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I. Tod und Gedenken im frühen Christentum

Der »Schatz im Himmel«

Wenn lateinische Christen der Spätantike an Spenden oder Stiftungen zu religiösen Zwecken dachten, dann kamen ihnen dabei – als erste Grundlage ihres Weltbildes – die Worte Jesu in den Sinn. Insbesondere seine an einen »reichen Jüngling« gerichteten Worte enthielten bereits die ganze Idee einer Übertragung irdischer »Schätze« in den Himmel: »Jesus sprach zu ihm: ›Wenn du vollkommen sein willst, so geh hin, verkaufe deine Habe und gib den Erlös den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben.‹«1 Und auch seine Jünger forderte Jesus auf: »Verkauft, was ihr habt, und gebt Almosen. Macht euch Geldbeutel, die nicht altern, einen Schatz, der niemals abnimmt, im Himmel, wo sich kein Dieb naht, und den keine Motten fressen.«2

Dieselbe Vorstellung war auch im Judentum verbreitet. Im Jerusalemer Talmud aus dem späten 4. Jahrhundert findet sich eine Geschichte über Monobazos, den jüdischen König von Adiabene am Euphrates. Von ihm hieß es, er habe sein ganzes Vermögen ausgegeben, um Brot für die Armen von Jerusalem zu kaufen. Seine Verwandten waren außer sich vor Wut und warfen Monobazos vor, er mache seinem Namen – der von dem Wort bazaz, »plündern, rauben«, abgeleitet war – zweifelhafte Ehre: Monobazos plündere den gesamten irdischen Besitz seiner Familie! Der König antwortete ausführlich: »Meine Väter haben Schätze für die untere Welt gesammelt, ich aber für die obere. Sie haben Schätze angehäuft an einem Ort, wo Menschenhände sich daran vergreifen können; ich jedoch dort, wo keines Menschen Hand darüber Macht gewinnen kann. [...] Meine Väter haben Schätze für andere gesammelt, ich aber für mich selbst. [Denn] meine Väter haben Schätze zum Gebrauch in dieser Welt gehortet, ich aber für die Welt, die kommt.«3

Das wiederholte Gebot Jesu sowie die Geschichte vom König Monobazos ermahnten zu (beziehungsweise berichteten von) geradezu heldenhafter Entsagung und Großzügigkeit. Bis in das 3. Jahrhundert n. Chr. war die Geste des Gebens allerdings »miniaturisiert« worden, sowohl im Judentum als auch im Christentum. Man musste nun keine heroische Selbstaufopferung oder radikale Nächstenliebe mehr demonstrieren, um sich einen Schatz im Himmel zu erwerben: Kleine Gaben reichten auch. Aber die Vorstellung einer »Überweisung« irdischer Schätze in den Himmel durch barmherzige Taten behielt doch ihren jenseitigen Glanz. Cyprian beispielsweise behandelte den beständigen Zufluss kleiner Almosen an die Armen als eine Art von »Thesaurierung« himmlischen Kapitals, die es durchaus mit einem Verzicht auf jeglichen Reichtum aufnehmen konnte, wie Jesus ihn dem reichen Jüngling nahegelegt hatte.4

In christlichen Kreisen beeinflusste die Vorstellung von einem durch Almosengeben erworbenen »Schatz im Himmel« auch die Wahrnehmung anderer Jesusworte. Beispielsweise hatte er ja auch das Gleichnis vom ungerechten Verwalter erzählt. Dieser Verwalter hatte sich durch sein nicht ganz lupenreines Finanzgebaren Freunde verschafft, sodass diejenigen, die ihm Dank schuldeten, ihn in ihre Häuser aufnähmen, sobald ihn sein jetziger Herr entlassen haben würde. Jesus beschließt seine Erzählung mit den Worten: »Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, damit, wenn er zu Ende geht, sie euch aufnehmen in die ewigen Hütten.«5 Die Christen jener Zeit fassten das so auf, dass diejenigen, denen die Gläubigen Geld spendeten (egal, ob es sich bei den Empfängern nun um Heilige, Kleriker oder Arme handelte), die edlen Spender dereinst in ihre eigenen »Hütten« im Himmel aufnehmen würden. Ja, die Gläubigen würden sich von den Mitteln, die sie durch irdische Wohltaten in den Himmel transferiert hatten, sogar ihre eigenen himmlischen Wohnungen errichten können – und zwar nicht nur Hütten, sondern Paläste! Offenbar stand der Himmel nicht nur voller Schatzhäuser, sondern bot auch Bauplätze in bester Lage, auf denen stets emsiger Betrieb herrschte. Und finanziert wurde das alles durch gute Taten hier auf Erden, für die wiederum ganz profanes, ordinäres Geld vonnöten war.

Diese ganze Vorstellung wird in einer köstlichen kleinen Geschichte aus den Dialogen Gregors des Großen auf den Punkt gebracht, die im Jahr 594 entstanden sind:

Es war einmal ein frommer Schuhmacher, Deusdedit mit Namen, der lebte in Rom (wie Gregor uns erzählt). Jeden Samstag ging er mit einem Teil seiner Wocheneinnahmen auf den Platz vor dem Schrein des heiligen Petrus und gab den Armen, die sich dort versammelten, Almosen. Das Resultat dieser Mildtätigkeit des Schusters wurde einem anderen Frommen in einer Vision offenbart. In dieser Vision erschien ein Haus, das im Himmel gebaut wurde. Doch gearbeitet wurde nur am Samstag, denn Samstag war ja der Tag, an dem Deusdedit zur Kirche des heiligen Petrus ging, um Almosen zu geben. Das Haus aus der Vision war die komfortable himmlische Wohnung des Schusters, erworben durch den »Schatz«, den er Samstag für Samstag durch seine Spenden in den Himmel transferiert hatte.6 Eine ähnliche Vision enthüllte dann noch, dass diese Himmelswohnungen selbst Schatzhäuser waren: Ihre Ziegelsteine waren massive Goldbarren.7

Gregor stand am Ende einer jahrhundertelangen Tradition christlichen Almosengebens, die ganz maßgeblich von dem Gedanken inspiriert gewesen war, auf diese Weise einen Schatz im Himmel zu erwerben. Die in Gregors Dialogen überlieferten Geschichten zirkulierten – weitgehend unverändert und unhinterfragt – für noch weitere tausend Jahre. Doch wendet man sich der neueren Forschung über dieses Thema zu, merkt man bald, das rund um die Vorstellung vom »Schatz im Himmel« dröhnendes Schweigen herrscht. Weder im (katholischen) Dictionnaire de la Spiritualité noch in der (protestantischen) Theologischen Realenzyklopädie gibt es einen Eintrag zu trésor beziehungsweise »Schatz«. Auch im Oxford Dictionary of the Jewish Religion etwa sucht man einen solchen Artikel vergebens. Tatsächlich ist es wohl erst die vor Kurzem – 2013 – erschienene und bei aller Hellsicht angenehm unpolemische Studie Charity: The Place of the Poor in the Biblical Tradition von Gary Anderson gewesen, die eine überzeugende Analyse des Verhältnisses zwischen dem Almosengeben und der Anhäufung eines »Schatzes im Himmel« im Alten Testament, im späteren Judentum und frühen Christentum erbracht hat.8

Selbst die wenigen Aufsätze, die auf die Formulierung vom »Schatz im Himmel« eingegangen sind, können ihre Pikiertheit nur schlecht verbergen und greifen die Formel gleichsam mit spitzen Fingern auf. In einem solchen Fall hat etwa Klaus Koch darauf beharrt, dass Jesus, wenn er von einem »Schatz im Himmel« spricht, etwas ganz anderes gemeint haben müsse, als uns die Bedeutungsanlagerungen späterer Jahrhunderte glauben machten. Von einem Glauben an die direkte Anhäufung eines himmlischen Schatzes durch das Almosengeben auf Erden (wie er ja aus den Erzählungen Gregors des Großen so lebhaft spricht) will Koch nichts wissen: Das sei »für den Protestanten eine abscheuliche Vorstellung«.9

Heutige katholische Autoren tun sich mit dem Gedanken nicht weniger schwer. So verkündet zwar eine große Inschrift, die über dem Grab des berühmten Bischofs Hilarius von Arles (430–449) angebracht wurde, der Bischof habe in seiner Entsagung allen Reichtums »durch irdische Gaben den Himmel aufgekauft«.10 Auch spricht aus dieser stolzen Feststellung nicht die geringste Verlegenheit. Aber die modernen Interpreten schämen sich stellvertretend in Grund und Boden: Die Herausgeber eines 2001 erschienenen Verzeichnisses der frühchristlichen Denkmäler von Arles beispielsweise äußerten recht umständlich, dass jene Inschrift einem heutigen Menschen als »eine Formulierung [vorkommen mag], die manche von uns [...] fraglos ein wenig unvermittelt, ja sogar ketzerisch finden werden!«11 Ähnlich sieht es im heutigen Judentum aus. So verursachte die Geschichte von König Monobazos selbst dem großen Talmudgelehrten Ephraim Urbach ein gewisses Unwohlsein. Wie er bekannte, fiel es ihm schwer, in Monobazos’ »langatmiger und eintöniger Erklärung [...] die Züge einer verfeinerten Lehre« zu erkennen oder auch nur die geringste »Sublimation jener materialistischen Gleichsetzung von Schatzgewinn im Himmel und Verschwendung auf Erden«.12

Alles in allem haben wir es also mit einer Vorstellung zu tun, die unsere Zeitgenossen in die höchste Verlegenheit bringt – und da wird der Religionshistoriker natürlich hellhörig. Wie kann es sein, dass eine Art der Rede über das Verhältnis zwischen Himmel und Erde für die Christen der Spätantike und des Mittelalters vollkommen selbstverständlich war, uns Heutigen aber so derart fremd vorkommt? Vielleicht sind ja auch wir die Sonderbaren. Warum haben wir solche Hemmungen, über eine Verbindung von Gott und Geld auch nur nachzudenken?

