Wir sind alle maßgeblich von unserer eigenen Geschichte und unserer Sozialisation geprägt und wir haben uns innere Bilder geformt, wie wir als Elternteil sein möchten und wie Kinder zu sein haben. In der Regel begleiten wir unsere Kinder beim Aufwachsen, indem wir sehr klare Ziele vor Augen haben. Werte sind uns dabei richtungsweisend, und gleichzeitig kann der Weg, sich seiner eigenen Wertvorstellungen bewusst zu werden, verunsichernd sein. Insbesondere dann, wenn die Wertvorstellungen der Ursprungsfamilie, also das, was als moralisch und gesellschaftlich „richtig“ angesehen wurde, von den eigenen aktuellen Vorstellungen abweichen. Jesper Juul beschreibt unsere heutige Situation im Buch Leitwölfe sein als herausfordernd, da im Gegensatz zu vorigen Generationen Werte heute nicht mehr überwiegend deckungsgleich sind. Früher war klar, was „man“ machte und was nicht. Und diese Überzeugungen galten im familiären wie im außerfamiliären Kontext. Juul schreibt weiter: „Heute gibt es kein ‚man‘ mehr. Darüber können wir natürlich trauern und sagen, dass wir etwas ganz Wichtiges verloren haben. Doch ich denke, dass einige der Wertvorstellungen, die wir und unsere Vorfahren damals hatten, nicht besonders konstruktiv waren. Als Paare, Partner oder Eltern haben wir heute andere Ziele.“67 Hinzu kommt, dass wir in unserer vielfältigen und pluralen Welt nahezu täglich auf unterschiedliche Kulturen, Religionen, Beziehungsformen und Besonderheiten treffen. Es ist nicht mehr möglich, Wertvorstellungen als allgemein verbindlich anzusehen. Dies unterstreicht die Notwendigkeit, sich selbst kritisch zu hinterfragen und Klarheit über die eigenen Werte, also das, was uns wirklich wichtig ist, zu gewinnen. Wir müssen mutiger werden, uns in unserer Rolle als Elternteil zu positionieren und uns entsprechend unserer Werte auszurichten, um in der Strömung des Lebens und dem Sog der vielen Reize und Gefahren im Leben der Kinder Stellung zu beziehen!
Reflexion: Mein Wertekompass
Nimm dir einen Moment Zeit und markiere dir sechs bis acht Werte aus der folgenden Liste. Gehe sie dann noch einmal durch und wäge ab, welchen vier Werten du in den nächsten Wochen und Monaten besonders Beachtung schenken möchtest.
Da sich die Welt in einem ständigen Wandel befindet, verändern sich die Anforderungen an den Menschen immer wieder gravierend. Es ist davon auszugehen, dass es den Kindern von heute im Erwachsenenalter ähnlich gehen wird wie uns jetzt. Auch sie werden sich fragen: Was habe ich mitbekommen und was möchte ich gerne weitergeben? Deshalb bedeutet der Blick zurück und eine neue Ausrichtung an neuen Leitsternen nicht, dass die eigenen Eltern es mit uns falsch gemacht haben – es war anders.
„Ändert sich unsere Umgebung, verändern sich die Individuen darin; sie passen ihr Verhalten an die neuen Herausforderungen an, so gut es geht“, formuliert die Pädagogin Susanne Mierau. Dabei, so schreibt sie, geht es vorrangig um die „Anpassung unseres Lebens und Alltags an die globale Erwärmung, wobei aktuell der Schwerpunkt der Klimaanpassung noch auf Wirtschaft und Infrastruktur liegt und weniger die Art unseres Zusammenlebens in den Blick genommen und der Frage nachgegangen wird, wie sich auch das Familienleben ändern wird, weil sich unsere Umwelt mehr und mehr verändert“69. So konfrontiert uns die derzeitige Begleitung von Kindern mit der unumgänglichen Aufgabe, sie auf diese schnelle, raue und mit Krisen konfrontierte Welt vorzubereiten. Statt sie an Belastungen anzupassen oder sie für diese Krisen abzuhärten oder gänzlich vor diesen abzuschirmen, brauchen sie Leuchttürme oder auch Leitwölfe, wie Juul schreibt, die ihnen zeigen, wie sie bestmöglich mit den Stürmen des Lebens umgehen können. Diese neuen Anforderungen an Eltern, die in Zeiten des Umbruchs selbst um Sicherheit und Orientierung ringen, sind immens. Sie sollen den Kindern den Weg weisen, dabei auf seelische und körperliche Gewalt verzichten und können – mit Blick in den eigenen Handwerkskoffer – häufig gar nicht auf sichere Werkzeuge zurückgreifen. Eine abenteuerliche Reise für uns alle, auf der wir jeden Tag lernen dürfen.
