragende Rolle spielen. Das Kind braucht ein Gegenüber, das eigene Bedürfnisse und Interessen offenlegt und dem Kind mitteilt. Das Kind sehnt sich danach, seine Bindungspersonen mit all ihren persönlichen Konturen und Grenzen kennenzulernen.
Gerade wenn uns in unserer eigenen Kindheit die Verbindung zu unseren Gefühlen und Bedürfnissen abhandengekommen ist, ist es verständlicherweise umso herausfordernder, die Bedürfnisse eines anderen Menschen zu lesen. Auf dieser Reise sind wir als Eltern Lernende und dürfen uns jeden Tag neu darin üben, die Mutter oder der Vater zu sein, die bzw. der wir gern sein möchten. An manchen Tagen wird es leichter sein und sich an anderen wie ein Marathon anfühlen.
Kürzlich fühlte ich mich nach einem Konflikt mit einem meiner Kinder in meiner Mutterrolle unwohl. Mit tief hängenden Schultern erzählte ich meinem Partner davon, denn ich hatte wahrlich nicht so reagiert, wie ich es eigentlich wollte. Ich reflektierte und bedauerte die Situation und meine Reaktion. Oft empfinde ich in solchen Situationen Scham, ein Gefühl, das mich motiviert, Verantwortung zu übernehmen. Manchmal lässt es mich aber auch weglaufen. Bleiben wir in der Reflexion und den negativen Gedanken stecken, hindern sie uns daran, wieder mit uns und den Kindern in Verbindung zu gelangen. Wie gut, wenn wir uns dann sinnbildlich selbst in den Arm nehmen und verzeihen können, um uns dann wieder unserem Kind zuzuwenden. Das ist möglich, wenn wir uns durch unsere Scham nicht niederdrücken lassen. Ebenso nährend ist es, wenn dies ein anderer lieber Mensch für uns übernimmt und uns bestärkt. In diesem Fall erinnere ich mich an das wohlige Gefühl in mir, als mein Partner sagte: „Du machst so viel goldrichtig und hin und wieder auch mal ein Prozent nicht.“ Es war die Wertschätzung und Anerkennung, die ich in dem Moment brauchte, um meine Schultern wieder hochziehen und aus dem kleinen Loch klettern zu können. Mit dieser Haltung begegne ich auch meinen Kindern, so gut ich kann, wenn sie Fehler machen. Es geht nicht darum, perfekt zu sein, sondern so gut wie möglich, und das ist gut genug!
Meine Botschaft für dich
Wenn du das nächste Mal in einer Situation mit deinem Kind anders reagierst, als du es eigentlich wolltest, überlege, welche Worte du einem/r Freund:in schenken würdest. Versuche, dein beste:r Freund:in zu sein und auch dir solche bestärkenden und kraftspendenden Worte zu sagen. Du hast es verdient!
Die Bindungsforschung zeigt sehr deutlich, dass Kinder eine sichere Bindung mit festen Wurzeln aufbauen, wenn die Bezugspersonen die kindlichen Anliegen und Bedürfnisse feinfühlig lesen und passend beantworten, im Säuglingsalter am besten sehr zügig. Wenn ein Kind sich sicher geborgen fühlt und Nähe spürt, gelangt es zu der Überzeugung, dass die Welt ein sicherer Ort ist, an dem es umsorgt und geliebt wird. Dieses innere Wissen ist für das spätere psychische Wohlbefinden eines Menschen ausschlaggebend.12 Es ist das Urvertrauen in andere Menschen und darauf, dass man versorgt, getröstet und beschützt wird. Feinfühligkeit gilt als stärkster Prädikator für eine sichere Bindung, und diese große Aufgabe, die Eltern zu bewerkstelligen haben, erzeugt nicht selten Druck.13 Unsere Feinfühligkeit kann durch Schlafmangel, geringere Zeitressourcen, hohes Stressempfinden, Erkrankungen oder fehlende Unterstützung beeinträchtigt werden.
Bedürfnisorientiert begleiten bedeutet, dass die Gefühle, Bedürfnisse und Grenzen aller Beteiligten ernst genommen werden und wichtig sind. Es geht nicht zwangsläufig darum, die Bedürfnisse eines jeden prompt zu erfüllen, sondern vielmehr darum, sie zu sehen. Mit der Zeit lernen Kinder, ihre Bedürfnisse aufzuschieben, und erfahren schrittweise, dass Abwarten und Zurückstellen nicht verlangt, ein Bedürfnis aufzugeben, insofern sie darauf vertrauen können, dass ihre Bedürfnisse zu einem anderen Zeitpunkt Beachtung finden. Die Erwachsenen sorgen gut für sich, damit sie gut für andere sorgen können. Gut für sich zu sorgen, bedeutet auch, sich selbst ernst zu nehmen und dem eigenen Bedürfnis nach beispielsweise Erholung Vorrang einzuräumen, wenn die Dringlichkeit anklopft. So lasse ich mein Kleinkind vielleicht an einem trubeligen Tag eine Runde Kinderserien gucken, obwohl ich dies nicht so gut finde, damit ich in Ruhe ein Telefonat führen oder eine Tasse Tee trinken kann.
Warum das so immens wichtig ist? Anders als in dem afrikanischen Sprichwort „Um ein Kind aufzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf“, wuppen die meisten Familien ihren Alltag in den eigenen vier Wänden ohne jegliche Unterstützung. Während sich dies für einige Familien und Elternteile stimmig anfühlt, geraten andere ordentlich ins Straucheln. Der Blick zur Seite lässt dann Fragen aufkommen: Wie schaffen es die anderen Familien, so fröhlich, mit gebügelter Kleidung und frisch zubereiteten und in Herzform ausgestochenen Broten ihren Alltag zu rocken? Glaube mir: Auch in anderen Familien sieht es oft ähnlich aus wie bei dir. Neben dem herzhaften Lachen und den Glücksmomenten gibt es auch dort Tage der Überbelastung, Überforderung, Ratlosigkeit und Erschöpfung.
