Wie auch in meiner Danksagung angemerkt, hat dieses Buch sich aus einer Reihe von drei öffentlichen Vorträgen entwickelt, die ich im Herbst 2012 in Wien gehalten habe. Da das Vortragsformat gewisse inhaltliche Beschränkungen mit sich bringt, ergänze ich meine damaligen Überlegungen im Folgenden um eine kurze Einleitung in das »große Ganze«, nämlich die entwicklungsgeschichtlichen Grundzüge christlicher Jenseitsvorstellungen im lateinischen Westen zwischen 200 und 700 n. Chr.
Um die Sache auf den Punkt zu bringen, werde ich zwei Epochen miteinander vergleichen: die Welt der frühen Kirche gegen Ende des 2. Jahrhunderts und im 3. Jahrhundert n. Chr. auf der einen Seite und die frühmittelalterliche Welt des 7. Jahrhunderts auf der anderen. Diese sind zugleich der Anfangs- und der Endpunkt der im Anschluss zu erzählenden Geschichte. Erst wenn wir diese beiden Punkte der Entwicklung verglichen haben – wenn wir sicher sein können, was diese beiden Welten (die immerhin beinah ein halbes Jahrtausend trennt) gemein haben und was nicht –, können wir die Implikationen der Veränderungen, die von dem einen zu dem anderen Punkt geführt haben, ganz ermessen. Zu dieser Herangehensweise hat mich die Lektüre eines wenig beachteten Textes aus dem 7. Jahrhundert angeregt, den ich erstmals Mitte der 1990er-Jahre studiert habe. Ich meine das Prognosticon des Erzbischofs Julian von Toledo. Dieser Text hat, seitdem ich ihn zum ersten Mal gelesen habe, nicht aufgehört, mich zu faszinieren. Ich halte ihn für das ergreifende Zeugnis einer ganzen Epoche.
Im Jahr 688 saßen der Erzbischof Julian von Toledo, der Hauptstadt des Westgotischen Reiches, und der Bischof Idalius von Barcelona still in einer Bibliothek und lasen. Idalius war ein kranker Mann; die Gicht plagte ihn sehr. Da Toledo in diesen Tagen weitgehend menschenleer war und Ruhe über der Stadt lag – der König und sein Heer waren zu ihrer Frühjahrskampagne aufgebrochen –, hatte Julian sich daran begeben, aus der Fülle seiner Bibliothek eine Anthologie großer Autoren der lateinischen Kirche zusammenzustellen, mit der er seinem todkranken Freund ein wenig Trost spenden wollte.
Julian nannte seine Textsammlung ein Prognosticon futuri saeculi – also eine »medizinische Vorhersage der künftigen Welt«.1 Durch seine Wortwahl macht er deutlich, dass er dabei an eine medizinische Prognose denkt: Seine Sammlung soll die Gewissheit einer ärztlichen Diagnose bieten. Die darin versammelten Texte präsentieren das zukünftige Schicksal der menschlichen Seele, Schritt für Schritt, vom Zeitpunkt des Todes über ein körperloses Nachleben bis schließlich zur glorreichen Erneuerung der gesamten Schöpfung am Tag der Auferstehung und des Jüngsten Gerichts.
Im Mittelalter entwickelte sich Julians Anthologie zu einem wahren Bestseller.2 Das überrascht nicht, denn das Prognosticon bot seinen Lesern etwas, was Claude Carozzi, Julians bester Interpret, als ein ganzes »Universum von Gewissheiten« über den Tod und das Schicksal der Seele nach dem Tod bezeichnet hat.3 Das Prognosticon nahm für sich das Gewicht von über vier Jahrhunderten christlicher Jenseitsreflexion in Anspruch. Der Erzbischof hatte sich durch die Bestände seiner umfangreichen Bibliothek gearbeitet und Textauszüge zu den Themen Tod und Jenseits angefertigt, wo immer er bei einem christlichen Autor auf diese Themen traf: vom großen Bischof Cyprian von Karthago um die Mitte des 3. Jahrhunderts angefangen bis hin zu Papst Gregor dem Großen am Ende des 6. Jahrhunderts. Schon Julians Anthologie umspannt also beinahe die vier Jahrhunderte, die auch wir in den Blick nehmen wollen.
Das Prognosticon ist deshalb so wertvoll, weil es nicht weniger bietet als ein Panorama christlicher Jenseitsvorstellungen, wie sie am äußersten Ende der christlichen Antike – bereits an der Schwelle zum Mittelalter – verbreitet waren. Natürlich ahnte Julian nicht, dass er am Ende einer Epoche lebte. Nur eine Generation später sollte das Westgotenreich von arabischen Invasoren aus dem Osten hinweggefegt werden und Toledo über viele Jahrhunderte eine muslimische Stadt werden.
Doch es ist nicht allein der schmerzliche Eindruck einer »Endzeit«, der Julians Prognosticon auszeichnet. Was ich nämlich bei meiner ersten Lektüre nicht erkannt hatte, war, dass das Prognosticon noch weit mehr zu bieten hat als eine unschätzbare Sammlung christlicher Jenseitsvorstellungen zur Zeit Julians. Es bietet dem Leser eine Möglichkeit, die uns Historikern nur selten vergönnt ist: gleichsam über die Schulter eines antiken Autors mitlesen zu können, während dieser Schriften liest, die wir selbst auch schon studiert haben. Wie dachte Julian über die frühchristlichen Werke, aus denen er exzerpierte? Inwiefern unterschied sich das, was er in diesen Texten erblickte, von deren heutigem Verständnis in der historischen Erforschung der frühen Kirche?
Freilich spiegelt dieser geschichtswissenschaftliche Zugang eine moderne Methodik.
Julian war sich seines großen zeitlichen Abstands zu den früheren der von ihm kopierten Texte kaum bewusst. Vielmehr war er überzeugt, dass die Anthologie, die er für seinen Freund Idalius zusammengestellt hatte, den Ausdruck einer zeitlosen und ungebrochenen Tradition darstellte. Jedem Aspekt des Jenseits, den er betrachtete, ordnete er Textauszüge aus den verschiedensten Epochen zu. Es kam ihm offenbar überhaupt nicht in den Sinn, dass jene Auszüge die diversen »Christentümer« ganz unterschiedlicher Zeitalter repräsentieren mochten. Und warum hätte er das auch denken sollen? Er war kein moderner Kirchenhistoriker oder Religionswissenschaftler. Er hatte ein dringendes Anliegen. Er war ein christlicher Bischof, der ein Handbuch zusammenstellte – fast schon ein wissenschaftliches Lehrbuch –, durch dessen ewige Wahrheiten er einem Freund das Sterben leichter machen wollte.
Doch sobald heutige Historiker die von Julian herausgeschriebenen Stellen in die chronologische Folge ihrer Entstehung bringen, wird klar, dass wir es jeweils mit ganz verschiedenen christlichen Epochen zu tun haben. Jede dieser Epochen war von einem anderen Weltbild geprägt. Als Historiker hätten wir Julian mitteilen können, dass ihm, wenn er etliche der frühchristlichen Autoren, die er in seiner Anthologie zitiert, persönlich getroffen hätte, diese wohl – trotz aller christlichen Gemeinsamkeit – wie fremdartige, geradezu vorsintflutliche Kreaturen vorgekommen wären, deren Lebenswelt sich von seiner eigenen scharf unterschied; und jene frühchristlichen Autoren hätten über Julian wohl ganz ähnlich gedacht.
