913. Kapitel

Sexualität, Vertrag und Freiheit

Nachdem wir die Ambiguität des Konzepts der Zustimmung und die Komplexität festgestellt haben, die sich daraus ergibt, dass es sich an der Schnittstelle von Recht, politischer Philosophie und Moralphilosophie befindet, ist es nun an der Zeit, konkret zu verstehen, wie dieses Konzept funktioniert, wenn es auf den sexuellen Bereich angewendet wird. Die philosophischen und rechtlichen Debatten über das so genannte BDSM (Akronym für »bondage and discipline, dominance and submission, sadomasochism«) illustrieren einerseits perfekt die Spannungen zwischen einem liberalen Verständnis der Zustimmung und einem kantisch inspirierten Verständnis der Zustimmung, das auf der Menschenwürde beruht, und andererseits die Art und Weise, wie Geschlechterungleichheiten in der Sexualität die normative Macht der Zustimmung beeinflussen.

Der liberale Ansatz der interindividuellen Beziehungen steht im Mittelpunkt der Debatten über die Legalität, Legitimität und Moralität sadomasochistischer Sexualpraktiken. Die sadomasochistischen Sexualpraktiken und weiter gefasst die BDSM-Praktiken sind ein interessanter Fall für die Untersuchung der Spannungen zwischen Moral, harm principle und Zustimmung im liberalen Rahmen. Die sowohl juristischen als auch philosophischen Debatten über BDSM und sein Verhältnis zur Zustimmung 92erlauben die Spannungen zu beleuchten, die der liberalen Konzeptualisierung der Zustimmung als Instanz der Legitimierung einer jeden Handlung eines Individuums gegenüber einem anderen innewohnen.

BDSM1 beinhaltet eine Reihe von Praktiken, die weiter gefasst sind als der einfache Sadomasochismus. Die gängigste Definition lautet, dass es sich um eine Reihe freiwilliger, sexuell konnotierter Aktivitäten zwischen einwilligenden Erwachsenen handelt, die eine physische Dimension der Zufügung von Schmerz (Schläge, Fesseln, Fesselspiele etc.) und eine psychologische Dimension (Dominanz, Unterwerfung, Demütigung) enthalten. Dennoch besteht BDSM nicht nur aus einer Reihe von Praktiken, sondern hat die Besonderheit, auch als sexuelle Identität oder zumindest als Identifikationsmerkmal einer Subkultur verstanden zu werden.2 Historisch betrachtet ist BDSM als schwule und lesbische Subkultur entstanden, heute gibt es aber auch eine heterosexuelle BDSM-»Szene«. Denn BDSM-Anhänger haben ihre eigenen Treffpunkte, ihre eigene Literatur, ihre eigenen künstlerischen Produktionen, ihre eigenen Normen und Rituale. Wenn man die klassische, aus der Soziologie und den Cultural Studies übernommene Unterscheidung zwischen Gegen- und Subkultur aufgreift, ist BDSM im Wesentlichen eine Subkultur, da es sich um eine Gruppe von Leuten handelt, die sich durch eine Reihe von Merkmalen und Verhaltensweisen von anderen unterscheiden, ohne unbedingt die herrschenden Werte der Gesellschaft 93abzulehnen. Dennoch hat sich BDSM, wie einige soziologische Arbeiten für andere Arten der Subkultur zeigen,3 als eine Form des Widerstands gegen die herrschenden sexuellen Normen herausgebildet, sei es die Norm der Heterosexualität oder die Norm des konventionellen Sexes, der in der BDSM-Szene als »Vanilla« bezeichnet wird (in Anspielung auf die Eissorte »Vanille«, die als die konventionellste gilt, um den homogenen Charakter der konventionellen Sexualität zu betonen). BDSM folgte damit der typischen Entwicklung von Subkulturen, die Dick Hebdige4 in seiner Analyse der Entwicklung symbolischer Widerstandsformen bei jungen Briten herausgearbeitet hat, und verwandelte sich zunehmend von einer Widerstandsbewegung in eine der Populärkultur zugängliche Subkultur. Nachdem die Codes und Praktiken des BDSM eine Zeitlang auf die Subkultur beschränkt waren, aus der sie hervorgingen, wurden sie nach und nach in die Populärkultur integriert, zunächst in die Protestkultur des Autorenfilms,5 dann in die Populärkultur im weiteren Sinne. Insbesondere im Erfolg der Fifty-Shades-Trilogie6 kann man eine Integration des BDSM in die Populärkultur sehen, die die Dimension des Protests gegen die soziale Ordnung entschärft.

Die Anhänger des BDSM greifen auf die Vertragsform zurück, einerseits aus erotischen Gründen, aber auch, um sich in einen liberalen Rahmen einzufügen und sich der Zustimmung als Rechtfertigungsinstrument zu bedienen, 94gemäß folgender Überlegung: Wenn die sadomasochistischen Praktiken vertraglich vereinbart sind, wenn diese vertragliche Vereinbarung die Zustimmung der Parteien abzusichern vermag und wenn die Zustimmung der Parteien die individuelle Freiheit ausdrückt, dann sind sadomasochistische Praktiken ein Ausdruck der individuellen Freiheit. Folglich würde jede Kriminalisierung dieser Praktiken gegen die individuellen Freiheiten verstoßen.

Der Vertrag bei Sacher-Masoch: ein freiwilliger Akt

Die Praktiken des BDSM sind kodifiziert und haben die Besonderheit, dem Vertrag und der Zustimmung einen zentralen Platz einzuräumen. Die enge Verbindung des BDSM zum Vertrag lässt sich zunächst historisch erklären: Der Vertrag ist der Vektor par excellence des Masochismus, wie Sacher-Masoch ihn darstellt. Sacher-Masoch schloss in seinen Romanen wie in seinem Leben mit den Frauen, denen er dienen wollte, Verträge, in denen er sich verpflichtete, sich zu ihren Sklaven zu machen. Die Ausgabe von Venus im Pelz mit einem Nachwort von Gilles Deleuze führt im Anhang folgenden Vertrag zwischen Wanda und Sacher-Masoch auf:

MEIN SKLAVE!

Die Bedingungen, unter welchen ich Sie als Sklave annehme und an meiner Seite dulde, sind folgende:

Ganz bedingungsloses Aufgeben Ihres Selbst.

Sie haben keinen Willen außer mir.

Sie sind in meinen Händen ein blindes Werkzeug, das ohne Widerrede alle meine Befehle vollzieht. Sollten Sie vergessen, daß Sie Sklave sind[,] und mir nicht in allen Dingen unbe95dingten Gehorsam leisten, steht mir das Recht zu, Sie ganz nach meinem Belieben zu strafen und zu züchtigen, ohne daß Sie wagen dürfen, sich darüber zu beklagen.

Alles, was ich Ihnen Angenehmes und Glückliches gewähre, ist Gnade von mir und muß nur als solche dankend von Ihnen angenommen werden; ich habe keine Schuld, keine Pflicht gegen Sie.

Sie dürfen weder Sohn, Bruder noch Freund sein, nichts als mein im Staub liegender Sklave.

So wie Ihr Leib, gehört auch Ihre Seele mir[,] und mögen Sie noch so sehr darunter leiden, so müssen Sie doch Ihre Empfindungen, Ihre Gefühle, meiner Herrschaft unterordnen.

