1234. Kapitel

Der Sex ist politisch

Der Weg über BDSM hat uns erlaubt, mehrere Dinge zu verstehen: den zentralen Platz des Konzepts der Zustimmung für eine liberale Theorie der Sexualität; wie die Rechtslehre um die Gegenüberstellung von Liberalismus und Menschenwürde herum strukturiert ist und wie intime Beziehungen von Machtverhältnissen und Geschlechterungleichheiten durchzogen sind. In gewisser Weise hat uns die Untersuchung von BDSM so eine Perspektive geliefert, um die entscheidenden Fragen für jede moralische, politische und rechtliche Bewertung der Rolle ersichtlich zu machen, die die Zustimmung für eine neue, gleichberechtigte Sexualethik spielen könnte oder sollte. Denn implizit gibt es zwei Rollen, deren Erfüllung man sich von der Zustimmung erhofft: Zum einen sollte uns das Konzept der Zustimmung, negativ, gestatten, sexualisierte Gewalt effizient zu bekämpfen, insbesondere indem es uns ein wirksames Instrument an die Hand gibt, um zwischen Sex und Vergewaltigung zu unterscheiden, und andererseits sollte es uns positiv erlauben, neue Modalitäten von Liebes- und Sexualbeziehungen zu denken, die gerechter, egalitärer und zweifellos überhaupt angenehmer sind. Es geht also sowohl darum, unsere Unversehrtheit und Autonomie zu schützen, als auch darum, die Bedingungen für die Möglichkeit einer sexuellen Autonomie im vollen Sinne zu schaffen.

Worin besteht die Notwendigkeit dieser doppelten Agenda: Weshalb denken wir im Grunde, dass die Unterscheidung zwischen Sex und Vergewaltigung nicht selbstverständlich ist und dass die intimen Beziehungen so, wie sie sind, nicht befriedigend sind? Die Antwort findet sich natürlich zumindest teilweise in den eingangs erwähnten Zahlen zur sexualisierten Gewalt. Darüber hinaus geht es in dem von der Weinstein-Affäre ausgelösten weltweiten Gespräch über intime Beziehungen um sexualisierte Gewalt von Männern gegen Frauen (#MeToo), gegen andere Männer (#MeTooGay) oder gegen Kinder aus ihrer Familie1 (#MeTooInceste), aber es ist auch eine allgemeinere Kritik an sexuellen und Liebesbeziehungen. Denn egal, ob man von »Vergewaltigungskultur«, »Grauzone«, »toxischer Männlichkeit« oder auch von der Unsichtbarmachung der Klitoris in Schulbüchern spricht, setzt sich eine Feststellung immer wieder durch: Intime Beziehungen – in heterosexuellen Beziehungen, aber nicht nur dort – sind vom Patriarchat geprägt, verstanden als soziopolitisches System, das die soziale Beherrschung der Frauen durch die Männer organisiert.

Einer der grundlegenden Beiträge der feministischen Theorie und der Frauenbewegung überhaupt war zu zeigen, dass die Sexualität politisch ist. Heute scheint diese Feststellung für viele selbstverständlich zu sein: Seit der sexuellen Revolution der 1970er Jahre, seit den Schriften von Michel Foucault über die Geschichte der Sexualität oder seit #MeToo ist die Tatsache, dass die Sexualität von Machtverhältnissen durchzogen ist, ausführlich dis125kutiert worden. Um jedoch genau zu verstehen, worum es bei den zeitgenössischen Debatten über die sexuelle Zustimmung geht, muss man kurz nachzeichnen, wie diese Idee allmählich zu einer Selbstverständlichkeit wurde und was bei dieser Entwicklung auf dem Spiel steht.