Je nachdem, was sich Eltern für ihre Kinder wünschen und welche Ziele sie verfolgen, richten sie danach ihre Form der Begleitung und Führung aus. Im Folgenden möchte ich dir einige Erziehungsstile skizzieren und dich an dem veränderten Autoritätsbegriffs teilhaben lassen. Selbst beim Schreiben spüre ich, wie ich über die Begriffe „Erziehung“ und „Autorität“ stolpere. Durch Worte werden in uns Assoziationen, Gefühle und Erinnerungen aufgerufen. Diese prägen uns und unsere Haltung.
Beim Begriff Autorität tauchen in mir starre, willkürliche, mit Druck und Schmerz durchgeführte Methoden auf. Ich denke an Menschen, die ihre Macht missbrauchen und dazu einsetzen, das kindliche Verhalten ohne Rücksicht auf Verluste zu formen und Kinder dabei zu brechen. Vielleicht sind für dich hingegen Autoritäten positive Vorbilder? Spüre also gern nach, was die Begriffe bei und in dir auslösen.
Im nächsten Schritt möchte ich diese Bilder in ihrer starren Form abschütteln und neu denken. Die Rollen von Eltern und auch Pädagog:innen im weitesten Sinne haben sich verändert. Die Erwartungen sind umfangreicher und gleichzeitig auch „undefinierter“, so schreibt der Psychologe Haim Omer.70
Wir Erwachsene haben Macht, und es ist an der Zeit, dass wir mit dieser Macht verantwortungsvoll und bedacht umgehen, sie ge- statt missbrauchen. Ohne Führung und Grenzen geht es nicht, das hat bereits Astrid Lindgren im folgenden Zitat so treffend beschrieben: „Diejenigen, die ihre Kinder immer nur tun lassen, was sie wollen, haben den Freiheitsbegriff völlig missverstanden. Es ist geradezu feige, seinen Kindern zu sagen: Macht was ihr wollt.“71 Dies würde in den Bereich der Laisser-faire-Erziehung fallen, in der Kinder sich selbst überlassen werden. Im Folgenden schauen wir uns die verschiedenen möglichen Stile der Begleitung von Kindern genauer an.
Die amerikanische Entwicklungspsychologin Diana Baumrind hat die verschiedenen familiären Erziehungsstile in autoritär, autoritativ und permissiv unterteilt, wobei sie zwischen forderndem und reagierendem Verhalten der Eltern unterscheidet.72 Beim autoritären Stil ist die Haltung gegenüber dem Kind eher streng und auf Kontrolle ausgerichtet, wodurch die Autonomie des Kindes eingeschränkt wird. Belohnungen und Strafen werden eingesetzt, um Gehorsam zu erzwingen. Der Einsatz von Strafen kann die Beziehung langfristig schädigen und eine Spirale der Gegengewalt in Gang setzen. Die Entwicklung von Empathie und kooperativer Konfliktlösung wird beeinträchtigt.73 Kinder werden „gebrochen“, um sie wie ein Puzzleteil in die Anforderungen der Umwelt einzufügen.