Die größte Grausamkeit ist mir gestattet, und wenn ich Sie verstümmle, so müssen Sie es ohne Klage tragen. Sie müssen arbeiten für mich wie ein Sklave, und wenn ich im Überfluß schwelge und Sie entbehren lasse und Sie mit Füßen trete, müssen Sie, ohne zu murren, den Fuß küssen, der Sie getreten.

Ich kann Sie jede Stunde entlassen, Sie aber dürfen ohne meinen Willen nie von mir, und wenn Sie mir entfliehen sollten, so gestehen Sie mir die Macht und das Recht zu, Sie durch alle erdenklichen Qualen bis zum Tode zu martern.

Sie haben außer mir Nichts, ich bin Ihnen alles, Ihr Leben, Ihre Zukunft, Ihr Glück, Ihr Unglück, Ihre Qual und Ihre Lust.

Was ich verlange, Gutes oder Schlechtes, müssen Sie vollziehen, und wenn ich ein Verbrechen von Ihnen fordere, müssen Sie auch Verbrecher werden, um meinem Willen zu gehorchen.

Ihre Ehre gehört mir, wie Ihr Blut, Ihr Geist, Ihre Arbeitskraft, ich bin Ihre Herrin über Leben und Tod.

Wenn Sie je meine Herrschaft nicht mehr ertragen können, daß Ihnen die Ketten zu schwer werden, dann müssen Sie sich töten, die Freiheit gebe ich Ihnen niemals wieder.

96Ich verpflichte mich mit meinem Ehrenworte, der Sklave der Frau Wanda von Dunajew zu sein, ganz so, wie sie es verlangt, und mich Allem, was sie über mich verhängt, ohne Widerstand zu unterwerfen.

Dr. Leopold Ritter von Sacher-Masoch.7

Der »masochsche« Ursprung des Rückgriffs auf den Vertrag ist wichtig, weil er zu verstehen erlaubt, dass es nicht in erster Linie um die Zentralität der Zustimmung geht, oder zumindest nicht so, wie man sie sich im zeitgenössischen BDSM vorstellen kann. Der Vertrag wird aus zwei Hauptgründen benutzt: Der offensichtlichste, der auch im Vertrag zwischen Wanda und Sacher-Masoch zum Ausdruck kommt, ist sein sexuell erregender Charakter. Die masochistische Persönlichkeit im Sinne Sacher-Masochs wird nicht nur durch ihre Unterwerfung selbst, sondern auch durch die Vorstellung von ihrer Unterwerfung erregt, und insofern gehört der Vertrag zur erotischen Literatur, in der jede neue Explikation von Misshandlungen und Bestrafungen als Quelle des Begehrens und der Lust erscheint. Was hier entscheidend ist und die zweite Funktion des Vertrags eröffnet, ist, dass dieser Vertrag vom Masochisten selbst verfasst oder zumindest herangezogen wird: Wenn die Folterin foltert, wenn sie dominiert, tut sie dies auf Verlangen und zum Vergnügen desjenigen, den sie foltert. Es gibt hier keinen Sadismus im eigentlichen Sinne, da bei der Gewalt und Erniedrigung die Lust des Unterworfenen im Mittelpunkt steht. Hier sieht man die zweite Funktion des Vertrags: Der Vertrag stellt einen Aufgabenkatalog für diejenige dar, die bereit ist, sich den Forderungen des Masochisten zu beugen. In dieser Hinsicht ist der Vertrag tatsächlich ein Ausdruck des Willens des Unterworfenen, dem die Folterin im passiven Sinne 97des Wortes zustimmt, das heißt, sie akzeptiert die Bedingungen, die sie jedoch nicht selbst aufgestellt hat. Im Grunde stimmt der Unterworfene seiner Unterwerfung zu, ja mehr noch fordert und erzwingt er sie. Diese Forderung ist aber nicht paradox, da sie nicht unnatürlich ist: Es handelt sich im Gegenteil seitens des Unterworfenen um eine Form von Autonomie, da er selbst der Verfasser des Vertrags ist.

»Safe, sane and consensual«

Die zeitgenössische BDSM-Kultur hat den masochistischen Gebrauch des Vertrags geerbt, ihn aber modifiziert, da der Gebrauch des Vertrags sich nunmehr in eine liberale Perspektive in dem im vorherigen Kapitel ermittelten Sinne einreiht: Der Vertrag hat die Funktion, die freie Teilnahme der Protagonisten an den betreffenden Praktiken zu garantieren, und diese Freiheit wird durch die Formalisierung der Zustimmung, die der Vertrag erlaubt, als garantiert angesehen. Denn die Zustimmung ist der Prüfstein des BDSM, da sie das Kriterium der Unterscheidung zwischen sexueller Gewalt und BDSM-Rollenspielen darstellt.

Die Kontraktualisierung der Beziehungen im BDSM lässt sich, zumindest teilweise, mit dem Bemühen um eine Legitimation erklären.8 Die unter dem Begriff BDSM zusammengefassten von der Norm abweichenden Sexualpraktiken galten lange Zeit als anormale, pathologische oder sogar verwerfliche Praktiken, und das ist in gewissem Maße immer noch so.9 Während diese Praktiken den Vertretern eines strengen Sexualmoralismus als an sich moralisch verwerflich erscheinen, werden sie auch 98aufgrund ihres ungleichen Charakters und der Annahme in Frage gestellt, dass BDSM als Deckmantel für Situationen der Gewalt und sexuellen Ausbeutung dient, die dem Gebot des Schutzes der moralischen und physischen Gesundheit des Einzelnen widersprechen. In diesem Zusammenhang haben sich die Verfechter des BDSM auf die Kontraktualisierung und auf die damit verbundene Garantie der Zustimmung gestützt, um die oppressive Dimension des BDSM zurückzuweisen. Insbesondere hat die BDSM-Gemeinde nach und nach die Triade »safe, sane and consensual«10 (deren Übersetzung »sicher, gesund und einvernehmlich« lauten würde) als ihre drei Grundpfeiler übernommen, um die Idee zu verteidigen, dass BDSM einen Raum bereitstellt, in dem sexuelle Praktiken, die von der Gesellschaft als anormal betrachtet werden, frei und ohne Risiko für ihre Teilnehmer stattfinden können, das heißt unter besseren Bedingungen als viele alltägliche Sexualpraktiken. Der Rückgriff auf den Vertrag als Garantie der Zustimmung und im weiteren Sinne die Übereinstimmung des BDSM mit den liberalen Vorgaben stehen auch im Mittelpunkt der Forderung, nicht von der Justiz verfolgt zu werden.11

Um die Zustimmung abzusichern, ist es üblich, dass die Teilnehmer an einer sadomasochistischen Spielszene12 zuvor einen Vertrag schließen. Diese Verträge können unzählige Formen annehmen, doch anhand der online verfügbaren Musterverträge13 kann man einige gemeinsame Merkmale ausmachen.