Die Autor:innen des Buches Aufwachsen in Geborgenheit haben mit dem „Kreis der Sicherheit“ eine Art Modell entwickelt, das uns zeigt, wie wir kindliche Signale erkennen und feinfühlig auf sie reagieren können. In dem von Kent Hoffmann14 und anderen skizzierten Kreis stehen zwei Hände einerseits für einen sicheren Hafen und andererseits für eine sichere Basis. Mit der sicheren Basis (dem oberen Teil des Kreises) spendet die Bindungsperson dem Kind Vertrauen, so dass es seinen Erkundungen nachgehen kann. Damit das Kind sich in seiner Autonomie entfalten kann, braucht es eine Bindungsperson, die:
Der untere Teil des Kreises steht für den sicheren Hafen, in den das Kind zurückkehrt, wenn es unsicher ist und Geborgenheit sucht. Vier weitere Bedürfnisse des Kindes spielen hierbei eine wichtige Rolle:
Die Bewegung des Kindes weg und wieder zurück zur Bezugsperson wird als Bewegung auf dem Kreis dargestellt. Auf seinem Weg drückt das Kind immer wieder seine Bedürfnisse aus, indem es bittet: „Schütze und tröste mich, freu dich an mir und hilf mir, meine Gefühle zu organisieren!“ Wenn das Kind von intensiven Gefühlen überwältigt wird, braucht es den Kontakt zu seiner Bindungsperson. Die intensiven Gefühlswellen schlagen wild und werden an der Seite einer sicherheitsspendenden Person langsam kleiner und sanfter. In diesem Sinne sprechen wir von Co-Regulation.
Abbildung „Der Kreis der Sicherheit“ nach Hoffman, Cooper & Powell (2019)
Erschienen im Buch: Hoffman, K.; Cooper, G.; Powell, B. (2019): Aufwachsen in Geborgenheit.
Freiburg: Arbor Verlag GmbH
Damit diese gelingt, brauchen wir präsente Bezugspersonen, die körperlich und mental anwesend sind. Dann kann sich das Kind voll und ganz seinem Handeln hingeben. Es kann entspannen und muss nicht wie eine kleine Katze auf der Lauer liegen und auf mögliche Gefahren achten. Im „Kreis der Sicherheit“ wird dies als „Mit-Sein“ der Bindungsperson beschrieben. Der Erwachsene ist in Verbundenheit mit sich selbst, beobachtet die Bedürfnisse des Kindes und kann reagieren. Das Kind erspürt, wie es der Bindungsperson geht.
In Situationen des „Mit-Seins“ sind wir im Moment: ohne Ablenkung und „dem Augenblick zugewandt“, wie die Sozialpädagogin und Kinder- und Jugendtherapeutin Corinna Scherwath15 schreibt. Wir stimmen uns auf unser Gegenüber ein, gehen in Resonanz, Akzeptanz, halten den Raum, das Gefühl und beantworten das Bedürfnis, das wir zu erkennen vermuten. Auch wenn es auf den ersten Blick etwas technisch klingen mag, lässt sich diese Haltung üben. Natürlich wird es kaum gelingen, diese qualitative Verbindung zu unserem Kind den ganzen Tag aufrechtzuerhalten, das muss es auch nicht. Viel entscheidender ist, dass das Kind spürt, dass die Bindungsperson emotional zum „Mit-Sein“ bereit ist, wenn es dies braucht.16 Und wenn das Kind es nicht braucht, wenn es sich zu lösen scheint, geben wir uns sinnbildlich frei und es erkundet eigenständig.
Im Alltag kann es immer mal wieder passieren, dass das Leben auch uns Erwachsene mitreißt, wir abgelenkt sind und somit die Bedürfnisse der Kinder nicht erkennen, schwer entschlüsseln und letztlich auch nicht erfüllen können. Dadurch kann der Kreis unterbrochen werden, was dazu führt, dass unsere Verbindung zum Kind geschwächt ist oder für den Moment verloren geht.
Insbesondere wenn wir Eltern selbst aus dem Gleichgewicht geraten, verlieren wir den Blick für unser Gegenüber. Das Gute ist, dass wir immer in den Kreis zurückkehren und eventuell entstandene Brüche reparieren können.
Kinder bewegen sich bildlich gesprochen in einem „Kreis der Sicherheit“. Sie benötigen uns als sichere Basis, um zu Erkundungen aufzubrechen. Durch unser „Mit-Sein“ spürt das Kind Resonanz und stärkende Bestätigung, denn wir nehmen wahr, wenn es wieder im sicheren Hafen Geborgenheit, Schutz und Trost benötigt. Aufgetankt und rückversichert kann es dann von Neuem zu Abenteuern aufbrechen.