Wenn die Notwendigkeit ins Spiel kommt, moderne Hemmungen zu erklären, tut ein Religionshistoriker gut daran, die moderne Ethnologie zu befragen. Deren Arbeiten erinnern uns nämlich immer wieder daran, dass wir – als moderne Menschen – im Verhältnis zu früheren Epochen unserer Entwicklungsgeschichte gleichsam aus dem Takt gekommen sind. So haben Ethnologen darauf hingewiesen, dass unser heutiger Tauschbegriff sich erst mit der kommerziellen Revolution der Neuzeit herausgebildet hat. So schreibt der britische Ethnologe Jonathan Parry: »Indem ökonomische Transaktionen immer deutlicher von anderen Formen sozialer Beziehungen unterschieden werden, kommt es zu einer immer stärkeren symbolisch-ideologischen Polarisierung der Transaktionsarten, die für jede dieser Beziehungsformen als angemessen betrachtet werden. [...] Im westlichen Denken hat man sich so auf die Unterscheidung der beiden Tauschzyklen versteift [gemeint sind die religiösen Beziehungen zum Himmel auf der einen und irdische Geschäftsbeziehungen auf der anderen Seite], dass es ganz und gar unmöglich geworden ist, sich die Mechanismen, durch die sie verbunden werden, auch nur vorzustellen.«13 Tatsächlich kommt uns der Gedanke an eine solche Verbindung von Religion und Kommerz heutzutage nicht mehr wie ein harmloses Gedankenexperiment vor – sondern viel eher wie ein geschmackloser Scherz.

Die moderne Ethnologie hat sich in dem Bemühen, unsere Hemmungen gegenüber der bildsatten Sprache frühchristlicher und mittelalterlicher Gabepraktiken zumindest in Teilen zu erklären, große Verdienste erworben. Doch sind diese Hemmungen kein ausschließlich modernes Phänomen. Wie Marcel Hénaff in seiner ausladenden und brillanten Reflexion unter dem Titel – Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie –, zeigen konnte, haben die Philosophen der Antike – bei Sokrates angefangen – stets klar unterschieden zwischen gewöhnlichen Gütern, die ebenso gewöhnlichen Tauschbeziehungen zugrunde lagen, und außergewöhnlichen Gütern, die – wie etwa ihre eigenen Lehren – so kostbar und so wohltuend für Geist und Seele waren, das jede wie auch immer geartete Verbindung mit dem schnöden Mammon sie besudeln und ihren Wert mindern musste.14

Die frühen Christen waren sich dieser Tradition wohl bewusst. Sie beriefen sich ständig darauf, wenn sie die Rituale ihrer Rivalen anprangerten – pagane oder jüdische Opferzeremonien etwa, für die ein großer materieller Aufwand betrieben wurde.15 Aber die so eindrücklichen Bilder vom »Schatztransfer« zwischen Erde und Himmel und einer Errichtung himmlischer Wohnungen durch das »karitative Bausparen« regelmäßigen Almosengebens behielten sie doch bei. Für die Christen jener Zeit waren diese Bilder weit mehr als bloße Metaphern, vielmehr waren sie, um den Titel einer modernen Studie über die Bedeutung von Metaphern für die soziale Kognition aufzugreifen, Bestandteile eines ganzen »Lebens in Metaphern«.16 Die ständige Verwendung der Metapher vom »Schatz im Himmel« verlieh dem Geldkreislauf – und zwar auf allen Ebenen der kirchlichen Hierarchie – einen Hauch des himmlischen Glanzes.

Das Konzept eines Schatzes, der im Himmel angespart wurde, indem man auf Erden Almosen gab, blieb für Juden wie für Christen eine »Lebensmetapher«, weil der Akt des Almosengebens »es dem Individuum erlaubte, das Wunder der göttlichen Gnade [schon hier auf Erden] nachzuvollziehen«, wie es Gary Anderson in seinem Buch Charity formuliert hat. Schon die kleinste Gabe an wirklich Bedürftige führte die Gnade Gottes einer Menschheit vor Augen, die zu ihrem Fortbestehen ebenso abhängig von ihm war wie die Armen von den Almosen der Reichen. Das Almosengeben beschwor die ultimative Hoffnung auf eine Welt herauf, deren Schöpfer und Herrscher Gnade mit Gnade vergelten würde.17

Außerdem fesselte die Rede vom »Schatz im Himmel« die christliche Vorstellungskraft noch auf eine andere, subtilere Art, weil sie vermeintlich Unvereinbares zusammenbrachte. Geld in den Himmel zu transferieren, hieß ja nicht einfach, es dort zu hinterlegen. Es bedeutete vielmehr, zwei Vorstellungsbereiche zusammenzufügen, die der Alltagsverstand strikt trennte. Durch eine beinah magisch zu nennende Implosion der Vorstellungskraft wurden der makellose und ewige Himmel und die Erde verbunden – ausgerechnet durch den »ungerechten Mammon«, ausgerechnet durch jenen Reichtum, der traditionell nicht nur mit den vergänglichsten Aspekten der menschlichen Existenz assoziiert wurde, sondern auch mit allem, was auf Erden unheilvoll war: Von Gewalt bis Betrug reichten die Assoziationen und jedem Reichtum haftete – selbst wenn er ehrlich erworben war – ein wenig vom Geruch des Grabes an. Dennoch: Wenn es möglich war, den brutalen Gegensatz von Himmel und Erde, von reinem Geist und träger Materie auf diese Weise zu überwinden, dann würde man auch alle anderen Spaltungen heilen können.

Die Kluft zwischen Arm und Reich war unter diesen Spaltungen nicht die geringste. In der christlichen Vorstellungswelt wurde die erhoffte Verbindung von Himmel und Erde wie in einem Zerrspiegel sichtbar – gewissermaßen en miniature –, wenn bereits jetzt zwei Personen (oder Gruppen von Personen), deren soziale Stellung unvereinbar schien – also Reiche und Arme –, durch das Almosengeben zusammengeführt wurden. Wir sollten also nicht davon ausgehen, dass die Beziehungen zwischen Arm und Reich in den christlichen Kreisen der Zeit allein von Mitgefühl und der Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit bestimmt waren. Christen konnten mitfühlend sein. Ihre Lektüre der hebräischen Bibel (des Alten Testaments) führte ihnen immer wieder die Leidenschaft vor Augen, mit der die Propheten des alten Israel sich für soziale Gerechtigkeit eingesetzt hatten. Doch beim jüdischen wie auch beim christlichen Almosengeben ging es doch immer um mehr als das. Das Almosengeben war nicht nur eine Frage der »horizontalen« Beziehungen zwischen Reichen und Armen innerhalb der Gesellschaft, sondern es rief auch eine symbolisch aufgeladene »vertikale« Beziehung in Erinnerung und barg den besonderen Reiz, einen Abgrund zu überbrücken, der jenem zwischen Erde und Himmel glich oder der Kluft zwischen den Menschen und ihrem Gott.

Schließlich waren die Armen – wie auch Gott – sehr weit entfernt. Wie Gott waren sie stumm. Und den hochmütigen Reichen konnte es nur allzu leicht geschehen, dass sie die Armen vergaßen – und Gott dazu. Für seine frühchristlichen Leser besaß die auf den ersten Blick so nüchterne Erinnerung im Brief des Paulus an die Galater – »dass wir der Armen gedächten« – daher ein erhebliches imaginatives Gewicht. Denn, wenn sie »der Armen gedachten«, übernahmen fromme Gläubige (ob nun Juden oder Christen) einen kleinen Anteil am unermesslichen – und unermesslich liebevollen – Gedächtnis Gottes. Gott vergaß die Armen niemals, während die schwachen Menschen – entweder, weil sie hochmütig, oder auch nur, weil sie zu beschäftigt waren – die Armen leider nur allzu oft aus dem Sinn verloren.18

Vor diesem Hintergrund bedeutete »der Armen zu gedenken« ein Aufeinandertreffen von Gegensätzen, das innerhalb der Gesellschaft die paradoxe Verbindung von Himmel und Erde, von schnödem Mammon und ewiger Seligkeit, von Gott und Menschheit nachvollzog. Ohne derart kühne und ungewöhnliche Brückenschläge (die in jeder ihrer Ausprägungen den Alltagsverstand auf eine schwere Probe stellten) würde das Universum selbst in Stücke gehen. Die Reichen würden die Armen vergessen, die Lebenden die Toten – und zuletzt Gott sie alle.

Reich und Arm in der Kirche – Rom, 140 n. Chr.

