6. Einfache Wege aus
Hilflosigkeit und
Überforderung:
Tools für deinen Alltag

In diesem abschließenden Kapitel habe ich für euch praktische Tools und Anregungen zum Ausprobieren im Alltag gesammelt. Einige dieser Tools haben wir bereits im Buch kennengelernt, andere stelle ich hier in Kürze vor. Es sind kleine praktische Helfer, die dich dabei unterstützen, für einen Moment aus der Spirale des Alltags auszusteigen, den inneren Druck und die gesellschaftlichen Begrenzungen hinter dir zu lassen und eine zugewandte Haltung einzunehmen, ein Ja zu uns und unserem Kind!

Die Glaskaraffeimage

Setze dich mit einer Kanne Wasser und einem Glas zu deinem Kind, während es spielt. Trinke das Wasser in Ruhe Glas für Glas aus. Sei ohne Ablenkungen, zum Beispiel durch das Handy. Nimm den Moment wahr und übe dich im „Mit-Sein“, in Präsenz. Vielleicht wird sich dein Kind dir zuwenden und fragen: „Was machst du da?“ Eine Antwort könnte sein: „Ich interessiere mich für das, was du tust. Ich bin gern bei dir.“ Vielleicht folgt darauf eine Spieleinladung, vielleicht genießt dein Kind auch einfach nur den Moment. Die Botschaft, die diese Situation trägt, ist ein Interesse für das Gegenüber, frei von Erwartungen, Aufgaben, Inhalten. Häufig werden wir aufmerksam, weil uns ein Verhalten irritiert oder weil wir dazu aufgefordert werden. Teilen wir hingegen unaufgefordert unsere Aufmerksamkeit, schenken wir Anerkennung, Wertschätzung und Zeit, ohne dass das Kind aus einem Mangel heraus beginnt, darum zu kämpfen. Folgen wir den Kindern in ihrem Tun, sind sie ebenso interessiert, unserem Tun zu folgen. Diese kleinen Einheiten können bewusst und nach eigenem Ermessen in den Alltag integriert werden, dann, wann es sich für euch passend anfühlt. Aus einem: „Ich muss noch die Wäsche aufhängen!“ kann werden: „Ich trinke eine kleine Flasche Wasser bei dir, und danach hänge ich die Wäsche auf.“ Und wer weiß, vielleicht macht ihr das im Anschluss zusammen.

Die Eieruhrimage

Bestimmt kennst auch du diese Situation: Du hast den Kopf randvoll und noch viel zu erledigen, und dein Kind bittet dich, mit ihm (je nach Alter) zu spielen. Du möchtest dir gerne die Zeit nehmen, deine innere Unruhe lässt es aber nicht zu. An dieser Stelle kann eine Eieruhr unterstützend sein. Teile deinem Kind mit, was gerade in dir vorgeht, und fühle dich ein. Vielleicht sagst du etwas wie: „Ich bin angespannt, da ich noch die Wäsche aufhängen und das Abendessen vorbereiten möchte. Ich sehe, dass du auch gern mit mir das Spiel spielen magst. Ich habe eine Idee!“ Nun kommt die Eieruhr ins Spiel. „Ich hole die Eieruhr und komme zu dir. Gemeinsam stellen wir die Zeit und ich bin bei dir, bis es klingelt, und erledige dann die Dinge.“

 Für Kinder (eigentlich für alle Menschen) ist es ein Geschenk der Wertschätzung, wenn wir unsere Zeit teilen, ohne zu vermitteln, dass es eine Last sei. Die Eieruhr kann uns dabei helfen, zu einer begrenzten Zeitspanne „Ja“ zu sagen, und lässt das Kind an unserem Innenleben teilhaben. Wichtig ist, dass wir nur Ja sagen, wenn wir auch Ja meinen. Achte dabei darauf, ob du deine Bedürfnisse aufschieben kannst. Manchmal sind sie so dringend und das eigene Stressfass schon so voll, dass wir zu etwas Ja sagen und eigentlich Nein meinen. Fühl in dich, ob du sie aufschieben kannst und dazu bereit bist. Das Kind kann uns diese Entscheidung nicht abnehmen und ist darauf angewiesen, dass wir für uns verantwortlich handeln. Und vermutlich wird es frustriert sein, wenn wir es vertrösten. Es beobachtet aber auch, dass wir Bedürfnisse entsprechend ihrer Dringlichkeit abwägen und bewusste Entscheidungen fällen. „Ich merke, dass ich erst unbesorgt spielen kann, wenn ich die Wäsche fertig habe. Ich hänge sie auf und komme dann gleich zu dir. Wenn du bei mir sein magst, komm doch mit und wir spielen dabei ‚Ich sehe was, was du nicht siehst‘. “