Im letzten Sommer saß ich mit Matthias, einem erfahrenen Gynäkologen und Freund der Familie, zusammen. Während unsere Partner:innen die Kinder ins Bett brachten, philosophierten wir über das Leben, über die Erfahrungen mit unseren Kindern vom Kleinkindalter bis zur Pubertät und die vielen Herausforderungen, die unsere Elternschaft so mit sich bringt. Während ich auf die mit Buntstiften bemalte Küchenwand blickte und über Gefühlsstürme und den Umgang mit Medienkonsum nachdachte, sagte Matthias plötzlich: „Weißt du, was immer wieder magisch ist? Ich liebe meinen Beruf so sehr, denn immer, wenn ich eine Geburt begleite, kommt dieser eine Augenblick: Wenn die Eltern das Baby empfangen und in den Arm nehmen, schauen sie es auf diese ganz besondere Art und Weise an. Da ist dieses Funkeln, diese Freude und dieses unbeschreibbare Glück über das Kind.“
Ich konnte genau spüren, was er meinte, und verspürte am ganzen Körper ein Kribbeln. Ich frage mich seither häufig, wie wir Eltern uns diese Momente regelmäßig zurückholen und das uns anvertraute Kind auf diese besondere Weise anblicken können – voller Wertschätzung und bedingungsloser Freude. Nicht wegen etwas, das es tut, sondern einfach, weil es ist! Diese Verliebtheit regelmäßig zuzulassen und mit den Kindern ein Leben lang zu teilen, ist Gold wert. Ich bin überzeugt, dass sie dieses Gefühl der Geborgenheit und Liebe so sehr nährt, einfach „nur“, weil sie spüren, dass wir gern mit ihnen zusammen sind.
Unsere Kinder spüren die tiefen Absichten, die wir in unserer Begleitung verfolgen, da bin ich mir sicher. Sie erkennen unseren Wunsch, wahrhaftig zu verstehen, was sie brauchen. Und dass sie darauf vertrauen können, dass wir für sie da sind.
In diesem Buch geht es um eine achtsame Elternschaft, und so oft wird Elternsein mit der Kernaufgabe assoziiert, sich um das Kind zu kümmern. Grund genug, dass wir uns nun bewusst der Person zuwenden, die eine so intensive und herausfordernde Aufgabe Tag für Tag bewerkstelligt – nämlich du!
Um zu erkennen, was dein Kind oder deine Kinder brauchen, ist es unfassbar wichtig zu schauen, welche Bedürfnisse du als Elternteil hast. Deshalb möchte ich an dieser Stelle den Buchtitel das erste Mal ganz bewusst in deine Richtung zitieren: Ich sehe, was du brauchst!
Langfristig wirst du nur in der Lage sein, die Feinzeichen von Kindern zu beantworten und dich gut um sie zu kümmern, wenn du auf dich selbst achtgibst. Ähnlich wie im Flugzeug, wo die Flugbegleiter:innen uns dazu auffordern, im Falle einer Notsituation erst uns zu versorgen und uns dann um unser Kind zu kümmern. Wir können nur feinfühlig und im guten Kontakt mit unserem Kind sein, wenn wir den Kontakt zu uns selbst pflegen. Je besser die Fürsorgenden (häufig sind es noch die Mütter) versorgt sind, desto sicherer ist auch die Bindungsqualität.17 Es geht also im ersten Schritt immer um die „Selbstanbindung“18, wie der Psychologe Thomas Harms es so treffend nennt.
Viele von uns empfinden Elternschaft heute als herausfordernd und anstrengend, das ergab auch meine Umfrage. Dort gab knapp die Hälfte der Eltern an, dass sie eine deutliche Erschöpfung wahrnehmen.
Eine Mutter beschrieb mir ihren Alltag wie folgt:
„Wenn mein Tag doch nur drei Stunden mehr hätte, dann wäre alles viel leichter! Ich schaffe einfach nicht alles. Am Morgen die Kinder für Kita und Schule fertig machen, die Brotdosen richten, dann zur Arbeit rasen, und oft komme ich am Nachmittag erschöpft nach Hause und entferne erst mal die Frühstücksreste vom Tisch. Dann räume ich die Taschen der Kinder aus, bereite das Essen vor, kümmere mich um die Wäsche, die Hausaufgaben, und wenn ich bei der Gutenachtgeschichte nicht mit wegdöse, dann bereite ich schon am Abend das Frühstück für den nächsten Tag vor. Meist bin ich einfach nur völlig gerädert.“
Wie in der Befragung deutlich wurde, teilt sich nur jedes fünfte Paar die Kinderbegleitung zeitlich gleich auf. Oft lastet der überwiegende Teil der Care-Arbeit auf nur zwei Schultern. Wie immens diese Last ist, können wir seit einigen Jahren in den Ratgebern lesen, die zu den Themen Care-Arbeit, Mental Load und Gefühlsarbeit – die unsichtbarste aller Arbeiten – veröffentlicht wurden.
Die Autorin und Expertin für Mental Load Laura Fröhlich beschreibt mit dem Begriff „Gefühlsarbeit“ die Regulation der eigenen Gefühle zugunsten anderer Menschen. Dies erfordert viel Selbst- und Impulskontrolle. Eigene Gefühle und auch Bedürfnisse treten zurück, was oft als sehr anstrengend, also als „Arbeit“, empfunden wird. Care-Arbeit umfasst das Betreuen und Pflegen von Kindern und Angehörigen, die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen sowie die Hausarbeit. Und was ist mit Mental Load gemeint? Darunter fällt die Last und die immense Verantwortung, an alles die Familienorganisation Betreffende denken zu müssen, verbunden mit der ständigen Sorge, etwas zu vernachlässigen oder gar zu vergessen.19 Ob und wie stark Menschen darunter leiden, häufig sind es Frauen, hängt von der individuellen Situation der Familie ab. Die Komplexität dieser Themen lässt sich an dieser Stelle kaum klären, und gleichzeitig braucht es Veränderung, denn die Erschöpfung ist bei vielen groß und eine sogenannte Care-Krise nicht kleinzureden.
Meine Botschaft für dich
Denke täglich an die Flugzeugmetapher: Nur wenn du gut versorgt bist, kannst du gut für andere sorgen. Das ist Prävention und Verantwortung!