Wir sollten uns deshalb zunächst solche Auszüge aus dem Prognosticon ansehen, in denen Julian die frühesten christlichen Autoren zitiert, die ihm bekannt waren. Wir werden sehen, was er in ihnen sah. Wir werden auch sehen, was er über sie nicht wusste, obgleich es uns heute geläufig ist: der präzise historische Kontext der zitierten Schriften und die verschiedenen Weltbilder, die sich in ihnen jeweils ausdrücken.
Zunächst haben wir es mit einer Einstellung gegenüber dem Tod und dem Jenseits zu tun, die sich von jener Julians fundamental unterscheidet. Der früheste Autor, den er zitiert, ist Cyprian, der von 248 bis 258 n. Chr. Bischof von Karthago war. Cyprian war eine führende Persönlichkeit bei der Formulierung des christlichen Jenseitsbildes gewesen. Zusätzliche Autorität sollten seine Ansichten dadurch gewinnen, dass er sein Leben als Märtyrer beschloss. Gleich seitenweise schrieb Julian aus Cyprians Abhandlung De mortalitate (»Über die Sterblichkeit«) ab, auch aus seiner an einen gewissen Fortunatus gerichteten »Ermahnung zum Martyrium«.4 In diesen Schriften blickt Cyprian dem Tod ganz unverwandt ins Auge – ja, er starrt durch ihn hindurch: Der Tod scheint ihm nicht mehr als ein Moment, der »überstanden« sein will – expuncta.5 Der Tod als Märtyrer sei der glücklichste, weil dem Märtyrer noch im Augenblick seines Todes der Eintritt in den Himmel gewährt werde: »Welch große Ehre ist es, welch ein Gefühl der Sicherheit, diese Welt mit Freuden zu verlassen und dahinzugehen in Herrlichkeit [...] in dem einen Moment die Augen zu schließen, mit denen man die Menschen und die Welt erblickt hat – und sie im nächsten Moment wieder zu öffnen, um Gott und Christus selbst zu erblicken.« Für einen Märtyrer gab es also gar kein »Nachleben« im Jenseits, sondern nur die augenblickliche Gegenwart Gottes. Julian mögen diese Ansichten Cyprians ein wenig seltsam vorgekommen sein; jedenfalls beeilte er sich, als nächsten Textauszug ein Augustinus-Zitat anzufügen, demzufolge nicht nur Märtyrer, sondern alle Heiligen auf dieselbe unverzügliche Weise in den Himmel gelangen würden.6
Doch Cyprian war nicht wie Julian, ja er war noch nicht einmal wie Augustinus. Den Märtyrern seiner eigenen Zeit galt seine ganze Aufmerksamkeit. Nur die Märtyrer konnten sicher sein, geradewegs in die göttliche Gegenwart zu gelangen. Der Schwerpunkt seines ganzen Jenseitsbildes lag ganz klar auf den Märtyrern.7 Tatsächlich gehörten die leidenschaftlichen Seiten, die Julian zum Trost seines Freundes aus den Werken Cyprians kopiert hatte, einer schon sehr fernen Form des Christentums an, in der die Idee des Martyriums über allem gestanden hatte. Diese fremde Welt sollten wir nun für einen Moment in den Blick nehmen.
Anders als Julian war Cyprian nicht ein Erzbischof im Spanien des 7. Jahrhunderts gewesen – ganz im Gegenteil. Er war der Kopf einer winzigen Gemeinde im nordafrikanischen Karthago, deren wahrscheinlich nicht mehr als 2500 Mitglieder im besten Fall etwa ein Dreißigstel der Einwohnerschaft ausmachten. Und tatsächlich drohte vielen seiner Gemeindemitglieder die Hinrichtung als Märtyrer – vom griechischen mártyres, »Zeugen« – des christlichen Glaubens. Außerdem wütete in Karthago zu jener Zeit die Pest. Das war die Situation, in der Cyprian seine ermutigenden Worte niederschrieb.
Und Ermutigung konnten seine Brüder und Schwestern gut gebrauchen. Wir sollten uns die Christengemeinde von Karthago nicht als Bollwerk kampfbereiter Heiliger vorstellen, die angesichts einer gnadenlos feindlichen Umwelt jederzeit für ihren Glauben zu sterben bereit waren. Wie Éric Rebillard vor Kurzem in einem brillanten Buch dargelegt hat, verbrachten die frühen Christen in Karthago und anderswo nur einen Bruchteil ihrer Zeit damit, frühe Christen zu sein. Sie besaßen viele verschiedene Identitäten und unterhielten eine Vielzahl von Beziehungen zu einer heidnischen Gesellschaft, die sie zumeist überhaupt nicht als Christen wahrnahm. Viele von ihnen waren auch gar nicht der Ansicht, dass ihr Christsein eine unwiderrufliche Vollzeitidentität bedeutete. Der Kircheneintritt fiel ihnen nicht schwer. Aber sobald ihnen klar wurde, dass ihre Bindung an das Christentum sie in Widerstreit zu älteren, stärkeren Loyalitäten geraten ließ, traten sie auch genauso schnell wieder aus. Und deshalb ist Cyprians Beschwörung der toten Märtyrer eben nicht Ausdruck einer gleichsam monolithischen Christengemeinde. Vielmehr wurden das Ideal des Märtyrertodes und die Vorstellung eines augenblicklichen Eingangs der Märtyrer in den Himmel von Cyprian herangezogen, um eine potenziell gleichgültige Gemeinde herauszufordern. Cyprians Behauptungen waren umso dramatischer, als er überhaupt nicht sicher sein konnte, dass sie überhaupt gehört werden würden.8
Die Notwendigkeit, die durchschnittlichen Christen zur Befolgung ihres Glaubens anzuhalten, sorgte im Karthago Cyprians wie auch anderswo in der spätantiken Welt dafür, dass die Märtyrertodthematik die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen – Heiden wie Christen – in Beschlag hielt. Und das geschah mit einer solchen Eindringlichkeit, dass alle anderen christlichen Grübeleien über das Jenseits davon in den Schatten gestellt wurden. Ein normaler Tod interessierte kaum, aber das Martyrium – das war etwas Besonderes. Der Märtyrertod war »ein Tod für Gott, neu und außergewöhnlich«.9 Er stand für ein Christentum, wie man es sich extremer – aber auch authentischer – nicht vorstellen konnte.