Die rosarote Brilleimage

Wenn du manchmal das Gefühl hast, in einer Sackgasse festzustecken und das Kind in einem negativen Licht siehst, möchte ich dich dazu ermutigen, die „rosarote Brille“ aufzusetzen. Schau durch diese Brille und notiere all die positiven Aspekte, die dir zu deinem Kind einfallen. Denk an es wie an eine warme Dusche mit glitzerndem Duschgel. Plötzlich wirst du vielleicht sehen: Ellas Freundin ist gerade umgezogen, und sie zeigt ihre Gefühle. Seit Kurzem schläft sie allein ein. Ihr Lachen bringt die Sonne zum Strahlen, und sie hat ein unglaublich freundliches Gemüt.

Sicherlich gibt es viele Dinge, die dein Kind ausmachen. Durch die rosarote Brille betrachtet, wird es einfacher, herausforderndes Verhalten zu verstehen und das Kind zu unterstützen. Schließlich streben wir alle danach, gesehen und geschätzt zu werden. Lenke also deinen Blick bewusst auf die Dinge, die dein Kind gerade meistern muss, und vermeide Vergleiche mit anderen Kindern. Das ist für das Kind ähnlich unangenehm wie für uns, wenn wir mit dem/der Ex verglichen werden, der/die viel besser kochen konnte.

Selbstregulation vor Co-Regulationimage

Alles beginnt immer bei uns. Möchtest du dein Kind in seinen Gefühlen begleiten, brauchst du Gelassenheit. Auch dies möchte ich noch einmal in Kürze zusammenfassen:

 

 

Bleibe achtsam: Mit diesen Schritten kannst du Überreaktionen verhindern oder rechtzeitig stoppen, um ruhig und besonnen zu handeln.

Weniger ist mehrimage

Das Internet und die sozialen Medien sind randvoll mit den ultimativen Tipps für die perfekte kindliche Entwicklung, von Bastel- bis Rezeptideen, vegan und bio. Das schlechte Gewissen läuft da gern mal auf Hochtouren. Natürlich ist es toll, wenn die Kinder ausgestochene Herzbrote mit selbst gemachtem Aufstrich bekommen und ein selbst genähtes Faschingskostüm tragen. Toll, aber nicht notwendig, und für unsere Kinder (in der Regel) auch absolut nicht wichtig. Was ihnen vielmehr in Erinnerung bleiben wird, ist die Atmosphäre, unser Miteinander. Frage dich also ganz bewusst: Was ist dir wichtig? Was ist für dein Kind und deinem Kind wichtig? Was kannst du davon umsetzen, ohne dass du drohst zu erschöpfen? Entscheide abhängig von deinen Ressourcen und Schwerpunkten, was du leisten kannst und willst und was nicht. Ist dir die Ernährung wichtig, dann kochst du vielleicht am Abend vor und machst Abstriche beim Kostüm und bestellst das online. Aber auch Tiefkühlpizza statt Bio-Lasagne, das Kostüm vom letzten Jahr und ein Hörspiel statt dem Buch am Abend, verbunden mit einer festen Umarmung, sind wohltuend. Oft ist weniger auch einfach mehr, dafür bewusst und verantwortungsvoll abgewogen. Und ein Nein zu etwas, ist gleichzeitig ein Ja zu etwas anderem.

Affirmationenimage

Unsere Gedanken haben einen großen Einfluss auf unsere Art zu handeln. Affirmationen können hier sehr viel bewirken. Das sind bestärkende Sätze, die dabei helfen, positive Gedanken zu fördern und negative innere Sätze und Zweifel zu reduzieren bzw. zu verwandeln. Es braucht viele Wiederholungen und etwas Zeit, die Sätze können aber unsere innere Haltung stark verändern. Ich selbst arbeite seit Jahren mit Affirmationen, und sie sind eines meiner Lieblingstools.