Diese Verträge sind keine stillschweigenden Verpflichtungen: Sie werden nach Verhandlungen von beiden Parteien aufgesetzt und unterschrieben. Sie schließen in der Regel zwei Personen ein, können aber auch einige weitere Personen umfassen. Sie verwenden eine juristische Spra99che, die die Rechte und Pflichten beider Parteien festlegt und damit beschreibt, was bei der Spielszene passieren darf und was nicht. Sie spezifizieren die Grenzen, über die der Unterworfene die Spielszene nicht hinausgehen lassen will,14 und sie stellen ein oder zwei safe words auf,15 wörtlich »Sicherheitswörter«, das sind Wörter, die die Teilnehmer im Voraus festlegen und die während der Spielszene bedeuten, dass der Unterworfene entweder die Spielszene oder eine bestimmte Praktik beenden will. Diese Praktik erklärt sich dadurch, dass die üblichen Arten, seinen Wunsch zu bekunden, dass etwas aufhört– zum Beispiel zu sagen »nein, nein, hör auf« –, genau zu der gespielten Szene gehören können und man daher eine Möglichkeit braucht, zwischen einer falschen Ablehnung und einer echten Ablehnung zu unterscheiden. Daher sind safe words oft Wörter, die nichts mit dem zu tun haben, was gerade passiert, wie »Kirsche« oder »Schrank«, um jegliche möglichen Missverständnisse zu vermeiden. Wenn der Vertrag mehr als eine Spielszene umfasst und auf eine lange Zeit angelegt ist – was vor allem bei Unterwerfungsverträgen der Fall ist16 –, legt der Vertrag in der Regel die Bedingungen und Verfahren fest, nach denen er aufgelöst werden kann. In seiner Formulierung wie auch in seiner Struktur hat der Vertrag die Funktion, sicherzustellen, dass die Spielszene tatsächlich drei Säulen respektiert: Sicherheit, geistige Gesundheit und insbesondere Zustimmung.

Auch wenn es bei Unterwerfungsverträgen über eine lange Zeit vorkommen kann, dass der Dominante den Vertrag im Voraus aufsetzt, ist dieser Vertrag immer Gegenstand von Verhandlungen,17 und als solcher stimmen sowohl der Dominante als auch der Unterworfene diesem Vertrag im positiven Sinne des Wortes zu.18 Dem Vertrag 100liegt also eine Zustimmung zugrunde. Darüber hinaus sollen eine Liste der zulässigen und verbotenen Praktiken und die Festlegung von safe words die Dauerhaftigkeit der Zustimmung gewährleisten. Diese Verfügungen zeugen so von einer nicht alltäglichen Sorge für Zustimmung: Sie beruhen auf der Vorstellung, dass während der Sex-Spielszene oder während der Unterwerfungsbeziehung die Bedingungen für den Widerruf der Zustimmung vielleicht nicht immer erfüllt sind und dass der Unterworfene nicht immer in der Lage sein wird, auf safe words zurückzugreifen, um die Spielszene zu beenden, auch wenn er oder sie dies wünscht. Der Zustand, in dem sich der Unterworfene während der Spielszene befindet, wird in zahlreichen Analysen mit einem Zustand der Trunkenheit oder Halbbewusstheit verglichen, in dem es schwierig ist, die Gültigkeit der Zustimmung zu gewährleisten. Daher werden neben der Festlegung von safe words, die es dem Unterworfenen erlauben, die Spielszene zu beenden, auch die Grenzen und der Inhalt dessen festgelegt, dem der Unterworfene zustimmt, im Voraus und außerhalb der Situation der Dominanz. Die Festlegung von Regeln und Grenzen vor der Session zielt also darauf ab, die übliche Regel der sexuellen Zustimmung (»wer nicht nein sagt, stimmt zu«) zugunsten einer positiven Regel der sexuellen Zustimmung (nur »ja« heißt »ja«19) umzukehren: Nur das, was vom Unterworfenen positiv als akzeptabel festgelegt wurde, kann vom Dominanten umgesetzt werden. So unterscheiden Theoretiker der Zustimmung beim BDSM bei einer BDSM-Spielszene drei Ebenen der Zustimmung: die oberflächliche Zustimmung, die stattfindet, wenn Personen zustimmen, sich auf eine BDSM-Beziehung einzulassen, die Zustimmung zur Spielszene, die bei der Aushandlung des Vertrags erfolgt, und die tiefe Zustimmung, die 101während der Spielszene stattfindet und beinhaltet, dass sich alle Teilnehmer während der gesamten Spielszene vergewissern, dass die anderen Teilnehmer kontinuierlich dem Geschehen zustimmen, insbesondere (aber nicht nur) durch die Respektierung ihrer safe words.20

Verträge ohne Rechtsgültigkeit

Im Unterschied zu dem Vertrag von Sacher-Masoch werden BDSM-Verträge in der Form eines juristischen Vertrags erstellt und versuchen, sich so nah wie möglich an diesen juristischen Formalismus zu halten. Dennoch haben diese Verträge sowohl im Kontext des französischen Rechts als auch im Kontext der Länder des common law keinen kontraktuellen juristischen Wert.

Nach französischem Recht hat der sadomasochistische Vertrag keinen kontraktuellen juristischen Wert, weil er Bestimmungen enthält, die gegen die öffentliche Ordnung verstoßen.21 Das Vertragsrecht erkennt jedoch den Vorrang des Gesetzes vor dem Vertrag an. So legt Artikel 6 des Code civil fest: »Man kann nicht durch einzelne Vereinbarungen von den Gesetzen abweichen, die die öffentliche Ordnung und die guten Sitten betreffen.« Auf der zivilrechtlichen Ebene ist der BDSM-Vertrag somit kein wirklicher Vertrag. Er kann im Rahmen eines Zivil- oder Strafprozesses gegebenenfalls berücksichtigt werden, um den Gesetzesverstoß, den er darstellt, zu beurteilen, aber er kann nicht als Vertrag anerkannt werden. Im Bereich des Strafrechts kann ein solcher Vertrag, wenn man ihn als Beweis für die Zustimmung der Parteien ansieht, den Straftatbestand nicht aufheben. Denn das französische Recht sieht vor, dass die Zustimmung des Opfers, das 102heißt die von einer Person im Voraus gegebene Zustimmung zu einer Straftat, die ihre Rechte verletzt, die Straftat rechtlich nicht aufhebt, es sei denn, diese erfordert zu ihrer Entstehung eine Irreführung oder Gewalt (was zum Beispiel bei einer Vergewaltigung der Fall ist). Die in solchen Verträgen beschriebenen sexuellen Praktiken fallen jedoch in der Regel unter Artikel 22-1 des Code pénal gegen Folter und Grausamkeit. Die Zustimmung des Opfers zu solchen Praktiken kann daher nicht als strafaufhebend angesehen werden. So hat der sadomasochistische Vertrag nicht nur keinen kontraktuellen Wert und kann als solcher nicht wirklich eine Verpflichtung darstellen, sondern fällt im Sinne des Strafrechts auch in den Bereich eines Vergehens oder sogar Verbrechens. Wie Pierre-Yves Quiviger betont, liegt die einzig mögliche rechtliche Verwendung eines solchen Vertrags in seinem möglichen »prozessualen Gebrauchswert«,22 das heißt, der Richter könnte auf der Grundlage dieses Vertrages die strafrechtliche Verurteilung mildern oder die zivilrechtliche Verurteilung ablehnen.