Der Begriff „Autorität“ leitet sich vom lateinischen Wort „auctoritas“ ab und bezieht sich auf eine übergeordnete soziale Position einer Person, die in der Lage ist, Einfluss auf andere auszuüben. Die Herleitung des Wortes zeigt deutlich, dass eine Autorität ihre Macht nicht wie im autoritären Erziehungsstil nutzt, um eigene Ziele zu erreichen. Jesper Juul und Haim Omer nutzen die Beschreibung der persönlichen beziehungsweise neuen Autorität, um einen veränderten Blick auf die Begleitung von Kindern zu beschreiben.74 Gemeint ist eine verlässliche, klare und mutige Begleitung durch Eltern, die Merkmale der alten Autorität wie Distanz, Kontrolle, Gehorsam, Hierarchie, Kritikimmunität und Bestrafung durch neue Anker ersetzt. In der neuen Autorität wird auf Präsenz, Selbstkontrolle, Beharrlichkeit und Vernetzung gesetzt. Haim Omer beschreibt, wie schwierig es für Eltern geworden ist, angesichts der gestiegenen Erwartungen an Elternschaft bei gleichzeitig schwindenden Handlungsoptionen zurechtzukommen. „Manche Dinge, die sie einst tun konnten, um auf das Kind einzuwirken, sind heute verpönt, wenn nicht sogar gesetzeswidrig.“75 Und auch wenn – wie bereits mehrfach betont – strafendes und verletzendes Vorgehen schädlich ist, empfinde ich es dennoch als notwendig, die derzeit spürbare Verunsicherung anzuerkennen und ernst zu nehmen. Es geht dabei nicht nur um das Gefühl der „Handlungslosigkeit“, sondern auch um den kritischen Blick anderer, um Verunsicherung und den großen Wunsch, es gleichzeitig besser zu machen. Dabei geht es Eltern ähnlich wie Kindern: Sie sind vielen Reizen ausgesetzt und stehen einer riesigen Angebotsvielfalt gegenüber. Vergleichen wir diese Realität mit der früherer Zeiten, erscheint sie geradezu surreal. Es braucht also mehr denn je mutige Erwachsene, die sich in die Strömung begeben und Präsenz leben. Damit zeigen wir, dass wir da sind und auch dableiben!76 Egal, wie herausfordernd es ist.
Neben dem autoritären Stil beschreibt Diana Baumrind noch den autoritativen Stil. Hier wird eine Balance zwischen forderndem und reagierendem Verhalten angestrebt. Die Eltern verbinden fürsorgliche Wärme mit klaren Vorgaben und ausgehandelten Regeln. Sie erkennen die Autonomiebestrebungen der Kinder an, fördern Disziplin und Selbstständigkeit und sehen ihre Kinder als individuelle Persönlichkeiten. Im Unterschied dazu zeichnet sich der permissive Stil durch ein hohes Maß an Responsivität der Eltern aus, was so viel bedeutet wie das Eingehen auf die kindlichen Signale bei gleichzeitig geringen Anforderungen an das Kind. Diese Eltern üben weder Kontrolle noch Macht aus, verzichten auf Strafen und Regeln und bieten den Kindern viel Raum zur Selbstregulation.77
Der Facharzt und Kinderpsychotherapeut Rüdiger Posth hingegen betont, wie wichtig es für Kinder sei, ihnen im Sinne der Selbstentfaltung ein „gemeinschaftskonformes Regelwerk“ bereitzustellen sowie das „stille Vorbild der Erwachsenen, mit denen sich das Kind identifizieren kann“78. In seinem Buch Gewaltfrei durch Erziehung nennt er diese Form der Begleitung das Konzept der bindungsbasierten frühkindlichen Erziehung. Hierbei liegt der Fokus auf der Bindungsebene, und die Führung zielt auf langfristige Verhaltensziele ab, im Gegensatz zur klassischen pädagogischen Erziehung, die eher belehrend geprägt ist und auf kurzfristige Verhaltensänderungen abzielt.