Aus der Sicht der Nichtchristen hingegen stand er für ein Christentum, wie man es sich überspannter und aufdringlicher nicht vorstellen konnte. Wir dürfen eines nicht vergessen: Den Märtyrertod zu sterben, bedeutete ja nicht, dass man mit christlicher Geduld und Standhaftigkeit einem Justizverfahren zum Opfer fiel, das im (einigermaßen) Verborgenen verlaufen wäre. Diese moderne Vorstellung ist viel zu zahm; sie entspringt der Vorstellung von unserem heutigen Rechtssystem. Vielmehr waren öffentliche Gerichtsverhandlungen und öffentliche Hinrichtungen ein ganz selbstverständlicher Bestandteil des Lebens in einer römischen Stadt. Entsprechend erinnerten sich die Christen an die Martyrien ihrer Glaubensbrüder und -schwestern als extreme und schreckliche Ereignisse, die sich in aller Öffentlichkeit abgespielt hatten, vor den Gerichtshöfen und in den Amphitheatern, vor aller Augen.10
Und doch war das, was Christen wie Cyprian ein »außergewöhnlicher« Tod schien, für den durchschnittlichen Heiden eher abnorm, ja krankhaft. In den Augen ihrer heidnischen Mitbürger waren die Christen ein Haufen selbstmörderischer Exhibitionisten. Wie der Kaiser Marc Aurel (161–180) in seinen Selbstbetrachtungen geschrieben hatte: Ein weiser Mann dürfe sich sehr wohl entschließen, seinem Leben selbst ein Ende zu bereiten. Aber den Tod allein aus Trotz herauszufordern »wie [...] bei den Christen«, war ein »theatralisches Gebaren«, das den Kaiser abstieß. Mag sein, dass der Zusatz »wie [...] bei den Christen« von einem späteren Kopisten eingefügt worden ist.11 Aber auch der Kopist hätte die Sache dann auf den Punkt gebracht: Manche Tode (und nicht nur die von Christen) waren öffentliche Spektakel der aufdringlichsten und unerfreulichsten Art.
Wir dürfen nicht vergessen, dass aus der Sicht eines durchschnittlichen Nichtchristen jener Zeit die christlichen Märtyrer so besonders überhaupt nicht waren. Vielmehr passten sie nur zu gut in eine lange Reihe blutverschmierter und irrer Gestalten: Gladiatoren spielten in der Arena mit ihrem Leben. Ihre blutigen, verstümmelten Leichname assoziierte man mit übermenschlichen Kräften.12 Auch rebellische Philosophen setzten ihr Leben aufs Spiel, indem sie alles daransetzten, die Mächtigen zu beleidigen. Der Verrückteste unter ihnen, der Philosoph Peregrinus, hatte sogar eine Zeit lang mit dem Christentum geliebäugelt. Unter den Christen hatte er großes Ansehen als potenzieller Märtyrer erlangt. Im Jahr 165 n. Chr. nahm er sich das Leben, indem er sich unweit der Zuschauermassen, die sich in Olympia zu den Olympischen Spielen versammelt hatten, anzündete und verbrannte.13 Die Tode der christlichen Märtyrer machten auf Außenstehende nicht zwangsläufig Eindruck. Viel eher wirkten sie auf diese grotesk und verstörend. Dennoch hatten Christen und Nichtchristen eines gemein: Ob sie ihnen nun heldenhaft oder krankhaft erschienen, die grausigen, ganz und gar öffentlichen Tode der christlichen Märtyrer hielten ihre Aufmerksamkeit in Bann – und andere, gewöhnlichere Tode hatten das Nachsehen.
Hinter der christlichen Überhöhung der Märtyrer stand eine Vorstellung vom Jenseits, die auch Julian im Toledo des 7. Jahrhunderts – wenn er sie in allen ihren Konsequenzen nachvollzogen hätte, wie es ein heutiger Religionswissenschaftler tun muss – als Botschaft aus einer ganz und gar fremdartigen Welt erschienen wären. Stattdessen schienen Cyprians klangvolle Wendungen Julian Ausdruck einer ungebrochenen christlichen Tradition. Aber in Wahrheit gehörte Cyprian einer ganz anderen Welt an, einer Welt mit ganz anderen Vorstellungen von der Beschaffenheit der Seele und dem Jenseits.
Das wird deutlich, wenn wir uns noch einmal fünfzig Jahre zurückbewegen, ganz an den Anfang des 3. Jahrhunderts n. Chr. Dort treffen wir auf den unermüdlichen Verfasser christlicher Schriften Tertullian von Karthago (um 160 bis um 240). Cyprian bildete in Julians Wahrnehmung der frühen Kirche den äußersten Horizont. Und während Julian sich aus den Schriften Cyprians reichlich bediente, kommt Tertullian in seinem Prognosticon überhaupt nicht vor. Im 7. Jahrhundert konnte man Tertullian höchstens im dunklen Hintergrund dessen finden, was Julian als orthodoxen Katholizismus kannte, denn er war als Häretiker verdammt worden. Zur Zeit Cyprians war das jedoch noch nicht der Fall gewesen, ja die umfangreichen und mit gründlichen Argumentationen versehenen Werke Tertullians beeinflussten die lateinische Christenheit noch für einige Generationen über die Zeit Cyprians hinaus. Cyprian selbst bezeichnet Tertullian als »den Meister«.
Für Tertullian handelte es sich bei der durchschnittlichen Seele um ein überraschend zahmes Ding. Auf die schwachen Seelen der großen Masse kam es ihm – wie auch Cyprian – kaum an; interessanter waren die der Märtyrer. Aber das war nicht alles. Der weitere Weg der Einzelseele nach dem Tod war für Tertullian völlig unerheblich, wurde doch – nach seiner Ansicht – ein solches Nachleben ganz und gar in den Schatten gestellt von der umfassenden Verwandlung aller Dinge, die mit der christlichen Auferstehungslehre in Aussicht gestellt war. Man glaubte damals, jene mächtige Verwandlung stehe unmittelbar bevor. Tertullian stellte sie sich so majestätisch, so radikal, so umfassend vor, dass der Zeitraum zwischen dem Tod und der Auferstehung der Toten dagegen kurz und bedeutungslos erschien.
Diese Sichtweise Tertullians sollte indes nicht mit der Tradition eines christlichen »Mortalismus« verwechselt werden, der sich in manchen Kreisen bis heute gehalten hat. Glaubt man dieser Lehre vom »Seelenschlaf«, so ist die Seele des Verstorbenen gewissermaßen bewusstlos – so gut wie tot –, bis sie bei der Auferstehung der Toten am Tag des Jüngsten Gerichts erweckt wird. Nach Tertullians Auffassung jedoch wurden die Seelen der Verstorbenen nie ganz bewusstlos, sondern erlebten vielmehr eine zeitweilige »Aussetzung« ihrer bisherigen Existenz, während sie darauf warteten, dass der nächste große Akt des göttlichen Heilsdramas anbräche und nach dem Jüngsten Gericht, bei der Erweckung der Toten, ihnen Gottes Herrlichkeit zuteilwürde.14 Kurz gesagt, ließ für Tertullian (und für viele seiner Zeitgenossen) der Gedanke an die »große Zukunft« des allgemeinen Heilsgeschehens – mit dem Jüngsten Gericht und der Auferstehung der Toten – keinen Raum für den Gedanken an die »kleine Zukunft« der Einzelseele nach dem Tod.
Diese Einstellung war unter den Christen des späten 2. und frühen 3. Jahrhunderts weit verbreitet. Sie versperrte gewissermaßen die Sicht auf bestimmte Vorstellungsoptionen, wenn diese Christen über den Tod nachdachten. Die offensichtlichste und hartnäckigste dieser Imaginationsblockaden äußert sich in der christlichen Leugnung einer aus sich heraus unsterblichen Seele. Viele christliche Denker waren der Ansicht, wer die Seele als grundsätzlich unsterblich bezeichne, gestehe ihr eine zu große Autonomie zu. Keine Seele gelange allein deshalb direkt in den Himmel, weil sie eine Seele sei, wie es – so die herrschende Auffassung – die heidnischen Philosophen behauptet hatten. Stattdessen bestanden die christlichen Apologeten entgegen den Ansichten ihrer nichtchristlichen Kontrahenten darauf, dass die bloße Existenz der Seele ganz allein von Gottes Willen abhänge. Ihre Belohnung werde sie dereinst aus Gottes machtvoller Hand erhalten – und zwar genau dann, wenn Gott es gefiel. Christen, hieß das auch, starben für die Auferstehung der Toten, nicht für die Unsterblichkeit ihrer Seelen.