 Spüre in herausfordernden Momenten, welche inneren Stimmen in dir auftauchen, schreibe dir diese auf und verwandle sie in für dich förderliche, positive Stimmen. Meine hilfreichste Affirmation nutze ich, wenn ich das Verhalten eines Menschen nicht verstehe und spüre, wie ich aus Unverständnis ärgerlich werde. Ich kann den Sturm richtig toben lassen und schimpfen und verurteilend sein, das bringt mich hingegen selten weiter. Dann denke ich gerne: „Der Mensch kämpft nicht gegen mich, sondern für sich. Er/sie versucht mit dem Verhalten, ein Bedürfnis zu erfüllen.“

 Und du weißt ja, Kinder brauchen keine perfekten Eltern, sondern Menschen, die sich ihrer selbst bewusst sind. Statt „Immer arbeite ich, ich habe nie Zeit!“, sage dir doch mal: „Am Wochenende spielen wir zusammen und ich mag meine Arbeit gern!“ Es geht viel mehr Gleichzeitigkeit, als wir denken.

Gläsermethodeimage

Wenn du deine Zeit und Energie besser einteilen möchtest, kannst du dies visuell mit Gläsern darstellen: Stelle transparente Gläser nebeneinander auf und beschrifte sie mit den Bereichen, für die du täglich Zeit und Energie benötigst. Dann nimm eine Flasche mit etwa 500 Milliliter Flüssigkeit, die deine Tageszeit oder Energie darstellen soll. Gieße diese Flüssigkeit in die Gläser, um zu visualisieren, wie viel Zeit und Energie du jedem Bereich widmen möchtest. Spiele mit der Verteilung, bis sie für dich stimmig ist. Dieses einfache Tool hilft dir, deine Prioritäten zu setzen und sicherzustellen, dass du genug Zeit für die Dinge hast, die dir wichtig sind, ohne dich zu überfordern.

Die Zeit zurückdrehenimage

Es gibt Situationen, in denen intensive Gefühle uns in einen Wirbelsturm verwandeln. Werden sich Kinder dessen bewusst, überkommt sie manchmal zusätzlich ein Gefühl der Scham, und sie kämpfen um ihre Würde. Mit dem Tool „Zeit zurückdrehen“ kann dein Kind einen Ausweg üben. Entstanden ist die Idee, als ich selbst einmal erschöpft von der Arbeit nach Hause kam. Die Stimmung war ausgelassen und entspannt. Ich hingegen begann zu meckern, weil irgendetwas im Weg lag. Ich machte aus jeder Mücke einen Elefanten. Als ich dies bemerkte, drückte ich bewusst auf die Stopp-Taste, blickte mein Kind an und sagte: „Bitte warte kurz! Ich probiere es noch mal anders.“ Ich ging noch einmal zur Tür hinaus und schloss ähnlich wie im Theater die Tür erneut auf. Ich atmete tief ein und aus und sagte: „Uff, ich bin ganz schön erschöpft. Ich koche mir erst mal einen Tee und komme an. Dann setze ich mich zu euch.“

 Mit dem Tool können wir drei Schritte zurückgehen, eine Situation neu betrachten und eine kopflose Handlung in einer konstruktive verwandeln. Durch diese Übung verstärken sich Verbindungen im Gehirn langfristig, und es entwickeln sich neue Verhaltensstrategien. Als mein Kind einmal einen Gefühlssturm erlebte, fragte ich dieses: „Wollen wir die Zeit zurückdrehen?“, und es probierte es aus, ganz ohne Scham und mit dem Bewusstsein, dass wir alle hin und wieder von unseren Gefühlen überwältigt werden.

Der Eisbergimage

Dies lässt mich auch zu meinem nächsten Tool überleiten, eines, was ich gefühlt immer in meiner Hostentasche bei mir trage. Immer dann, wenn ich ein Verhalten nicht verstehe, denke ich an den Eisberg und wie wichtig es ist, nicht nur das sichtbare Verhalten (die Eisbergspitze) zu betrachten, sondern auch unter die Wasseroberfläche zu blicken. Denn auch wenn das Verhalten unsere Aufmerksamkeit anzieht und uns auffordert, darauf zu reagieren, wissen wir, dass sich das Eigentliche unter der Wasseroberfläche verbirgt. Möchten wir ein Verhalten also verstehen und andere Strategien anbieten, müssen wir das Unsichtbare sichtbar werden lassen und die Gefühle und Bedürfnisse des Kindes übersetzen. Zum Beispiel: Ein Kind schubst ein anderes, weil es sich nach Kontakt und Spiel sehnt. Unterstützen kann dich bei dieser „Übersetzungsarbeit“ dein Einfühlungsvermögen und das Ja-Mantra.