Im Kontext des common law ist die primäre Grundlage für die rechtliche Ungültigkeit von BDSM-Verträgen das Verbot von Verträgen, die sich auf den Sex beziehen.23 In den USA wurde in den wenigen Fällen, bei denen BDSM ein Gegenstand von Gerichtsurteilen war, die Zustimmung der »Opfer« nicht berücksichtigt.24 Wie aus einer Notiz der Harvard Law Review zum BDSM hervorgeht,25 ist eine der Grundlagen für die Definition und den Wert eines Vertrags die Tatsache, dass die Nichteinhaltung des Vertrags zur Strafverfolgung führen kann, das heißt, der Vertrag ist durch die Institution der Justiz geschützt. Die Tatsache, dass einerseits allgemein kein BDSM-Vertrag als Grundlage für eine interindividuelle 103Strafverfolgung verwendet wird26 und dass andererseits die Vertragspartner nie in der Annahme einen Vertrag zu machen scheinen, dass ihr Vertrag einen rechtlichen Wert hat, der vor Gericht anerkannt und somit rechtlich durchsetzbar wäre, lässt vermuten, dass der Vertrag trotz des rechtlichen Formalismus, der ihn kennzeichnet, keiner ist, da er nicht dazu bestimmt ist, eine kontraktuelle rechtliche Funktion zu haben. Dann stellt sich die Frage, welche Funktion dieser Vertrag haben kann: Seine systematische Verwendung von BDSM-Anhängern (die sich über seinen rechtlichen Wert keine Illusionen machen) lässt vermuten, dass er eine andere als die rein rechtliche Funktion hat.

Der Rückgriff auf Verträge bei sadomasochistischen Praktiken zeigt, dass diese die Möglichkeit der Zustimmung zu ungleichen intimen Beziehungen exemplifizieren: Zwar haben diese Verträge keinen juristischen Wert, insbesondere weil sie zu den Gesetzen zum Schutz der Person in Widerspruch stehen, nichtsdestotrotz haben sie aber die Funktion, in einer möglichst formalisierten Weise das Bestehen einer Zustimmung der Parteien zum Ausdruck zu bringen. Diese Verträge beruhen auf einer strengen Auslegung von Mills Lehre zu interindividuellen Beziehungen: Sicher garantieren sie das Ausbleiben physischer oder psychischer Schäden (und zeigen damit, dass das harm principle nicht greifen könnte), doch vor allem zeigen sie ein Verständnis der Zustimmung als notwendige und hinreichende Bedingung für die Fairness einer interindividuellen Beziehung. Indem sie eine ganze Reihe von vertraglichen Instrumenten einsetzen, um die Zustimmung und ihre Dauerhaftigkeit zu gewährleisten, machen sie geltend, dass die Zustimmung zur sexuellen Unterwerfung möglich ist, dass sie zur individuellen Freiheit nicht in Widerspruch steht und dass sie legitim ist.

Der Rückgriff auf den Vertrag im Sadomasochismus lässt sich als eine liberale Forderung erklären und erlaubt so, die zentrale Bedeutung zu veranschaulichen, die der Liberalismus der Zustimmung beimisst.

Wie wir gesehen haben, betont die von Mill geerbte Form des Liberalismus die Notwendigkeit, die Intervention des Staates in das Leben des Einzelnen im Namen des Primats des Individuums vor dem Kollektiv zu begrenzen. In diesem Rahmen besteht die einzige Funktion des Staates darin, die Sicherheit und das Eigentum des Einzelnen zu gewährleisten. Daher ist es notwendig, den legitimen Handlungsbereich des Staates zu bestimmen, um eine staatliche Intervention zu verhindern, die die Freiheit des Einzelnen beschneidet. Nach dem harm principle muss der Staat eingreifen, sobald das freie Handeln eines Individuums eine Gefahr für die Sicherheit und die Freiheit eines anderen Individuums darstellt. In allen anderen Fällen muss das Individuum die Freiheit haben, so zu handeln, wie es will, und mit anderen Individuen Beziehungen seiner Wahl einzugehen, solange diese einvernehmlich sind. Indem nicht nur die Zustimmung, sondern auch die Gesundheit von Körper und Geist zu den Grundpfeilern des BDSM gemacht wurden, kann man annehmen, dass dies darauf abzielte, die Praxis mit den beiden oben genann105ten möglichen Lesarten der Rolle der Zustimmung in Einklang zu bringen. Im BDSM hat der Vertrag die Funktion, die körperliche und moralische Sicherheit der Teilnehmer zu gewährleisten – also sicherzustellen, dass ihnen kein harm zugefügt wird –, und er beruht auf ihrer Zustimmung; daher ist er sowohl mit dem internen Verständnis des harm principle vereinbar (der Staat muss eingreifen, sobald eine Gefahr besteht, auch wenn es sich um eine Vereinbarung zwischen zwei Individuen handelt, die auf ihrer vollen Zustimmung beruht) als auch mit dem externen Verständnis (der Staat muss nur dann eingreifen, wenn eine auf Zustimmung beruhende interindividuelle Vereinbarung für jemanden außerhalb dieser Vereinbarung eine Gefahr darstellt).

In dieser Hinsicht gestattet der Rückgriff auf den Vertrag, BDSM in den liberalen Rahmen einzureihen, und er fungiert als eine Legitimationsinstanz für BDSM: Da der Liberalismus vor allem in den Ländern des common law als der Rahmen angesehen wird, der das richtige Verständnis von Freiheit garantiert, und als die beste Theorie der Gerechtigkeit, erlaubt der Rückgriff auf den Vertrag BDSM, für sich einen moralischen Charakter zu beanspruchen. So erscheint der Formalismus des Vertrags als die beste Form, den Paternalismus und sexuellen Moralismus deutlich zu machen, die bei seinem Verbot am Werk sind: Wenn der Vertrag die vertraglichen Normen einhält, wenn er sowohl die Zustimmung der Parteien als auch die Nichtschädlichkeit der betreffenden Praxis garantiert, dann kann nur die moralische Verurteilung dieser Praxis ihr Verbot erklären, und diese Verurteilung widerspricht in ihrem Moralismus den Grundsätzen des Liberalismus selbst.

Diese reductio ad absurdum des liberalen Verbots von 106BDSM war das Herzstück der philosophischen und juristischen Verteidigung von BDSM. Denn die Verteidiger des BDSM gründen ihre Verteidigung auf die im Liberalismus bestehende zentrale Bedeutung des Rechts auf Privatsphäre, das als ein Recht angesehen wird, das notwendig ist, um die Freiheit des Einzelnen zu garantieren, seine eigene Suche nach dem Guten zu betreiben. Das ist zum Beispiel die Grundlage für eine Interpretation, für die BDSM unter die Grundsätze fällt, die in der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der USA Lawrence v. Texas27genannt werden: In dieser Entscheidung urteilt das Gericht, dass das Recht auf Privatsphäre für einvernehmliche intime Sexualpraktiken gilt, sofern diese nicht gefährlich sind. Wenn sie es wären, würde die Erhaltung der Gesundheit des Einzelnen ein unwiderlegbares Interesse des Staates darstellen und ein staatliches Eingreifen rechtfertigen. Hier urteilt der Oberste Gerichtshof, dass dies im Rahmen von homosexuellen Beziehungen nicht der Fall ist. Da die sadomasochistischen Praktiken nicht gefährlich sind – in dem Sinne, dass sie nicht zu schweren Verletzungen führen, die die Intervention eines Arztes erfordern oder bleibende Spuren hinterlassen –, müssten sie unter denselben Schutz der Privatsphäre fallen.