Der almosenbasierte Schatztransfer zwischen Erde und Himmel war jedoch nicht das einzige schlagende Bild, mit dem Juden wie Christen die vielen Abgründe überbrücken wollten, die sich in ihren jeweiligen Vorstellungswelten auftaten. Andere Bilder dienten demselben Zweck: das scheinbar Unvereinbare zu vereinen. Um die ganze Tragweite dieser Denkfigur zu ermessen, wollen wir uns für einen Moment der Parabel des Hermas zuwenden, eines christlichen Propheten, der um das Jahr 140 in Rom wirkte. Hermas war auf dem Gelände seines Bauernguts vor den Toren Roms unterwegs, als ihm eine Weinrebe ins Auge fiel, die an einer Ulme emporwuchs. Die Rebe trug Frucht. Die Ulme war tot. Hermas schrieb: »Ich denke [über die Ulme und den Weinstock], daß sie vortrefflich zueinander passen. [...] Dieser Weinstock [...] bringt Frucht, die Ulme aber ist unfruchtbares Holz. Aber wenn dieser Weinstock nicht an der Ulme emporwächst, kann er nicht viel Frucht bringen, am Boden liegend, und die Frucht, die er trägt, trägt er als faule, wenn sie nicht an der Ulme hängt. [...] Dies Gleichnis nun geht auf die Sklaven Gottes, auf den Armen und den Reichen. [...] Der Reiche hat Vermögen, aber leidet in dem, was den Herrn angeht, Armut, völlig in Anspruch genommen von seinem Reichtum, und hat sehr wenig Bitte und Lobpreis gegen den Herrn, und die, die er hat, ist klein und schwach und unwirksam, ohne Kraft. Wenn sich nun der Reiche auf den Armen stützt und ihm das Lebensnotwendige gewährt, glaubt er, wenn er [Gutes] gegen den Armen getan hat, er könne Lohn finden bei Gott. Denn der Arme ist reich in seiner Bitte und im Lobpreis, und seine Bitte hat große Kraft bei Gott. [...] Der Arme nun, der von dem Reichen unterstützt wird, bittet Gott, indem er ihm dankt, für seinen Geber.«19

Innerhalb der jüdischen Gemeinschaft sahen sich die Rabbinen mit einer ganz ähnlichen Konfrontation potenziell inkompatibler Gruppen konfrontiert. Doch bildeten diesen Gegensatz nicht einfach Arm und Reich, sondern man stellte auch die Talmudgelehrten gegen das unwissende einfache Volk (ammei ha-aretz). Es gibt eine plastische rabbinische Spruchweisheit, die an jene Parabel des Hermas erinnert. Darin geht es um die fruchtbaren und die unfruchtbaren Teile des Rebstocks und es soll gezeigt werden, dass die kontrastierenden Teilgruppen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft (obgleich in mancher Hinsicht um Welten getrennt) doch aufeinander angewiesen waren: »Dieses Volk ist wie ein Weinstock; seine Reben sind die Reichen, seine Trauben die Gelehrten und die einfachen Leute sein Laub [...] Betet für das Laub, Ihr Trauben, denn ohne Weinlaub keine Trauben!«20

In beiden Fällen diente das Bild des Rebstocks dazu, das Ideal einer organischen, beinahe vollkommenen symbiotischen Einheit heraufzubeschwören. Materie und Geist, fruchtbare Rebe und unfruchtbares Holz, irdische Schätze und das Himmelreich – die ja im Normalfall als einander ausschließende Gegensatzpaare galten – schienen plötzlich ineinanderzufließen. Den Christengemeinden von Rom ging es dabei – ganz wie ihren jüdischen Nachbarn – nicht nur darum, die Armen zu versorgen; sondern man musste ja die Solidarität in einer Gemeinschaft aufrechterhalten, in der die Armen nur eine Säule (wenn auch eine besonders belastete) von mehreren in einer kulturell und sozial ausdifferenzierten Gruppe bildeten.

Diese enge Fokussierung auf das Thema Solidarität und auf die Überwindung potenzieller Spaltungen fügt sich sehr gut zu dem wenigen, was wir über die Sozialstruktur der frühen römischen Christengemeinden wissen, an die Hermas sich ja richtete. Im 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. war die Mehrzahl der Christen gerade nicht reich. Die meisten dachten von sich als mediocres – als ehrbare Leute aus der Mittelschicht, wenn man so will, wie sie in großen Städten wie Rom oder Karthago zu allen Zeiten ihre Nische gefunden hatten. Ihre Wohltätigkeit nahm keine spektakulären Formen an, sondern geschah im Verborgenen und beschränkte sich im Wesentlichen auf ihre christlichen Brüder und Schwestern. Auf die heidnischen Armen ging man so gut wie überhaupt nicht zu. Vielmehr war die »arme Durchschnittsperson« in den frühen Christengemeinden ein Glaubensbruder oder eine Glaubensschwester, die das Glück verlassen hatte.

Aus diesem Grund sollten wir den hohen Ton, den viele christliche Autoren und Prediger damals und auch später noch angeschlagen haben, mit Vorsicht genießen. Ihnen war daran gelegen, die christliche Großzügigkeit als eine Zusammenführung gewaltiger Gegensätze darzustellen. Ihre Sprache erst erzeugte jenen fiktiven Riss zwischen Arm und Reich, den es doch in einer gesellschaftlich wenig exponierten und vergleichsweise »klassenlosen« Gemeinschaft wie den frühen Christengemeinden letztlich gar nicht gab. Diesen Autoren ging es überhaupt nicht darum, die hungernden Massen zu füttern, sondern sie wollten imaginäre Antithesen innerhalb der christlichen Gemeinschaft heraufbeschwören, die dann nur durch christliche Nächstenliebe und christliches Gebet überwunden werden könnten.21

Man muss sich dabei jedoch klarmachen, dass zur Aufrechterhaltung des Zusammengehörigkeitsgefühls in den Christengemeinden weitaus mehr nötig war als ein solider Geldkreislauf. Rituelle Praktiken, die das Almosengeben mit intensivem Gebet für die Mitchristen (tote wie lebende) verbanden, spielten für die Solidarität der Christen untereinander eine noch wichtigere Rolle als die Armensorge allein.

Den springenden Punkt bildete dabei die Frage, wie man seiner Solidarität mit den Toten am besten Ausdruck verleihen sollte. Und dazu war das Fürbittgebet das Mittel der Wahl. Gebete konnten, wie man glaubte, die einschneidendste aller Spaltungen überbrücken – jenen tiefsten, eisigen Abgrund, der sich zwischen den Lebenden und den Toten auftat. Was nun die Praxis in jüdischen und christlichen Kreisen auszeichnete, war die Art und Weise, in der die Beziehung zwischen Lebenden und Toten in Analogie zu dem Metaphernkreis rund um einen durch Almosengeben erworbenen »Schatz im Himmel« verstanden wurde.

Die Gabe von Almosen an die Armen wurde zum unverzichtbaren Bestandteil christlicher Begräbnisse und Gedenkmähler. Und das kam nicht zuletzt so, weil der Status eines physisch Toten auf erschreckende Weise dem eines gesellschaftlich Toten glich: Die Toten wie die Armen waren in die tiefste Hilflosigkeit geworfen. Beide waren sie auf die Großzügigkeit anderer angewiesen. Beide schrien sie geradezu danach, nicht vergessen zu werden – in einer Welt, in der genau das nur allzu leicht passieren konnte. Aber die Toten oder die Armen zu vergessen, erschien gläubigen Christen oder Juden gleich doppelt grausam, war ihre tiefste eigene Angst es doch, von ihrem Gott vergessen zu werden.22 Schauen wir doch einmal, wie diese starken Spannungen innerhalb der christlichen Vorstellungswelt sich in der Glaubenspraxis des späten 3. Jahrhunderts auswirkten.

Zu Tisch an der triclia von San Sebastiano in Rom, 250–300 n. Chr.

In der Zeit um 250 bis 300 n. Chr. hätten Christen, die auf der Via Appia aus Rom hinausgingen, um die heutzutage berühmten Katakomben der Kirche San Sebastiano fuori le Mura aufzusuchen, eine gemauerte Einfriedung inmitten antiker Grabmale vorgefunden. Die Ummauerung war ringsum von Bänken gesäumt, schützte als Loggia vor Wind und Wetter. Auch eine Quelle und eine kleine Küche waren vorhanden. Es handelte sich um eine von vielen tricliae, die von Hinterbliebenen genutzt werden konnten, um Totenmähler für ihre Verstorbenen in der Nähe von deren Gräbern zu veranstalten. In einem gewissen Sinne war diese triclia aus dem 3. Jahrhundert – die 1915/16 unter der im 4. Jahrhundert auf dem Areal der heutigen Kirche San Sebastiano errichteten Basilika entdeckt wurde – also »auch nicht anders als irgendein Wirtshaus im Grünen« (wie Richard Krautheimer es in seiner trockenen Art formuliert hat).23 In diesem unscheinbaren Gebäude trafen sich Christen, um – wie in anderen tricliae auch – ein Festmahl in der Nähe ihrer Verstorbenen zu halten. Dieses Mahl bezeichnete man als refrigerium, ein labender, geselliger und freudiger Festschmaus sollte es also sein. Damit spiegelte es, wie man glaubte, die erholsame Rast, die die Seele der oder des Verstorbenen inzwischen genoss.24