Dass Fürsorgearbeit immer noch vor allem von Frauen übernommen wird, hängt in hohem Maß mit unserer Sozialisation und der Mutterrolle zusammen, die uns vorgelebt wurde. Überprüfe selbst einmal: Welche inneren Bilder tauchen in dir auf, wenn du dir eine „gute Mutter“ und einen „guten Vater“ vorstellst? Sind die Bilder gleich? Ich vermute, es tauchen auch in dir verschiedene Bilder, Erwartungen und Anforderungen auf. Warum eigentlich? Weil Mütter für die Kinder wichtiger sind? Bei vielen von uns ist das Konzept, das wir vom System Familie in uns tragen, sehr stark durch unsere eigene Herkunft und Erziehung geprägt.
Biologisch gibt es feine Unterschiede zwischen Frauen und Männern, diese rechtfertigen hingegen nicht die Zuschreibung der Gefühlsarbeit aufseiten der Mütter.
Die Bindungs- und Erziehungsexpertin Lieselotte Ahnert schreibt in ihrem Buch Wieviel Mutter braucht ein Kind, dass Frauen bis auf das Stillen nicht besser darauf vorbereitet sind, ein fähiges Elternteil zu sein als Männer. Weint ein Baby, so reagieren sowohl Mütter wie Väter mit einer Erhöhung von Herzschlag, Blutdruck und Hauttemperatur. Beide Geschlechter verfügen also über ein „intuitives (unbewusstes) Handlungswissen für den Umgang mit Säuglingen“20. Kleinkindpädagogin und Autorin Susanne Mierau fasst im Buch Mutter.sein zusammen, dass Väter Dinge anders machen, aber keineswegs schlechtere Bezugspersonen sind.21 Und doch nimmt das Verantwortungsgefühl vieler Frauen nach der Geburt deutlich zu – im Gegensatz zu dem der Männer. Laura Fröhlich schreibt, dass Frauen förmlich gedrängt werden, ihre Aufmerksamkeit, Zeit und Zuneigung herzugeben, um in einem System zu dienen, in dem Männer in sozialen, politischen, wirtschaftlichen Bereichen mehr Macht und Privilegien erhalten als Frauen22. Wir befinden uns also immer noch in einer patriarchalen Gesellschaft, in der der Mann eine bevorzugte Stellung innehat. Und da kommen wir wieder zurück auf die Care-Arbeit, die im Gegensatz zur Erwerbsarbeit unbezahlt, wenig wertgeschätzt und ohne Pause abläuft.
Vieles von all dem können wir nicht von heute auf morgen verändern. Wir können aber in jedem Fall damit beginnen, Veränderung im Kleinen anzustreben und in unserer Kernfamilie Verantwortung füreinander zu übernehmen. Dazu gehört auch, alte Glaubenssätze zu hinterfragen und bestenfalls über Bord zu werfen. Einer davon wäre: „Frauen können sich einfach viel besser um Familie und Haushalt kümmern!“ Männer können ebenso einfühlsam sein, wenn sie denn darin befähigt werden und ihre emotionale Intelligenz geübt wird, so wird die Neurobiologin Lise Eliot in einem Artikel in der Zeit zitiert. Es ist entscheidend, welche Rollenbilder wir den Kindern in unserer Gesellschaft im Alltag, in Werbung und Medien tagtäglich vorleben.23
Spüren wir also in uns hinein: Wenn wir als Elternteil etwas anderes brauchen, als wir aktuell leben, so sollten wir dies ernst nehmen und die Strukturen, Bilder und Aufgabenverteilungen neu denken. Und auch wenn Frauen sich häufig verantwortlicher fühlen, Beziehungen zu pflegen, die Familienorganisation zu übernehmen und auf die Stimmungen der anderen achtzugeben, steht außer Frage, dass dies eine große Portion Kraft kostet – insbesondere, wenn wir davon scheinbar keinen Feierabend bekommen. Elternliebe bedeutet nicht, sich aufzuopfern und bis zur endlosen Erschöpfung eigene Bedürfnisse auf dem Abstellgleis zu parken.
Meine Botschaft für dich
Erinnere dich immer daran, dass kein Elternteil sich von Natur aus besser kümmern kann. Viel wichtiger ist es, dass ihr euch regelmäßig darüber abstimmt, was ihr braucht, damit es euch gut geht und ihr eure Elternschaft und Paarbeziehung bestmöglich leben könnt.
Ihr als Paar entscheidet, wie ihr als Familie zusammenleben möchtet. Dazu kann auch gehören, die Aufgabenverteilung und Rollenbilder zu überdenken. Tauscht euch über diese Fragen aus, solltet ihr euch im Alltag unwohl fühlen. Die folgenden Fragen können euch dabei helfen. In meiner Familie überdenken wir die Aufgabenverteilung in regelmäßigen Abständen.
Reflexion: Wie fühlst du dich in deiner Elternrolle?
Wie wichtig es ist, sich selbst, die eigenen Kräfte und Bedürfnisse im Blick zu behalten, habe ich selbst als junge Mutter erlebt. Als wir vor vierzehn Jahren Eltern wurden, war unsere Beziehung noch sehr frisch. Wir hatten wenig Zeit, unsere Werte abzustimmen und auf Probe zusammenzuleben. Wir stolperten förmlich in das gemeinsame Leben als Familie. Ohne lange darüber nachzudenken, stand für uns beide fest, dass ich als Mutter die Elternzeit übernehme und unser Sohn mit ungefähr einem Jahr außerfamiliär betreut wird. Aufgewachsen sind wir in der BRD und der DDR, wenn auch beide in der Hauptstadt. Als ich in Berlin Mutter wurde, war es gängig, dass Mütter und Väter berufstätig waren und Mütter sowohl Erwerbs- als auch Care-Arbeit stemmten. Gleichzeitig war ein Umbruch spürbar. Wenn wir durch unseren neuen Kiez in Berlin Friedrichshain liefen, sah man zunehmend Väter, die ihre Babys vor dem Bauch trugen, und auch die Elternzeit wurde zunehmend für einen gewissen Zeitraum von Vätern in Anspruch genommen. Bei uns sollte es aber ich sein, die die erste Zeit fest zu Hause blieb.