Einwände gegen die liberale Verteidigung von BDSM

Der erste Einwand gegen diese Verteidigung von BDSM besteht darin, dessen Unschädlichkeit zu widerlegen. Tatsächlich scheint es nicht sehr schwer zu sehen, dass die sexuellen Praktiken des BDSM, sei es Bondage oder Sadomasochismus, notwendigerweise und fast zwangsläufig den Individuen, die daran teilnehmen, insbesondere 107den Unterworfenen, körperlichen Schaden zufügen. Folglich würde das harm principle ein Eingreifen des Staates erfordern. Die gängige Antwort auf diesen Einwand beruht auf einem Vergleich von Sex und Sport.28 Jill Weinberg beginnt das Buch, das sie diesem Problem widmet,29 mit einem Vergleich zwischen dem Würgen, das in den MMA30 und im sadomasochistischen Rahmen praktiziert wird. In beiden Fällen ist die ausgeführte Handlung genau gleich und birgt im Großen und Ganzen die gleichen Risiken,31 und dennoch ist sie im ersten Fall legal und im zweiten Fall illegal. Die Gegenüberstellung von Sport und Sadomasochismus zeigt also, dass das Argument, der Sadomasochismus solle wegen der damit verbundenen Gewalt verboten werden, inkonsequent ist und wohl eine Form von sexuellem Paternalismus in sich birgt. Praktiken im Sport zeigen, dass es nicht gerechtfertigt ist, jede Praxis zu verbieten, die ihren Teilnehmern Schaden zufügen könnte.

Das zweite, kompliziertere Problem, das der Vergleich von Sadomasochismus und Sport deutlich macht, ist die Möglichkeit, mit dem Schmerz einverstanden zu sein. Denn man kann vernünftigerweise annehmen, dass jeder Footballspieler diese Karriere ansteuerte, indem er mit den sehr hohen Risiken für seine Gesundheit einverstanden war,32 und dass er mit dem Risiko von Verletzungen und Krankheiten einverstanden ist, wenn er damit einverstanden ist, American Football zu spielen. Er ist auch damit einverstanden, die Anweisungen seines Trainers zu befolgen, selbst wenn diese Anweisungen beispielsweise zu einer Verletzung führen würden. Dennoch bleiben Zweifel an der Möglichkeit, sadomasochistischen Praktiken zuzustimmen, oder zumindest an der Gültigkeit einer solchen Zustimmung. Wenn es sowohl auf der Ebene der 108Zustimmung als auch in Bezug auf die Art der Schädlichkeit, die sie haben können, einen Unterschied zwischen den beiden Praktiken gibt, ist er nach der französischen und europäischen Rechtsprechung – zumindest bis 2005 – in der Verletzung der Menschenwürde zu finden.

Die Rechtsprechung: die Bedeutung der Menschenwürde

In der Tat erheben das französische und das europäische Recht unter dem Einfluss von Kants Modell, das im vorherigen Kapitel vorgestellt wurde, die Würde zu einem Grundrecht, das vom Staat geschützt werden muss.33 Das Konzept der Menschenwürde erlaubt, die als notwendig erachteten Einschränkungen der Gültigkeit der Zustimmung, insbesondere der sexuellen Zustimmung,34 einzusehen, doch ist es wichtig festzuhalten, dass es der kantischen Argumentation in ihrer Subtilität nicht entspricht und vor allem als eine Möglichkeit erscheint, die Menschenrechte in die Praxis umzusetzen.35 Das meistdiskutierte Beispiel für die Nichtanerkennung der Zustimmung im Namen einer Verletzung der Menschenwürde ist das Urteil des Staatsrats36 vom 27. Oktober 1995, Commune de Morsang-sur-Orge, zum Zwergen-Werfen.37 Der Kläger übt diese Praxis zu wirtschaftlichen Zwecken aus. Der Bürgermeister der Gemeinde verbietet das Spektakel aufgrund seiner polizeilichen Befugnisse. Der Kläger erhebt eine Nichtigkeitsklage gegen den Gemeindeerlass, der dieses Verbot begründet. Der Staatsrat urteilt, dass »die Attraktion ›Zwergen-Werfen‹, die darin besteht, einen Zwerg von Zuschauern werfen zu lassen, dazu führt, dass eine Person mit einer körperlichen Behinderung, die als 109solche präsentiert wird, als Geschoss verwendet wird«, so dass »eine solche Attraktion aufgrund ihres Zweckes selbst gegen die Würde der menschlichen Person verstößt«. Wie Pierre-Yves Quiviger zeigt, gilt es, zwei Arten von Verweisen auf die Menschenwürde zu unterscheiden, je nachdem, ob der vermeintliche Schaden der Handlung vom Opfer angezeigt wird oder nicht.38 Im ersten Fall stellt der Verweis auf die Menschenwürde kein Problem dar, doch im zweiten führt er eine Hierarchie ein, in der die Menschenwürde über der individuellen Zustimmung steht. Laut Quiviger führt das Urteil des Staatsrats im Fall des Zwergen-Werfens dazu, dass eine Maßnahme, die kleine Menschen diskriminiert, im Namen des Schutzes ihrer Würde legalisiert wird.39 Indem der Staatsrat der Ansicht ist, dass die Einhaltung des Grundsatzes der Arbeitsfreiheit und des Grundsatzes der Handelsfreiheit, die zum Tragen kommen, da der betreffende Zwerg für diese Tätigkeit bezahlt wurde, es nicht rechtfertigen konnten, die Störung der öffentlichen Ordnung, die mit der Verletzung der Menschenwürde verbunden ist, nicht zu beenden, stellt er eine Hierarchie auf, bei der die individuellen Freiheiten, die in der Zustimmung zum Ausdruck kommen, dem Gebot des Schutzes der Menschenwürde den Vorrang lassen müssen.

Nach wie vor im Namen der Menschenrechte fällte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sein erstes Urteil zu sadomasochistischen Praktiken: Im Dezember 1995 war der EGMR mit einem ersten Fall befasst, bei dem die britischen Polizeibehörden private Aufnahmen von äußerst gewalttätigen sadomasochistischen Treffen zwischen den Klägern und 44 anderen Homosexuellen beschlagnahmt hatten. In dem Urteil hieß es: »Diese Aktivitäten waren frei vereinbart und wurden privat durch110geführt, offenbar mit keinem anderen Ziel als der Suche nach sexueller Lust«,40 sie setzten die üblichen Einschränkungen um, die in BDSM-Verträgen zu finden sind (safe words, keine bleibenden Schäden). Der britische Richter erklärte die Täter für schuldig und verurteilte sie vornehmlich wegen Körperverletzung in mehreren Fällen. Die Strafe wurde in der Berufung bestätigt, jedoch abgemildert, da »sie nicht wussten, dass ihre Praktiken, Verletzungen zuzufügen, strafbar sind«.41

Der Europäische Gerichtshof hatte darüber zu entscheiden, ob das Vereinigte Königreich mit dieser Entscheidung Artikel 8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten eingehalten hatte, wonach das Recht auf Privatleben vor allen Eingriffen geschützt werden muss, die in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig sind.42 Die Qualifizierung »Privatleben« wird vom Gerichtshof aufgrund der »beträchtlichen Anzahl von Personen«, die an diesen Praktiken teilnahmen, ihrer Durchführung in einem Club und der Verbreitung der bei diesen Treffen aufgenommenen Videokassetten unter den Mitgliedern in Frage gestellt. Das Urteil bezieht sich jedoch speziell auf die Frage, ob ein solcher staatlicher Eingriff »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« ist oder nicht. Die Beschwerdeführer vertreten die Ansicht, dass es sich angesichts des Fehlens ernsthafter Schäden um eine Frage des sexuellen Ausdrucks und nicht um Gewalt handelt. Der Gerichtshof schließt sich dieser Argumentation nicht an und urteilt, dass die Zustimmung des »Opfers« den staatlichen Eingriff keinesfalls verhindert:

40. Für die Regierung hat der Staat das Recht, Gewalttaten zu bestrafen wie die, für die die Kläger verurteilt wurden, die 111nicht als leicht oder vorübergehend bezeichnet werden können, und zwar unabhängig davon, ob das Opfer eingewilligt hat oder nicht. Tatsächlich können in diesem Fall einige dieser Handlungen durchaus mit »Genitalfolter« verglichen werden, und man kann nicht sagen, dass ein Vertragsstaat verpflichtet ist, Folter unter dem Vorwand zu tolerieren, dass sie im Rahmen einer einvernehmlichen sexuellen Beziehung begangen wird. Der Staat ist darüber hinaus berechtigt, bestimmte Praktiken aufgrund der potenziellen Gefahr, die sie darstellen, zu verbieten.

Die Regierung betont außerdem, dass das Strafrecht aus Gründen der öffentlichen Gesundheit, aber auch allgemeiner aus moralischen Gründen versuchen sollte, bestimmte Verhaltensweisen zu verwehren. In dieser Hinsicht kann auch Folter – wie die, um die es hier geht – verboten werden, weil sie den Respekt verletzt, den Menschen einander schulden. In jedem Fall ist die Frage, welche Rolle die Zustimmung im Strafrecht spielt, sehr komplex, und die Vertragsstaaten müssen über einen großen Ermessensspielraum verfügen, um alle Faktoren, die die öffentliche Ordnung betreffen, zu berücksichtigen. […]

43. Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass eine der unbestrittenen Aufgaben des Staates darin besteht, Praktiken, die zu Körperverletzungen führen, mit dem Strafrecht zu regeln. Ob diese Handlungen in einem sexuellen oder anderen Rahmen begangen werden, ändert daran nichts.43

Diese Praktiken werden also sowohl im Namen der Erhaltung der Gesundheit als auch im Namen einer »moralischen Ordnung« verboten, die durch den Begriff der Würde des Menschen verkörpert wird. Diese Entscheidung hat zwei Auswirkungen: Zum einen verleiht sie 112dem Artikel 8 zugrunde liegenden harm principle eine extensive Definition, nach der die Schädlichkeit nicht anhand von Fakten, sondern anhand der eingegangenen Risiken beurteilt werden muss; zum anderen stellt sie die Superiorität nicht nur dieses Prinzips, sondern auch des Prinzips der Achtung der Menschenwürde, eines substanziellen moralischen Prinzips, das vom Gericht als solches anerkannt wurde, über die Zustimmung der Parteien her.

Die Kursänderung der Rechtsprechung: die sexuelle Autonomie

2002 vollzieht der EGMR jedoch eine sehr wichtige Kursänderung in der Rechtsprechung zur persönlichen Autonomie und bekräftigt:

Die Fähigkeit eines jeden, sein Leben nach seinen eigenen Vorstellungen zu gestalten, kann auch die Möglichkeit einschließen, sich Tätigkeiten zu widmen, die als körperlich oder seelisch schädlich oder gefährlich für die eigene Person wahrgenommen werden. Der Begriff der persönlichen Autonomie kann mit anderen Worten im Sinne des Rechts verstanden werden, Entscheidungen über den eigenen Körper zu treffen.44

Diese Kursänderung in der Rechtsprechung hat direkte Folgen für die Rechtsprechung zu BDSM, wie das Urteil K.A. et A.D. c. Belgique vom 17. Februar 2005 zeigt. In diesem Fall sind die sadomasochistischen Praktiken noch gewalttätiger als im Fall Laskey: Die beiden Beschwerdeführer legen beim Gerichtshof Berufung ein, nachdem sie von Belgien verurteilt wurden, weil sie an der Ehefrau von 113einem der beiden extrem gewalttätige Handlungen vorgenommen hatten.45 Der Gerichtshof wies die Berufung der Beschwerdeführer zurück, stützte seine Entscheidung jedoch nicht mehr auf einen Verweis auf die Menschenwürde oder die Schwere der Verletzungen, wenn sie auch erwähnt wurden, sondern hauptsächlich auf die fehlende Zustimmung des Opfers:

84. Daraus folgt, dass das Strafrecht grundsätzlich nicht in den Bereich der einvernehmlichen Sexualpraktiken eingreifen kann, die dem freien Willen des Einzelnen unterliegen. Daher müssen »besonders schwerwiegende Gründe« vorliegen, damit ein Eingriff der Behörden in den Bereich der Sexualität im Sinne von Artikel 8 Absatz 2 der Konvention gerechtfertigt ist.

85. Im vorliegenden Fall scheint der Eingriff, den die ausgesprochenen Verurteilungen darstellen, aufgrund der Beschaffenheit der zur Last gelegten Taten nicht unverhältnismäßig. Eine Person kann zwar das Recht beanspruchen, sexuelle Praktiken so frei wie möglich auszuüben, aber eine Grenze, die angewendet werden muss, ist die, dass der Wille des »Opfers« dieser Praktiken respektiert werden muss, dessen eigenes Recht auf eine freie Wahl der Art und Weise, wie es seine Sexualität ausübt, ebenfalls garantiert werden muss. Das impliziert, dass die Praktiken unter Bedingungen erfolgen, die einen solchen Respekt ermöglichen, was nicht der Fall war.46

Die Entscheidung des Gerichts war von der Tatsache bestimmt, dass in diesem Fall ernsthafte Zweifel an der Zustimmung des »Opfers« aufkommen konnten. Einerseits bezeugen die Aufnahmen, dass es das zuvor als safe word 114festgelegte Wort »Erbarmen« mehrfach wiederholt, ohne dass die Praktiken deswegen aufhören. Andererseits haben die beiden Männer sehr große Mengen von Alkohol konsumiert, was nach BDSM-Standards aufgrund des damit einhergehenden Kontrollverlusts verboten ist, so dass die ordnungsgemäßen Bedingungen für BDSM-Praktiken nicht erfüllt sind. Die Kursänderung der Rechtsprechung ist jedoch eindeutig: Während bislang die Zustimmung nicht reichte, um Sexualpraktiken zu legitimieren, ist dies nunmehr der Fall. Der Gerichtshof spricht sich zwar nicht direkt für die Entkriminalisierung von BDSM aus, öffnet aber die Tür für eine Umkehrung der Hierarchie zwischen Zustimmung und Menschenwürde weit genug, um bei den Verfechtern des Vorrangs Letzterer eine heftige Kritik hervorzurufen.