Schon das Wort refrigerium führt uns auf eine sehr, sehr alte Entwicklungsstufe des christlichen Glaubens zurück – bis in die Zeit Cyprians und mehr noch Tertullians, mit deren Schriften wir ja bereits Bekanntschaft gemacht haben. Für viele Gläubige jener Zeit war das Christentum noch immer ein Christentum der wartenden Seelen. Dabei bestand für sie kein Zweifel: Die Seelen, für deren refrigerium man zum Mahl lud, warteten ohne Verzweiflung, ja noch nicht einmal in Ungeduld. Vielmehr entspannten sie sich und das mit dem denkbar größten Gefühl der Erleichterung: Endlich, endlich waren sie von den Leiden dieser Welt erlöst worden. Was das konkret bedeuten mochte, können wir aus dem bemerkenswerten Gefängnistagebuch der nordafrikanischen Märtyrerin Perpetua erfahren. In der Zeit, als sie 203 n. Chr. im Gefängnis von Karthago auf den Tod wartete, träumte Perpetua zweimal von ihrem Bruder Dinocrates. Dinocrates war jung gestorben, ein schrecklicher Gesichtstumor hatte ihn befallen. Ihre erste Vision von ihm war grauenvoll: In Lumpen gekleidet und von einer großen Narbe im Gesicht entstellt, mühte sich ihr Bruder vergeblich, den Rand eines Beckens mit kühlem Wasser zu erreichen. In dem zweiten Traum sah Perpetua dann, dass er endlich seinen Frieden gefunden hatte: »Und Dinocrates kam an das Wasser und begann, davon zu trinken. Als er aber zu seiner Genüge getrunken hatte, da ging er weiter in das Wasser hinein und begann darin zu spielen, wie ein kleiner Junge es eben täte, und er jauchzte und war froh.«25 Ob man sich dieses refrigerium nun als eine Zeit des Abwartens oder der endgültigen himmlischen Ruhe vorstellte – eine schönere Vorstellung, als seine lieben Verstorbenen im Jenseits erquickt zu wissen, konnte es kaum geben.

Viele von denen, die ein refrigeriums-Mahl von dieser Art feierten, hielten die Einzelheiten der Veranstaltung sowie die Gebete, die bei dieser Gelegenheit gesprochen worden waren, in Form von Graffiti fest, die auf den bemalten Mauern der triclia angebracht wurden. Etwa 330 dieser Graffiti haben die Zeiten überdauert.26 Für einen Kirchenhistoriker ist es ein bewegendes Erlebnis, auf diese gekritzelten Botschaften zu stoßen. Inmitten eines Christentums, das wir ja zum größten Teil aus den Schriften seiner selbstbewussten Apologeten (Cyprians etwa) oder aus dramatischen, oftmals grausamen Berichten vom Leiden und Sterben der Märtyrer kennen, bietet sich hier – endlich – eine Oase des Friedens. Der große Lauf der Welt scheint endlos weit entfernt und wir bekommen die leisen Stimmen einfacher Christinnen und Christen zu hören, die – eine Generation vor Konstantin – ihr Christentum an den Gräbern ihrer Heroen und Angehörigen lebten.

Der Toten gedenken – und von ihnen bedacht werden

Was hören wir, wenn wir diesen leisen Stimmen lauschen? Vor allem anderen die Äußerungen einer beharrlichen Erinnerungsarbeit. Nicht nur gedachten die Lebenden der Toten – das war eine übliche Praxis, die Christen und Nichtchristen miteinander gemein hatten –, sondern (und diese Besonderheit halten die christlichen Graffiti fest) die Lebenden beteten inständig darum, dass die Toten ihrer gedachten.27 Die ersten Hinweise auf eine Verehrung der Heiligen Petrus und Paulus (von denen man annahm, dass sie eine Zeit lang neben jenem bescheidenen Speisesaal begraben gewesen waren) finden sich in Gebeten um ein Gedenken an uns, die Lebenden:

Petre et Paule, in mente habetote.

Spiritus sancte, in mente habetote.

Petrus und Paulus, habt [uns] im Sinn.

Heilige Geister, behaltet [uns] im Sinn.28

Doch solche Gebete wurden nicht nur an die großen Märtyrer gerichtet. Man wandte sich auch an ganz gewöhnliche Tote, die ihr refrigerium genossen. Freilich konzentrierten sich die meisten Graffiti an den Wänden der triclia von San Sebastiano auf den Bereich, der Petrus und Paulus gewidmet war. Aber selbst dort forderten die Schreiber tote Angehörige und Glaubensgeschwister auf, für die Lebenden zu bitten. Anderswo fand der Wunsch nach Fürbitte durch die Toten seinen Ausdruck in anrührender Nähe zu deren Grab, indem er etwa in den noch weichen Putz rund um das Marmortäfelchen mit dem Namen der verstorbenen Person geritzt wurde.29 Die an die Toten gerichtete Bitte um deren Fürsprache zieht sich wie ein Refrain durch die christlichen Inschriften:

Ianuaria, bene refrigera et roga pro nos.30

Januaria, ruhe wohl und bitte für uns!

Aber was bedeutete es in diesem Zusammenhang eigentlich, zu »bitten«? Und was hieß »im Sinn behalten«? Ich glaube, dass wir es hier mit Vorstellungen von der Funktionsweise des Gedächtnisses zu tun haben, die sich von unseren heutigen Vorstellungen unterscheiden. Für die frühen Christen war – wie auch für viele andere Menschen der Antike – das Gedächtnis weit mehr als nur ein passiver »Lagerraum«. Gedächtnis – memoria – bedeutete zugleich (aktives) Gedenken und das implizierte einen Willensakt. In der Antike war die memoria ein Werkzeug sozialen Zusammenhalts par excellence. Patrone banden ihre Klienten an sich, indem sie sich an deren Dienste erinnerten und diese belohnten. Im Gegenzug legten die Klienten großen Wert darauf, ihrer Patrone zu gedenken; das ging so weit, dass sie deren Geburtstage feierlich begingen.31

Insgesamt zeichnet den spätantiken Umgang mit dem Komplex von Erinnerung und Gedenken ein Moment von eifriger Strebsamkeit aus. Sich zu »erinnern« oder »im Sinn zu behalten«, bedeutete nicht etwa, eine Tatsache irgendwo einzulagern: Es bedeutete, eine Bindung zu bestätigen; es bedeutete, jemanden zu beachten und sich ihm oder ihr gegenüber loyal zu erweisen. Die Erinnerung war eine Gabe an die vom Vergessen bedrohten Toten im Jenseits, wie ein Almosen eine Gabe an die nur allzu leicht vergessenen Armen im Diesseits war. Umgekehrt war ein Vergessen oder mangelndes Gedenken keineswegs die harmlose Gedächtnisschwäche, die wir heute mit diesen Begriffen verbinden mögen. Jemanden zu vergessen, war ein aggressiver Akt, ein Akt der sozialen Auslöschung, durch den Verbindungen, die ein ähnlich absichtsvoller Erinnerungsakt zuvor geknüpft hatte, brutal gekappt wurden.

In der Praxis bedeutete das: Erinnern hieß Fürsprache einlegen, hieß eingreifen. Petrus und Paulus würden, wie man glaubte, die Gebetsanliegen der menschlichen Bittsteller fördern, indem sie deren Gebete Gott gleichsam »ins Gedächtnis riefen«. Die in den Graffiti von San Sebastiano aufgezeichneten Gebete enthalten oft diese doppelte Bezugnahme auf Gedenken und Gedächtnis: Sie baten die heiligen Toten darum, sich des Beters oder der Beterin zu erinnern, damit – auf ihre mächtige Fürsprache hin – auch Gott der Betenden gedenken möge: »Petrus und Paulus, apetite pro Dativu in perpetuum, bittet auf ewig für Dativus!«32

Man kann die Intensität, mit der für die christlichen Verfasser dieser Graffiti Gedenken und Fürsprache verknüpft waren, kaum überschätzen. Wie Claudia Rapp gezeigt hat, war der Glaube an die Kraft des Fürbittgebets das tragende Element, auf dem die gesamte Spätantike hindurch die Autorität christlicher Bischöfe und christlicher Heiliger beruhte. Rapp hat völlig zu Recht darauf gedrängt, das dichte Beziehungsnetzwerk der Gläubigen untereinander in den Blick zu nehmen, das durch den Glauben an die Kraft des Gebets geknüpft wurde.33 Wie Augustinus in seinem Gottesstaat beiläufig anmerkt, war die Wendung »Memor mei esto« – »gedenke mein!« oder »vergiss mein nicht!« – beinahe so etwas wie ein Ausdruck der christlichen Umgangssprache geworden: Es war der übliche Abschiedsgruß, den fromme Christen untereinander gebrauchten.34 In der christlichen Vorstellungswelt umspielte der stille Strom der Fürbittgebete noch die bescheidenste Christengemeinde und umgab sie beständig mit dem Abglanz der göttlichen Macht.

Tertullian hatte in seinem Apologeticum, einer »Verteidigung des Christentums«, stolz über die Kraft des christlichen Gebets geschrieben: »Zusammen kommen wir zu gemeinsamem Beisammensein, um Gott gleichsam in geschlossenem Trupp im Gebet mit Bitten zu bestürmen. Solch eine Gewaltsamkeit [vis] ist Gott willkommen.«35 Um die vis orationis – die »Macht des Gebets« – drehte sich auch die Vorstellungswelt all jener, die ihre Graffiti an den Mauern von San Sebastiano hinterlassen haben. Doch was bewirkte diese Macht des Gebets?

