2. Elternschaft
mit Hindernissen

Die Welt im Wandel: Neue Anforderungen

So wie die Welt sich rasant verändert und hohe Flexibilität fordert, so wandeln sich auch die Anforderungen an Elternschaft. In vielen Familien breitet sich zunehmend Erschöpfung aus, ein Grund, genauer hinzuschauen, woran das liegt. Zum einen, so schreibt die Koordinatorin Frauen- und Familienpolitik der Konrad-Adenauer-Stiftung Christine Henry-Huthmacher, wird Eltern heutzutage ein „Maß an Verantwortung und Mitsprache für ihre Kinder zugewiesen, das es in früheren Elterngenerationen so nicht gab“.29 Damit einher geht unter anderem eine neue Sicht auf das Kind. Gleichzeitig wurde oder wird dabei die Frage, was Eltern benötigen, um diese herausfordernden Aufgaben zu erfüllen, lange außer Acht gelassen bzw. gesellschaftlich kaum berücksichtigt, wodurch zusätzlich Probleme wachsen.

Einige Eltern verspüren außerdem einen steigenden „Bildungsdruck“, verstärkt durch mangelndes Vertrauen in das öffentliche Schulsystem. „In Abhängigkeit von der Lebenswelt der Eltern mit ihren jeweils milieu- und kulturspezifischen Ausprägungen existiert gleichermaßen ein unterschiedliches Verständnis von Bildung und der Notwendigkeit von Bildung, aber auch von Erziehungszielen und -stilen. Zu beobachten ist, dass sich in den jeweiligen Milieus einander fremde Sinn- und Wertehorizonte entwickeln, die unter dem Druck verstärkter Anforderungen an Bildung, Erziehung und Beruf in einer Wissensgesellschaft weiter auseinanderklaffen“30, schreibt Henry-Huthmacher. Das ist in gesellschafts- und sozialpolitischer Hinsicht problematisch und fördert die Diskrepanzen.

Dass Elternschaft für Väter und Mütter andere Rollenbilder und Aufgaben beinhaltet und sich dies als problematisch herausstellt, wurde bereits geschildert. Für die Mütter, die beim Großteil der Familien immer noch die Hauptlast und Verantwortung für die Erziehung der Kinder tragen, erzeugt das einen schwierigen Zwiespalt: Die Erwartung, eine „gute Mutter“ und fürsorgende „Erziehende“ zu sein, die sich für ihr Kind „opfert“, kollidiert mit Ansprüchen an die eigene Berufstätigkeit. Das Dilemma der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zeigt sich tagtäglich: Welches Elternteil bleibt zu Hause, wenn Kinder erkranken, und welche Auswirkungen hat dies auf den Berufsstatus?

Auf der anderen Seite stehen Väter vor Herausforderungen, wenn sie versuchen, sich von der traditionellen Rolle des „Ernährers“ zu einem gleichberechtigten und aktiven Elternteil zu entwickeln, während sie gleichzeitig den Anforderungen des Berufslebens gerecht werden wollen. Henry-Huthmacher beschreibt: „Die Gesellschaft erwartet, dass Eltern viel Zeit mit ihren Kindern verbringen, doch die Arbeitswelt vollzieht einen Totalzugriff auf die Eltern, vor allem auf die Väter. So befinden sich Väter in einer höchst unbestimmten Situation: Die gestiegenen Anforderungen an Mobilität, Flexibilität, Verfügbarkeit und Einsatzbereitschaft stehen dem Wunsch nach einer größeren Beteiligung am Erziehungsalltag gegenüber.“31

Eltern stehen also unter vielseitigem Druck: Zeit-, Organisations- und Leistungsdruck. Druck erzeugt Stress, und so ist es nicht verwunderlich, dass viele von uns tagtäglich stark beansprucht sind. Und nun mag man meinen, dass die heutige Freiheit es Eltern doch viel leichter machen würde, ihre Kinder so zu begleiten, wie sie es als angemessen empfinden. Tatsächlich ist es jedoch immer herausfordernd, neue Wege zu gehen, beobachtet von Skeptiker:innen und im Rampenlicht der Gesellschaft und der Generation der „ehemaligen Erziehenden“. Kinder werden heute, statt auf Gehorsam und Anpassung getrimmt, zunehmend als gleichwürdiger Gesprächspartner mit eigenen Wünschen, Gefühlen, Rechten und Bedürfnissen gesehen. Gleichzeitig sollen sie vom Erwachsenen sicher durch die Jahre der Kindheit begleitet werden, um vor Gefahren (wie etwa dem schnellen Medium Internet) beschützt zu sein. Eine immense Aufgabe, die auch wieder eine Form des Drucks – den Erziehungsdruck – mit sich bringt und Eltern abverlangt, flexibel auf diverse Anforderungen und Gegebenheiten zu reagieren.

Der Elternalltag ist nicht einfach

In meiner Elternbefragung wollte ich herausfinden, in welchen Bereichen die Elternteile sich herausgefordert fühlen und was sie besonders anstrengt. Ihre Antworten sind in folgender Grafik abgebildet.

 

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Zusätzlich schilderten mir viele Eltern typische alltägliche Situationen, in denen sie an ihre Grenzen kommen und die du vielleicht auch kennst. Zum Beispiel diese:

„Wir stehen morgens immer unter Zeitdruck. Ich bekomme die Kinder nicht aus dem Bett, dann wollen sie sich keine Kleider anziehen, danach keine Schuhe usw. Anfangs gehe ich es entspannt an, werde aber immer ungeduldiger, bis ich schreie und schimpfe, wenn sich ein schon fertiges Kind wieder auszieht. Zuletzt pünktlich in der Arbeit war ich vor Monaten. Zum Glück macht mein Arbeitgeber das mit (fraglich, wie lange noch). Manchmal reagiere ich morgens gelassener und manchmal gereizter. Es macht auch keinen Unterschied, ob wir früher schlafen gehen oder ob ich die Kinder früher wecke. Es ist immer der gleiche Wahnsinn morgens. Und dann mache oder sage ich Dinge, die ich nicht möchte.“

Spürbar war für mich in vielen Aussagen neben den Belastungen wie „Mental Load, Streit unter den Kindern, unterschiedliche Vorstellungen von Erziehung mit dem Partner und die daraus resultierenden Konflikte, die Lautstärke“ auch der mehrfach genannte „Zwiespalt zwischen der eigenen Überforderung und dem Wunsch nach mehr liebevollem Umgang und Harmonie“. Zudem erfahren Eltern kaum Würdigung ihres tagtäglichen Spagats und beklagen, dass sie in politischen Diskussionen unzureichend Berücksichtigung finden. Um im Mangel zu sprechen: Es fehlt Eltern an Anerkennung und Wertschätzung. Henry-Huthmacher schreibt dazu: „Es gibt nicht das eine Rezept, nicht den einen Hebel, den man bedienen muss, um Eltern, Kindern und Familien gerecht zu werden. Die Diskussion um die richtigen Maßnahmen kann nicht auf finanzielle Zuwendungen oder den Ausbau von Infrastruktur reduziert werden. Dies würde der Vielfältigkeit und den Wechselwirkungen nicht gerecht werden.“32

Herausforderungen gewaltfrei begegnen

Der siebenjährige Louis verspricht seit drei Tagen hoch und heilig, sein Zimmer aufzuräumen. Seinem Vater ist es sehr wichtig, dass Louis seine Pflichten erfüllt und ein Versprechen auch einhält. Als der Vater am Abend nach Hause kommt, sieht er seinen Sohn eine Serie gucken und stampft wortlos in Louis' Zimmer. Völlig aufgebracht kommt er dann zu seinem Sohn und sagt mit energischer Stimme: „Dein Zimmer sieht immer noch aus wie ein Schlachtfeld. Am Wochenende fällt unser Fußballspielen aus!“

Die eingangs beschriebenen tagtäglichen Hindernisse lassen den elterlichen Stresspegel oft ansteigen. Unter Stress – das wissen wir – ist es ohnehin schwer, einer herausfordernden Situationen gelassen und in Ruhe zu begegnen. Obwohl ein Großteil der Eltern eine durch Liebe, Geborgenheit und sichere Bindungserfahrungen geprägte Haltung anstrebt, gibt es Momente, in denen wir uns anders verhalten, als wir es beabsichtigen. In meiner Umfrage habe ich die Eltern gebeten, Situationen zu beschreiben, auf die sie weniger stolz sind. Die sehr reflektierten Schilderungen haben mir gezeigt, wie sehr wir auf dem Weg sind und dass es auch unter „uns“ noch viele Beispiele für seelische und körperliche Übergriffe gibt. Dies reicht von der Verweigerung von Nähe, der Zerstörung von Kleidung oder Spielzeug und Bindungsstrafen bis zu lautem Schreien und körperlichem Packen. Ich verzichte an dieser Stelle bewusst auf die lebendigen Zitate, die euch vielleicht abholen würden im Sinne von: „Ich bin damit nicht allein!“, denn ich möchte die Bilder nicht füttern, da wir ein Miteinander frei von Gewalt und Schmerz anstreben und es unser Ziel ist, dieses zu leben.

Seit dem Jahr 2000, also nun seit fast einem Vierteljahrhundert, ist im Bürgerlichen Gesetzbuch das Recht des Kindes auf eine gewaltfreie Erziehung verankert. Ein Vierteljahrhundert klingt auf den ersten Blick viel, gleichzeitig bedeutet es, dass viele Erwachsene, die Kinder heute beim Aufwachsen begleiten, selbst mit körperlichen und seelischen Schmerzerfahrungen aufgewachsen sind. Wir wissen, dass es ohne Aufarbeitung dieser Erlebnisse eher passiert, dass Gewalterfahrungen weitergegeben werden. Etwas, das zwingend aufhören sollte.