Das Sprichwort: „Leben ist, was passiert, während du eifrig dabei bist, andere Pläne zu machen!“ schlug bei uns ein wie der Blitz. Als unser Sohn knapp acht Wochen alt war, mussten wir feststellen, dass es in der eigens gegründeten Krippe seit meiner Abwesenheit nicht so lief, wie erhofft. So kehrte ich naiv und überstürzt von Freitag auf Montag als Kita- und Gruppenleitung zurück in die Erwerbsarbeit. Der Papa übernahm die Elternzeit und legte sein Studium auf Eis. So war ich als Mutter diejenige, die voll stillte, Vollzeit arbeitete und zu Hause erschöpft bemüht war, meine Abwesenheit vom Baby emotional auszugleichen. In Berlin waren Familienmodelle wie unseres noch selten, aber immerhin akzeptiert. Mein schlechtes Gewissen war riesig und der Spagat zwischen all meinen Aufgaben zu groß. Bei der Arbeit leitete ich ein kleines Unternehmen und stand täglich vor neuen Herausforderungen, und auch zu Hause fiel es mir schwer, trotz stundenweiser Abwesenheit die Verantwortung abzugeben und loszulassen. Mein hoher Anspruch an meine Rolle als Mutter war immens und meine geringe Erfahrung ließ mich oft schwindelig werden.
Ich wollte überall einhundertzwanzig Prozent geben und verstand oft nicht, wieso mir dies nicht mit Gelassenheit gelang. Denn auch meine Mutter hatte früher mit zwei Kleinkindern Vollzeit gearbeitet, den Haushalt überdurchschnittlich gut geschmissen und war hauptverantwortlich für die Familie gewesen. Dieses Mutterbild hinterfragte ich erst später, als ungefähr nach einem Jahr meine Erschöpfung anklopfte. Es war für uns als Familie Zeit für eine Veränderung. Ich war unzufrieden und versuchte, dies durch Schuldzuschreibungen an den Partner zu mindern, und erst als ich in meinem Hamsterrad sozusagen an der Klippe stand, realisierte ich, dass es so, wie es gerade lief, nicht weitergehen konnte. Auch das Modell, dass der Vater die Elternzeit komplett übernimmt, war für uns also nicht die beste Lösung. Wir hatten keinerlei Erfahrungen und Vorbilder, wie wir mit all den Aufgaben und Ansprüchen das Konzept „glückliche Familie“ zufriedenstellend leben konnten.
In einer Supervisionssitzung lernte ich eine Übung kennen, die mir die Augen öffnete. Ich möchte sie gern mit dir teilen, falls auch du oft nicht weißt, wie du deine Reserven und Zeit so verteilst, dass der Tag mit seinen vierundzwanzig Stunden ausreicht.
Übung: Die Gläsermethode
Überlege, für welche Bereiche du jeden Tag Zeit und Energie benötigst. Ist es die Erwerbsarbeit, die Care-Arbeit, Zeit für Selbstfürsorge, ein Hobby, Schlaf und Zeit mit Kind(ern) und Partner:in?
Nimm dir entsprechend der Anzahl der Bereiche kleine Gläser und stelle sie nebeneinander auf. Beschrifte diese gern, damit du bildlich vor dir hast, welches Glas für welchen Bereich steht.
Dann nimmst du dir eine Flasche mit etwa einem halben Liter Flüssigkeit. Dieses Wasser steht sinnbildlich für deine Zeit und Kraft, die du an einem Tag zur Verfügung hast. Nun beginnst du, das Wasser in die Gläser zu gießen. Wie viel Zeit und Energie kannst und möchtest du für die jeweiligen Bereiche aufbringen? Schau dir die Gläser in Ruhe an und gieße so lange hin und her, bis sich das Bild für dich stimmig anfühlt.
Mir öffnete diese Übung heftig die Augen und ich spürte meine persönliche Schieflage sehr schnell. Ich wollte so gerne mehr Wasser haben, um all das, was mir so wichtig war, leisten zu können. Aber auch ich hatte jeden Tag nur eine beschränkte Menge Energie und Zeit zur Verfügung. Zwischenzeitlich waren die Gläser „Familie“ und „Job“, den ich in der Tat sehr liebte, reich gefüllt, und meine Gläser für „Schlaf“, „Selbstfürsorge“ und „Paarzeit“ waren im Ungleichgewicht. Mehr Wasser gab es aber nicht! Der Tag hat eben nur 24 Stunden, wovon ich bestenfalls sieben Stunden liegend verbringen sollte. Ich erkannte blitzartig, dass ich etwas verändern musste, und so überdachten wir unser Familienmodell und verteilten unsere Aufgaben und Kräfte neu in unsere Gläser. Und ich musste einsehen, dass auch die beste Organisation nicht die Lösung ist, wenn einfach zu viele Aufgaben anstehen und die Ansprüche sehr hoch sind. Das zu verändern, ist, so merke ich auch noch dreizehn Jahre später, ein langer Prozess.