Nicht alle Gebete waren Gebete für die Seelen der Verstorbenen. Viele zielten ganz unverhohlen auf irdischen Vorteil und auf Schutz im Diesseits ab. Eine Gruppe von Gläubigen bat um eine sichere Seereise – »dass ihnen durch die Macht des Gebets eine gute Überfahrt zuteilwerde«.36 Doch was immer die Absicht einzelner Gebete gewesen sein mag: Das grundsätzliche Ziel solcher auf himmlische Intervention gerichteten Bitten war es, Wesen und Instanzen zusammenzubringen, die dem Alltagsverstand für unvereinbar galten. Völlig gegensätzliche Welten wurden durch die Macht des Gebets um Fürsprache vereinigt. Wer die Muskeln des Gedenkens spielen lassen konnte, der mochte die Toten mit den Lebenden und Gott mit den Menschen in eine innige Verbundenheit bringen. Für die Menschen, die solche Inschriften verfassten, war das Jenseits etwas sehr Reales. Aber keineswegs schwebte es, räumlich gesprochen, weit über ihren Köpfen. Es war gleich nebenan. Und im Gebet konnte man dafür sorgen, dass das auch so blieb.

Reich und Arm: Himmel und Erde, 250–650 n. Chr.

Man kann eigentlich nur davon ausgehen, dass in den christlichen Gemeinden der Zeit die Beziehungen der Lebenden untereinander in Analogie aufgefasst wurden zu der beinahe schon symbiotischen Verbundenheit zwischen Lebenden und Toten. Die Toten waren, wie man glaubte, den Lebenden genauso nahe, wie die Lebenden einander auch sein sollten. Die Beziehungen zwischen Lebenden und Toten, mit denen wir es hier zu tun haben, spiegelten eine Auffassung von christlicher Gemeinschaft wider, in deren Rahmen soziale Grenzen aufgeweicht werden sollten, in dieser Welt wie in der nächsten. Das Jenseits galt – ganz wie der soziale Raum der Christengemeinde – als ein Ort der Ungezwungenheit und Leichte. In der Begräbnissymbolik heidnischer Religionen dominierten ländliche Idyllen und friedvolle Gärten – eine Bilderwelt, die von den Christen mit Begeisterung übernommen wurde, denn sie harmonierte vollkommen mit ihren eigenen Vorstellungen von der entspannten und freudigen Stimmung der Seelen im Jenseits. Derselben bukolischen Bildlichkeit entsprach ein ganz ähnlicher Begriff von Gelöstheit unter den Lebenden. Darin war eine gewissermaßen »gegenkulturelle« Sehnsucht nach einer religiösen Gemeinschaft ausgesprochen, die – so gut als möglich – jene steilen Hierarchien und schroffen Unterschiede in Vermögen und Status vermeiden sollte, von denen die düstere »Welt« jenseits der frühen Kirche geprägt war.37

Die Tatsache, dass um 300 n. Chr. bereits viele Christen reich und kultiviert waren, ja sogar politischen Einfluss besaßen, stand dieser Selbstdarstellung keineswegs entgegen. Viel eher brachte sie wohlhabende Christen dazu, noch härter an der imaginativen Überwindung von Spaltungen zu arbeiten, deren Existenz ihnen nur zu bewusst war. Eine idyllisch-pastorale Bildlichkeit war der kongeniale Ausdruck für jenen zutiefst menschlichen Traum, der die wohlhabenden Christen des späten 3. Jahrhunderts umtrieb – der Traum von der Lockerung der sozialen Hierarchie in einem vertraulichen, abgesonderten Rahmen.38

Wir haben es also mit einem Paradox zu tun, das den Historiker nur neugierig machen kann – denn immerhin läuft das alles auf zwei deutlich verschiedene Sichtweisen des kleinen Speisesaals inmitten der Gräber von San Sebastiano hinaus: Auf der einen Seite ist das, was wir da sehen (und mit gutem Recht schätzen), der Versammlungsort einer vertrauten und ausgelassenen Gemeinschaft, vorläufiger Endpunkt einer langen Tradition römischer Geselligkeit. Wie bei den ganz ähnlichen Zusammenkünften der collegia (freier Zusammenschlüsse – »Vereine«–, deren Zahl im Rom des 2. und 3. Jahrhunderts n. Chr. in die Höhe schoss) gibt es hier eine angenehm »hausgemachte« Note. Ich denke an die Worte Eberhard Brucks, der über die collegia geschrieben hat: »Sie haben das Parfüm von Chianti und Salami.«39 Jedoch ist diese Ausgelassenheit keineswegs selbstverständlich. Wenn wir die fröhlich Feiernden nämlich aus einem etwas anderen Blickwinkel betrachten, erkennen wir, dass ihre Vorstellungswelt von zwar fiktiven, aber doch tiefen Rissen durchzogen war. Die auf den ersten Blick so anheimelnden Christengemeinden sahen sich selbst als in einem ständigen Ringen begriffen, damit letztlich – durch harte Fürbitt- und Gebetsarbeit – die Vereinigung mächtiger, eigentlich unvereinbarer Elemente gelingen konnte: von Gott und Mensch, Himmel und Erde, Reich und Arm, Lebenden und Toten.

Wie diese Risse in der Vorstellungswelt der frühen Christen zunehmend breiter wurden, nicht zuletzt unter dem Druck der sich wandelnden Verhältnisse, wird ein zentrales Thema der folgenden Kapitel sein. Die Kluft zwischen Reich und Arm tat sich weiter auf, sie wurde markanter und immer schärfer umkämpft. Nach der Bekehrung Konstantins – und vor allem im späteren 4. Jahrhundert – schlossen sich wahrhaft reiche Mitglieder der römischen Oberschicht einer Kirche an, die zuvor ein extremes gesellschaftliches Schattendasein geführt hatte – als eine Kirche der mediocres im wahrsten (römischen) Sinne des Wortes. Die triclia und ihre Inschriften wurden mit einem monumentalen Apostelschrein überbaut. Dieser Schrein wurde rasch zu einer gefragten Begräbnisstätte. Schon Ende des 4. Jahrhunderts war die Außenwand seiner Apsis gesäumt von den großen Familienmausoleen senatorischer Hinterbänkler (parvi senatores) und niederer Beamter.40 Die Märtyrer selbst rückten in immer weitere Ferne. Von Petrus und Paulus hieß es nun, sie seien in die »höchsten Höhen der himmlischen Heimat eingegangen«. Solche Formulierungen erschienen wie das Echo jener paganen Apotheoserhetorik eines Aufstiegs in die Milchstraße, die den christlichen Theologen früherer Zeit ein solcher Gräuel gewesen war.41

Auch verlor die Sprache des Gebets ein wenig von ihrer Intimität und verhärtete sich – ganz unmerklich – durch eine Art von begrifflicher Osmose aus den Beziehungen zwischen Herrscher und Untertanen beziehungsweise Patronen und Klienten, die in der streng hierarchischen Gesellschaft des 4. Jahrhunderts n. Chr. dominierten. Die Heiligen galten nun nicht mehr als Partner im Gebet. Sie wurden zu patroni – »Schutzpatronen« – im spätrömischen Sinne. Sie standen als Fürsprecher zwischen der breiten Masse der Gläubigen und Gott – ganz so, wie hochrangige Adlige ihre demütigen Klienten am Kaiserhof vertraten.42

Auch der Umstand, dass zur selben Zeit die Armen stärker in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses rückten, verstärkte die Wirkung, die vom Eintritt reicher Römer in die Kirche ausging. Nachdem nämlich die Armen in der römischen Gesellschaft lange Zeit nahezu unsichtbar gewesen waren, nahmen sie nun in der sozialen Vorstellungswelt ihrer Zeitgenossen einen prominenten Platz ein. Insbesondere nach der Bekehrung Konstantins des Großen zum Christentum im Jahr 312 schlossen sich unzählige Arme den christlichen Gemeinden an. Ihr Bedarf an Almosen und anderen Wohltaten überstieg alles bisher Bekannte. Diese Neuankömmlinge waren zu einem großen Teil anonym, I. Tod und Gedenken im frühen Christentum man kannte sie in den Gemeinden nicht. Das unterschied sie deutlich von jenen hilfsbedürftigen Brüdern und Schwestern, deren Betreuung der christlichen Armensorge des 3. Jahrhunderts ihre hohe Effizienz ermöglicht hatte, war sie doch wesentlich vertrauter und überschaubarer gewesen.

Im Ergebnis wurde die »vertikale Dimension« des Almosengebens – die den großen Abstand zwischen Gott und den Menschen beziehungsweise zwischen Arm und Reich betonte – immer stärker betont. Die anonymen Massen von Bedürftigen, die sich inzwischen vor den Kirchen scharten, waren nicht mehr Brüder und Freunde, sondern Bettler und Fremde und so wurde es immer schwieriger, im Almosengeben eine reine Geste der Solidarität zu sehen – wie es ganz normal gewesen war, als es sich bei den hilfsbedürftigen Armen noch um persönlich bekannte Glaubensbrüder gehandelt hatte. Stattdessen fiel es nun leichter, im Almosengeben eine reine Bußhandlung zu sehen, zu der es – wenn überhaupt – nur einer flüchtigen Verbundenheit und Solidarisierung mit den betreffenden Armen bedurfte. Akte der Gnade gegenüber den »Armen ohne Namen« spiegelten lediglich – und veranlassten damit nach einer gängigen Auffassung – jenen Gnadenakt, in dem ein ferner Gott die Sünden des Almosengebers verzieh.