Die aktuellen Diskussionen über die Zustimmung und die verschiedenen Positionen, die in dieser Debatte eingenommen werden, sind ein Produkt der sexuellen Revolution. Um es ganz kurz zu sagen: Auf der einen Seite wurde diese Revolution von der Idee strukturiert, dass die Gesellschaft die Sexualität zu Unrecht unterdrücken würde und dass man diese versteckte, schändliche und unterdrückte Sexualität um jeden Preis befreien müsse. Gegen eine Gesellschaftsordnung, in der die Sexualität vor allem als heterosexuell und reproduktiv verstanden wurde, ging es darum, sich zu befreien, die Freuden des außerehelichen, nicht reproduktiven, nicht heterosexuellen Sexes anzuerkennen. Es war »verboten zu verbieten«, und die grundsätzliche Kritik an jedem sexuellen Verbot führte zu radikalen und umstrittenen Positionen, insbesondere in Bezug auf die Sexualität von Kindern.2 Auf der anderen Seite ist die Frauenbewegung, die sich zeitgleich mit dieser sexuellen Revolution entwickelt, sowohl deren Produkt als auch eine Kritik an ihr: Zum einen hoben die Feministinnen von Anfang an die sexistischen Dimensionen dieser Sexualität hervor, die um jeden Preis zu befreien sei, und zum anderen die Art und Weise, wie die Frauen von dieser sexuellen Befreiung ausgeschlossen werden. Einerseits wurde die Sexualität durch eine männliche Brille betrachtet, die Frauen unsichtbar machte, und andererseits war die Befreiung Frauen nicht in der gleichen Weise zugänglich wie Männern.3

Der erste Schritt zur Anerkennung der politischen Dimension der Sexualität kann der Psychoanalyse zugeschrieben werden. Eine der zentralen Thesen Sigmund Freuds lautet, dass die Sexualität in der psychischen Entwicklung und im psychischen Leben des Einzelnen eine entscheidende Rolle spielt und dass Neurosen aus einer Verdrängung der sexuellen Impulse ins Unbewusste hervorgehen. Freud fördert so die entscheidende Funktion des Begehrens und des Sexuellen in der menschlichen Subjektivität zutage. Das Sexuelle ist nicht nur die Sexualität, sondern die Gesamtheit der Handlungen, Phantasien und Gedanken seit der Kindheit, die an die Lust anknüpfen. Nun zeigt Freud in der ersten freudschen Topik – also der ersten der beiden von ihm vorgeschlagenen Vorstellungen des psychischen Systems –, dass das Sexualleben nicht selbstverständlich ist und oft Leiden verursacht, insbesondere aufgrund von etwas, was er als Verdrängung des Sexuellen ins Unbewusste bezeichnet. In seinen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse verwendet Freud eine räumliche Metapher, um dies zu erklären: Man kann sich das Bewusstsein als einen Salon vorstellen, in dem es Menschen (oder psychische Bewegungen) gibt, die Wahrnehmungen repräsentieren. Nun gibt es, bevor man diesen Salon betreten kann, eine Art Vorzimmer, das größer ist. Zwischen diesem Vorraum und dem Salon steht ein Wächter, der eine Instanz zur Aufrechterhaltung der Ordnung des Bewusstseins ist: Wie ein Türsteher in einem Nachtclub inspiziert er die psychischen Bewegungen und entscheidet je nach Lust oder Unlust, ob sie in den Sa127lon, der das Bewusstsein ist, eintreten dürfen oder nicht. Psychische Bewegungen, die nicht in das Bewusstsein eintreten dürfen, werden ins Unbewusste verdrängt. Da die Trennung zwischen Salon und Vorzimmer trotzdem nicht vollkommen hermetisch ist, erinnert sich das Unbewusste an das Bewusstsein, wie laute Gäste, die man aus dem Wohnzimmer hört, und die verdrängten Impulse, die sich dort befinden, sind folglich eine Quelle des Leidens. Die Metapher des Wächters zeigt, dass es innerhalb unserer psychischen Apparate Effekte der Kontrolle und Unterdrückung gibt.

In seinen späteren Schriften weist Freud darauf hin, dass diese Verdrängung, diese Kontrolle der sexuellen Triebe auch und in gewisser Weise vor allem auf gesellschaftlicher Ebene erfolgt: Das Leben in der Gesellschaft erfordert eine Einschränkung der Triebe, die also von der Kultur verlangt wird und die Art und Weise beeinflusst, wie das Sexuelle auf der individuellen Ebene verdrängt wird. Weil die ganze Gesellschaft die sexuellen Triebe einschränkt, um existieren zu können, reproduziert das Individuum die Einschränkung seiner sexuellen Triebe in sich selbst und leidet folglich an psychischen Neurosen. In Totem und Tabu und später in Der Mann Moses und die monotheistische Religion zeigt Freud die Entstehung der Demokratie anhand des Mythos eines Vaters mit einer übermäßigen Macht auf, der als Einziger das sexuelle Recht auf die Frauen des Stammes hat. Seine Söhne erfahren dadurch eine sexuelle Einschränkung, also lehnen sie sich auf, töten den Vater im Namen eines gleichmäßiger verteilten Rechts auf Genuss. In der demokratischen Gleichheit, die aus diesem Prozess geboren wird, sind die Triebbeschränkungen gleichmäßiger verteilt, doch erfordert diese Verbindung der Brüder eine zusätzliche 128Einschränkung der Libido, um den Bruderkampf zu verhindern; dies ist nach Freud die Funktion des Inzesttabus.