Hier sind wir auf einem völlig fremdartigen Territorium angelangt, das Julian von Toledo nur mit Mühe als christlich würde erkannt haben. Aber die Tatsache bleibt bestehen, dass die lateinischen Christen zur Zeit Tertullians gerade nicht zu dem Glauben ermutigt wurden, ihre körperlosen Seelen würden nach dem Tod unverzüglich in den Himmel gelangen (wie es die meisten Christen heute glauben), ganz im Gegenteil: Die führenden heidnischen Autoritäten der Zeit setzten den Aufstieg der Seele in den Himmel als selbstverständlich voraus. Sie glaubten, dass die Seelen großer Männer (sowie jene ihrer Nächsten wie Eltern, Frauen und Kinder) sogleich nach dem Tod zu den Sternen aufsteigen würden. Wie züngelnde Flammen würden sie an ihren ursprünglichen Wohnsitz zwischen den funkelnden Sternen und Sternhaufen der Milchstraße zurückkehren. Wer sich im Leben durch eine hohe Seele ausgezeichnet hatte, so glaubte man, würde nach seinem Tod ohne Umschweife auf solche Höhen gelangen.15 Was die Frage der Unsterblichkeit der Seele betraf, waren Tertullians Zeitgenossen wahre Außenseiter unter den christlichen Theologen.
Tertullian (und viele andere führende Christen seiner Zeit) hielten den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele nicht nur für überheblich, sondern für belanglos. Die allgemeine Auferweckung der Toten bildete das Gravitationszentrum ihres Denkens. In aller Schärfe wiesen sie darauf hin, dass es für die Seele keineswegs ausreichend sei, ihrem Körper zu entfliehen. Anstatt direkt in den Himmel aufzusteigen, nähmen die christlichen Seele gewissermaßen eine Auszeit: Sie warteten auf etwas Besseres – auf die große Zukunft ihrer Auferstehung. Gott werde nicht weniger tun als das gesamte Universum neu schaffen und das allein zu ihren Gunsten. In einer Geste höchster Macht werde Gott – was sowohl den menschlichen Verstand als auch die besten Erkenntnisse der antiken Naturwissenschaft herausforderte – jeden einzelnen menschlichen Körper neu erschaffen, indem er Leib und Seele eine unvorstellbar herrliche »Verwebung« (texturam) geben wolle.16 Erst dann werde die große Zukunft eingetreten sein. Die Wiederherstellung der ganzen Schöpfung, aller gesellschaftlichen Lebenszusammenhänge und jedes einzelnen menschlichen Körpers galt diesen Christen für weitaus großartiger als jeder noch so himmlische Flug einer einzelnen Seele zu den Sternen. Gegenüber ihren heidnischen Kontrahenten bestanden christliche Wortführer wie Tertullian wie besessen auf einer größeren – viel größeren – Sache, als es die bloße Unsterblichkeit der Seele war.
Bei Tertullian gibt es im Jenseits also so etwas wie ein Zeitgefühl – und das ist eine Vorstellung, die Julian und seinen Zeitgenossen völlig fremd gewesen wäre: das Jenseits als eine Welt voller Seelen, die warten. Denn jene mächtige Verwandlung, in der die Leiber und Seelen der Verstorbenen wieder vereint werden sollten und bei der die müde Erde selbst zum Paradies werden würde, sie war es doch wert, dass man auf sie wartete! In der Tradition, die Tertullian vertrat und die nach ihm noch über viele Generationen Bestand hatte, setzte man ganz selbstverständlich voraus, dass Christenseelen erst einmal warten mussten, bevor sie mit ihrem Körper wiedervereinigt werden konnten. Erst dann würden sie, wie man glaubte, an Gottes neuer Schöpfung vollen Gefallen finden. Allein die Seelen der Märtyrer entgingen der Wartezeit im Zwielicht. Sie gelangten ohne Umwege ins Paradies, denn sie waren ja bereits »Freunde Gottes« (amici Dei) geworden. Sie durften in das gleißende Innerste von Gottes Palast eintreten. Sie wurden in seine Gegenwart »aufgenommen«. Sie wurden von Christus selbst, ihrem Kaiser, umarmt und geküsst, genau wie privilegierte Personen auf Erden vom Kaiser umarmt und geküsst wurden.17
Allerdings stellten die Märtyrer eine absolute Elite dar. Andere Seelen (selbst die Seelen der Gerechten) mussten sich mit einer kleinen Zukunft zufriedengeben, zu der eben auch eine gewisse Zeit des Wartens gehörte. Diese Wartezeit war jedoch keineswegs trostlos. Man stellte sie sich als eine Art Rast vor, bei der die Seelen sich an einem schattigen und geborgenen Plätzchen ausruhen konnten. Der Gedanke an Ruhe und Erfrischung (refrigerium) bildete das Zentrum, um das sich in dieser Sicht des Jenseits alles drehte. In christlichen Glaubenszeugnissen und auch in der Kunst wurde der Vorstellung von einer Erfrischung der Seelen durch Bilder Ausdruck verliehen, die den Menschen des antiken Mittelmeer- und Nahostraums schon immer viel bedeutet hatten. Gute Seelen wurden durch etwas erquickt, das Tertullian ein refrigerium interim nennt, eine erfrischende Zeit der Einkehr, eine »Verschnaufpause« in der anderen Welt, so wohltuend, wie wenn man mit guten Freunden unter schattigen Bäumen rastet, um kühles Wasser und köstliche Speisen miteinander zu teilen.
Vergessen wir nicht, dass in einer Gesellschaft, in der Freizeit und Muße (otium) als Privileg der Elite ein hoher Stellenwert zukam, solch ein Warten überhaupt nichts Anrüchiges oder Widriges war. Die Seelen der Gerechten freuten sich an dieser Muße – einer schier nicht enden wollenden Muße, wie sie den Denkern der Antike als die Conditio sine qua non alles kreativen Schaffens gegolten hatte. Während dieser Zeit konnten sie sich daranmachen, die ganze Ungeheuerlichkeit jener Veränderung zu begreifen, die ihnen noch bevorstand – in der großen Zukunft der Auferstehung. Selbst die größten Seelen brauchten eine Weile, um sich »in Gottes Gegenwart zu akklimatisieren«.18
Mehr verlangten sie auch gar nicht. Uns modernen Menschen kommt diese Vorstellung des Jenseits merkwürdig unvollständig vor – und Julian von Toledo sah das ganz ähnlich. Tatsächlich war Julian, vergleicht man ihn mit noch früheren Christen, fast selbst schon ein moderner Mensch. Aber das liegt daran, dass die Ansichten, die Tertullian im 3. Jahrhundert mit solchem Eifer vertreten hatte, schon manchen seiner Zeitgenossen reichlich altmodisch erschienen waren. Schon damals hatte sich in christlichen Kreisen eine hochgespannte, platonische Vorstellung von der Seele als einer rein geistigen Wesenheit auszubreiten begonnen – einer Seele, die geradezu ein Anrecht darauf besitze, ohne Aufschub zu der beseligenden Schau Gottes zu gelangen. Und das ging natürlich zulasten der älteren Vorstellung, der zufolge die Seelen eine gewisse Wartezeit zu absolvieren hatten. Nach dem neueren Verständnis war der Himmel das wahre »Vaterland« der Seele. Der Gedanke, dass die Seelen guter Christenmenschen nach deren Tod nicht unverzüglich in den Himmel gelangen sollten, grenzte in den Augen späterer Christen an eine Negierung des Christentums überhaupt.19
Wie wir heute wissen, hat sich in der lateinischen Christenheit die Auffassung durchgesetzt, die Seele gelange unmittelbar nach dem Tod in den Himmel. Dieser Triumph der einen Vorstellung über die anderen hat eine Art gläserne Wand errichtet, die zwischen uns und jenen inbrünstigen Erwartungen steht, wie sie die Christen noch früherer Zeiten gehegt haben: Wir mögen diese Wand zwar auf den ersten Blick nicht bemerken; aber wenn wir genau hinsehen, ist sie doch da. Der Gedanke, dass allen, restlos allen Seelen nach dem Tod erst einmal eine »Auszeit« bevorstehe – dass sie abzuwarten hätten, bis Gott seine gewaltige Verwandlung des gesamten Universums vollbracht haben würde –, ist in den westlichen Kirchen verloren gegangen. Schon einem Christen des 7. Jahrhunderts, wie Julian von Toledo einer war, wäre er wie der Ausdruck einer fremden Welt erschienen.