Das Ja-Mantraimage

Um gemeinsam mit deinem Kind herauszufinden, was es braucht, kann dir die „Empathie-Schleife“ helfen, auch als „Ja-Mantra“ bekannt. In dieser Schleife gibst du deinem Kind Beispiele für Bedürfnisse, bis es versteht, was gerade mit ihm los ist. Besonders junge Kinder benötigen Zeit, bis sie Worte für ihre Gefühle und Bedürfnisse finden. Die Empathie-Schleife funktioniert so: Du formulierst Gefühle und Bedürfnisse, die dein Kind oder du selbst haben könnten. Dein Kind antwortet mit „Ja“ oder „Nein“. Je mehr Empathie du zeigst, desto mehr wird es zustimmen können und sich entspannen.

 Manchmal sind mehrere Schleifen der Empathie notwendig, bis dein Kind sich verstanden und akzeptiert fühlt. Dabei bewegt sich die Schleife zwischen den Gefühlsausbrüchen des Kindes und der verbalen Anerkennung seiner Gefühle und Bedürfnisse durch dich. Bedürfnisse „schreien“ so lange, bis sie gesehen werden und zur Ruhe kommen. Zum Beispiel drückt Wut das Bedürfnis nach Akzeptanz, Wertschätzung und Verbindung aus. Es geht darum, alles – auch die Wut – anzuerkennen und angenommen zu werden.100

Ja-Umgebung & Zeitimage

Kinder sind oft mit vielen Regeln und Einschränkungen konfrontiert. Um ihre Autonomie und ihr Selbstbewusstsein zu fördern, ist es hilfreich, Zeit einzuplanen und eine Umgebung zu schaffen, in der sie sich frei entwickeln und sein können. Prüfe, ob es ausreichend Situationen im Tagesgeschehen gibt, in denen dein Kind selbstständig Entscheidungen treffen kann, beispielsweise über Aktivitäten, den Speiseplan und Tagesstrukturen. Stelle sicher, dass die Umgebung entsprechend des Alters und der Entwicklung deines Kindes einladend und positiv ist. Es ist natürlich wichtig, Kinder vor Gefahren zu schützen, aber wenn sie ständig mit „Nein!“, „Achtung!“ oder „Lass das!“ konfrontiert werden, kann das zu unnötigen Einschränkungen und Frustrationen führen, und das Kind kann seinen Entdeckergeist nicht entfalten. Biete Alternativen: Statt sofort „Nein“ zu sagen, versuche, deinem Kind Alternativen aufzuzeigen. Indem du regelmäßige „Ja-Einheiten“ einbaust, stärkst du das Selbstvertrauen und die Unabhängigkeit deines Kindes, was ihm bei der gesunden Entwicklung hilft und dir auch jede Menge Stress nimmt. So ein „Ja-Nachmittag“ kann recht lustig sein. Wir haben das letzte Mal Marshmallows auf dem Herd gegrillt und dann im Wohnzimmer gepicknickt.

Das Handmodell zur Selbstregulationimage

Mit dem Handmodell von Daniel Siegel kannst du die Selbstregulation von Kindern sowie auch deine eigene verstehen. Stelle dir eine geschlossene Faust vor, in der die Fingerspitzen sichtbar sind. Dies repräsentiert ein entspanntes Gehirn, in dem beide Gehirnhälften integriert arbeiten. In stressigen Momenten kann es zur Übererregung kommen. Dann klappen die Finger nach oben, die Amygdala übernimmt die Kontrolle. Das Kind kann sein Verhalten nicht mehr planen und reagiert impulsiv. Verstehen wir dieses Modell, können wir Kinder besser begleiten und darin unterstützen, ihre Gefühle zu regulieren, während ihr Gehirn sich entwickelt.