Die Juristin Muriel Fabre-Magnan tritt dieser Kursänderung in der Rechtsprechung entgegen, die ihrer Meinung nach »eine wahre Änderung der Ausrichtung auf die Philosophie der Menschenrechte« darstellt.47 Wie sie betont, ist das Problem, über das der Gerichtshof entschieden hat und das den Anlass zum Wandel seiner Rechtsprechung gibt, die Frage, inwieweit der Eingriff des Staates in das Privatleben durch seine Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft gerechtfertigt ist.48 Die fehlende Zustimmung des Opfers hätte ausreichen können, um die Beschwerde abzuweisen, trotzdem ändert der Gerichtshof aber seine frühere Rechtsprechung wesentlich, indem er im Namen der persönlichen Autonomie feststellt, dass 115das Strafrecht grundsätzlich nicht in den Bereich der einvernehmlichen Sexualpraktiken eingreifen darf. Muriel Fabre-Magnan folgert daraus:

Die sexuelle Freiheit wird somit zu einem Rechtfertigungsgrund, genau in der Bedeutung, die dieser Begriff im Strafrecht hat: Praktiken, die im Prinzip unter das Strafrecht fallen würden, insbesondere wie in diesem Fall die Körperverletzung, werden gerechtfertigt, das heißt, die Straftat fällt weg, da sie im Namen der sexuellen Freiheit ausgeführt wurde.

Es gibt ihr zufolge also eine Umkehrung von Prinzip und Ausnahme, die bewirkt, dass die sexuelle Freiheit vor dem Gebot des Schutzes der Unversehrtheit der Person steht. Mehr noch, der Gerichtshof habe so ein »Recht auf Sadismus« begründet. Muriel Fabre-Magnan analysiert dieses Urteil so, dass man auf die notwendigen Grenzen zurückkommen muss, die der Macht der Zustimmung zu setzen sind: Wie sie in Erinnerung ruft, beruhen viele Bereiche des Rechts, insbesondere das Arbeitsrecht, auf der Überzeugung, dass sich nicht alles auf die individuelle Zustimmung gründen kann. Das Recht hat in erster Linie die Bestimmung, Menschen zu schützen, seien sie sich der eingegangenen Risiken bewusst oder nicht. Sodann kann es bei der Zustimmung eine Entfremdung geben. Insofern muss das Recht vor einem Liberalismus schützen, der »zerstörerisch ist, wenn er keine Grenzen kennt«. Schließlich ist die Zustimmung komplex und fragil. Diese Grenzen der Zustimmung und weiter gefasst die Philosophie der Menschenrechte fordern ihr zufolge dazu auf, das Konzept der Menschenwürde in den Vordergrund zu stellen: Weil die betreffenden Handlungen Folter oder zumindest eine unmenschliche und erniedrigende Behand116lung darstellen, müssen sie verboten werden, unabhängig davon, ob die Teilnehmer zustimmen oder nicht. Muriel Fabre-Magnan verwahrt sich jedoch gegen jeglichen Moralismus:49 Wenn die Menschenwürde, deren unpräzisen Charakter sie betont, gegen die Zustimmung geltend gemacht werden muss, dann weil die Verletzung der Menschenwürde nicht nur diejenigen betrifft, die sie erleiden. Denn zum einen wird nicht bloß ein Individuum, sondern die ganze Menschheit in ihrer Würde beeinträchtigt. Vor allem aber ist es notwendig, »die anthropologischen Auswirkungen der Rechtsregel auf den Menschen und die Gesellschaft, in der er lebt, zu bedenken«.50 Die Tatsache, dass das Recht die Gesellschaft und durch diese das Individuum prägt, fordert dazu auf, die sozialen Auswirkungen des Rechts und in diesem Fall eines hypothetischen »Rechts auf Sadismus« zu berücksichtigen.

Diese Analyse macht zwei Schwierigkeiten deutlich. Die erste liegt in der Einwilligung selbst, die zweite in der Möglichkeit, das Individuum absolut von dem sozialen Rahmen, in dem es sich befindet, zu abstrahieren. Zunächst hebt Muriel Fabre-Magnans Analyse die Schwierigkeit hervor, das Strafrecht auf die Zustimmung zu gründen. Zuallererst muss die Anerkennung der Zustimmung notwendig Grenzen haben, insbesondere im Namen des harm principle. Denn der Schutz der Individuen ist eine der Grundfunktionen des Staates, und als solche hat das Recht die Aufgabe, diesen Schutz durchzusetzen. Das bedeutet zum Beispiel, dass das Strafrecht die Zustimmung von jemandem, der getötet und gegessen werden möchte, nicht anerkennt, wie im Fall des deutschen Kannibalen,51 und es bedeutet auch, dass das Arbeitsrecht den Arbeitnehmern Schutz bietet, selbst wenn ein Arbeitnehmer bereit wäre, sich quasi in Knechtschaft zu bege117ben. Im Falle des Strafrechts lässt sich die Einschränkung des Rekurses auf die Zustimmung umso besser erklären, als das Strafrecht im Unterschied zum Zivilrecht nicht die Aufgabe hat, zwischen Individuen zu vermitteln, sondern die Rechte und die Freiheit aller zu garantieren. So wird im Strafprozess nicht das Unrecht beurteilt, das einem Einzelnen, sondern der Gesellschaft insgesamt zugefügt wurde.52 Insofern kann die Berücksichtigung der Zustimmung des Opfers keinesfalls denselben Status haben wie im Zivilrecht, da hier nicht das dem Opfer, sondern der Gesellschaft angetane Unrecht beurteilt wird. So hat nicht nur das harm principle Vorrang vor der Zustimmung der Parteien, sondern, wie es in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten heißt, alles, was »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer«.53

Das heikelste Problem, auf das der Artikel von Muriel Fabre-Magnan Bezug nimmt und auf das in den folgenden Kapiteln eingegangen wird, ist die überaus große Schwierigkeit der Feststellung der Zustimmung. Auch wenn der Ausdruck »Recht auf Sadismus« unangebracht scheint, insofern das, worum es geht, ebenso sehr ein Recht auf Masochismus wie ein Recht auf Sadismus ist, und die Zustimmung beinhaltet, dass die Freiheit des Dominierenden auf der Freiheit der Unterworfenen beruht, ist die betreffende Zustimmung äußerst schwer festzustellen. Zum Beispiel machen die Beschwerdeführer im Fall K.A. et A.D. c. Belgique die Tatsache, dass das mutmaßliche Opfer nach den Taten keine Anzeige erstattet hat, als Zei118chen seiner Zustimmung geltend. Der Gerichtshof urteilt hingegen, dass das »Opfer« zwar zuvor seine Einwilligung erteilt haben mag,54 dass aber sein Weinen, seine Verwendung des vereinbarten safe word, ohne dass dies die fraglichen Praktiken beendet, von der Nichtbeachtung des Willens des »Opfers« zeugen, was das Eingreifen des Strafrechts rechtfertigt. So könnten mehrere Erklärungen gegeben werden: Eine, nach der die Frau tatsächlich ihre Zustimmung zurückgezogen, aber später keine Anzeige erstattet hätte,55 insbesondere weil ihr Ehemann einer der Teilnehmer war; eine andere, die der Beschwerdeführer,56 der zufolge sie während der gesamten Spielszene ihre Zustimmung gegeben und die safe words nicht in ihrer eigentlichen Funktion verwendet hätte; schließlich könnte eine weitere, die sich zum Beispiel auf die Beschuldigung des Ehemanns der Zuhälterei stützen würde, behaupten, dass sie dieser Spielszene vielleicht nie wirklich zugestimmt hat, dass sie aber, da ihr Ehemann sie verlangte und sie sich nicht in der Lage sah, ihm nicht zu gehorchen, seinem Willen nachgab. Die Justizbehörde befindet sich in diesem Fall bereits in der außergewöhnlichen Situation, eine Aufzeichnung der Spielszene zu besitzen, und trotzdem scheinen diese drei Szenarien plausibel zu sein. Folglich zeichnet sich ab, dass die Feststellung der Zustimmung aufgrund der begrenzten Informationen, die der Justizbehörde zur Verfügung stehen, äußerst schwierig ist. Auch wenn man in dieser Schwierigkeit der Feststellung der Zustimmung den Grund für den Rückgriff auf Verträge im BDSM sehen kann, um die Risiken nicht einvernehmlicher Beziehungen zu begrenzen, bleibt es dennoch dabei, dass die private Dimension dieser Praktiken die Beurteilung der Zustimmung sehr heikel macht.