So auch Louis’ Vater aus dem Beispiel. Er kommt erschöpft von der Arbeit, ärgert sich über die anhaltende „Unordnung“ und ohne sich weiter mit seinem Sohn darüber auszutauschen, streicht er eine lieb gewonnene Verabredung der beiden. Nach dem Motto „Wie du mir, so ich dir“ gibt der Vater seinen Schmerz und seine Verärgerung an den Sohn weiter. Mit dieser Reaktion verhängt der Vater bewusst oder unbewusst eine Strafe. Damit verletzt er das nicht verhandelbare Recht des Kindes auf Gewaltfreiheit und auf Schutz. Ein Kind sollte sich unsere Zuwendung und Gewaltfreiheit nicht verdienen müssen. Ganz egal, welches Verhalten es zeigt, es sollte eine Reaktion auf Augenhöhe erhalten und vor seelischen und körperlichen Verletzungen sicher sein.

Folgen von Strafen

Das Verwirrende an Strafen ist, dass sie unter bestimmten Bedingungen für einen Zeitraum wirksam zu sein scheinen und dass der Erwachsene erreicht, dass das Kind tut, was er will. Möglicherweise wird Louis sein Zimmer aufräumen, nicht aber aus einer inneren Überzeugung heraus, einem Verständnis für Ordnung oder weil er seinem Vater gefallen oder mit ihm kooperieren möchte. Louis hat vermutlich Angst vor der Strafe und passt sich den Forderungen an, damit er seine geliebte Fußballzeit nicht verliert.

Strafen zeigen dem Kind auf, dass derjenige entscheidet und bestimmt, der die Macht hat. Und dass diese Autoritätsperson sich nicht für die Gründe und Bedürfnisse hinter einem Verhalten interessiert. Das Kind gewinnt außerdem die Überzeugung, dass es für die auftauchenden Gefühle der Angst, Frustration oder Trauer selbst verantwortlich ist: „Ich habe es verdient, ich bin schuld!“ Es lernt: Wer die Macht hat, setzt seinen Willen durch. Da Kinder sich Konfliktstrategien abschauen, ist eine logische Folge, dass sie in anderen Situationen das vorgelebte Verhalten nachahmen. Wünschen wir uns Kinder, die achtsam Konflikte lösen, sollten wir ihnen genau das vorleben. Durch Strafen werden Kinder ihr eigenes Handeln nicht reflektieren, stattdessen löst eine Strafe in ihnen Stress aus, sie fühlen sich machtlos, unverstanden und klein. Gewalt erzeugt Gegengewalt, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis ein Kind die erfahrenen Schmerzen, die sich im Schmerzgedächtnis ablegen, aktiviert und selbst bei anderen Schmerzen auslöst. „Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an!“33 ist ein Satz, der uns daran erinnern soll, dass wir eine große Verantwortung tragen, wenn wir Kinder in die Welt begleiten. Kinder lassen sich nur so lange kleinhalten, demütigen und bestrafen, solange sie in ihrer Selbstwirksamkeit unsicher sind. Mit zunehmender Sicherheit und Unabhängigkeit werden sie beginnen, sich dagegen aufzubäumen, und eventuell zum Gegenangriff ausholen. Was wir durch übergriffiges und strafendes Verhalten in jedem Fall nicht erreichen, ist die Ausbildung von Empathie, Kooperationsfähigkeit und anderen Strategien der Konfliktlösung. Vielmehr wird die Bindung zwischen uns und unserem Kind stark gefährdet und das Vertrauen geschwächt.34

Ich vermute, dass die meisten Eltern hin und wieder Momente erleben, auf die sie wenig stolz sind. Es darf sie geben, sie gehören zu unserem Weg dazu. Wir alle dürfen Fehler machen. Und gleichzeitig ist es so unfassbar wichtig, dass wir das kindliche Verhalten verstehen lernen und uns gerade in herausfordernden Momenten daran erinnern, dass sich hinter jedem Verhalten – egal wie wir dieses bewerten – ein guter Mensch verbirgt, der uns etwas mitteilen möchte. Reagieren wir auf eine verletzende Art und Weise, ob mit Worten oder Taten, wird das Kind verinnerlichen, dass es so, wie es ist, nicht gut und nicht erwünscht ist. Unsere Stimme wird sich einbrennen. Wir haben in jeder Situation die Möglichkeit, uns zu entscheiden, ob wir auf ein Verhalten mit Mitgefühl oder mit Kritik reagieren. Es ist wenig verwunderlich, dass wir uns selbst ähnlich begegnen, wie wir es von unseren Bezugspersonen erfahren haben, und ebenso unserem Kind.35 Und jeden Tag haben wir aufs Neue die Möglichkeit, das zu verändern. Erinnere dich: Es ist nicht wichtig, wie große Schritte du machst, sondern vielmehr, in welche Richtung du sie lenkst. Wir haben immer wieder die Wahl!

Einen jeden Morgen erinnere ich mich daran, meinen Kindern drei Dinge zu schenken:

 

Im Trubel des Alltags gibt es viel, was uns richtig gut gelingt und worauf wir stolz sind, und ebenso reagieren wir manchmal richtig doof. Statt den Fokus auf die Fehler zu richten, können wir einen jeden Tag Sicherheit und Liebe schenken. Vielleicht magst auch du den Fokus auf bestärkende und verbindende Momente richten und dein Kind zum Beispiel jeden Morgen fest in den Arm nehmen, eine liebevolle Botschaft in seine Brotdose legen, es jeden Abend fragen: „Was war das Schönste an deinem Tag?“ oder dich bei ihm bedanken, dass es ihn oder sie gibt? Solche kleinen Gesten bewirken Großes und erfüllen seine zentralen Bedürfnisse nach Wertschätzung, Anerkennung, Verbundenheit und Geborgenheit.

 

Reflexion: Kleine Gesten mit großer Wirkung image

 

Ich möchte, dass sich meine Kinder jeden einzelnen Tag geliebt fühlen, und das nicht, weil sie etwas Besonderes getan haben, sondern einfach, weil sie sind. Meine wohlwollende Haltung soll nie von ihrem Verhalten abhängen. Ich hoffe, dass sie das darin bestärkt, sich selbst mit einem Lächeln zu begegnen, wenn sie in den Spiegel schauen, auf ihre ureigenen Fähigkeiten zu vertrauen und zu erkennen, wie wunderbar sie sind.

Als ich vor einigen Jahren in einem Buch von Jesper Juul las, dass Kinder lange nicht unterscheiden können, ob wir ihr Verhalten oder ihr „Sein“ kritisieren, gingen mir etliche Lichter auf. Seither übe ich mich darin, bewusster zu reflektieren, wenn meine Kinder etwas tun, das ich nicht befürworte. Vor allem wenn ihr Verhalten in mir einen Schmerz auslöst und ich mich dadurch gekränkt, verletzt oder frustriert fühle, versuche ich mir schnell bewusst zu machen, dass meine Gefühle mir gehören und ich ihnen diese nicht überstülpen sollte. In solchen Situationen können wir schnell in die Wie du mir, so ich dir„-Falle“ tappen, wie wir es am Beispiel von Louis und seinem Vater erlebt haben. Sehr vereinfacht gesagt, tritt der Schmerz, den wir selbst erlebt haben, sehr präsent zum Vorschein, weil wir eine eigene Erinnerung oder Erfahrung nicht verarbeitet oder ausreichend reflektiert haben. Der Reiz – beispielsweise das unerwünschte Verhalten des Kindes – schlägt bei uns wie ein Blitz ein und fordert uns auf, uns zu schützen. Leider kann dieser Schutz auch so aussehen, dass wir beginnen, zu schimpfen, zu beschämen oder zu drohen und dem Kind zurückmelden: „So, wie du bist, bist du nicht okay! Sei anders!“

Ohne Strafen geht es doch!

Ich kann dir versichern: Ja, das tut es, auch wenn es nicht von jetzt auf gleich funktioniert. Besonders dann nicht, wenn unser persönlicher Rucksack aufgrund unserer Biografie, unserer Prägungen, unserer Erinnerungen oder mangels guter Vorbilder ganz schön schwer ist. Wenn du in herausfordernden Situationen bisher mit einer Drohung, Strafe, willkürlichen Konsequenzen oder körperlicher Kraft reagiert hast, wird es einige Zeit dauern, bis du selbstverständlicher mit mehr Leichtigkeit reagieren kannst. Ich vergleiche das gern mit dem Erlernen einer neuen Sprache: Es braucht Zeit, bis du sie im Alltag auf natürliche Weise anwendest. Bis dahin braucht es Disziplin und eine klare Vorstellung davon, wie du als Elternteil sein möchtest.

Unsere eigenen Erfahrungen und Erinnerungen können wir nicht verändern und die bereits verstrichene Zeit unserer Elternschaft auch nicht rückgängig machen. Die Vergangenheit zu akzeptieren, kann schwer und schmerzhaft sein. Wenn die Last zu groß erscheint, sollten wir Unterstützung annehmen. Aber wir können das Jetzt beeinflussen, den Moment verändern und damit auch die Zukunft. Erinnerst du dich noch an die leuchtenden Vögel? Immer, wenn du im Miteinander Momente spürst, die du feierst, auf die du stolz bist, halte inne und spüre das kleine Picken des „Ahoras“. Es gibt genügend dieser Momente, die wir wahrhaftig erkennen dürfen, bei uns und bei unserem Gegenüber. Alles beginnt mit der klaren Entscheidung, dass du das Elternteil werden möchtest, das du dir als Kind selbst gewünscht hast. Und jeden Tag gibt es so viele wunderbare Momente, dies zu üben und achtsam und liebevoll zu sein – im Umgang mit dir und deinen dir anvertrauten Kindern. Strafen haben da eigentlich keinen Platz!