Auch die Toten und die Lebenden entfernten sich immer weiter voneinander. Bis Ende des 4. Jahrhunderts standen Bischöfe wie Augustinus immer argwöhnischer bestimmten Ansichten gegenüber, denen zufolge etwa die Toten allzu ungezwungen zwischen den Lebenden umherschweben sollten. Wer auf den überlieferten Vorstellungen vom mühelosen Austausch zwischen Toten und Lebenden bestand – in Träumen oder Visionen beispielsweise –, der machte sich verdächtig. Zur selben Zeit stellten die Bischöfe auch die bestehenden Grabbräuche infrage (etwa das Abhalten von Festmählern am Grab – und insbesondere an den Gräbern der Märtyrer), die aus ihrer Sicht eine allzu »gemütliche« Beziehung zwischen den Lebenden und den Toten nahelegten. Es schien ihnen nämlich, dass diese Bräuche das Schicksal der Seele nach dem Tod vorhersagbarer erscheinen ließen, als es in Wirklichkeit war. Auch wurde damit den Initiativen der Lebenden eine Wirksamkeit über das Grab hinaus zugesprochen, die ihnen – den Bischöfen – in diesem Ausmaß theologisch nicht haltbar erschien. Nur bestimmte Formen des Totengedenkens – namentlich das Almosengeben, das Gebet und die Eucharistiefeier – wurden auch weiterhin als probate Mittel erachtet, den Seelen der Verstorbenen im Jenseits beizustehen. Ein ausgelassenes Gelage an ihrem Grab würde zu ihrer Versorgung nicht ausreichen. Und selbst ein noch so opulentes Grabmal war (wie wir noch sehen werden) nicht genug, um sie zu schützen.

Schließlich spielte noch die graduelle Durchdringung der lateinischen Theologie mit platonischem Gedankengut eine Rolle. In der platonischen Tradition ging man ja von einem unverzüglichen Aufstieg der körperlosen Seele in den Himmel aus, was im Folgenden der Ansicht Vorschub leistete, manche christlichen Seelen kämen mit größerer Wahrscheinlichkeit in den Himmel als andere, durchschnittlichere. Bis in die 380er-Jahre, wenn nicht früher, verkündeten christliche Grabinschriften überall im römischen Italien, dass die Seelen der dort Bestatteten bereits jenen gestirnten Himmel erreicht hatten, den man mit heidnischen Apotheosevorstellungen in Verbindung brachte. Die da auf solch extravagante Weise gefeiert wurden, waren jedoch keineswegs Märtyrer. Sie waren lediglich Christen, bei denen schon ihre vornehme Abstammung die Weiterlebenden davon ausgehen ließ, dass es mit ihnen nach dem Tod ähnlich erhaben weitergehen werde.

»Niemand soll glauben, dass edle Seelen ins Reich der Schatten hinabsteigen«, heißt es etwa von einem christlichen Wunderkind aus der Stadt Bolsena.43 Tertullian hingegen hätte gar nichts dabei gefunden, dem jungen Mann einen Aufenthalt im »Schattenreich« nahezulegen, solange Gott seinen großen Plan für das Universum noch nicht zu Ende geführt hatte. Aber die Angehörigen der christlichen Oberschicht Roms im 4. Jahrhundert sahen überhaupt nicht ein, auf diese Art ihre Zeit zu vergeuden. Proiecta zum Beispiel war die Tochter eines hohen Würdenträgers. Ihre prachtvolle Hochzeitsschatulle kann man noch heute im Britischen Museum in London bewundern. Als Proiecta – leider sehr jung – starb, erklärte kein Geringerer als Papst Damasus I., die junge Frau sei »hinweggegangen, um sogleich in das ewige Himmelslicht emporzusteigen«.44 Es schien, als ob solche Leute ihre weniger begüterten Mitchristen weit unter sich ließen – selbst im Jenseits.

Uns ist die beschriebene Entwicklung aus den Inschriften eleganter Marmortafeln bekannt, langen Epitaphen in klassischem Versmaß und gespickt mit Anklängen an Vergil. Dabei ist es nicht unwesentlich, dass das Anfertigen solcher Inschriften rund 15 Goldstücke für neun Zeilen Text kostete. Und das zu einer Zeit, in der die durchschnittliche christliche Grabinschrift kaum mehr als ein paar Wörter in einem merklich unbeholfenen »Gossenlatein« umfasste.45

Im Verlauf des 5. und des 6. Jahrhunderts sollte sich dann, wie wir noch sehen werden, der Abstand zwischen Himmel und Erde immer weiter vergrößern. Von der Zeit des Augustinus an ermahnte man die Gläubigen, sich ihrer Sünden deutlicher bewusst zu sein. Von unverbüßten Sünden glaubte man zunehmend, dass sie die Seele im Jenseits schlimmen Gefahren aussetzen würden. Alles in allem fühlten sich durchschnittliche Christen in jener Zeit dem Himmel ferner als je zuvor. Von ihren Seelen glaubten sie, dass diese langsam und auf zunehmend gefährlicheren Wegen – an Dämonen vorbei und durch lodernde Flammen – einem immer ferner erscheinenden Himmel zustreben würden.

Manichäische Fragen

Doch im Jahr 300 n. Chr. lag all das noch in ferner Zukunft. Wir wollen dieses Kapitel beschließen, indem wir die kleinen tricliae von San Sebastiano verlassen, die mittlerweile tief unter der Erde liegt und 3000 Kilometer weit an die östlichen Grenzen des Römischen Reiches reisen – nach Syrien, Ägypten und Mesopotamien –, wo wir die Anhänger des Mani, die Manichäer, kennenlernen wollen.

Es mag wie eine unnötige Abschweifung erscheinen, sich nun ausgerechnet einer christlichen Sekte zuzuwenden, die im entlegenen persischen Mesopotamien entstanden ist; doch, den Manichäismus zu betrachten, heißt, sich an die nahöstlichen Wurzeln des Christentums selbst zu erinnern. Der Mann Mani war Kind eines Christentums der »dritten Welt« – der Welt östlich von Antiochia – und diese spezifische Spielart der christlichen Religion hatte sich weit über die kulturellen und sprachlichen Grenzen des griechisch-römischen Mittelmeerraums hinaus ausgebreitet. Er lebte am Ostrand einer Sprachlandschaft, in der das Syrische dominierte, die letzte und die kreativste Entwicklungsstufe des alten Aramäischen, das einst die Lingua franca des persischen Achämenidenreiches sowie die Muttersprache Jesu von Nazareth gewesen war. Von den Wüsten Mesopotamien bis an das Mittelmeer richteten Mani und seine Jünger sich an eine Bevölkerung, die dieselbe Sprache sprach wie sie selbst. Mani verfasste alle seine Werke – außer einem – in diesem Syrisch-Aramäisch.46

Weil sie die religiöse Lingua franca der syrischen Christenheit sprachen – das »Latein des Ostens« –, konnten sich die manichäischen Missionare und Gemeindevorsteher (die als »die Erwählten« bekannt waren) mühelos unter die Grüppchen christlicher Wander- und Bettelasketen mischen, die bereits auf den Landstraßen des Nahen Ostens umherzogen. Alles in allem waren Mani und seine Anhänger also beileibe keine exotischen Eindringlinge. Mani sah sich selbst als den Paulus seiner Zeit. Die Manichäer wollten Reformer des Christentums sein, nicht seine Feinde. In vielen Gegenden hatten sich Manichäer an den Rändern der christlichen Mainstreamkirchen etabliert. Sie nahmen für sich in Anspruch, eine überlegene, vergeistigtere Form des Christentums zu repräsentieren.47

Nur durch eine Laune der Überlieferung hat es sich ergeben, dass der größte Teil der im Gebiet des Römischen Reiches erhaltenen manichäischen Texte in koptischer Sprache verfasst ist. Das Koptische ist die letzte Entwicklungsstufe der Sprache der alten Ägypter. Was nämlich heute überhaupt an manichäischen Schriften bekannt ist, hat die Zeitläufte in Gestalt großer Papyruskodizes im staubtrockenen Wüstensand Ägyptens überdauert. Aber diese kostbaren Bände sind nur die spärlichen – und aus dem syrischen Original ins Koptische übertragenen – Überreste einer der großen religiösen Literaturen der syrisch-aramäischen Welt. Im Gefolge des rasanten Vormarsches, mit dem die Missionare aus der »Heiligen Kirche« des Mani ihre Lehren in der gesamten Osthälfte des Römischen Reiches verbreiteten, wurden die Schriften der Manichäer in das Koptische und ins Griechische übersetzt.48

Mani selbst starb im Jahr 277. Viele der manichäischen Urkunden in koptischer Sprache sind weniger als hundert Jahre nach seinem Tod entstanden. Dieser auf den ersten Blick exotische Religionsführer aus dem fernen Babylon und seine Jünger waren also beinah exakte Zeitgenossen jener römischen Christen von San Sebastiano, deren refrigeria und Gebete an und für die Toten wir eben noch beschrieben haben. Noch erstaunlicher ist allerdings, dass – wie die neuesten manichäischen Funde aus Ägypten belegen – die Manichäer sich im Zuge ihres beständigen Dialogs mit den ortsansässigen Christen auch mit exakt denselben Fragen auseinandergesetzt haben, die unsere römischen Christen bewegten. Auch den Manichäern war das Totengedenken ein inniges Anliegen.