Seither stellen wir uns in unserer Partner- und Elternschaft regelmäßig diese Fragen:
Und auch wenn es sich für uns zu Beginn komisch anfühlte, diese Bereiche alle durchzusprechen und einige von ihnen zu visualisieren, so erleichterte es uns das Verständnis füreinander und ließ Unsichtbares sichtbar werden. Mit den Jahren ließ uns dies als Team zusammenwachsen, und wir konnten uns gegenseitig das Gefühl geben: „Ich sehe dich und möchte verstehen, was du brauchst. Und ich wünsche mir, dass du mich siehst und verstehst, was ich brauche.“
Entsprechend unseres individuellen Alltags und unserer Kräfte ist dies als etwas Lebendiges zu betrachten. Meiner Erfahrung nach ist die gegenseitige Wertschätzung eines der fundamentalsten Bedürfnisse für unser Tun. Fühle ich mich nicht gesehen, beginne ich, das, was ich erledigt hab, auf dem goldenen Tablett zu servieren und gegen die Leistungen des anderen aufzuwiegen. Meist sind es die scheinbar unsichtbaren und unbezahlten Dinge, für die wir uns mehr Anerkennung wünschen. Stell dir vor, dein Partner oder deine Partnerin kommt am Abend nach Hause und begrüßt dich mit einer liebevollen Geste und sagt: „Ach, ich sehe, du hast bereits den Abendbrottisch gedeckt und die Kinder sind gebadet. Das war vermutlich ein intensiver Tag für euch. Danke, dass du für ihr Wohl gesorgt hast. Was steht gerade an? Wo kann ich anpacken? Brauchst du eine Pause?“
Ich bin fest davon überzeugt, dass die gegenseitige Anerkennung und der Respekt uns in die Lage versetzt, unsere Schwächen und unsere Erschöpfung offen zuzugeben. Dabei betrachten wir diese nicht als Zeichen von Hilflosigkeit, sondern vielmehr als natürliche Grenzen. Es geht nicht darum, uns miteinander zu vergleichen, sondern vielmehr darum, ein partnerschaftliches Miteinander zu fördern. In einer Familie sollte der Fokus darauf liegen, einander wirklich wahrzunehmen, ernst zu nehmen und aufeinander zu achten. Dabei ist es wichtig, ohne Maßregelung oder das Anprangern von Fehlern miteinander umzugehen.
Eine zusätzliche Herausforderung des Elternseins besteht darin, dass sowohl innere als auch äußere Veränderungen ein hohes Maß an Flexibilität erfordern. Wir müssen uns kontinuierlich auf neue Situationen einstellen. Vielleicht kommt dir das bekannt vor: Alles läuft reibungslos, du konntest einige Tage oder sogar Wochen durchatmen, und dann spürst du plötzlich wieder Unruhe und stehst vor neuen Hindernissen. Der Alltag wird wieder anspruchsvoller und verlangt mehr Energie. Dies kann verschiedene Gründe haben: Einerseits entwickeln sich unsere Kinder in einem rasenden Tempo, und uns erwartet ständig etwas Neues. Der kindliche Körper wächst in den ersten Lebensjahren schnell, und sie benötigen permanent neue Kleidung und Schuhe, oder ihre Autonomieentwicklung beschert uns ständig neue Abenteuer.
Andererseits können Veränderungen im Außen wie der Übergang in die außerfamiliäre Betreuung, der Wechsel in die Schule, der Jobwechsel eines Elternteils oder die Geburt eines weiteren Kindes uns im Alltag noch stärker herausfordern. Spürt ihr, dass ihr gerade mehr Energie benötigt, kann auch hier die Gläsermethode hilfreich sein, um zu prüfen, welcher Lebensbereich gerade mehr Raum, Präsenz und Zeit benötigt und welche Bereiche etwas weniger einnehmen können. Es ist jedoch ein Trugschluss, dass wir mit mehr Perfektion und Optimierung mehr und mehr schaffen können. Am Ende des Tages sacken wir überfordert und vermutlich unzufrieden mit dem Gefühl zusammen, nicht gut genug zu sein. Veränderungen benötigen Ruhe und Zeit und eine bewusste Zuwendung zu den Dingen, die aktuell unsere Präsenz benötigen. Gleichzeitig erfordern sie die Klarheit, dass wir nebenher nicht alles wie sonst schaffen können und schon gar nicht müssen. Und ich möchte erneut daran erinnern, dass Gefühlsarbeit viel Kraft kostet und dass mentale Last auch dadurch entsteht, dass wir unsere Bedürfnisse zu sehr hintenanstellen. Sollte das bei dir der Fall sein, darfst du dich selbst wichtiger nehmen. Und weil auch ich meine Leitlinien im Stress gern vergesse, hängt in meiner Küche über dem Esstisch eine Affirmation24, die sagt: „Du kannst dich nur gut um einen anderen kümmern, wenn es dir selbst gut geht.“ Es ist also Prävention, statt Egozentrismus.
Mental Load Expertin Laura Fröhlich schreibt25: „Für unsere eigenen Bedürfnisse einzustehen, ist wichtig und fällt gleichzeitig so unendlich schwer. […] [Wir] Mütter sind es gewohnt, für unsere Familie da zu sein, und haben nicht ausreichend gelernt, für uns selbst zu sorgen. Veränderungen anzustoßen ist am leichtesten, wenn wir bei uns selbst anfangen.“26 Und das gilt natürlich für Männer ebenso. Verschieben wir die Erfüllung unserer Bedürfnisse immer wieder, so werden diese nicht verschwinden. Vielmehr melden sie sich umso lauter in Momenten, in denen wir sie vermutlich nicht mehr zu erfüllen in der Lage sind.