 

Reflexion: Sei das Elternteil, das du dir als Kind selbst gewünscht hast! image

Frage dich gelegentlich:

Und warum nutzen wir Strafen dennoch ab und zu?

Berta sitzt im Sandkasten und baut einen Turm. Als ein Junge sich ihr nähert, wirft sie blitzartig mit Sand nach ihm. Bertas Mutter ist das so unangenehm, dass sie das Kind augenblicklich aus dem Sand hebt und sagt: „Berta, ich hab es nun so oft gesagt, wenn du mit Sand wirfst, gehen wir nach Hause. Nun ist Schluss!“

Mit einer Strafe reagieren Autoritäten auf ein unerwünschtes Verhalten, einen überfordernden Gefühlssturm oder einen Regelverstoß meist mit dem Ziel, dieses Verhalten zu stoppen und zu verändern. Die Methoden sind für Kinder in der Regel angsteinflößend, schmerzhaft und nicht verständlich. Sie spüren, dass ihr Verhalten nicht akzeptiert wird. Und sie spüren auch, dass die Bindungsperson nicht unter die Wasseroberfläche zu schauen scheint, um den Sinn und die Hintergründe ihres Verhaltens zu ergründen. Beim Kind kommt die Botschaft an: „Wenn du nicht aufhörst, dich so zu verhalten, erfährst du einen Schmerz, für den du aufgrund deines Verhaltens selbst verantwortlich bist.“

Berta ist demnach selbst schuld, dass sie nun den Spielplatz verlassen muss. Berta hätte ja auch sagen können: „Liebes Kind, du kommst mir gerade zu nah. Ich brauche mehr Platz. Deine Nähe macht mir Angst. Bitte rutsche etwas weg von mir!“ Es wäre so schön und so einfach, könnten Kinder dies bereits in jungem Alter äußern. Häufig fällt es jedoch selbst uns Erwachsenen schwer, Grenzverletzungen zu reflektieren und in Worte zu fassen, was wir gerade brauchen. Bertas Mutter ging es in diesem Moment ja nicht anders. Sie reagierte kopflos. Woran wir uns in solchen Momenten immer erinnern können, ist, dass gemäß dem „Konzept des guten Grundes“ ein Verhalten aus dem „System eines Menschen“ heraus immer einen Sinn hat. Der Mensch steht damit für seine Bedürfnisse ein. Demnach ist ein auffälliges Verhalten nicht als Störung, sondern als Ausdruck besonderer Bedürfnisse zu interpretieren.36 Darunter fällt auch das Verhalten der Mutter, nur tragen wir im Gegensatz zu den Kindern die Verantwortung für unser Verhalten.

In Beziehungen ist es nicht nötig, strafend vorzugehen, wir haben immer eine Wahl.

Statt das Verhalten des Kindes gewaltvoll zu unterbinden, sollten wir uns fragen:

 

 

Wir benötigen Alternativen und einen positiven Blick, um nicht in einen Teufelskreis zu geraten. Denn: Gewalt erzeugt Gegengewalt! Und diese zu stoppen, sollte oberste Priorität in der Begleitung unserer Kinder haben.

Wir Erwachsenen nutzen Strafen aus verschiedenen Gründen, oft um für unser Bedürfnis nach Anerkennung, Ruhe, Harmonie oder Respekt einzustehen. Nur mit völlig schädlichen Strategien, die es zu verändern gilt. Zum Beispiel: Wenn ein Mensch schreit, damit Ruhe einkehrt, nutzt er die laute Stimme für die Erfüllung seines Bedürfnisses nach Ruhe. Es ist nicht verwunderlich, wenn auch Kinder beginnen, dieses Verhalten nachzuahmen. Beobachten wir dies, versuchen wir es garantiert zu unterbinden. Es ist ein wichtiger erster Schritt, selbst zu erkennen, dass wir angestrengt sind (Gefühl) und dass wir Ruhe (Bedürfnis) brauchen, um uns dann zu fragen, wie wir uns dieses Bedürfnis erfüllen können. Schreien zählt zu verletzendem Verhalten, und dieses tut den Kinderseelen weh. Es macht Angst und schüchtert sie ein. Es steht außer Frage, dass strafende Methoden in der Begleitung von Kindern zwingend zu vermeiden sind. Die Folgen von Verletzungen sind langfristig und gehen tief.

Es ist also wichtig, uns die Wirkweise von Strafen bewusst zu machen und sie als solche zu identifizieren, um sie zu vermeiden. In einigen Situationen ist es nämlich gar nicht so einfach, ein problematisches Verhalten zu erkennen. Unter Gewalt verstehen wir die Verletzung des grundlegenden Bedürfnisses nach körperlicher und seelischer Unversehrtheit. Während einige Formen von Gewalt zweifelsfrei zu erkennen sind, ist es in anderen Momenten nicht so einfach, die – oft feinen – Unterschiede auszumachen.

Ob Strafen aus Sicht des Erwachsenen als Gewalt betrachtet werden, hängt von diversen Faktoren wie der Art und dem Kontext, der jeweiligen gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Norm, den moralischen Bewertungen und auch dem Wissensstand über die kindliche Entwicklung ab. Aber Achtung! Meist kann der Erwachsene nicht absehen, was die Handlung beim Kind auslöst und welche langfristigen Spuren sie eventuell hinterlässt. Ob ein Kind eine Verletzung oder Grenzüberschreitung erfährt, bestimmt das Kind ganz individuell und nicht wir, völlig unabhängig von den eigenen Vermutungen oder Bewertungen. Gedanken wie „Das war nicht so schlimm!“ oder „Das hat mir auch nicht geschadet!“ sind völlig fehl am Platz. Es geht um den Standpunkt des Kindes, nicht um die Bewertung von außen.

Mögliche Ursachen

Menschen greifen auf unachtsames Verhalten aufgrund verschiedener Ursachen zurück. Diese möglichen Ursachen möchte ich im Folgenden kurz erläutern. Dabei kann es situativ auch zu einem Mix aus mehreren Gründen kommen. Diesen nachzugehen und sie genauer zu betrachten, kann dabei helfen, das Unbewusste aufzudecken und gezielt zu verändern.

 

„Das hat mir auch nicht geschadet!“

Strafen werden von Erwachsenen zum Teil noch aus „Überzeugung“ genutzt, wenn der eigene Erziehungsstil dies begründet. Insbesondere geschieht das dann, wenn belastende biografische Erfahrungen unverarbeitet bleiben. Eigene Gewalterfahrungen, egal ob diese körperlich sichtbar oder seelisch versteckt abliefen, hinterlassen immer Wunden und somit auch Narben, und bei fehlender Aufarbeitung werden Muster eher weitergegeben.

 

„Aber ich muss doch Konsequenzen aufzeigen!“

Vielleicht kennst du diese Situation: Du reagierst auf dein Kind mit einem Wenn-dann-Satz und fragst dich im Nachhinein: War das jetzt eine natürliche Konsequenz oder eine Strafe? Sich darüber regelmäßig in der Familie und Partnerschaft auszutauschen, wird uns darin bestärken, unser Handeln zu überdenken und gegebenenfalls strafende Reaktionen zu verändern. Insbesondere bei Sprachgewalt, der Unterscheidung von willkürlichen und logischen Konsequenzen oder der Trennung zwischen Machtmissbrauch und Handeln aufgrund von Schutzgedanken ist es häufig knifflig. Es gibt nicht immer Schwarz und Weiß, sondern auch viele Grautöne dazwischen. Im Unterkapitel „Grenzverletzungen und Strafen erkennen“ werde ich beispielhafte Situationen aufzeigen und einschätzen.

 

„Ich wollte das nicht, aber … !“

Eltern berichten immer wieder, dass sie gar nicht schimpfen und strafen wollten, die eigene Überforderung oder Ohnmacht dann aber überhandgenommen hat, und plötzlich war da diese Kraft. Es gibt unterschiedliche Auslöser, die ein übergriffiges Verhalten begünstigen: Stressoren wie Lärm, Zeitdruck, Müdigkeit, Überlastung oder Konflikte können das Stresssystem extrem in Alarmbereitschaft versetzen und den sogenannten Kampf-Flucht-Modus hervorrufen.

In meinen Seminaren erläutere ich dies gern an dem so leicht verständlichen „Handmodell“ des Psychiatrieprofessors und Autors Daniel Siegel37. Natürlich ist es auch spannend, sich im Detail mit dem Gehirn zu beschäftigen, um tiefgreifende Zusammenhänge zu verstehen. Für ein grundlegendes Verständnis möchte ich dir aber das folgende Modell mitgeben – praxisnah und hilfreich.