Hier geht es nicht darum, auf die Details der freudschen Gesellschaftstheorie einzugehen, aber dieser sehr kurze Überblick erlaubt uns, das für uns Wesentliche zu verstehen: Die freudsche Theorie ist der Wendepunkt, der die Tür öffnet für ein Verständnis der Sexualität in Begriffen von Machtverhältnissen, Unterdrückung, Kontrolle und Restriktion sowie für die Hypothese, dass die Sexualität befreit (oder ent-unterdrückt) werden muss. Ausgehend von dieser Hypothese entwickelten sich einerseits die Ideen und der Aktivismus, die zur sexuellen Revolution führen werden – insbesondere die Arbeiten des Psychoanalytikers Wilhelm Reich und des Philosophen Herbert Marcuse –, und andererseits ein veritabler philosophischer Korpus zur Sexualität.

Insbesondere Freuds Kritik an der sexuellen Unterdrückung im Wien des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist einer der Ausgangspunkte für die Geschichte der Sexualität, die der Philosoph Michel Foucault Anfang der 1970er Jahre zu schreiben beginnt.4

129Die Ablehnung der Repressionshypothese

Foucault distanziert sich von dem Befreiungsdiskurs der 1960er und 1970er Jahre, der sich auf Freuds Theorie stützt und den Reich und Marcuse verkörpern. In ihren Augen ist der Sex seit dem 17. Jahrhundert Gegenstand von fortwährender Unterdrückung, Geheimhaltung und Verbot. Nicht nur unsere Lüste und Handlungen, sondern auch unsere Wünsche sind Ziele dieses Verbots. Man würde uns die Unterdrückung unserer Wünsche auferlegen und uns daran hindern, frei zu begehren. Um sich zu befreien, gehe es also nicht nur darum, ungehindert zu genießen, sondern auch darum, ungehindert zu begehren. Die Grundannahme dieses Diskurses lautet, dass wir außerhalb und vor dieser repressiven Macht Wünsche und Lüste haben, dass aber »die Macht wesenhaft das ist, was dem Sex sein Gesetz diktiert«,5 und dass die Macht das ist, was erlaubt, den Sex zu verstehen. Der Sex sei eine Art Matrix für das, was wir sind, er liefere eine Erklärung für unsere verschiedenen Verhaltensweisen, und es gehe darum, ihn durch die Analyse in Worte zu fassen, um unter der Repression den Strand, unseren Sex selbst, in seiner Essenz zu entdecken.

Diese Hypothese, die Foucault als »Repressionshypothese« bezeichnet,6 stellt die Lust in den Vordergrund; sie sei das, was abgetötet und bekämpft worden sei. Die Individuen seien gezwungen worden, ihre Lüste zu begrenzen, keine Lüste mehr zu haben. Ihre sexuellen Praktiken seien auf ihre Fortpflanzungsfunktion reduziert worden. Mehr noch: »Der moderne Puritanismus [hat] seine dreifache Verfügung von Untersagung, Nicht-Existenz und Schweigen durchgesetzt«,7 man habe die Menschen ge130zwungen, nicht mehr über ihre Lüste zu sprechen, und mit der performativen Kraft der Sprache habe dieses Schweigen zur Neantisierung des Sexes geführt. Der Sex sei so verschwunden und verlange nun, befreit, ans Licht gebracht und ausgedrückt zu werden. Foucault zeigt, dass die Situation des Diskurses über den Sex komplexer ist: »Seit dem klassischen Zeitalter [ist] es zu einer ständigen Erweiterung und einer immer höheren Bewertung des Diskurses über den Sex gekommen.«8 Die Diskurse, die aufkommen, sind die der Analyse der Lust und des Begehrens in negativen oder neutralen Begriffen, das heißt die Diskurse des Christentums in der Beichte oder die wissenschaftlichen Diskurse, während die Diskurse der Preisung der Lust oder des Begehrens tatsächlich zum Schweigen gebracht werden, wie von der Repressionshypothese bemängelt.

Sexualität, Macht, Wissen und Wahrheit

Die Machtbeziehungen, die die Diskurse über den Sex durchziehen, sind keine einfachen Unterdrückungsbeziehungen, aber das soll nicht heißen, dass die Sexualität nicht von Machtverhältnissen durchzogen ist. Im Gegenteil, sie erlauben Foucault, eine neue Analyse der Macht zu entwickeln,9 die als ein Kräftefeld verstanden wird.