Vielleicht kennst du das auch, dass du unter Stress auf Schlaf, Essen oder sogar auf den Toilettengang verzichtest? Ich selbst ertappe ich mich regelmäßig dabei, wie ich an einem turbulenten Morgen Zöpfe flechte, Sporthosen suche, Brotdosen packe und die Kinder mit Müsli versorge. Selbst trinke ich einen schnellen Kaffee und bemerke dann gegen elf Uhr, dass das Frühstück etwas zu kurz kam oder ganz ausfiel. An anderen Tagen setze ich mich dann bewusst und mit Ruhe hin und hole etwas nach, was ich an den Tagen davor versäumt habe.
Laura Fröhlich empfiehlt an dieser Stelle, dass wir uns Listen mit den Dingen machen, die uns guttun. Diese Lieblingsaktivitäten sollten wir fest in unseren Alltag integrieren. Es sind quasi weitere Pflichtaufgaben mit Priorität, wobei es sich nicht um außergewöhnliche Dinge handeln muss.27 Auch ich habe Eltern in meiner Umfrage gefragt, was ihnen hilft, sich in ihrer Elternrolle gut zu fühlen. Mit Abstand am meisten wurde die „eigene Bedürfniserfüllung“, „Zeit für mich“ und „Selbstfürsorge“ in Form von Bewegung und Yoga, ausreichend Schlaf, einem warmen Getränk oder ausreichenden Pausen genannt. Daraus resultierten auch häufig Nennungen wie: „mich selbst als eigenständige Person erleben und gestalten können“, „gute soziale Kontakte und Netzwerke“ sowie eine „gute Balance zwischen Mutter und eigenständiger Frau haben, die auch mal ohne Kind etwas unternimmt“. Was für Eltern ebenso wichtig scheint, ist das „Slow Parenting“, also Elternzeit ohne viele Termine, „sich von Zwängen, eigenen Ansprüchen und äußerem Druck frei machen zu können“. Wie ist es bei dir, was tut dir gut? Nimm dir gerne Zeit dafür, mithilfe dieser Fragen herauszufinden, wodurch du wieder Energie tanken kannst:
Reflexion: Deine Lieblingsaktivitäten
Notiert das gemeinsam auf einem Zettel und besprecht, wie ihr mehr von dem bekommen könnt, was euch guttut.
Und falls du immer noch meinst, dass du für diese Auszeiten keine Zeit hast, möchte ich dir eine Geschichte erzählen.
Es war einmal ein Holzfäller, dieser trat einen neuen Job an, mit dessen Arbeitsbedingungen er sehr zufrieden war. Voller Freude machte er sich mit seiner neuen Axt an die Arbeit und fällte am ersten Tag ganze achtzehn Bäume. Der Vorarbeiter gratulierte ihm zu seinem Erfolg: „Glückwunsch! Weiter so!“, sagte dieser. Am nächsten Tag wollte der Holzfäller ebenso viele Bäume fällen und stand extra ganz früh auf. Er schaffte hingegen nur fünfzehn Bäume. Er vermutete, dass ihm die Müdigkeit zu schaffen machte, und ging daher früh schlafen, um am nächsten Tag wieder achtzehn Bäume fällen zu können. An diesem Tag fielen hingegen nur sieben Bäume, am darauffolgenden fünf und dann nur zwei.
Besorgt ging der Holzfäller zum Vorarbeiter und erzählte ihm von seiner Niederlage. Er betonte, dass er sich richtig anstrenge, es aber nicht besser werde. Der Vorarbeiter fragte ihn neugierig: „Wann hast du denn deine Axt das letzte Mal geschärft?“ Verdutzt sah der Holzfäller ihn an und erwiderte: „Meine Axt schärfen? Dazu hatte ich wirklich keine Zeit!“
Meine Botschaft für dich
Pausen und Selbstfürsorge sind kein Luxus und nichts, was du dir verdienen musst. Sie sind notwendig! Achte gut auf dich und schärfe deine Axt täglich.
Ich möchte dir Mut machen, deiner Selbstfürsorge die notwendige Priorität einzuräumen, auch wenn es ungewohnt ist. Auch ich kümmere mich gern und fürsorglich um meine Kinder, oft bevor ich an mich selbst denke. So habe ich ihre Zahnarzttermine gewissenhaft alle sechs Monate im Kalender stehen und schiebe meine eigene Vorsorge gern auf. Meine beruflichen Verpflichtungen halte ich ebenso ausnahmslos mit Bravour ein und sage selten einen Termin ab. Für meinen Sport bleibt selten Raum und Kraft, während wir die Kinder immer zu ihren Aktivitäten bringen und sie ihnen ermöglichen. Bei all dem spielen natürlich unsere Zeitressourcen eine nicht zu unterschätzende Rolle, es lohnt sich allerdings auch, den Blick auf unsere verinnerlichten und tief liegenden Glaubenssätze zu lenken. Den Beruf ernster zu nehmen als das eigene Wohlbefinden, entspricht der tradierten Redensart: „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!“ In meiner Vergangenheit musste ich mir Pausen und Selbstfürsorge erst verdienen – durch Fleiß und Anstrengung. Heute weiß ich, wohin das führen kann. Daher ist es immer lohnenswert, unserer inneren Stimme zuzuhören und sie zu überprüfen. So könnte der Satz nun heißen: „Selbstfürsorge ist kein Luxus, sondern notwendig!“
Und wenn es mit dem regelmäßigen Sporttermin trotzdem nicht klappt, ist es wichtig, nach weiteren Stolpersteinen zu schauen. Manchmal braucht es vielleicht Tricks, um neue Wege zu gehen. Damit ich nicht in meine alten Fallen tappe und wie im Hamsterrad meine To-dos abarbeite, um dann meine Axt wieder nicht zu schärfen, habe ich mich in einer festen Gruppe angemeldet. Damit trickse ich mich selbst etwas aus, denn Verlässlichkeit hat für mich einen hohen Stellenwert, und ist der Termin im Familienkalender vermerkt, fällt er seltener aus. Im Nachhinein bin ich immer wieder dankbar, wenn ich mir diese Auszeit geschenkt habe, statt sie zu streichen. Und im Trubel des Alltags passiert es trotz solcher Tricks, dass ich hin und wieder von der Routine abkomme, weil Kinder krank sind oder andere Termine nicht verschiebbar scheinen. Auch das darf sein und ist okay! Namaste!