In sieben Schritten zur Selbstregulation

Nimm deine Hand und schließe sie zu einer Faust mit dem Daumen innen liegend und deinen Fingerspitzen sichtbar. Der Arm steht für das Reptiliengehirn, dort werden unsere vitalen Funktionen wie der Herzschlag und die Atmung gesteuert. Die geschlossene Hand steht für dein Gehirn im geschützten und entspannten Zustand. Wir Menschen können dann ruhig denken, planen und unsere Gefühle kontrollieren. Vereinfacht gesagt: Das emotionale Gehirn (auch limbisches System genannt) und das denkende Gehirn (Neokortex) sind miteinander verbunden. Trifft nun ein Reiz ein, schätzt (unter anderem) ein kleiner, mandelgroßer Teil des emotionalen Gehirns namens Amygdala den Reiz ein und entscheidet: Gefahr oder Sicherheit? Bei einem Kind kann es genügen, wenn ein anderes nach seinem Spielzeug greift, sich bedroht zu fühlen. Bei uns Erwachsenen kann sich ein verärgertes, wütendes Kind wiederum anfühlen, als klopfe ein Löwe bei uns an. Entscheidet sich die Amygdala für Alarm, zum Beispiel beim Schrei nach dem Lolli an der vollen Supermarktkasse, dann wird unter anderem Adrenalin freigesetzt, unser Herz beginnt, schneller zu schlagen, die Muskeln spannen sich an. Übertragen auf unsere Hand klappen die Finger nach oben. Die Gehirnbereiche, die unter anderem für das Denken und Fühlen zuständig sind, lösen sich voneinander. In diesem Modus handeln wir meist kopflos, also unüberlegt, und sind in Rage. Wir möchten uns schützen vor Angreifern wie wilden Löwen, die uns vermutlich fressen wollen. Unsere Impulskontrolle, die für die Gefühlsregulation zuständig ist, funktioniert mit Notstrom. Die Amygdala wird auch gern als Gaspedal beschrieben, im gedrückten Zustand strömen Gefühle frei heraus. Zum Glück haben wir Menschen auch eine passende Bremse, den Hippocampus. Ein Bereich im Gehirn, der beispielsweise Erfahrungen abspeichert und diese als gefährlich oder ungefährlich archiviert. Das Kind lernt mit der Zeit, dass es nicht in Gefahr ist, wenn sein Spielzeug sich in den Händen eines anderen Kindes befindet, und auch, wie es mit dieser Herausforderung umgehen kann. Einige von uns haben vermutlich intensive Gefühle als Gefahr abgespeichert, weswegen der Vergleich mit dem Löwen und einem wütenden Kind auch im Erwachsenenalter nicht so fern liegt. Der Hippocampus mit Frontallappen entwickelt sich bis in das junge Erwachsenenalter (23–25 Jahre) und trägt zur Stressregulation bei.38 Erfahrungen werden dort aber ein Leben lang gespeichert und verändert. Um nun den Löwen förmlich an die Leine zu nehmen und uns selbst vor Überreaktion zu schützen, können folgende Dinge helfen:

 

  1. Lerne die Reize, die dich herausfordern (wie kindlicher Wutanfall, Lärm, Schmatzgeräusche), kennen und beobachte, wie dein Körper auf sie reagiert.
  2. Spürst du Stress, so nimm diesen bewusst wahr, damit er nicht die Kontrolle über dich gewinnt, sondern du selbstreguliert handeln kannst.
  3. Erkenne deine Körperreaktionen wie ein Ziehen in der Brust, einen schnellen Atem oder Herzschlag.
  4. Drücke sinnbildlich die S-t-o-p-p-Taste! Das ist der entscheidendste Gamechanger. Werde dir darüber klar, dass zwischen dem eintretenden Reiz (dem Wutanfall an der Supermarktkasse) und unserer Reaktion die Freiheit liegt zu entscheiden, wie wir handeln!
  5. Lege dir bewusst eine Exit-Strategie zurecht: Zählen bis zehn, tiefes und bewusstes Atmen, Singen oder Summen sind sehr beliebt.
  6. Beobachte deine Gedanken, denn diese treiben uns zusätzlich an und drücken förmlich auf das Gaspedal, oder aber – was die bessere Variante wäre – sie beruhigen und bedienen die Bremse. Statt zu denken: „Das Kind soll aufhören, wütend zu sein!“, denke: „Es ist nur ein Kind in Wut und es benötigt meine Unterstützung!“ Positive Gedanken, auch Affirmationen genannt, können nachhaltig deine Glaubenssätze verändern und lassen sich bei mehrfacher Wiederholung in deinem Unterbewusstsein nieder.39
  7. Auf diese Weise gelangst du erst gar nicht in die Übererregung oder auf den Weg dorthin, sondern drückst bewusst die Bremse, und es gelingt dir, wieder planvoll und achtsam zu handeln.

 

Betrachtest du nun wieder deine Hand, so klappen deine Finger wieder zusammen und schützen dein Gehirn. Ruhe und Entspannung können zurückkehren.

Und vielleicht ergeht es dir gelegentlich wie mir: Deine Impulskontrolle erinnert dich an die eines Kleinkindes. Dann denke bitte daran, dass wir diese ein Leben lang trainieren können mit dem entscheidenden Zusatz: Unser Gaspedal (Hippocampus) ist bereits mit etwa dreiundzwanzig bis fünfundzwanzig Jahren ausgereift. Das kindliche Gehirn reift noch und benötigt sehr viele gut gelöste Konflikte und Bezugspersonen, die co-regulieren, bevor es nach und nach eigene Impulse selbst regulieren kann.

 

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Reflexion: Stress als Auslöser – wie ist es bei dir: image

Grenzverletzungen und Strafen erkennen

Im Folgenden beschreibe ich die körperlichen und seelischen Grenzen von Kindern, die wir im Zusammenleben mit ihnen berücksichtigen sollten. Jedes Kind ist hochindividuell und einzigartig und nicht mit einem anderen vergleichbar. Verletzen wir eine Grenze, ist der Grat, der von einer Verletzung zu gewaltvollem Handeln führt, sehr schmal. Letztlich entschiedet immer das Kind als Empfänger, wie es etwas empfindet, und nicht der Erwachsene als Sender. Selbst wenn wir etwas liebevoll meinen, es aber verletzend beim Kind ankommt, ist dies ausschlaggebend.

Körperliche Grenzen achten

Die körperlichen Grenzen eines jeden Menschen sind individuell. Unser Gehirn erzeugt eine unsichtbare Markierung wie eine Pufferzone, um unseren persönlichen Raum zu schützen. Werden die Grenzen dieses Bereichs nicht respektiert, kann dies unangenehme Konsequenzen haben. Unter Erwachsenen sind es beispielsweise unsittliche Berührungen oder zu viel Nähe. Je nach Situation wird diese Zone unbewusst „berechnet“. So verkraften wir mehr Nähe in Fahrstühlen als außerhalb dieser.40 Denken wir nun an Situationen, in denen Erwachsene Kindern begegnen: Oft erleben wir, dass die Kinder zur Begrüßung geküsst werden, ihnen liebevoll über den Kopf gestreichelt oder auch plötzlich und unangekündigt die Nase geputzt wird, sie hochgenommen, weggetragen oder gewickelt werden. Ähnlich wie bei erwachsenen Personen sollten wir auch bei Kindern in allen Bereichen, die den Körper betreffen, um vorherige Einwilligung bitten. Wie oft wir in diesen Bereichen die kindlichen Grenzen überschreiten, fällt uns erst auf, wenn wir im Alltag bewusst darauf achten. Zum Beispiel:

 

Körperliches Anpacken und Fixieren:

„Komm jetzt her!“ (Erwachsener zieht Kind am Arm.)

„Nun kommst du auf meinen Schoß und bleibst hier sitzen! So!“

„Zähne putzen muss sein! Wenn du nicht mitmachst, putz ich sie dir eben!“ (Erwachsener hält Kind fest im Arm.)

In Situationen wie diesen werden die körperlichen Grenzen eines Kindes ohne einen triftigen Grund verletzt. Selten lösen solche Grenzverletzungen beim Erwachsenen Irritation aus, denn das Kind „muss doch“. Hier wird in das Recht des Kindes eingegriffen, und es ist an uns, diese Grenzverletzungen aufzudecken und zu reflektieren. Ein ernsthafter Grund, ein Kind ohne Einwilligung körperlich anzupacken, wäre der Schutz des Kindes, etwa an einer Straße oder wenn es dabei ist, einen Stein zu werfen, wodurch wiederum jemand oder etwas anderes in Gefahr gerät.

 

Zwänge aller Art

„Du musst erst die Suppe probieren, bevor es mehr Brot gibt.“

Ein Kind sollte selbst entscheiden können, ob es etwas essen möchte. Beim Einführen in Körperöffnungen befinden wir uns in dem intimsten Grenzbereich eines Menschen. Dieser steht in enger Verbindung mit dem Bewusstsein für den eigenen Körper und der Würde des Kindes.

Blickt man aus der Perspektive der Kinderrechte darauf, so steht außer Frage, dass Kinder – abgesehen von Ausnahmesituationen oder Notfällen – selbst wählen sollten, ob und was sie essen, einschließlich der Menge der ihnen angebotenen Speisen. Es ist durchaus sinnvoll, Kinder zu ermuntern, Neues zu probieren, sie dabei zu unterstützen und ihnen durch eigenes Verhalten ein positives Beispiel zu geben. Allerdings ist es keineswegs akzeptabel, Kinder zum Essen zu nötigen oder gar das Essen an bestimmte Bedingungen zu knüpfen wie etwa: „Wenn du das jetzt nicht isst, gibt es später keinen Nachtisch!“ Oder: „Jetzt wird es morgen regnen, willst du das?“. Solche Vorgehensweisen sind nicht nur grenzüberschreitend, sondern können auch Abneigungen fördern und ein gesundes Ernährungsverhalten gefährden. Kinder besitzen in der Regel ein natürliches Gespür dafür, was ihnen guttut und was ihr Körper verlangt. Deshalb ist es von großer Bedeutung, ihnen eine Vielfalt an gesunden und ausgewogenen Mahlzeiten anzubieten.41

Sehr ähnlich verhält es sich mit dem Zwang zu schlafen, bestimmte Kleidung zu tragen oder dem Zähneputzen. Kinder dürfen nicht zu etwas gezwungen werden, ebenso wie es als gewaltvoll zu werten ist, wenn ihnen Schlaf, Liebe, Nahrung, Geborgenheit oder Trost entzogen werden.