Foucault zeigt, dass nichts einfach ein Ziel der Macht ist, dass die Macht nicht als eine Kraft funktioniert, die in eine Richtung geht, mit einem einzigen Fokus, dass sie nicht bloß negativ ist. Die Macht ist ein Feld von Kräften, die in verschiedene Richtungen gehen, nichts ist einfach ein Objekt der Macht, Ziel einer totalisierenden Macht, oder man muss nicht von Macht, sondern von Herrschaft 131sprechen. Im Dispositiv der Sexualität »heben sich Lust und Macht nicht auf, noch wenden sie sich gegen einander, sondern übergreifen einander, verfolgen und treiben sich an. Sie verketten sich vermöge komplexer und positiver Mechanismen von Aufreizung und Anreizung.«10 Macht sollte daher nicht in den Begriffen eines frontalen Gegensatzes verstanden werden. Natürlich gibt es Herrschaft, aber sie stößt auf Widerstände, und vor allem ist die Macht nicht darauf zu reduzieren.

Dieses Dispositiv der Macht beruht auf einem bestimmten Verhältnis zur Wahrheit: Man sucht nach der Wahrheit des Sexes und versucht, ausgehend von dieser Wahrheit, entsprechend dieser Wahrheit den Sex zu gestalten. Diese Suche nach der Wahrheit des Sexes zeigt sich gerade in der Explosion der Diskurse über den Sex. Anstatt danach zu suchen, wie man sich mehr Lust verschaffen kann, anstatt danach zu suchen, wie man seine Lüste steuern kann, hat die Moderne versucht, die Wahrheit über den Sex zu erfahren und dadurch auf ihn Einfluss zu nehmen:

Unsere Zivilisation besitzt, zumindest auf den ersten Blick, keine ars erotica. Dafür ist sie freilich die einzige, die eine scientia sexualis betreibt. Beziehungsweise die einzige, die im Lauf von Jahrhunderten, um die Wahrheit des Sexes zu sagen, Prozeduren entwickelt hat, die sich im wesentlichen einer Form von Macht-Wissen unterordnen, die der Kunst der Initiationen und dem Geheimnis des Meisters streng entgegengesetzt ist: es handelt sich um das Geständnis.11

»In der Kunst der Erotik wird die Wahrheit aus der Lust selber gezogen, sie wird als Praktik begriffen und als Erfahrung gesammelt«,12 die scientia sexualis will hingegen 132mittels des Geständnisses der Wünsche und Lüste die Wahrheit des Sexes in Erfahrung bringen, das heißt die Wahrheit des Begehrens und der Lust.

Foucault versucht so weniger, das Sexualverhalten zu untersuchen, als vielmehr zu verstehen, wie das Sexualverhalten im Westen zum Gegenstand einer Wissenschaft von der Sexualität wurde und wie diese wahren Diskurse mit verschiedenen Machtmechanismen verbunden waren. Dafür müssen Verfahren der Wahrheitsproduktion untersucht werden, wobei schon der Begriff Verfahren die Verflechtung von Wissen und Macht veranschaulicht: Der Beichtvater und der Psychiater erlangen ein Wissen über den Sex und gleichzeitig eine Macht über den Sex des Bekennenden durch die bloße Tatsache seines Geständnisses.13

Die Besonderheit der scientia sexualis besteht darin, dass sie das Subjekt selbst bestimmt: Durch das Geständnis muss es sich als begehrendes Subjekt anerkennen, und durch die gemeinsame Entwicklung von Medizin, Psychiatrie und Justiz wird seine Individualität spezifiziert. In diesem Zusammenhang ist es interessant zu sehen, wie Foucault zufolge die Figur des Homosexuellen aufkommt:

die psychologische, psychiatrische und medizinische Kategorie der Homosexualität hat sich an dem Tag konstituiert, wo man sie […] weniger nach einem Typ von sexuellen Beziehungen als nach einer bestimmten Qualität sexuellen Empfindens […] charakterisiert hat.14