Nachdem wir uns in den Jenseitswelten Cyprians und Tertullians umgesehen haben, können wir diese nun mit den Vorstellungen Julians von Toledo vergleichen. Dazu wollen wir uns vorstellen, wie ein Tertullian oder ein Cyprian womöglich auf das Jenseitsbild reagiert hätten, das Julian in seinen Schriften entwirft. Welche Aspekte dieses Bildes wären ihnen wohl seltsam vorgekommen?
Um es ganz kurz zu machen: In den Werken Cyprians (und mehr noch bei Tertullian) verbindet sich die epochale Wucht, die dem Gedanken an die Erschaffung eines neuen Himmels und einer neuen Erde innewohnt, mit einer starken Akzentuierung der Einmaligkeit eines jeden Märtyrertodes. Daneben konnte eine durchschnittliche Seele nur blass aussehen. Die Vorstellungswelt jener frühen Christen bot nur wenig Raum, in dem sich ein Interesse an postmortalen Einzelschicksalen oder an individualisierten »Jenseitsprofilen« einzelner Verstorbener hätte ausbilden können. Dazu war die Zeitspanne, die zwischen dem Tod und der Herrlichkeit der Auferstehung lag, schlichtweg zu kurz.
Für Julian von Toledo hatte sich, im Gegensatz dazu, der Abstand zwischen Tod und Auferstehung vergrößert. So war genügend Zeit, den individuellen Weg der Einzelseele im Jenseits mit einer je eigenen Dramatik und Bedeutung aufzuladen. Eine ganze Entwicklungsgeschichte der einzelnen Seele im Jenseits wurde nun entfaltet und in allen ihren Details ausgemalt. Das Leben nach dem Tod bedeutete nun auch für Durchschnittschristen mehr als nur den flüchtigen Moment zwischen ihrem Sterben und jener gewaltigen Umwälzung, der Auferstehung.
Natürlich gibt es auch in Julians Prognosticon vieles, was an die älteren christlichen Glaubensvorstellungen eines Cyprian oder Tertullian unmittelbar anknüpft. Jene gewaltigen Veränderungen durch das Jüngste Gericht und die Auferstehung der Toten ragten auch an Julians eschatologischem Horizont. Dort standen sie, unveränderlich – so ungeheuer und erhaben wie der Himalaja. Doch bis in Julians Zeit waren auch die niederen Ausläufer dieser gewaltigen Bergkette aus dem Dunst hervorgetreten: Die »kleine Zukunft« in der Welt zwischen Tod und Auferstehung wurde nun genauso gründlich in den Blick genommen wie die »große Zukunft« am Ende der Zeiten. Julian und Idalius wollten ganz genau wissen, wie es ihren Seelen in jener Zwischenzeit ergehen würde.20
Tatsächlich könnte man das Prognosticon als eine Art »Futurologie der christlichen Seele« beschreiben. Und die beiden Bischöfe suchten jedes noch so kleine Detail zu erfahren, das ihnen bei dieser Zukunftsschilderung von Nutzen sein konnte. Im Gegensatz zu früheren Jenseitsvorstellungen war diese Zukunft nun keine reine Wartezeit mehr. Vielmehr wurde sie Raum und erstreckte sich vor Julians und Idalius’ Vorstellungskraft als ein Abenteuerland, in dem die Seele auf unzählige Gefahren treffen mochte, die in keiner Karte verzeichnet waren. Der Tod war nichts weiter als der Beginn einer großen Reise. Beim Aufbruch der Seele in jene andere Welt – im Augenblick des Todes – war fortan mit einem Beiklang von gespannter Erregung zu rechnen, der als »Reisefieber« wohl nur unzureichend beschrieben wäre. Um das Sterben großer Heiliger – oder großer Sünder – hatten sich schon früher drastische Geschichten von entsprechenden Nahtoderfahrungen gerankt, von Begegnungen mit Engeln und Teufeln auf der Schwelle des Todes. Julian kannte diese Geschichten und er nahm sie durchaus ernst.21 Doch vor allem ging es ihm – anders als etwa Cyprian – um den Tod und das jenseitige Schicksal ganz normaler Christen und nicht um die je einzigartigen Tode der Märtyrer.
Wir sollten uns also einen Moment Zeit nehmen, um Julians Sicht auf das Schicksal der christlichen Durchschnittsseele nach dem Tod genauer zu betrachten. Drei Punkte stechen besonders hervor. Zunächst einmal, und das ist bereits angeklungen, mussten die Seelen nach Julians Vorstellung nicht einfach (statisch) abwarten, sondern blieben in Bewegung; und zwar bewegte sich jede Seele in ihrer eigenen Geschwindigkeit auf den Himmel zu – vorausgesetzt natürlich, dass sie nicht in die Hölle gekommen war. Manche Seelen waren wesentlich langsamer unterwegs als andere. Das christliche Jenseits ähnelte also nicht mehr einem riesigen Wartezimmer (wie Tertullian es sich vorgestellte hatte), sondern viel eher einem heutigen Stadtmarathon: Vorn hatte sich eine kleine Spitzengruppe abgesetzt, dahinter folgte – mit einigem Abstand – das große Feld der Nachzügler in diesem Seelenmarathon. Zweitens war für jeden der Nachzügler – gemeint sind die Nichtheiligen – die Jenseitsreise mit einer grundsätzlichen Unsicherheit verbunden: In welche Richtung würde die Seele sich bei ihrem Eintritt in jenes unentdeckte Land wenden – dem Himmel zu? Oder in Richtung Hölle? Welche überirdischen Wesen – Engel oder Teufel – würden ihr dabei begegnen?22 Zu guter Letzt war Julian davon überzeugt, dass manche Seelen ein reinigendes Feuer erwarte, das sie – wiederum jede in ihrem eigenen Tempo – zu durchqueren hätten.23 (Dies war jener purgatorius ignis, der sich erst später zu dem voll entwickelten Purgatorium oder »Fegefeuer« entwickeln sollte, wie es die katholische Kirche des Mittelalters und der Neuzeit postuliert hat.)