Wie bereits geschildert, kann es auch Notsituationen geben, in denen der Erwachsene seine Macht bedacht gegen den Willen des Kindes ausübt, um dieses zu schützen. Wichtig ist dabei, dass er oder sie sein Handeln sprachlich begleitet, am besten auch begründet, und das Kind – sobald möglich – emotional auffängt. Es geht also darum, Kinder in bestimmten Momenten wie in einem Wolfsrudel zu führen und sie an unserem Erfahrungs- und Wissensvorsprung teilhaben zu lassen, und dies gleichzeitig auf eine Art und Weise zu tun, die auf körperliche und seelische Verletzungen verzichtet. Wichtig ist von Situation zu Situation zu überprüfen, ob es tatsächlich um Schutz geht oder ob ihr durch euer Verhalten bestimmte Diskussionen umgehen möchtet oder gar eure Macht aufzeigen wollt.

Ein paar Beispiele: An einer befahrenen Straße hältst du dein Kind am Arm? Du schützt es vor einer Lebensgefahr. Du presst deinem Kind die Zahnbürste in den Mund aus Sorge vor einem Loch im Zahn? Das gefährdet die seelischen Grenzen des Kindes, und die Sorge, dass die Zähne tatsächlich kaputtgehen, ist in der Regel unbegründet. Besser wäre es, andere Vorgehensweisen auszuprobieren. Genauso sollten wir beim Wickeln immer wieder abwägen, ob der Schutz vor einem wunden Po unsere körperliche Macht in diesem Moment tatsächlich begründet. Auch hier hilft in der Regel Geduld und Empathie – für das Kind und auch für uns selbst. Eltern möchten in der Regel alles so gut wie möglich machen, und dazu gehört eben auch, das Kind vor Löchern in den Zähnen und dem schmerzhaften Zahnarztbesuch zu schützen, genauso wie vor Hautirritation oder gar einem Sonnenbrand. Dieser Druck, der durch diese Stimmen in und um uns stetig erhöht wird, ist teilweise regelrecht lähmend oder auch antreibend. Es lohnt sich, die einzelnen Situationen genauer anzusehen, um eben nicht in die Fallen zu tappen, in die bereits unsere Eltern getappt sind. Zähne putzen ist in den meisten Familien eine zwei- bis dreimal tägliche unumgängliche Pflichtveranstaltung, gerade wenn es in der eigenen Kindheit schon ein unumgängliches Muss war. Dieser Druck erzeugt aber meist Gegendruck und – auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen – schaut doch bitte in eurem Miteinander, ob ihr diese Regel auf jeden Fall so weitertragen möchtet oder euch eine Aufweichung guttun würde. Wir haben große Angst davor, dass Ausnahmen zur Normalität werden, die aber oft unbegründet ist: „Heute bist du viel zu müde? Darf ich dir flink über die Zähne drüberputzen? … Na gut, dann müssen wir aber morgen früh besonders gründlich sein!“ Auch ein gegenseitiges Putzen kann die Situation entspannen: „Ach, ich bin auch so erschöpft. Magst du mir meine putzen und ich dir deine?“

Es ist generell eine gute Idee, Hygiene durch andere einmal am eigenen Leib zu erfahren. Ich erinnere mich noch sehr genau an eine Weiterbildung vor zehn Jahren, bei der wir uns gegenseitig die Socken anzogen, uns die Hände wuschen und uns fütterten. Diese Erfahrung hat sich bei mir nachhaltig eingeprägt. Lasst euch auch mal von einem anderen Menschen die Zähne putzen oder euch anziehen und fühlt euch diesen kleinen Moment in euer Kind ein. Dieses erlebt solche Momente täglich mehrere Male, manchmal in Hektik (zumindest passiert es mir), ohne diese feinfühlige und sprachbegleitete Art. Es ist also nicht verwunderlich, dass Kinder uns gelegentlich mitteilen, wie sich etwas für sie anfühlt, und ihre körperliche Grenze aufzeigen. Vielleicht liest du diese Zeilen auch und bleibst ganz standhaft bei der Regel, dass Zähneputzen einfach unumgänglich ist. Daran möchte ich nichts ändern, dich aber auffordern, den körperlichen Schutz (Sorge vor Karies) nicht vor den seelischen Schutz deines Kindes zu stellen. Fordern wir etwas mit Druck, Zwang, Beschämungen, Drohungen oder auch mit Fixierung durch Körperkraft, erfüllen wir uns dabei unser Bedürfnis nach Gesunderhaltung und verletzen gleichzeitig die Werte Selbstbestimmung, Gleichwürdigkeit und Gewaltlosigkeit. Daher ist es so wichtig, gut abzuwägen, in welchen Situationen das Kind mitbestimmen kann und wann wir Führung im Sinne des Schutzes für unumgänglich halten.

Auch ältere Kinder fordern uns regelmäßig heraus, indem sie beispielweise die Medienzeit ausreizen, statt sie zu beenden. In einem solchen Moment fühlen wir uns womöglich provoziert, und eine innere Stimme fordert uns dazu auf, nun aber „durchzugreifen“ und dem Kind gegenüber Macht zu demonstrieren. Eine gute Idee? Durchatmen und uns darüber klar zu werden, wie wir uns gewaltfrei positionieren, ohne uns auf einen Machtkampf einzulassen, sind angebrachtere Strategien.

 

Reflexion: Ein Blick zurück image

Wenn Strafen und Gewalt für dich ein Thema sind, lade ich dich ein, dir folgende Fragen zu stellen. Gehe dabei in deinem eigenen Tempo vor und sei bitte achtsam, insbesondere wenn dies Erinnerungen oder unangenehme Gefühle in dir hervorruft:

 

Seelische Grenzen achten

Seelische Grenzen beziehen sich darauf, wie eine Person sich im Kontakt mit anderen fühlt und ob und wie ihre individuellen, emotionalen Grenzen gewahrt bleiben. Was Mimik, ein Wort oder ein Satz bei einem Menschen auslösen können, ist oft nicht absehbar, und wie dieser sie wahrnimmt und verarbeitet ebenso wenig. Es ist wichtig, dass Kinder in ihrer Kindheit lernen, ihre eigenen seelischen Grenzen wahrzunehmen und diese auch zu verteidigen.

Verhaltensweisen, die seelische Grenzen verletzen und die wir unbedingt vermeiden sollten, sind: Ignorieren, Ausgrenzung, Auszeiten, Beschämungen, Zwang, Angstmachen, mimische Herabwürdigungen, Manipulation, Sarkasmus und Ironie sowie Schimpfen.

Im Folgenden möchte ich einige kurze Beispiele anführen, bei denen es sich um Verletzungen seelischer Grenzen handeln kann. Nicht selten werden diese Muster genutzt, um Kinder zu einer Verhaltensänderung zu bewegen oder um auf ein „Fehlverhalten“ hinzuweisen.

 

Drohungen

„Wenn du weiter schubst, fällt die Geschichte heute Abend aus.“

„Der Weihnachtsmann kommt nur zu lieben Kindern, wenn du dich so benimmst, dann …“

Wenn wir von Kindern erwarten, dass sie lieb und brav sind, dann lernen sie, ihr Verhalten an unseren Erwartungen auszurichten. Unsere Vorstellungen beinhalten nicht selten eine ablehnende Haltung gegenüber Traurigkeit, Wut, Frustration und Ärger. Wenn wir uns wünschen, dass Kinder selbstbewusst und selbstbestimmt heranwachsen, ist es hingegen wichtig, dass sie lernen, ihre Gefühle zu zeigen und zu deuten, egal wie sie gerade sind. Gefühle sind wie ein Kompass zu verstehen und zeigen uns, ob unsere Bedürfnisse erfüllt oder unerfüllt sind. Und dies lässt uns erkennen, ob wir eine Grenze wahren müssen, um uns zu schützen. Statt also zu fragen „Bist du artig und brav gewesen?“, zeigen wir mit diesem Satz echtes Interesse: „Was fühlst und brauchst du?“ Figuren wie der Weihnachtsmann, der Osterhase oder bestimmte Berufsgruppen (Polizei, Mediziner) sollten nicht für Manipulation und dunkle Erziehung missbraucht werden!

 

Willkürliche Konsequenzen

„Wenn du mich anlügst, kannst du am Wochenende nicht bei Oma schlafen.“

„Wenn du in die Pfütze springst, darfst du am Nachmittag nicht auf den Spielplatz.“

Mit den Konsequenzen ist es so eine Sache: Aus Erwachsenensicht sagen wir gern Dinge, die wir als logische Konsequenz ansehen. Dabei handelt es sich bei logischen Konsequenzen um natürliche und nachvollziehbare Folgen eines Verhaltens. Was wir dabei gern vergessen, sind die Zwischenschritte, die aus Willkür Logik werden lassen. Bleiben wir bei der Pfütze: Logisch wäre es, dass ein Kind ohne Gummistiefel in einer Pfütze nasse Schuhe bekommt. Daraus ergibt sich vermutlich, dass das Kind ohne Wechselschuhe am Nachmittag nur mit nassen Schuhen auf den Spielplatz gehen kann und wir besorgt sind, dass es sich dadurch erkältet. Das Bedürfnis nach Unversehrtheit und Gesundheit lässt uns zu diesem Satz greifen.