Auf diese Weise mit den Manichäern in einen Topf gesteckt zu werden, würde die guten Christen von San Sebastiano wohl einigermaßen irritiert haben: Nicht nur war Mani ein Fremder aus einem weit entfernten Land, sondern die von ihm begründete Gemeinschaft war auch eine radikale Sekte. Wie so viele Extremisten werden sie ihre Neumitglieder wohl nicht aus den Reihen der Mainstreamchristen gewonnen haben. Vielleicht sind sogar die meisten der Konvertiten zum Manichäismus aus ohnehin unzufriedenen christlichen Splittergruppen hervorgegangen, aus sowieso schon radikalisierten Umfeldern. In ihrer Vorstellung vom Aufstieg der Seele und den dabei drohenden Gefahren beispielsweise waren die Manichäer gnostischer als die Gnostiker.49 Der gemächliche Takt einer Welt der wartenden Seelen war nichts für sie. Was die Manichäer stattdessen ansprach, war die Vorstellung von Seelen, die kein Risiko scheuten, während sie bei ihrem möglichst raschen Aufstieg in das »Reich des Lichts« ganze Heerscharen dunkler Mächte passierten. Dabei jedoch waren auch diese Seelen auf die Hilfe der Lebenden angewiesen – und was diese Hilfe betraf, war das, was die manichäischen Schriften teils nur beschreiben, teils im Einklang mit ihrem eigenen Weltbild uminterpretieren, die allgemein gängige Praxis der christlichen Totensorge. Ein jeder der frommen Tischgenossen in der triclia von San Sebastiano würde die entsprechenden Gebräuche wiedererkannt haben: das Almosengeben, die Akte des Gedenkens, das Fürbittgebet – und deshalb sind diese manichäischen Praktiken von unmittelbarem Interesse für unsere Untersuchung.

Wir wollen uns also dem manichäischen Text zuwenden, der unter dem Titel Die Kephalaia des Lehrers bekannt ist. Ursprünglich war dies ein mächtiger Band von mehr als eintausend Seiten, dessen Bezeichnung daher rührt, dass es sich um eine Zusammenstellung vieler einzelner Kapitel (griechisch kephálaia) handelte. Jedes kephálaion hatte seine eigene Überschrift und befasste sich mit einem bestimmten Thema. Alles in allem haben wir es also mit einer Art Enzyklopädie der manichäischen Glaubenslehre zu tun. Die als Papyri erhaltenen Teile der Kephalaia stammen aus der Zeit um 400 n. Chr.50 Im Werk selbst wird die Sammlung als ein Frage-und-Antwort-Spiel Manis mit seinen Anhängern dargestellt. Tatsächlich wurden die Texte wohl erst nach seinem Tod im Jahr 277 verfasst, aber es ist durchaus möglich, dass dies schon bald geschah. Wir besitzen in den Kephalaia somit die »Innenansicht« einer radikalen christlichen Sekte in ihrer Auseinandersetzung mit den religiösen Praktiken ihrer – ebenfalls christlichen – Umgebung. Die Diskussion betrifft dabei zentrale Aspekte christlicher Totenbräuche, wie sie in den Jahrzehnten unmittelbar vor und nach der Bekehrung Konstantins allgemein verbreitet waren. Als Einblick in eine vergangene Welt sind diese Texte genauso überraschend und eindrücklich wie die bescheidenen Graffiti an der triclia von San Sebastiano.

Genauer gesagt, enthalten die Kephalaia eine hitzige Debatte über genau dieselben Rituale, die auch in den besagten Graffiti oder in anderen Nachweisen über die Totensorge in den damaligen Christengemeinden von Rom und anderswo erwähnt werden. Wir finden dieselben Rituale, wenn auch unter leicht verschiedener Bezeichnung: das Almosengeben (koptisch mñtnae), das eucharistische Messopfer (prosphora), die Feier eines »Liebesmahls« (agapê, das griechische und koptische Äquivalent zum lateinischen refrigerium) sowie das »Stiften von Erinnerung« (rmeue) an »den, der aus dem Körper hervortritt«.51 Doch am aufschlussreichsten sind die Art und der Tonfall der gestellten Fragen. Die Fragen, die ganz gewöhnliche manichäische Gemeindemitglieder – die Katechumenen – ihrem »Lehrer« stellten, waren haargenau die gleichen, die man von x-beliebigen Christen, die etwas über die Rituale ihrer eigenen Kirche erfahren wollten, auch erwartet hätte – und alle liefen sie, ehrlich gesagt, auf die eine große Frage hinaus: »Funktionieren diese Rituale überhaupt?«

Dies war auch das zentrale Thema von Kephalaion 115, das bereits in der Überschrift zusammengefasst wird:

Der Katechumene fragt den Apostel: Wird einer, der aus dem Körper hervorgetreten ist, Ruhe [matnes] erlangen, wenn die Heiligen [die »Erwählten«] über ihm/für ihn beten und ein Almosenopfer [imgoumñtnae] darbringen?52

Diese Frage berührte den zentralen Punkt in der Beziehung zwischen den Lebenden und den Seelen der Verstorbenen:

»So bitte ich dich denn, Meister, und flehe, dass du mich in dieser

Sache belehrst, [darüber] ob sie wahr ist.

Denn dies [gemeint ist das Almosengeben für die Toten] ist [ein

Brauch, der] sehr groß [ist] und geachtet unter dem Volk.«53

Worauf der Lehrer – sinngemäß – antwortet: »Danke für diese sehr gute Frage!« Er beruhigt den Fragesteller, indem er ihm versichert, dass solche Handlungen sehr wohl wirksam seien – wenn sie innerhalb der Heiligen Kirche des Mani vollzogen würden. Große Mächte würden sich dann vereinigen zum Schutz der Seele: »Und durch dein heiliges Gebet, in dem du Gott darum bittest, dass jenen, in deren Namen die Tafel [des Totenmahls oder vielleicht auch der Eucharistie] bereitet wurde, eine [himmlische] Macht beistehen möge. Und so wird vom Gott der Wahrheit eine Macht ausgesandt werden; und sie kommt und hilft dem, für den die Opfergaben – die prosphora [das manichäische Äquivalent der konsekrierten Hostie] – dargebracht wurden.«54

Auf diese Weise verband Mani das Dahinscheiden der Seele mit einem großartigen Mythos vom Aufstieg der Seele durch einen Kosmos voller bewahrender und bedrohlicher Mächte. Dennoch waren die Rituale, die Mani da so ambitioniert deutete, eigentlich ganz simpel. Viele von ihnen fanden bei den Manichäern und in der Mainstreamkirche gleichermaßen Verwendung. Wir befinden uns in einer Welt, in der Almosen, andere Opfergaben und das »Stiften von Erinnerung« an die Toten ganz alltägliche Praktiken waren. Sie waren »sehr groß und geachtet unter dem [ganzen] Volk«.

Angesichts der völlig unproblematischen, tagtäglichen Allgegenwart christlicher Begräbnis- und Gedenkbräuche – Almosen, Erinnerungen, das Liebesmahl, die Eucharistie – war die brennende Frage für den Durchschnittsmanichäer (wie auch für jede Durchschnittschristin) nicht so sehr, wie jene Rituale funktionierten, sondern vielmehr, ob sie funktionierten. In diesem Punkt konnte Manis kosmischer Erklärungsansatz den Katechumenen nur beruhigen. Dieser könne absolut sicher sein, dass

Almosen zu seinen Gunsten und ein Gedenken zu seinen Gunsten [d.h. jeweils zugunsten der verstorbenen Person], für seinen Bruder, für seinen Vater oder seine Mutter oder seinen Sohn, oder auch für seine Tochter oder irgendein anderes Familienmitglied, das aus dem Körper hervortreten wird, [...] [wenn] er diese Almosen [gegeben] hat [...], dann hat er Hoffnung genug.55

Tatsächlich bekräftigte Mani den Katechumenen darin, diese Praktiken auch selbst weiter auszuüben:

Was du da tust ist ein großes Gut [...] du erlöst sie [die dahinscheidende Seele] von tausenderlei Leiden.56

Was Mani jedoch auszeichnete war seine Überzeugung, dass die Rituale der Totensorge einzig und allein in seiner »Heiligen Kirche« funktionieren konnten. Im Kephalaion 87, »Über das Almosengeben«, stellte er klar, dass die Anhänger »sämtlicher Sekten« (womit er alle früheren Christen meinte – und vielleicht auch Juden und sogar Zoroastrier) im Namen Gottes Almosen gaben. Doch nur in der Heiligen Kirche des Mani würden diese Almosen einen himmlischen »Ruheort« finden: »Es ist die Heilige Kirche [des Mani], die der Ruheort für all jene wird, die darin ihre Ruhe finden werden; und sie wird zu einem Tor und zu einem Fahrzeug werden, das in das Land der Ruhe führt.«57

Manichäische Textzeugnisse aus Kellis, einer Stadt, die ab den 1980er-Jahren in der südägyptischen Oase Dachla in der Libyschen Wüste ausgegraben wurde, belegen, wie wichtig jene Rituale im täglichen Leben der Manichäer waren. Die Briefe und sogar die Wirtschaftsbücher, die man in Kellis gefunden hat, sind gespickt mit Verweisen auf die agapê, die man den Seelen der Toten erweisen müsse.58 Eine überaus traurige Angelegenheit war es für die Manichäer von Kellis, als eine alte Dame starb, ohne durch die angemessenen Riten getröstet worden zu sein: »Wir gedenken ihrer gar oft, und es betrübt mich sehr, dass sie sterben musste, als wir nicht bei ihr waren, und dass sie gestorben ist, ohne ihre Brüder um sich versammelt zu sehen.«59

Von Mani zu Augustinus

Damit könnten wir Mani und seine Lehren hinter uns lassen – wäre da nicht die Tatsache, dass die Probleme, zu deren Lösung Mani aufgerufen war, auch ein Jahrhundert später, als Augustinus bereits ein alter Mann war, noch nicht gelöst worden waren. Im Jahr 422 verfasste Augustinus sein Enchiridion (ein Handbüchlein über Glaube, Hoffnung und Liebe). Wie auch der Verfasser der Kephalaia schrieb er sein Enchiridion auf die Fragen eines Laien hin, in diesem Fall eines gewissen Laurentius, der womöglich ein gebildeter stadtrömischer Bürger war. Laurentius war der Bruder eines kaiserlichen Beamten, der in Nordafrika Dienst getan hatte.60 Die von Laurentius geäußerten Unsicherheiten sind genau dieselben, die auch Mani ausräumen wollte: Waren Rituale für die Seelen der Verstorbenen tatsächlich wirksam? Und wenn ja, wie genau wirkten sie?

Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, gelangte Augustinus – der sich immerhin als Bischof und Gelehrter dreißig Jahre lang intensiv mit diesen Fragen beschäftigt hatte – zu einer Antwort, die derjenigen Manis genau entgegengesetzt war. Während Mani weitschweifig von den kosmischen Vorgängen erzählt hatte, denen die manichäische Totensorge ihre Wirksamkeit verdanke, gab Augustinus sich erstaunlich zurückhaltend, was die genaue Funktionsweise der entsprechenden katholischen Rituale anging. So lautete seine Antwort im Grunde: »Das weiß nur Gott – und er will es uns nicht verraten.« Darüber hinaus beschränkte Augustinus sich auf die Feststellung, dass die Darbringung von Opfergaben für die Seelen der Toten von den Aposteln selbst eingeführt worden sei – und aus diesem Grund sollten katholische Christen diesen Brauch auch beibehalten. So viel hatte Mani auch gesagt.61 Doch, wenn wir nun nach der genauen Funktionsweise dieser Opferrituale fragen oder danach, für welche Personengruppen diese geeignet seien, verweist Augustinus uns nur auf das unergründliche Schweigen Gottes.

Die Antworten Manis und Augustins mögen verschieden gewesen sein; aber wir sollten doch eine gewisse »Interessenkonvergenz« zur Kenntnis nehmen, die beide wieder vereint. Beide waren sich einer Lücke in ihren jeweiligen Systemen bewusst. Zwar hatten sie beide klare Ansichten zu den Schicksalen, die große Heilige und große Sünder im Jenseits erwarteten; doch zu einer immer drängenderen Frage – dem Schicksal des »Durchschnittssünders« – hatten sie beide nichts Sinnvolles beizutragen. Beide waren im Grunde zu einer Erklärung darüber aufgefordert, wie die Rituale der Lebenden sich auf die große Mehrheit all derjenigen auswirkten, die in der »Grauzone« der christlichen Eschatologie existierten – in dem quälenden Dämmerlicht zwischen dem Glanz der Heiligen und der Finsternis der Verdammten.

Im Falle Manis war die Lücke im System besonders augenfällig. Aus Kephalaion 92 erfahren wir, dass Mani schon ein Gesamtmodell des Universums ausgearbeitet hatte. Doch seine Jünger ließen ihm keine Ruhe, sie wollten unbedingt wissen, warum er in diesem kosmischen Plan keinen Platz für all jene vorgesehen hatte, die auf dem »mittleren Weg« unterwegs waren: »Warum hat er den mittleren Weg der Katechumenen nicht dargestellt? Warum hat er nicht gezeigt, wie ein Katechumene [im Gegensatz zu einem heiligmäßigen Erwählten] aus seinem Körper hervortritt und vor seinen Richter geführt wird?«62

Augustinus sah sich mit genau denselben Fragen konfrontiert. Um Laurentius zu beruhigen, griff er auf eine prägnante Formel zurück und lieferte seinem Schüler gewissermaßen ein Venn-Diagramm des Jenseits: Nur in der Schnittmenge zwischen den beiden großen Kreisen der Guten und der Bösen konnten die Rituale der Lebenden überhaupt einen Einfluss auf das Schicksal der Verstorbenen entwickeln. Die Gebete und Opfergaben der Gläubigen hatten keine Bedeutung für die valde boni – die »vollkommen Guten« –, denn bei diesen konnte man ohnehin davon ausgehen, dass sie den Himmel ohne Probleme erreicht hatten. Auch auf das Schicksal der valde mali – der »gänzlich Bösen« – konnten die Lebenden nicht einwirken, denn diese waren entweder bereits in der Hölle oder doch auf dem sicheren Weg dorthin. Knackpunkt der ganzen christlichen Eschatologie (und auch der christlichen Seelsorge) war jedoch das Schicksal der non-valdes – der non valde mali und der non valde boni: der »nicht besonders Schlechten« und der »nicht besonders Guten«. Solchen Personen konnten die Lebenden durch ihre Gebete und Gaben beistehen, vorausgesetzt, jene hatten sich zu Lebzeiten für eine solche Unterstützung »qualifiziert«, indem sie ein einigermaßen gutes Leben geführt hatten: »Es gibt nämlich Menschen, deren Lebensführung nicht gut genug ist, so daß sie diese [Fürbitten] nach ihrem Tode nicht nötig hätten, und auch wieder nicht schlecht genug, so daß sie ihnen nichts nützen könnten.«63

Die lapidaren Formulierungen des Enchiridion, in denen diese Einteilung der Gläubigen in drei Gruppen ausgeführt wird, erlangten in späteren Jahrhunderten – wohl auch wegen ihrer hohen Prägnanz – eine beinah gesetzmäßige Autorität. Wie gut abgewetzte Spielsteine glitten sie in allen weiteren Debatten über das Schicksal der Seele und über die Bemühungen der Gläubigen ihretwegen ganz sanft an ihren Platz, immer und immer wieder. Man hat sie als einen »ersten Schritt auf dem Weg zu einer Hierarchisierung der Sünden« bezeichnet, der schließlich auch zu jener bekannten Dreiteilung des Jenseits in Himmel, Hölle und dem Fegefeuer in der Mitte geführt habe, die das katholische Christentum des Westens auszeichnet.64

Doch damit sind wir schon zu schnell zu weit gelangt. Im Hinblick auf Augustinus selbst erahnt man jedenfalls, schaut man sich die felsenfeste Undurchdringlichkeit seiner Antwort an Laurentius einmal genauer an, dass da lediglich ein Damm gebaut werden sollte. Dieser Damm sollte den stummen Druck zurückhalten (nicht etwa aufheben), den die non-valdes – die »Nichtbesonderen« – in den christlichen Gemeinden auszuüben begannen. Wie jene Katechumenen, die Mani in den Kephalaia ausgefragt hatten, verlangten auch durchschnittliche Christen in Nordafrika und anderswo inzwischen wesentlich ausführlichere – und, wenn möglich, auch beruhigendere – Antworten, als Augustinus zu geben bereit war. Sie wollten einen festen Ort für ihre Lieben in der Geografie des Jenseits. Sie wollten sicher sein, dass die Rituale, die sie auf Erden für ihre Verstorbenen ausführten, einen direkten und förderlichen Einfluss auf deren Schicksal im Jenseits hatten. Diese Sicherheit verweigerte Augustinus ihnen. Dennoch ließ sich das Thema nicht länger vermeiden. Die Kirche war auf dem besten Weg, sich die römische Gesellschaft als Ganze einzuverleiben. Das bedeutete – mit zwingender Notwendigkeit –, dass sie auch eine Kirche der non valdes werden würde.

Aus diesem Grund steigen wir mit Augustins Zurückhaltung auch in das nächste Kapitel ein. Insbesondere werden wir seine Bedenken hinsichtlich folgender Punkte genauer betrachten: des Kontakts von Lebenden und Toten in Träumen und Visionen, des Schicksals der Seele nach dem Tod und des Einflusses der von den Lebenden zugunsten der Toten ausgeführten Rituale auf das Schicksal der Seelen im Jenseits. Diese Bedenken waren eine Reaktion auf die beständigen Nachfragen sowohl von anderen Klerikern als auch von Laien. Die Fragen, die Augustinus beantworten sollte, spiegelten mehr als nur theologische Dilemmata wider: Sie waren Ausdruck einer Zeitenwende.

Augustinus selbst war an der Erzeugung dieser Zeitenwende keineswegs unbeteiligt. Indem er seinen Streit mit Pelagius gewonnen hatte, hinterließ er tiefe Spuren in der Frömmigkeitspraxis der lateinischen Christenheit, und zwar insbesondere, was die Einstellung der Gläubigen zum Tod sowie die Notwendigkeit von Buße und Sühne in diesem wie im nächsten Leben betraf. Zur gleichen Zeit bewiesen die vielen Fragen, auf die Augustinus trotzdem noch antworten musste, wie wenig selbst er zu einer endgültigen Lösung der Probleme mit dem Jenseits beigetragen hatte – ja, ganz im Gegenteil: Er hatte sie durch seine Ausführungen nur noch dringender werden lassen. Wie so viele alte Männer im Augenblick ihres Triumphs beschloss Augustinus sein Leben, indem er einer Zukunft die Stirn bot, zu deren Anbrechen er selbst stark beigetragen hatte.