Als frommer Bischof durfte Idalius zwar noch immer darauf hoffen, nach seinem Tod statim – sofort – zu erwachen und in Christi Angesicht zu schauen, wie es Cyprian für die Märtyrer vorhergesagt hatte. Aber das Prognosticon seines Freundes Julian hielt noch ein ganzes Spektrum anderer Optionen für weniger perfekte Seelen bereit. Denn jede Seele barg fortan ihr eigenes Schicksal. Das lag daran, dass – wie man glaubte – die Seelen der Verstorbenen ihr ganzes irdisches Leben als »Gepäck« mit sich ins Jenseits trugen. Jede einzelne von ihnen war gezeichnet – ob zum Guten oder zum Schlechten – von ihrer je eigenen, unauslöschlichen Individualität, über die sie bis ins kleinste Detail Rechenschaft abzulegen hatte (nicht selten vor furchterregenden Teufeln oder gestrengen Engeln). Die Leichtigkeit (oder eben Schwierigkeit), mit der die einzelne Seele den Himmel erreichen konnte, hing maßgeblich von dieser Individualität ab – von einem komplexen Gemisch aus Tugenden und Lastern, Sünden und Verdiensten, die sich im Laufe eines ganzen Lebens um sie angelagert hatten.
Dieses zunehmende Augenmerk auf das Schicksal der Einzelseele war es – verstanden als Funktion des spezifischen Mischungsverhältnisses ihrer Sünden und Verdienste –, das das Jenseits Julians von Toledo so völlig anders erscheinen ließ als jenes Cyprians von Karthago. Aus der Welt eines früheren Christentums, in dem die unglaubliche Erschütterung von Weltgericht und allgemeiner Auferstehung im Zentrum des Interesses gestanden hatte, sind wir in eine Welt gelangt, in der (um es salopp zu formulieren) jede Seele ihr eigenes Süppchen kochte.
Diese große Gesamtentwicklung ist in zahlreichen hervorragenden Darstellungen zur christlichen Eschatologie nachgezeichnet worden, auf die ich bei der Arbeit an diesem Buch immer wieder dankbar zurückgegriffen habe.24 Meine Absicht ist es nun, die Entwicklungen, die in jenen Büchern beschrieben werden, vor dem Hintergrund einer Gesellschaft im Wandel zu skizzieren. Wie ich in meinem Vorwort bereits ausgeführt habe, wird es in diesem Buch um das »Warum« (und nicht um das »Was«) der betreffenden Entwicklungen gehen. Ich kann mich nicht damit begnügen, den inhaltlichen Wandel christlicher Jenseitsvorstellungen nachzuerzählen, sondern werde stattdessen festzustellen suchen, warum bestimmte Ansichten und Praktiken aufkamen und warum manche rasch weite Verbreitung fanden, während andere – je nach Ort und Situation verschieden – heftige Debatten, ja sogar Widerstand auslösten. Einem solchen jahrhundertelangen Wandlungsprozess können wir letztlich nur gerecht werden, indem wir die beiden unzertrennlichen Seiten des Christentums – die religiöse und die soziale – zusammen betrachten. Im Zuge dieses Prozesses ging die genuin frühchristliche Vorstellung vom Jenseits (mit ihrer monumentalen Gleichförmigkeit) in eine fein ausdifferenzierte Erzählung von der je individuellen Reise unzähliger Einzelseelen auf. Die Details dieser Erzählung hat Julian von Toledo für seinen kranken Freund zusammengestellt, indem er im Jahr 688 seine Bibliothek durchforstete.
Wir wollen diese Einleitung nun abschließen, indem wir einem Grundmotiv nachgehen, das in den diversen Kirchen im Laufe der Zeit verschiedene Ausprägungen gefunden und damit einen besonders gut »sichtbaren« Wandel angestoßen hat. Dabei geht es um einen einzigen Punkt: Was konnten die Lebenden für die Toten tun und welche sozialen Auswirkungen hatten ihre Bemühungen?
Diese Frage ist so grundlegend, dass wir sie häufig zu stellen vergessen. Meine These dazu wäre, dass es im Wesen christlicher Jenseitsdarstellungen stets irgendetwas gegeben hat, was die Lebenden und die Toten zueinander zog. Genauer gesagt, war da die untergründige Ahnung, dass sowohl die Lebenden als auch die Toten – in einem gewissen Sinne – unbestimmte, unvollständige Wesen bleiben mussten. Von beiden Seiten – den Lebenden wie den Toten – nahm man an, dass sie ihr jeweiliges Gegenstück auf irgendeine Weise brauchten. Und insbesondere brauchten die Toten die Lebenden. Das lässt sich auf die eine oder andere Art von beinah jeder Religion des antiken Mittelmeerraumes behaupten. Im Fall des Christentums fasste man diese Abhängigkeitsbeziehung zwischen den Lebenden und den Toten schließlich – und mit großem Nachdruck – als Zusammenhang von Sünde und Fürbitte auf. Viele Verstorbene (Heilige natürlich ausgenommen) galten als unvollkommene Wesen, denn sie hatten gesündigt. Die Lebenden konnten, wie man glaubte, den Toten gerade deshalb behilflich sein, weil sie deren fundamentale Unvollkommenheit teilten. Im Laufe der Zeit aber führte man diese Unvollkommenheit zunehmend auf die Sünde zurück. Es war diese Auffassung von einer geteilten Unvollkommenheit, die dem Fürbittgedanken in den Christengemeinden jener Zeit seine große imaginative Kraft verlieh.
Dasselbe gilt mutatis mutandis von jeder Entwicklungsstufe des christlichen Glaubens zwischen den Tagen Cyprians und der Zeit Julians von Toledo. Tatsächlich muss uns, wenn wir die verschiedenen christlichen Jenseitsvorstellungen der jeweiligen Epochen vergleichen, eine große Gemeinsamkeit auffallen: Im großen Gesamtkonzept des Jenseits gab es immer eine »Grauzone«.
Das gilt selbst in der schwarz-weißen Vorstellungswelt Tertullians. Irgendwo zwischen dem strahlenden Weiß der Märtyrer und dem finsteren Schwarz der »gottlosen«, nichtchristlichen Mehrheit – Unpersonen eigentlich, denen sowieso die Hölle drohte und über deren Schicksal christliche Autoren im Zeitalter der Märtyrer nur wenig Tinte und noch weniger Tränen vergossen –, irgendwo zwischen diesen beiden Polen lag die große, stille Zahl der christlichen Seelen im interim: Wartende, die das refrigerium der anderen Welt genossen. Diese wartenden Seelen im tertullianischen Jenseitsmodell kann man, streng genommen, kaum als »Sünder« bezeichnen; aber sie waren doch unvollkommen. Sie litten nicht. Sie hofften auch nicht auf eine »Beförderung« in einen höheren, besseren Zustand (wie etwa die katholischen Seelen späterer Zeit darauf hoffen konnten, früher oder später aus dem Fegefeuer entlassen zu werden). Nein, für sie würde diese Beförderung schon zur rechten Zeit geschehen: bei der Auferweckung aller Toten. Dennoch zeichnete diese Seelen eine gewisse Unfertigkeit aus, ein strebendes Bemühen, das sie den Lebenden stärker annäherte als den glorreichen Märtyrern, die bereits sicher im Paradies weilten. Tertullian, der durchaus kein Schwärmer war, fand überhaupt nichts Seltsames daran, wenn ein Witwer einmal im Jahr bei der Eucharistie Opfergaben für die Seele seiner verstorbenen Frau darbrachte. Sie mochte zwar keine arge Sünderin gewesen sein. Aber sie befand sich doch immer noch in jenem »Wartezimmer« des Jenseits und in diesem Sinne war sie ihrem früheren Ehemann (der ja noch lebte) näher als jenen so überwältigend vollkommenen, unbeugsamen Märtyrern (die ja ebenfalls schon tot waren).