Ich finde es in der Tat unfassbar wichtig, dass Kinder durch unsere (verbale) Begleitung die Folgen ihres Handelns abschätzen lernen. Dabei sollten wir aber die Zwischenschritte nicht übergehen, die aus einer nicht nachvollziehbaren, willkürlichen Konsequenz eine logische Konsequenz werden lassen. Also könnten wir in der Situation Folgendes sagen: „Achtung, da ist eine Pfütze. Mir ist wichtig, dass du trockene Füße behältst. Bleib stehen!“ Wir können uns aber auch einmal fragen: Ist es tatsächlich problematisch, wenn die Schuhe nass werden? Aus welcher Überzeugung limitiere ich das Kind? Wenn wir dies aus dem Schutzgedanken heraus mit einem Ja beantworten, kann es bei jüngeren Kindern nötig sein, sie wegzulotsen oder auf den Arm zu nehmen – vielleicht auch gegen ihren Willen. Darauf wird ein Kind vermutlich verärgert und frustriert reagieren. Dann ist es an uns, das Kind mit seinen Gefühlen zu begleiten. Ganz im Sinne der Grundhaltung: Alle Gefühle dürfen sein und sind okay! Frustration wird vergehen. Greifen wir hingegen – aus welchen Gründen auch immer – auf beschämende, drohende oder demütigende Sätze wie „Nun mach nicht so ein Theater! Du Heulsuse!“ oder „Wenn du nicht aufhörst, dann …“ zurück, verletzen wir das Kind hingegen und fügen ihm seelischen Schmerz zu. Logische Konsequenzen sind entsprechend dem Alter des Kindes und den eigenen Werten und Erziehungszielen zu prüfen.

Ignorieren

„Du plapperst immer dazwischen, dir höre ich nun nicht mehr zu, bis du es verstehst!“

Von einer Bindungsperson ignoriert, also abgelehnt zu werden, kann sehr unangenehm und schmerzhaft für ein Kind sein und sogar seelischen Schaden anrichten. Was Kinder daraus lernen, ist vermutlich, dass sie mit dem, was in ihnen vorgeht, nicht wahr- und ernst genommen werden. Sie sollen ihre Gefühle unterdrücken, lernen dadurch aber nicht, ihre Impulse zu regulieren.

 

Vernichtende Kritik

„Wasch dir mal die Ohren! Ich sag es nicht noch mal!“

„Du benimmst dich wie ein Baby, werde erst mal größer!“

 

Vergleichen und Bevorzugen

„Schau mal, dein Bruder macht nicht so ein Drama.“

„Oh, wie toll Leo isst! Nimm dir mal ein Beispiel daran!“

Kinder möchten ihren Bezugspersonen gefallen. Ein Vergleich kann daher dazu führen, dass ein Kind versucht, das hervorgehobene Verhalten nachzuahmen, um auch Anerkennung zu genießen. Statt Kinder mit anderen zu vergleichen, stärkt es ihr Selbstvertrauen, wenn wir sie sehen, statt sie zu bewerten (dazu später mehr). Durch Anreize wie durch Belohnungen oder Druck wird ein Kind extrinsisch (von außen) motiviert. Bestimmte Ziele werden so kurzfristig erreicht, das Kind kann jedoch von den äußeren Anreizen abhängig werden. Fehlen diese dann, stellt sich eine Antriebslosigkeit ein und das erwünschte Verhalten bleibt aus. Im Gegensatz zur extrinsischen Motivation ermöglicht die intrinsische (von innen) Motivation, eigenständig und aus persönlichem Antrieb und Interesse zu handeln, auch wenn äußere Anreize fehlen. Dadurch wird Engagement gefördert und Zufriedenheit und Selbstständigkeit werden unterstützt.

So könnten die Beispiele bestärkend formuliert werden:

 

 

„Im Grunde ist es ziemlich beunruhigend, wenn man sich darüber klar wird, wie lieblos es sein kann, Kindern etwas als Belohnung dafür zu geben, dass sie getan haben, was wir wollten. Wenn wir allzu viele Dinge vom Verhalten eines Kindes abhängig machen, wird unsere Liebe selbst als abhängig von bestimmten Dingen wahrgenommen“42, schreibt der amerikanische Autor Alfie Kohn in Liebe und Eigenständigkeit. Senden wir eine Botschaft an unser Kind, mögen der Grund und das Motiv gut gemeint sein, entscheidend hingegen ist, was beim Kind ankommt. Kohn wirft die Frage auf, warum es uns im Miteinander ein ständiges Bedürfnis ist, das kindliche Tun zu beurteilen, egal ob in lobender oder kritischer Art und Weise. Wie können wir einen Weg finden, etwas Positives, Bestärkendes zu sagen, ohne dabei zu urteilen? Möchten wir etwas sagen, können wir Gesehenes beschreiben und dem Kind dabei offenlassen, was es selbst darüber denkt, statt durch unsere Bewertung seine Gedanken zu lenken. Eine einfache, wertneutrale Beobachtung, um dem Kind zu signalisieren, dass wir sein Handeln wahrgenommen haben, ist zum Beispiel: „Du hast es geschafft!“

Wertschätzen wir, so richten wir den Fokus darauf, was das Tun bei uns auslöst, und verbinden uns mit den eigenen und kindlichen Gefühlen und Bedürfnissen auf Augenhöhe. Für mich persönlich ist entscheidend, ob ich mich mit dem Kind an seinem Tun erfreue und dies authentisch zum Ausdruck bringe oder ob ich etwas beobachte und bewerte, um das kindliche Verhalten dadurch verändern zu wollen. Eine wertschätzende Sprache ist wie Balsam für den Selbstwert des Kindes und das Miteinander. Versuchen wir unsere Beobachtung wertschätzend zu teilen, üben wir uns in Selbstoffenbarung und verzichten damit bewusst auf (Be-)Wertungen und Urteile. Kinder sind daran interessiert zu erfahren, wie wir etwas sehen. Sie haben ein Bedürfnis nach Orientierung und Führung, die sie durch unsere präsente Rückmeldung erhalten, dennoch können sie frei entscheiden, wie sie damit umgehen.

Möchten wir wertschätzend sprechen, so können wir:43

 

 

Die folgenden Sätze sollen (in Anlehnung an Kohn) Wertschätzung, Interesse, Aufmerksamkeit und Ermutigung bieten, ohne diese an Bedingungen zu knüpfen.44

 

Statt … probiere mal …
„Es gefällt mir, wie du …“ … „nur“ Aufmerksamkeit und Präsenz zu schenken, ohne etwas zu sagen.
„Gut gemacht. Das Bild gefällt mir!“ … zu beschreiben, was wir sehen, ohne zu bewerten: „Da ist Blau und auch sehr viel Rot, wie ich sehe.“
„Du bist so hilfsbereit!“ … zu erläutern, wie sich das Verhalten auf andere auswirkt: „Du hast bereits das Puzzle eingeräumt und wir können sofort anfangen zu malen und haben nun mehr Zeit!“
„Du hast eine … (Note xy) geschrieben?“ … sich für das kindliche Empfinden und die Hintergründe zu interessieren: „Bist du zufrieden mit deiner Arbeit? Wie war es für dich? Welche Aufgaben haben dich herausgefordert? Was fiel dir leicht?“
„Ja, teilen ist toll! Gut gemacht!“ … zu hinterfragen und zu beobachten, statt zu bewerten: „Oh ich sehe, du teilst dein Lieblingsspielzeug. Wie geht es dir damit?“

 

Verstärker- und Belohnungssysteme

„Wer sich so verhält, bekommt keinen Stern.“

„Heute kannst du keine Serie gucken, erst wenn du mal einen Tag deinen Bruder nicht haust! Schaffst du das morgen?“

Solche Verstärkersysteme sollen Kinder motivieren, sich immer von ihrer besten Seite zu zeigen, und fokussieren bewusst auf das Verhalten statt auf Ursachen und Bedürfnisse. Für Kinder – auch für die angepassten – kann dies mit großem Stress und Anspannung verbunden sein. Sie spüren Scham und Angst oder auch Mitgefühl für die Kinder, die negativ hervorgehoben werden. Sie lernen, dass sie nur erwünschtes Verhalten zeigen dürfen, und unterdrücken ihre eigenen Bedürfnisse oder fallen bewusst auf, um Aufmerksamkeit zu erhalten. Dies wirkt sich störend auf das Selbst- und Fremdbild aus und behindert eine gleichwürdige Beziehung.45

 

Beschämung, Herabwürdigung, lächerlich machen

„Das können ja Babys besser!“

„Du bekommst einen Preis für die langsamste Schnecke aller Zeiten!“

„Ich hab heute extra die Kleckerdecke aufgelegt, weil ich wusste, du kommst zum Essen!“

An letzteren Satz kann ich mich noch sehr gut erinnern. Mein Kleckern als Kind war bei meiner Oma Anlass, vor meinem Kommen die geblümte abwischbare Decke auf den Esstisch im Wohnzimmer zu legen und dies auch mit meiner Tollpatschigkeit zu begründen. Sicherlich hatte sie damit nicht bewusst vor, mich bloßzustellen, was bei mir ausgelöst wurde, war dennoch ein Gefühl von Unzulänglichkeit. Ich höre sogar heute noch ein Kichern aus dem Raum, denn solche Witze auf Kosten anderer erheitern manchmal die, die nicht betroffen sind. Wenn wir auf Defizite hinweisen oder Geschichten erzählen, die für den oder die Betroffene/n peinlich sind, erzeugt dies ein Gefühl von Scham, mit dem wir nach den Psycholog:innen Paul Gilbert und Bernice Andrews46 sehr unterschiedlich umgehen. Dabei sind vier verschiedene Reaktionen typisch:

 

 

Ein anderer Weg ist es, wenn wir uns unseren Schwächen und Fehlern zuwenden und einen tatsächlichen Fehler wiedergutmachen.47 Ich reagierte als Kind mit totaler Anpassung und war übervorsichtig, damit ich bloß keinen Fehler machte. Ob ich dadurch tatsächlich weniger kleckerte, bezweifle ich, denn meine Oma sagte gern auch nach dem Essen: „Gut, dass ich die Decke aufgelegt habe!“ Was mir von diesen „lustigen Sprüchen“ bis heute blieb, ist, dass ich bevorzugt mit Menschen esse, mit denen ich mich wohl- und sicher fühle, und in unbekannten Situationen Essen bestelle, das „kleckerfreundlich“ ist. Heute kann ich darüber lächeln, genieße die Essensfreude meiner Kinder und thematisiere Kleckern eher selten. Ich bin aber sicher, dass auch ich mit Worten und Gesten Spuren hinterlasse, über die vielleicht meine Kinder mal in Büchern erzählen.