Die bedürfnisorientierte Begleitung lässt sich vermutlich am ehesten mit dem autoritativen und bindungsbasierten Stil beschreiben. Ihre Grundgedanken habe ich dir schon am Anfang dieses Buches beschrieben. Der bedürfnisorientierte Ansatz verknüpft viele Einflüsse und Erkenntnisse aus der Bindungsforschung, der Achtsamkeitslehre, der Resilienzforschung, der Neurowissenschaft, der Kommunikation nach Friedemann Schulz von Thun und Marshall Rosenberg und beispielsweise den Kinderrechten. Lange Zeit hielt sich der Mythos, dass bei diesem Ansatz allein die Bedürfnisse der Kinder Erfüllung finden sollen, was zur Folge haben kann, dass die fürsorgenden Bindungspersonen ausbrennen, weil sie sich permanent zurücknehmen. Hier lag ein Missverständnis vor: Es ist wichtig, Kinder feinfühlig, tröstend und sicherheitsspendend zur Seite zu stehen, aber nicht immer und allein. Auch Eltern sollten – wie in den vorigen Kapiteln bereits gezeigt – feinfühlig mit sich sein und nicht erst um Hilfe rufen, wenn die Luft schon viel zu dünn ist.
Hast du dich einmal bewusst gefragt, welche Form der Begleitung du im Umgang mit deinem Kind leben möchtest? Folgende Überlegungen können dich dabei begleiten.
Reflexion: Unser Zusammenleben als Familie
Du kannst dich bewusst fragen:
Schau gern noch einmal zurück zur Wertetabelle.
Euer Weg ist einzigartig und sicherlich völlig anders als der deiner Freundin oder deines Kollegen. Wichtig ist, dass es dem Kind und euch als Familie auf eurem ganz individuellen Weg gut geht. Und vermutlich hast du beim Lesen dieses Buches Momente, in denen du dich innerlich abgeholt fühlst, und andere, in denen du Ideen als unstimmig empfindest. Und ganz egal, welchen Namen du deiner Form der Führung, Begleitung oder Erziehung deiner Kinder gibst, entscheidend ist nur, dass der Wert der Gewaltfreiheit nicht verhandelbar ist. Jegliche Gewalt in Form von seelischen und körperlichen Verletzungen an Kindern ist ein klarer Indikator dafür, dass der Weg noch nicht in die richtige Richtung verläuft.
Ich selbst lese viele Bücher, tausche mich mit Freund:innen und vielen Menschen aus dem „beziehungsorientierten Kreis“ aus und habe manchmal Momente, in denen mich ein Gefühl des Unwohlseins oder der Ablehnung überkommt und mich nachdenklich stimmt. Einige Ratgeber enthalten Aspekte, die ich kritisch sehen und nicht übernehmen würde. Und vermutlich hätten viele Eltern das altbekannte und mittlerweile zum Glück weitestgehend abgelehnte Schlaftraining mit ihren Kindern lieber nicht durchgeführt! In Momenten der Überforderung und Erschöpfung sehnen wir Menschen uns jedoch nach Orientierung und Sicherheit und sind bereit, Tipps und Empfehlungen von anderen auszuprobieren. Das ist absolut verständlich, und gleichzeitig ist es wichtig, dass diese Ideen zu deiner Haltung und deinen Werten passen. Ist dem nicht so, spüre dem unbedingt nach und entscheide, was wirklich zu euch und eurer Familie passt. Nur weil ein bestimmtes Einschlafritual oder eine Strategie bei der Begleitung von Gefühlsstürmen bei deiner Freundin gut gelingt, muss das noch lange nicht für euch gelten.
Sieh die große Auswahl an Erziehungsratgebern wie ein reichhaltiges Buffet und entschiede situativ, von welchen Speisen du probieren magst. Einige wirst du noch mal probieren und vielleicht auch regelmäßiger essen, andere bereiten dir Bauchschmerzen, oder du isst sie nur ganz selten, weil du weißt, dass sie der Beziehung eigentlich nicht guttun. So wie das Schimpfen und Drohen: Es tut nicht gut und passiert dennoch manchmal. Und manchmal hilft wiederum die Tiefkühlpizza oder der Schokopudding, um die Nerven zu bewahren. Besonders wenn die Tage länger sind, als die Kraft reicht. Bei uns gibt es sehr viel Pizza! Wie sagt die Journalistin für bindungsorientierte Elternschaft Nora Imlau so gern: Es ist moralisch neutral.