Gemäß Muriel Fabre-Magnan sind die Schwierigkeiten 119bei der Feststellung nicht nur in einem Informationsproblem, sondern auch in einem anthropologischen Problem begründet. Denn die Definition der impliziten Zustimmung in dem Urteil verweist, wie sie sagt, »auf eine sehr ätherische Sicht des Menschen, der als allwissend und vor allem als für sich selbst transparent betrachtet wird, das heißt natürlich ohne Unbewusstes«:57 Die Zustimmung, wie auch das Prinzip der Autonomie des Willens, auf dem sie beruht, setzt ein rationales, willensstarkes und nicht verletzliches Subjekt voraus, ein Subjekt, das sich in jedem Moment seines Willens und dessen, worauf er sich gründet, bewusst ist. Nun zieht aber zum Beispiel die Psychoanalyse (doch auch die Sozialwissenschaften insgesamt) die Stichhaltigkeit dieser Vorstellung von der Person als einem freien, rationalen und willensstarken Akteur in Zweifel.58

In ihrer Auflistung der Gefahren der Anerkennung der sexuellen Zustimmung, die sie dazu geführt hat, die Zustimmung zu BDSM, die Zustimmung zur Beschneidung, die Zustimmung zur Prostitution und die Zustimmung zur Polygamie ohne Weiteres nebeneinanderzustellen, zeigt Muriel Fabre-Magnan schließlich ein spezifisches Problem auf, mit dem sich die feministische Philosophie und die Medizinethik auseinandergesetzt haben und auf das in den folgenden Kapiteln noch ausführlicher eingegangen wird, nämlich die Frage, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit eine Einwilligung im eigentlichen Sinne vorliegt, das heißt, damit die Einwilligung rechtsgültig ist. Denn in der vorgelegten Auflistung klingt die Idee an, dass die männliche Dominanz als Sozialstruktur Auswirkungen auf die Voraussetzungen für die Möglichkeit der Zustimmung hat. Beispielsweise kann ein Mädchen, das zur Schande seiner Familie zu werden und von 120seinen Angehörigen endgültig verstoßen zu werden droht, schwerlich als frei zustimmend verstanden werden, in derselben Weise wie eine Person, die in einen Laden geht und dem Kauf einer Packung Nudeln zustimmt. Ebenso kann man sich fragen, ob die Zustimmung so frei ausgedrückt wird, wenn es darum geht, einem Geschäft mit einem Fremden zuzustimmen oder im Fall der Polygamie einer Bitte des Ehemannes nachzukommen. Es ist in der Tat denkbar, dass es schwieriger ist, einem Vorschlag seines Ehemannes nicht zuzustimmen als einem Vorschlag, der zum Beispiel in einem geschäftlichen Rahmen von einem Fremden gemacht wird, vor allem aufgrund der patriarchalischen Struktur der Gesellschaft, der soziale Normen und insbesondere die Norm des Gehorsams der Frau gegenüber ihrem Mann zugrunde liegen. Insofern wäre es denkbar, dass – ebenso wie ein Arbeitnehmer durch das Arbeitsrecht vor der vom kapitalistischen System hervorgerufenen Versuchung geschützt wird, seine Zustimmung zu unmenschlichen Arbeitsbedingungen zu geben – das Zivilrecht Frauen, die aufgrund des patriarchalen Systems bereit sind, ihre Zustimmung zu unmenschlichen Praktiken zu geben, vor einer Zustimmung hierzu schützt.

Dieses Problem ist untrennbar mit der zweiten Herausforderung verbunden, die in der Anmerkung von Muriel Fabre-Magnan hervorgehoben wurde und mit den Grenzen des liberalen Individualismus zusammenhängt. Denn das, worum es bei dem Konflikt zwischen der persönlichen Autonomie, die sich in der Zustimmung verkörpert, und der Menschenwürde geht, hängt im Grunde mit einer unterschiedlichen Auslegung der Grundrechte zusammen: Im liberalen Fall, den Mill verkörpert, sind die Grundrechte Rechte des Individuums, nicht als Teil einer größeren Gruppe, die die Menschheit ist, sondern als 121ein Individuum, das als Einzelnes begriffen wird. In dem von Muriel Fabre-Magnan vorgeschlagenen und von der kantischen Philosophie inspirierten Verständnis der Menschenwürde liegt die Betonung hingegen auf den Grundrechten des Menschen als Instantiierung der Menschheit und als in einer Gesellschaft mit anderen Menschen lebend, auf die sein Handeln Auswirkungen hat. In dieser Hinsicht ist es für Muriel Fabre-Magnans Argumentation nicht unbedeutend, dass es bei dem betreffenden Fall um eine sadomasochistische Beziehung zwischen zwei Männern geht, die eine Frau dominieren – und möglicherweise foltern. Auch wenn sie das Problem nicht direkt aus der Perspektive der Geschlechterdifferenz formuliert, hebt sie doch immer wieder die Gefahren hervor, die die neue Rechtsprechung für die Rechte der Frauen mit sich bringt, und sie beendet ihren Artikel mit folgendem Satz: »Der Gerichtshof hätte nicht zögern dürfen, klar zu sagen, dass das Foltern und Demütigen einer Frau kein Menschenrecht ist.«59 Damit deutet sie an, dass die geschlechtsspezifische Organisation der Gesellschaft bei der Entscheidung des EGMR eine Rolle spielt, und zwar zum Teil aufgrund der anthropologischen Folgen des Rechts. Im Namen der gleichen Menschenwürde von Männern und Frauen sollte somit auf die Verwendung der Zustimmung als Kriterium für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit sexueller Praktiken verzichtet werden.

Mittels der Kritik, die Fabre-Magnan am Urteil K.A. et A.D. c. Belgique vorlegt, wird das Problem der sexuellen Zustimmung von Frauen also auf zwei verschiedene Arten deutlich. Zum einen führen das Urteil und seine Kritik dazu, die Legalität und die Möglichkeit der Zustimmung zu sexueller Unterwerfung, im vorliegenden Fall der Unterwerfung einer Frau, in Frage zu stellen; zum anderen 122gibt Fabre-Magnans Kritik zu verstehen, dass die Zustimmung zu hierarchischen sexuellen Beziehungen spezifische Probleme mit sich bringt, die mit der Geschlechterdifferenz verbunden sind, und dass man, anders als die Verfechter einer Minimalethik glauben machen wollen, die sexuelle Unterwerfung nicht von der strukturellen Unterwerfung trennen kann, die durch die männliche Herrschaft begründet wird.