 

Dinge entwenden

„Wenn du das nicht kannst, nehme ich es dir bis morgen weg! So!“

Diese Situation kennt ihr bestimmt auch: Zwei Kinder streiten sich um ein Spielzeug oder einen Gegenstand, und ihr geht dazwischen, entreißt das Spielzeug dem einen Kind und gebt es dem anderen. Oft bekommen wir gar nicht mit, wie die Situation begonnen hat, und entscheiden blitzschnell über Recht und Unrecht. Damit ermöglichen wir den Kindern nicht, die Situation zu verstehen und zu besprechen. Und, was ähnlich hinderlich ist, die Kinder erfahren, dass der oder die mächtigere Person das Recht hat, etwas zu entwenden. Im Grunde ahmen wir ein Verhalten nach bzw. leben es vor, das wir ja ablehnen und uns anders wünschen. Die Idee wäre also, sich für die Situation und die Belange der Kinder zu interessieren, die Gefühle zu regulieren, zu verbalisieren und gemeinsam nach einer Lösung zu suchen. Ein Verhalten, das wir bei den Kindern nicht möchten, sollten wir selbst auch nicht zeigen! Ihr wisst: Kinder tun nicht das, was wir sagen, sondern das, was wir tun. Sie beobachten uns auf Schritt und Tritt und ahmen uns nach. Vielleicht nicht sofort, sondern später, wenn sie selbst in einer ähnlichen Situation der oder die Überlegene sind.

 

Auszeiten und Bindungsstrafen

„Du gehst nun in dein Zimmer und kannst erst wiederkommen, wenn du dich beruhigt/darüber nachgedacht hast!“

Ich vermute, dass wir besonders dann dazu neigen, Kinder von uns zu schieben und in ihre Zimmer zu verbannen, wenn wir selbst eine Auszeit benötigen und nicht wissen, wie wir uns diese einräumen können. Aus Selbstschutz und Überforderung zeigen wir den Kindern, dass es so nicht gehen kann, und versuchen, ihr Fehlverhalten, welches meist ein Schrei aus Not ist, zu bremsen oder zu regulieren.

Die Auszeitmethode, die auch als „stiller Stuhl“, „stille Treppe“ oder „Time-out“ bekannt ist, basiert auf der Idee einer „Bindungsstrafe“48, bei der das Kind starke Bindungsängste erlebt. Aufgrund der erzwungenen Isolation empfindet das Kind Einsamkeit, Verzweiflung, Trauer und emotionalen Schmerz. Diese seelischen Belastungen hinterlassen tiefe Spuren im Gehirn des Kindes und führen dazu, dass das Kind sein Verhalten an die Erwartungen der Bindungsperson anpasst, um sich wieder zugehörig zu fühlen. Wenn ein Kind ausgeschlossen wird, um es zu einem gewünschten Verhalten zu bewegen, stellt dies eine erhebliche Gefahr für seine psychische Gesundheit dar, da es das fundamentale Bedürfnis nach Bindung bedroht. Diese Methode nutzt die natürliche Angst des Kindes vor dem Verlust von Bindung aus. Das Kind gerät in emotionalen Stress, kann jedoch in dieser Situation nicht reflektieren oder daraus zukünftiges Lernen ableiten, wie möglicherweise beabsichtigt. Eine alternative Herangehensweise besteht darin, dass das Kind selbst einen Rückzugsort wählt oder die Bindungsperson gemeinsam mit dem Kind die belastende Situation verlässt, zum Beispiel einen Spaziergang im Garten unternimmt. Auf diese Weise erlebt das Kind eine Co-Regulation und bleibt in Verbindung mit seiner Bindungsperson. Hierbei handelt es sich um eine intensive Interaktion, eine Zeit, in der das Kind im Eins-zu-eins-Kontakt Resonanz, Zuwendung, Regulation und ein aufrichtiges Interesse an seinem Verhalten erfährt.49 Die Bindungsperson kann zudem in entspanntem Zustand dem Kind Rückmeldungen darüber geben, welches Verhalten erwünscht ist, und gemeinsam mit dem Kind nach Handlungsalternativen suchen.

 

Anschreien

„Nun reicht es aber! Wer nicht hören will, muss fühlen!“ (mit sehr lauter Stimme)

 

„Wie du mir, so ich dir!“

„Du wolltest es wohl nicht anders! Ich mach heut gar nichts mehr mit dir!“

Trostverweigerung

„Das ist nun echt kein Grund zum Weinen. Hör auf!“

„Das ist nur ein Mini-Kratzer und tut nicht weh!“

Auf strafende Verhaltensweisen greifen wir also zurück, wenn wir es nicht besser wissen, überfordert sind oder davon überzeugt, dass sie uns an unser Ziel bringen. Letzteres sollten wir spätestens nach dem Lesen der letzten Seiten hinter uns lassen. Denn Strafen schaden der kindlichen Entwicklung und dem Miteinander, und vor allem lernt ein Kind durch sie nicht, einen Konflikt gewaltfrei zu lösen.

Auch seelische Verletzungen wiegen schwer

Auf ein Phänomen möchte ich in diesem Zusammenhang noch eingehen, nämlich dass wir in der Regel auf körperliche Verletzungen und Grenzüberschreitung stärker reagieren als auf seelische. Körperliche Misshandlungen werden auch weitaus häufiger gemeldet als seelische. Vermutlich liegt das daran, dass wir seelische Verletzungen als gar nicht so schlimm wahrnehmen und sie oft auch gar nicht erkennen, weil sie „unsichtbare“ Schmerzen auslösen, deren Folgen oft erst später zum Vorschein kommen. Ein Meilenstein wurde durch die Erkenntnisse von Forscher:innen wie Naomi Eisenberger im Jahr 2003 gelegt. Ihre neurowissenschaftlichen Untersuchungen haben gezeigt, dass sozialer oder emotionaler Schmerz ähnliche neuronale Mechanismen im Gehirn aktiviert wie körperlicher, die „Schmerzmatrix“ springt förmlich an. Uneinig ist sich die Wissenschaft hingegen noch darüber, ob die Aktivierung des Schmerzzentrums durch einen seelischen Schmerzreiz automatisch bedeutet, dass die Person tatsächlich Schmerzen empfindet. Die Schmerzzentren springen aber scheinbar in ähnlicher Form an und es scheint außer Frage zu stehen, dass seelische Verletzungen einen messbaren Einfluss auf das Gehirn haben können wie eben körperliche Verletzungen auch. Und wer sich selbst an eine Verlust- oder Ausgrenzungserfahrung erinnert, also ein „gebrochenes Herz“ fühlt, kann vermutlich bestätigen, dass dieser Schmerz sich anfühlen kann wie ein Schlag in die Magengrube.50

 

Den ersten Schritt gehen image

Wir wissen heute, dass seelische wie körperliche Schmerzen gleichsam schädlich sind und eine Art Fingerabdruck im kindlichen Gehirn hinterlassen. Dieser Fingerabdruck zeichnet sich bei Schlägen oder einem Klaps auf den Po ebenso ab wie bei Ausgrenzung, Beschämung oder Zurückweisung. Der Wunsch, es bei den eigenen Kindern anders zu machen, ist ein großer Meilenstein, denn er sagt aus: Ich möchte die mir anvertrauten Kinder ohne Gewalt und Strafen begleiten. Es ist ein wichtiger Entschluss und zunächst ist nicht entscheidend, wie groß die ersten Schritte sind, sondern welche Richtung wir wählen!

 

Konflikte sind Wachstumsmomente

Ich erinnere mich gut an einen Freitagabend, an dem ich mich unglaublich auf unser ritualisiertes Wohnzimmerkino freute. Erschöpft und doch mit Vorfreude bereitete ich unsere Snacks vor und schaffte eine Kinoatmosphäre. Und was geschah dann?

Als wir beisammensaßen, startete die Diskussion über die Filmauswahl. Einen Wimpernaschlag später knallte eine Zimmertür, und die Stimmung war ruiniert. Was ich mir so sehr gewünscht hatte: Ruhe und Harmonie.

In mir kamen Sätze hoch wie: „Immer müsst ihr euch streiten, nie kann es mal …“ S-t-o-p-p! Im Abschnitt über die Selbstregulation habe ich bereits beschrieben, was solche Sätze mit uns und unseren Gefühlen machen. Sie sind das Salz in der Wunde oder das Öl im Feuer. Diesen Zündstoff sollten wir als solchen entlarven, um bedacht und nicht kopflos zu reagieren. Welchen Satz ich viel lieber denke? Konflikte sind der Motor der Entwicklung.

Also: Einmal tief durchatmen und dann schauen, was die Situation gerade braucht. Und auch mich selbst fragen, was ich gerade brauche. Ich brauchte keinen Konflikt, sondern R-u-h-e! Indem ich das erkannte, erfüllte ich mein seelisches Bedürfnis nach Gesehenwerden.

Durch diesen Mini-Moment der Selbsteinfühlung gelang es mir, mich dem Konflikt zuzuwenden. Um wirklich zu verstehen, ist es wichtig, genau hinzuhören und gegebenenfalls nachzufragen.

Als Erstes kam mir früher immer die Frage nach dem Warum in den Sinn: „Warum könnt ihr euch nicht einigen?“ Hinter dieser großen Frage, so schreibt der Konflikttrainer Hergen Sasse, versteckt sich oft eine Anschuldigung, und sie erfordert Selbstreflexion. In müdem Zustand an einem Freitagabend kann unsere Fähigkeit dazu stark beeinträchtigt sein. Sasse schlägt also vor, mit anderen W-Fragen zu starten.