Schau also gern, was zu dir passt, und wähle bewusst. Häufig wählen Elternteile auch verschiedene Dinge vom Buffet und haben unterschiedliche Erziehungsvorstellungen. Und in der Regel entwickeln wir uns weiter und nähern uns im Laufe der Zeit einander an. Auch ich bin nun eine andere Mutter, als ich es zur Geburt meines ersten Kindes vor vierzehn Jahren war. Nicht besser, nicht schlechter, sondern anders.
Gern erinnere ich mich an die „Marker“ meines eigenen Wachstums, etwa als ich vor ungefähr vierzehn Jahren bei einer Wohnungsbesichtigung überrascht und irritiert gewesen bin, als ich das Kinderbett des Vierjährigen im Elternschlafzimmer sah. Heute ist es für mich das Normalste der Welt, wenn Kinder so lange bei den Eltern schlafen, wie die Familie es als stimmig empfindet. Mein Denken und Fühlen haben sich mit der Zeit sehr verändert, und ich bin mit Sicherheit für mein erstgeborenes Kind eine andere Mutter als für mein zuletzt geborenes.
Orientieren wir uns doch an dem, was die Kinder – und auch wir – brauchen, und richten unsere Begleitung an ihren Zielen und Werten aus. Diverse Studien belegen einen klaren Zusammenhang zwischen dem Erziehungsstil und der Entwicklung von Kindern. Förderlich ist eine positive Eltern-Kind-Beziehung, die sich durch eine sichere Bindung und hohe Wertschätzung auszeichnet und in der das Kind Orientierung durch Regeln und Grenzen erfährt. Zu familiären Schutzfaktoren gegenüber antisozialem Verhalten zählen außerdem haltgebende Abläufe, Struktur und Rituale.79
Statt … | Versuche … |
Kontrolle & Gehorsam | Gleichwürdige Führung & Selbstkontrolle |
Starre Grenzsetzung | Haltgebende Grenzen |
Machtmissbrauch | Machtgebrauch |
Distanz | Präsenz & Authentizität |
Gefühls- & Impulsunterdrückung | Co-Regulation |
Bewertungen | Beobachtung & Anerkennung |
Hierarchie | Klarheit & Beharrlichkeit |
Gegeneinander & Kampf | Miteinander & Zugewandtheit |
Verhalten als Provokation | Verhalten als Strategie der Bedürfniserfüllung |
Auch in meiner Umfrage wollte ich von den Eltern wissen, wie sie ihre Kinder begleiten, auf welche Momente sie stolz sind und wann sie sich in ihrer Elternrolle richtig wohlfühlen. Ein Großteil der befragten Eltern gab an, ihre Kinder mit viel Fürsorge und Wärme zu begleiten und bewusst zu versuchen, auf Strafen, Drohungen und auch Belohnungen zu verzichten.80 Deutlich spürbar war der Wunsch der Eltern, ihr Bestes zu geben und alles richtig zu machen, einige formulierten dabei auch Zweifel und Unsicherheiten. Ein Elternteil berichtet: „Ich versuche, die Kinder auf Augenhöhe zu begleiten, aber übe in manchen Bereichen Kontrolle aus (Medien, Körperpflege, Hausaufgaben). Es fühlt sich nicht immer gut an (vor allem das: wie ich Dinge durchsetze).“ Auf meine Frage „Gibt es Verhaltensweisen in der Begleitung, auf die du besonders stolz bist?“ erhielt ich sehr viele ehrliche und berührende Zuschriften, die ich deshalb mit dir teilen möchte, weil ich es für so wichtig halte, dass wir uns Folgendes immer wieder bewusst machen: Wir gewichten oft die weniger gelungenen Momente mehr und übersehen dabei die vielen Glitzersteine, also all das, was uns schon richtig gut gelingt. Ich meine, wir sollten unser Licht öfter auf diese Situationen lenken. Alle unsere Anstrengungen lohnen sich, das hat ein Elternteil mit diesen Worten beschrieben: „Wenn ich merke, dass all meine Bemühungen der letzten Jahre langsam Wirkung zeigen. Wenn mein Kind es durch all meine Co-Regulation der letzten Jahre schafft, zu formulieren, an was es fehlt. Dann schwinden all die Zweifel, und ich merke, dass ich es doch ganz gut hinbekommen habe die letzten Jahre.