In späteren Jahrhunderten dehnte sich die dämmrige Grauzone zwischen dem Gleißen der Heiligen und der undurchdringlichen Finsternis der Gottlosen immer weiter aus. Schon bald glich sie einer ganzen Welt im Kleinen, einer »anderen Welt«, die von den Seelen der Durchschnittschristen bewohnt wurde – von den Nachzüglern des großen Seelenmarathons (um dieses Bild noch einmal aufzugreifen), die weder große Heilige noch schwere Sünder waren. Die Seelen in dieser mittleren Kategorie machten den größten Teil der Kirche aus. Sie waren die Seelen unheroischer »Alltagschristen« in einer Reichskirche, die zwar keine strahlend einmaligen Märtyrer mehr hervorbrachte, dafür aber reichlich Raum für Sünder bot.
Lateinische Schriftsteller, die Julian von Toledo zeitlich näherstanden als Tertullian und Cyprian, widmeten sich der dämmrigen Zwischenwelt, in der durchschnittliche Christenseelen das Jenseits bevölkerten, mit immer größerer Aufmerksamkeit. Unter ihnen ragt Papst Gregor der Große (590–604) heraus, in dessen Werken Julian von Toledo viele brauchbare Textpassagen finden sollte. Gregor war überzeugt davon, dass Christen das düstere Land jenseits des Grabes durch Träume und Visionen zumindest in groben Zügen kennenlernen konnten. Ihm war, als ob das Jenseits bereits in einem weichen Dämmerlicht dalag, dass das Morgengrauen des Jüngsten Tages vorauswarf. Gregor nahm viele solcher Jenseitsvisionen in seine berühmten Dialoge auf, die 594 in Umlauf kamen. Er tat dies, weil er durchschnittliche Gläubige davor warnen wollte, was ihnen nach dem Tod bevorstand. Und er tat es auch, weil er jene christlichen Glaubenspraktiken wärmstens empfehlen wollte, die für die Seelen der Verstorbenen womöglich den Ausschlag für Himmel und Hölle geben konnten: das Fürbittgebet, vor allem aber die Feier der Eucharistie.25 In der Grauzone des Jenseits, diese Vorstellung lag nah, konnten die Toten und die Lebenden zusammenkommen. Und die blanke Wand zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten konnte durchstoßen, ja beinahe durchlöchert werden durch bestimmte Handlungen, die die Lebenden vollzogen.
Die Vorstellung, die Lebenden könnten etwas für die Toten bewirken, gab den einzelnen Durchschnittsgläubigen ein dringend ersehntes Gefühl von Handlungsmacht im Angesicht des Todes. Zugleich ist es aber dieser Punkt – der alles entscheidende Kontaktpunkt von Lebenswelt und Jenseits –, an dem sich der stille Druck einer ganzen Gesellschaft erfahren lässt. In den folgenden Kapiteln werde ich die Wirkungsweise dieses Drucks noch genauer beleuchten. Mit der Zeit spielte in der Verbindung der Lebenden zu den Toten der Reichtum eine immer größere Rolle. Wir werden unsere Erzählung mit dem Blick in eine Zeit abschließen (beinahe schon zu Lebzeiten Julians von Toledo), in der es ein regelrechtes Wettrüsten unter den Frommen gab, die sich einander in ihrer Frömmigkeit geradezu überbieten wollten. Insbesondere die Reichen – und natürlich die Mitglieder jener stets sehr viel größeren Gruppe, die es den Reichen in allem gleichtun will – waren sehr darauf bedacht, ihre eigene Seele (und die ihrer lieben Verstorbenen) zu beschützen, zu umsorgen und schließlich heim in den Himmel zu geleiten.
Diese Entwicklung lässt sich bereits im späten 4. und im frühen 5. Jahrhundert beobachten. Sie wird etwa an der Sorge ersichtlich, mit der Reiche ihren verstorbenen Angehörigen ein privilegiertes Begräbnis in der Nähe eines Märtyrerschreins zu sichern suchten (und auf die in Kapitel 2 noch eingegangen wird). Im Verlauf des 5. und 6. Jahrhunderts wurden die Kirchen dann immer deutlicher zu Institutionen, in denen die reichsten Mitglieder der westlichen Christengemeinden ihre gesellschaftlichen Muskeln spielen lassen konnten. Das taten sie vor allem durch Spenden und fromme Stiftungen, die ihrer eigenen Seele und den Seelen ihrer Angehörigen zum Schutz dienen sollten. Doch auch aus der Hierarchie der Kirche heraus mühte sich eine beachtliche Reihe von Bischöfen und anderen christlichen Autoren, die Reichen zur Verantwortung zu ziehen, indem sie das Panorama eines Jenseits entwarfen, das mit der Zeit in immer grelleren und unheilvolleren Farben ausgemalt wurde (wie wir in den Kapiteln 4 und 5 noch sehen werden). Im Epilog schließlich gelangen wir bis in die Zeit Julians von Toledo zurück und die Landschaft Westeuropas ist übersät mit Begräbniskirchen und Klöstern, die ganz dem Gebet für die Seelen der Verstorbenen verpflichtet sind.
In den großen Klosterstiftungen des 7. Jahrhunderts erreichte das alte Bekenntnis zu der Bindung zwischen Lebenden und Toten ein Crescendo. Das Gedenken auch an weniger vollkommene Tote (Könige und Königinnen, Adlige und ihre Frauen, politische Bischöfe) wurde in Einrichtungen gepflegt, deren finanzielle Ausstattung mehr als üppig war. Solche Klöster – Mönchs- wie Nonnenklöster – sah man als »Gebetskraftwerke« für die Seelen der Verstorbenen. In Abteien, Konventen und großen Stiftskirchen lagen die privilegierten Toten – das heißt im Grunde: die sehr Reichen oder die sehr Heiligen – in Kapellen beigesetzt; über ihren Gräbern spielte das ewige Licht parfümierter Kerzen. Diese Lichter, die an den Grabstätten ohne Unterlass brannten, sollten bereits hier auf dieser dunklen Erde ein klein wenig von jenem endlosen Ruhmesglanz widerspiegeln, den die verstorbene Person (wie man hoffte) im Paradies genoss oder doch bald genießen sollte.26
So war es gekommen, dass Geld – oftmals das sprichwörtlich »große Geld« – in den Kirchen Westeuropas Einzug gehalten und seine Stimme erhoben hatte. Diese Entwicklung ließ sich in einer Formulierung aus dem Buch der Sprichwörter (13,8) zusammenfassen:
Redemptio animae viri divitiae eius.
Das Lösegeld für die Seele eines Mannes ist sein Reichtum.