Eine bewährte Herangehensweise ist es, die Frage „Was ist los? Was ist passiert?“ als Ausgangspunkt zu verwenden. Auch andere W-Fragen, außer dem Warum, eignen sich gut (Wie? Was? Wo? Wer? Wann?), um sich der Situation zu nähern. Hilfreich ist auch das Spiegeln, bei dem wir Gesagtes wiederholen, hinter dem wir mehr vermuten. Wenn ein Familienmitglied sagt: „Immer will sie den Film bestimmen. Das nervt!“, so können wir „Immer?“ wiederholen und dann abwarten, welche Reaktion auftaucht, und uns mit den Gefühlen, die wir wahrnehmen, verbinden: „Ich spüre richtigen Ärger. Du bist sauer, kann das sein?“

Erinnere dich außerdem daran, dass hinter jedem Vorwurf ein Bedürfnis steckt. Sich darüber zu ärgern, dass der Film nicht fair ausgesucht wird, kann bedeuten, dass bei einem Familienmitglied das Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit, Anerkennung, Gesehenwerden, Autonomie, Partizipation oder Gerechtigkeit zum Kampf aufruft und eine Übersetzung benötigt.51

Ein Weg im Konflikt kann es sein, wahrhaftig hinhören, ohne dabei selbst zu interpretieren und zu lenken, um uns dann dem Bedürfnis der Kinder zu nähern.

Und erst wenn wir verstanden haben und verstanden wurden, können wir auf Lösungssuche gehen.

Am Ende der kurzen und dennoch intensiven Auseinandersetzung saßen wir alle beisammen, aßen entspannt Pizza, und ich weiß noch sehr genau, wie stolz ich darauf war, meinen eigenen Alarm rechtzeitig entschärft zu haben. Denn in solchen Situationen tut es den Kindern gut, wenn wir zuversichtlich bleiben und Sicherheit ausstrahlen. In Konflikten kann viel Wachstum entstehen und durch die Reibung unfassbar viel Nähe erzeugt werden, sodass die zuvor erlebte Kluft durch ein Zusammenrücken ersetzt wird. Mir hilft definitiv, dass ich meine Angst vor Streit und Differenzen abgelegt habe und in ihnen – auch wenn ich sehr harmonieliebend bin – Entwicklungspotenzial sehe. „Jede gelungene Konfliktbewältigung ist ein erfolgreicher Moment, der uns stärkt, uns zusammenbringt und unsere Kompetenzen erweitert“, formuliert es Sasse.52

Leider gibt es nicht den goldenen Tipp, genauso wenig wie es die „Top drei Handlungsstrategien“ für den Umgang mit emotional aufgeladenen Momenten mit Kindern gibt. Oft spüre ich bei meinen Workshop-Teilnehmer:innen und Leser:innen den Wunsch nach einer magischen Lösung und erlebe eine gewisse Enttäuschung, wenn ich diese nicht bieten kann.

Gleichzeitig bemerke ich jedoch fast nach jedem Seminar oder anhand der zahlreichen Rückmeldungen zu meinem Buch über Wut, dass Entwicklung stattfindet, dass Erwachsene ihre innere Haltung stärken und Veränderungen eintreten.

Neben den ohnehin schon herausfordernden Situationen, die wir mit Kindern ausloten, gibt es zusätzliches Konfliktpotenzial, wenn die Elternteile unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wie sie „Kinder in die Welt begleiten“ wollen. Nicht alle Situationen lassen sich so leicht lösen wie das Familienkino-Beispiel.

Eingangs habe ich euch davon erzählt, dass mein Mann und ich recht schnell vom Paar zur Familie wurden. Es fehlte uns an einem sicherheitsspendenden Rahmen, und zu unserer Verliebtheit kamen plötzlich so viele Themen hinzu, die uns mehrfach in einer Sackgasse feststecken ließen. Stress im Außen, finanzielle Engpässe, Entwicklungsstolpersteine, Verunsicherungen in der Mutter- oder Vaterrolle schienen manchmal ausweglos und ließen mich an mir und uns als Paar zweifeln. Ich war immer schon sehr bemüht, mit meinen Kindern in einer feinfühligen und verstehenden Haltung zu sprechen. Für sie habe ich eine Form der Großzügigkeit und des Verständnisses, die mir für Erwachsene leider mitunter fehlt.

Kinder beobachten uns in unserem Tun und achten auf unsere Zwischentöne – auch oder vielleicht besonders im Kontakt mit unserem/unserer Partner:in. So viel Liebe und Kraft ich in stürmischen Zeiten im Umgang mit den Kindern freigesetzt habe, fehlte es an dieser für den Partner. Dabei profitieren die Kinder, wenn wir als Elternteam Sicherheit spenden und eine gleichwürdige Sprache nutzen. Diese musste ich erst lernen. Und versteht mich nicht falsch: Es darf Konflikte geben und wir dürfen unterschiedlicher Meinung sein. Und doch ist für die Familie entscheidend, wie wir diese leben.

Und auch, wenn es sich bei diesem Buch nicht um einen Paarratgeber handelt, möchte ich dir ein wunderbares Tool vorstellen, falls du einmal in einer ähnlichen Situation steckst. Es ist so einfach und zugleich so wertvoll, und es beschreibt eine sehr verstehende, zugewandte und wertschätzende Haltung, die dir dabei hilft, mit dem anderen Elternteil aus einer Sackgasse wieder rauszukommen. Am Ende profitiert davon die ganze Familie!

Das Zwiegespräch

Dieses Tool stammt von dem Arzt und Psychoanalytiker Michael Lukas Moeller.53 Es ist ein Gesprächsverfahren, das Paare darin unterstützen kann, Konflikte durch eine tiefe und berührende Ebene der Kommunikation zu bewältigen.

Mit einem besonderen Gesprächsablauf kann das Paar diese Zwiegespräche ohne weitere Unterstützung durchführen. Dies hat eine entlastende Wirkung, denn unausgesprochene und ungelöste Konflikte wirken tagtäglich als Stressor auf die Partnerschaft und dadurch auf das familiäre Miteinander.

Durch das Zwiegespräch werden Bedürfnisse sichtbar und statt auf schnelle Lösungen zu setzen, geht es bei dem Zwiegespräch um Entschleunigung. In den Gesprächsräumen der einzelnen (in unserem Fall) Elternteile wird ausgiebig zugehört. Durch das Zuhören, die Pausen und auch das Schweigen kann jede:r seine eigene Geschwindigkeit entwickeln. „Wir gewinnen durch die Schweigeräume erst die Möglichkeit, innere Vorgänge überhaupt wahrzunehmen und auszusprechen, auch solche, die wir vorher noch nie gedacht haben.“54

Das Zwiegespräch ersetzt keine Paartherapie und benötigt Zeit. Nach meiner Erfahrung ist aber jeder Schritt und jedes Gespräch hilfreich, und es wäre schade, nicht zu beginnen, weil die Sorge vor der Regelmäßigkeit den Start behindert. Ich denke immer lieber in kleinen Schritten, und auch ein gutes Gespräch ist besser als keins.

Kurzanleitung für das Gespräch: Wichtig, dass ihr einen Termin findet, der frei von Störungen ist und möglichst regelmäßig stattfinden kann (alle 7–14 Tage).

Im Zwiegespräch hat jedes Elternteil 15 Minuten Zeit zum Sprechen, und in dieser Zeit hört das andere Elternteil zu. Es ist daher kein Dialog, sondern ein wechselseitiger Monolog. Ihr sprecht also nacheinander, und es ist nicht nötig, dass ihr euch aufeinander bezieht. Es geht vielmehr darum zu erfahren, was jeden bewegt, was ihr fühlt, euch beschäftigt, was euch zufrieden und glücklich stimmt.

Das kann ein Thema aus dem Miteinander sein, aber auch etwas völlig anderes. Es geht um eure Gefühle, Sorgen, Hoffnungen, Wünsche, Bedürfnisse. Es wird im Wechsel gesprochen, also jeweils der/die eine 15 Minuten, und dann das andere Elternteil. Nach der Runde wechselt ihr wieder vom Sprecher zum Zuhörer. Dabei ist eine wichtige Regel, dass ihr einander nicht unterbrecht oder verbal oder nonverbal kommentiert. Die vereinbarte Zeit bleibt für eine Partei vorbehalten, solltet ihr früher fertig sein, wird die verbleibende Zeit geschwiegen. Das sprechende Elternteil spricht immer nur von sich, also in Ich-Botschaften, und teilt mit, was ihn oder sie derzeit beschäftigt. Zu vermeiden ist Kritik am anderen Elternteil, so auch Aufforderungen oder Erwartungen.

Es geht darum, wertschätzend zu bleiben, und im Umkehrschluss beim Zuhören wahrhaftig hinzuhören, ohne Fragen zu stellen (es sei denn, es geht um Verständnisfragen). Als einzige Unterbrechung ist erlaubt, auf eine Regelverletzung, zum Beispiel auf Vorwürfe, aufmerksam zu machen. Die Magie der Gespräche liegt darin, dass Paare meist mehr voneinander erfahren als in gewöhnlichen Gesprächen und einander wieder tiefer verstehen.55

Wie so oft können uns klare Regeln und Abläufe Halt geben. Nutzt diese gerne so, wie sie sind, engen sie euch hingegen ein, so betrachtet sie nicht zu dogmatisch und wandelt sie für euch passend ab. Die Redeeinheiten können beispielswiese zu Beginn verkürzt werden.

Ziel ist, dass ihr euch wohlfühlt, einander annähert und Konflikte klären könnt. Je nachdem, welche Vorbilder man selbst hatte, braucht das Zeit und Übung. Hört mit dem Herzen hin.

 

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