“ Ein anderes Elternteil berichtet, dass es sich in seiner Rolle wohlfühlt, wenn „[…] ich die Bedürfnisse meines Kindes erkennen und stillen kann, wenn ich Gefühle ‚übersetze‘, wenn wir zusammen lachen und spielen, wenn ich stolz auf mein Kind bin“. Und wieder ein anderer Vater/eine Mutter schreibt: „Meine Kinder dürfen weinen und traurig sein, ich lenke sie nicht ab, ich halte sie.“ Hier ist so viel liebevolle Zuwendung zu den Bedürfnissen der Kinder zu spüren, so viel Offenheit gegenüber ihren Gefühlen, davon kannst bestimmt auch du berichten. Und wäre es nicht schön, wenn wir uns an diese Momente regelmäßig erinnern? Warum notieren wir diese Gedanken nicht auf einem Zettel und kleben ihn an unseren Badezimmerspiegel?
Lass uns das Unsichtbare sichtbar machen. Mach dir bewusst, was du alles in vielen unzähligen Momenten tust. Trösten, Gefühlen Raum geben, sie übersetzen, co-regulieren – diese intensive Arbeit verdient es, gesehen zu werden. Jeden Tag sind es die feinen Zwischenräume, nahezu unsichtbar, die wir füllen und die die Qualität unserer Beziehung ausmachen. Diese Millisekunden, in denen wir dem Reiz – sei es beim Geschwisterstreit, dem Gefühlssturm in der Kita-Garderobe oder dem Betteln um mehr Medienzeit – standhalten. Und nicht kopflos reagieren, sondern uns in Selbstregulation üben, obwohl wir erschöpft sind von all unseren To-dos. Gelingt es uns nicht, klopfen Gefühle wie Schuld und Scham bei uns an, die uns zur Reflexion anregen und uns auffordern, nach dem Konflikt wieder eine Verbindung zu unserem Kind herzustellen. All das ist nahezu nicht sichtbar, füllt keinen Einkaufswagen und bringt uns keine Medaille ein, dabei ist es genau das, was so viel Kraft kostet und die Bindung zwischen dir und deinem Kind stärkt. Es sind diese Millisekunden, in denen dein Kind sein Selbstbild nach deiner Reaktion ausrichtet. Es sind diese Momente, in denen dein Kind nach einem Konflikt wieder in Sicherheit spielen kann, während du noch darüber nachdenkst, was gerade passiert ist und wie du hättest anders reagieren können. Diese innere Kraft, die du aufbringst, um in dich zu hören, diese Anstrengung, nicht in die eigenen Fallen zu tappen und Muster zu wiederholen. Bitte lass all diese unfassbar wertvollen Momente sichtbar werden und sei stolz auf jeden einzelnen. Es dürfen Brüche entstehen, Konflikte gelebt werden, es darf laut und leise sein. All das ist okay, und all das macht euch aus. Und all das braucht es für eure Entwicklung. Und es braucht Anerkennung und Wertschätzung! Denn diese Arbeit ist so essentiell und wichtig.
Ich möchte dir Halt schenken und dir sagen, dass du auf dem völlig richtigen Weg bist, denn es ist euer Weg, und er geht in eine bestimmte Richtung. Versuche, die kritischen Blicke von außen, die strengen Stimmen von innen leiser zu drehen und konzentriere dich auf euch. Sei mutig zu handeln und nimm dir vom Buffet all das, was dir guttut. Das darf heute etwas anderes sein als morgen, und etwas anderes als dein:e Partner:in wählt.