Reflexion
Wenn deine innere Stimme zu dir spricht, höre ihr gern zu und prüfe, ob du ihre Aussagen willkommen heißen möchtest.
Sätze komplett zu verbannen, ist meist schwerer, als sie in positive Affirmationen umzuwandeln. Diese bestärkenden Sätze können – wenn sie regelmäßig wiederholt werden – negative Denkmuster durchbrechen. So wiederhole ich innerlich beispielsweise gerne folgende Sätze: „Ein Nein ist ein Ja zu sich selbst!“ Oder: „Pausen sind notwendig!“ Welcher Satz taucht bei dir öfter auf?
Auch in meiner Elternschaft gab es in den letzten Jahren so einige Kurven, heftige Anstiege, und ab und zu liegen gewaltige Felsbrocken auf meinem Weg. Manchmal möchte ich gern einfach eine Weile stehen bleiben oder mich am Wegesrand auf eine Bank setzen. In einigen Situationen ist das möglich, in anderen nicht. Was mich bisher in jeder Situation gerettet hat, ist der Gedanke, dass ich immer nur einen Fuß vor den anderen setzen kann. Schritt für Schritt darf es langsam vorangehen, auch mit den uns anvertrauten Kindern, die in uns das intensivste Leuchten zum Strahlen bringen können und gleichzeitig feine Salzkörner in alte Wunden streuen.
Eine Geschichte begleitet mich seit einigen Jahren und hat sich zu einem festen inneren Bild entwickelt. Sie lässt mich in unruhigen Momenten innehalten und mich wieder nach meinem inneren Nordstern ausrichten. Ich möchte sie dir erzählen, und vielleicht kann sie auch dich ein Stück begleiten.
In der Legende von Óscar Sorialez28, wird erzählt, dass die Menschen früher symbiotische Tiere waren, die immer von einem kleinen Vogel mit hellem Gefieder und einem zarten, melodischen Gesang begleitet wurden. Der kleine Vogel kreiste Tag und Nacht schweigend über den Köpfen der Menschen und trug den Namen „Ahora“.
Immer wenn die Menschen etwas Schönes wahrnahmen, egal ob eine Landschaft oder einen tiefen Blick aus den Augen eines anderen, oder wenn etwas Magisches im Alltag unterzugehen drohte, pickten die hellen Vögel ihnen auf den Kopf und sangen. Indem der Mensch den jeweiligen Moment bewusst in sich aufnahm, erlebte er ihn wahrhaftig und kostete das Glück für einen Augenblick aus.
Irgendwann gingen die Menschen Beziehungen mit zwei anderen Vögeln ein, einer trug schwarzes und der andere weißes Gefieder. Sie hießen „Antes“ und „Después“, und nach und nach gingen die hellen Vögel verloren und mit ihnen der Zauber der kleinen, magischen Momente und das Bewusstsein für die Schönheit im Alltag.
Und vielleicht hast du es bereits geahnt, der helle, schöne Vogel mit dem Namen „Ahora“ steht für das Hier und Jetzt. Und „Antes“ und „Después“ bedeuten aus dem Spanischen übersetzt „vorher“ und „nachher“.
Die Legende sagt auch, dass die schönen „Ahoras“ in einem jeden von uns weiterleben, auch wenn sie nicht mehr über unseren Köpfen kreisen. Und dass wir die Kraft in uns tragen, die Magie des Augenblicks zu spüren. Vielleicht kannst du sogar, wenn du deine Augen schließt und tief einatmest, das Picken spüren und den Gesang hören?
Mich persönlich berührte diese Geschichte so sehr, dass ich seither einen kleinen Vogel an einer Kette um den Hals trage, um mich immer wieder an den Zauber des Moments zu erinnern. Abgelenkt vom schnelllebigen Alltag, den vielen Gedanken im Kopf, all den WhatsApp-Gruppen und dem Ziehen und Zerren vergesse ich regelmäßig, präsent zu sein, in mich zu spüren und einfach nur zu sein oder auch mit-zu-sein.
Statt in ruhigen Spielmomenten des Kindes wie verrückt durch die Wohnung zu rasen, um den Haushalt zu erledigen, versuche ich, regelmäßig kleine Momente einzubauen, in denen ich wirklich äußerlich wie auch innerlich da bin.
Das können auch nur einige Minuten am Tag sein, die uns und unsere Kinder oder Partner:innen nähren. Schließen wir hingegen intensive Freundschaft mit den schwarzen und weißen Vögeln, werden uns unsere Kinder darauf aufmerksam machen und uns mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln darum bitten, uns unseren hellen, freundlichen Vögeln zuzuwenden. Ähnlich wie das zarte Klopfen des Vogels auf unserem Kopf beginnt das Kind, um unsere Aufmerksamkeit und Präsenz zu ringen, und erinnert uns daran, zurückzukommen und die schwarzen und weißen Vögel einen Moment lang ziehen zu lassen.