Dieser Satz, den man der großen Weisheit König Salomos zurechnete, war unter den Vermögenden des 7. Jahrhunderts n. Chr. überaus populär.27 Wie bei so vielen Sinnsprüchen aus dem Alten Testament hatte sich jedoch die Auslegung des Verses mit der Zeit verändert. Für den blasierten Verfasser des Buches der Sprichwörter, der wohl im 3. Jahrhundert v. Chr. gelebt hatte, bedeutete jener Satz lediglich, dass ein Reicher sein Vermögen einsetzen konnte, um seine Haut zu retten – ein Armer aber nicht.
Bis zum Anbruch des Mittelalters hatte sich allerdings das Verständnis von anima – »Seele« – grundlegend gewandelt. Darunter stellte man sich nun nichts grundlegend Körperliches, Diesseitiges mehr vor, sondern vielmehr die einsame Christenseele, die zitternd und bebend zwischen Himmel und Hölle baumelte und zu ihrem Trost dringend darauf angewiesen war, dass die Lebenden ihr Gebete und Gaben darbrachten. Das war jedenfalls die Vorstellung des Bischofs Leodegar von Autun, die in seinem 675/676 aufgesetzten Testament zum Ausdruck kommt – nur vier Jahre später, im Jahr 679, sollte Leodegar brutal ermordet werden. In diesem Testament heißt es, Leodegar handele »eingedenk jener Warnung der Weisheit [Salomos]: Das Lösegeld für die Seele eines Mannes ist sein Reichtum.« Und weiter: »Aus Liebe zu Gott und zur Vergebung der Sünden« stifte Leodegar der Kirche Sankt Nazarius (der Kathedrale von Autun) ein ansehnliches Stück Land – immerhin vier Gutshöfe samt Ausstattung –, damit aus den Erträgen ein Armenhaus für vierzig Bewohner unterhalten werden könne, das am Tor zum Kathedralbezirk eingerichtet werden solle.28 Diese teure Stiftung stellte ein angemessen üppiges »Lösegeld« für die Seele eines mächtigen politischen Bischofs dar.
Vom Testament des Leodegar und ein paar anderen Beispielen einmal abgesehen, taucht die dramatische Formulierung vom »Lösegeld der Seele« in den Stiftungsurkunden jener Zeit überraschend selten auf. Fest etablieren sollte sie sich erst im Jahrhundert darauf.29 Der Grund dafür, dass ich sie hier dennoch in den Mittelpunkt meiner Betrachtungen gestellt habe, liegt in der unglaublichen Bildmacht der Pro-redemptione-Formel, der allerlei Konnotationen anhaften – vom Lösegeld für Gefangene bis hin zu jener ultimativen Auslösung der ganzen Menschheit durch das Opfer Christi. Die Formulierung von der redemptio animae unterstrich, dass es mit dem bloßen »Leben jenseits des Grabes« nicht getan war: Lösegelder mussten gezahlt werden. Kontakte wollten geknüpft und gepflegt sein, lebendige Kontakte zwischen den Lebenden und den Toten. Diese Kontakte ermöglichten es den Lebenden, auf die eine oder andere Weise für die Seelen der Verstorbenen einzutreten, um ihnen auch nach dem Tod noch nahe zu sein. Und der Glaube an das Bestehen solcher Kontakte ermöglichte es den Reichen, sich mit wachsender Prachtentfaltung für die Belange »ihrer« Toten einzusetzen.
Alles in allem war es das Vorhandensein immer größerer Reichtümer in den christlichen Kirchen, das dafür sorgte, dass die christlichen Jenseitsvorstellungen nicht luftige Spekulation blieben. Die ganze christliche Gesellschaft der Zeit fand sich unversehens in eine unermüdliche Debatte über das Verhältnis zwischen Geld und Grabesruhe verwickelt. Von Zeit zu Zeit bewirkte der großzügige Einsatz von Reichtümern als »Lösegeld der Seele« wahre Großtaten etwa in der Armensorge. Auch in Kunst und Architektur führte die Praxis zu spektakulären Ergebnissen: Man denke nur an die mächtigen Sarkophage aus milchweißem Marmor, die dicht an dicht die frühchristlichen Schreine umdrängten, damit die Toten so nah wie möglich an den dort bestatteten Heiligen zur Ruhe kommen mochten; oder an die schimmernden Goldmosaiken, die leuchtenden Grüntöne, die blutroten Mohnblüten und sternenübersäten Himmelsgewölbe, die einen Hauch des Paradieses selbst durch Grüfte wehen ließen, zumindest in den Begräbniskapellen und Mausoleen der Prominenz. Die Welt der Spätantike wäre um einiges an Schönheit ärmer gewesen, wenn die Menschen sich weniger Gedanken darüber gemacht hätten, wie sie an den Gräbern ihrer Verstorbenen eine Verbindung zwischen dieser Welt und der nächsten stiften konnten.
Zuweilen kam es natürlich vor, dass die Zurschaustellung von Reichtum in diesem Zusammenhang die Zeitgenossen verärgerte (wenn sie nämlich exzessiv oder in anderer Hinsicht unangebracht erschien). Solche neuen Formen der Prachtentfaltung sorgten dann für heftige Diskussionen darüber, wie mit Reichtum in der Gesellschaft überhaupt umzugehen sei – und insbesondere natürlich bei der Totensorge. Durch die Jahrhunderte blieb in diesen Diskussionen eine so grundlegende wie schwierige Frage lebendig: Wie – wenn überhaupt – konnten Himmel und Erde, die Lebenden und die Toten durch menschliches Handeln – und damit unweigerlich auch durch Geld – zusammengebracht werden?
Wir sollten die langfristigen Auswirkungen jener endlosen Debatten nicht unterschätzen. Ohne die beschriebenen »Grauzonen«, in denen zumindest die Möglichkeit aufschien, die Lebenden könnten das Schicksal der Seelen im Jenseits auf irgendeine Weise beeinflussen – und ohne den Reichtum, der die Begünstigteren unter den Lebenden in die Lage versetzte, die zarten Bande zwischen Lebenden und Toten konkret, sichtbar, ja bisweilen atemberaubend schön werden zu lassen –, hätte es schlicht weniger Anreize für die Christen des Westens gegeben, sich mit solch kühner Vorstellungskraft ganze Welten jenseits des Grabes auszumalen. Es hätte sich im lateinischen Westen durchaus auch eine ganz andere Konstellation von Jenseitsvorstellungen und -erwartungen durchsetzen können. Vielleicht hätte sie stärker der Ideenwelt des rabbinischen Judentums, des Islams oder vieler Gegenden des christlichen Orients geähnelt; in all diesen Fällen nämlich waren Spekulationen über den Aufenthalt der Seele im Jenseits – die »kleine Zukunft« der Seele – wesentlich weniger üblich als im lateinischen Westen, wodurch dort bestehende Vorstellungen vom Jüngsten Gericht und der allgemeinen Auferweckung ihre traditionelle Wucht und Dringlichkeit behielten.30 Tatsächlich jedoch waren bis in die Zeit Julians von Toledo die Jenseitsvorstellungen der Westkirche gegenüber den analogen Vorstellungen ihrer ostkirchlichen, jüdischen und muslimischen Nachbarn grundverschieden geworden. Wie hatte es dazu kommen können? Um das zu verstehen, müssen wir an den Anfang zurückkehren. Wenden wir uns also nun der Frage religiöser Stiftungen in den christlichen Kirchen und ihrem Verhältnis zum Totengedenken im 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. zu.