Die Praxis der Sodomie ist nur noch ein Zeichen, ein Artefakt des homosexuellen, invertierten Wesens des Individuums. Wenn Foucault sagt, »nichts von alledem, was er ist, entrinnt seiner Sexualität«,15 zeigt er, dass die Ge133sellschaft durch dieses Dispositiv von Macht-Wissen, das sie auf den Sex wirken lässt, davon ausgeht, dass er nicht mehr als ein Individuum mit einer bestimmten Art von sexuellen Praktiken betrachtet wird, sondern dass seine Praktiken ein Zeichen für das sind, was er ist und was von seinem Sex bestimmt wird. Arnold I. Davidson versteht Foucaults Unterscheidung zwischen ars erotica und scientia sexualis folgendermaßen:

Während die ars erotica sich um den Rahmen Körper-Lust-Intensivierung organisiert, organisiert sich die scientia sexualis um die Achse Subjekt-Lust-Wahrheit. Es ist, als könnte man sagen, dass die Auferlegung wahrer Diskurse über das Thema der Sexualität zur Zentralität einer Theorie des sexuellen Begehrens führt, während der Diskurs über die Lust und die Suche nach ihrer Intensivierung in der Wissenschaft des sexuellen Begehrens außen vor bleiben. Genau wie Foucault die psychoanalytische Theorie des Unbewussten von der Theorie der Sexualität trennen wollte, will er hier die Erfahrung der Lust von einer psychologischen Theorie des sexuellen Begehrens, der sexuellen Subjektivität trennen.16

Davidson zeigt, dass man über das »Dispositiv der Sexualität«17 entdeckt, wie sich das moderne Subjekt konstituiert: Das moderne Zeitalter wollte das Individuum anhand seines Sexes bestimmen; das Individuum wird durch seinen Sex spezifiziert, der vornehmlich aus seinen Begierden besteht. Das moderne Individuum steht im Zentrum eines Dispositivs des Macht-Wissens, das darauf abzielt, über seinen Sex Macht auszuüben. Der Prozess der Subjektivierung der Individuen kann somit als ein Prozess der Unterwerfung verstanden werden: Sie sind Subjekte18 in dem Sinne, dass sie von einer Macht beherrscht werden, 134die eine Macht über ihren Sex ist, der als bestimmende Instanz dessen begriffen wird, was sie sind.

Sex als Gegenstand der Politik

Mittels der Analyse des Diskurses über die Sexualität zeigt Foucault drei Formen auf, in denen Sexualität und Macht miteinander verbunden sind. Erstens wird der Sex allmählich zum zentralen Anliegen der Politik, also zu einem politischen Gegenstand, weil die politische Macht in ihm das beste Mittel sieht, das Leben zu kontrollieren.19 Über das Dispositiv der Sexualität hinaus, das sich auf die Individuen als solche bezieht, betrachtet die Biomacht das Individuum als Mitglied der Gesellschaft, als Teil der Bevölkerung und übt in dieser Eigenschaft eine unpersönliche Macht über dieses aus, welche darauf abzielt, die wirtschaftliche und militärische Gesundheit des gesamten Gesellschaftskörpers zu gewährleisten.

Zweitens bestimmt die scientia sexualis das Subjekt so, dass es durch den Diskurs über die Sexualität sowohl unterworfen als auch zum Subjekt gemacht wird. In seinen beiden Aufsätzen »Subjekt und Macht« unterscheidet Michel Foucault zwei Bedeutungen des Wortes Subjekt: »Das Wort ›Subjekt‹ hat zwei Bedeutungen: Es bezeichnet das Subjekt, das der Herrschaft eines anderen unterworfen ist und in seiner Abhängigkeit steht; und es bezeichnet das Subjekt, das durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine eigene Identität gebunden ist.«20 Der Sex konstituiert das Individuum als Subjekt oder bringt es dazu, sich in diesen beiden Bedeutungen als Subjekt zu konstituieren: Das Geständnis, die Medikalisierung und die Kontrolle der sexuellen Praktiken unterwerfen 135das Individuum jenem großen Machtdispositiv, das das Dispositiv der Sexualität darstellt; das Individuum, das seine sexuellen Praktiken gesteht, weil es glaubt, dass sich darin etwas von seiner eigenen Wahrheit abspielt, ist an die sexuelle Identität gebunden, die es zu konstituieren scheint. Das Wahrheitsregime, in dem wir uns befinden, bestimmt unsere Subjektivität, insofern es unsere Subjektivität beeinflusst. Worum es beim Widerstand gegen das Dispositiv der Sexualität geht, das seinem Wesen nach ein Wahrheitsregime ist, ist folglich die Beziehung zu sich selbst, zum Subjektsein.

Die Untersuchung des Dispositivs des Macht-Wissens fordert uns gemäß Foucault dazu auf, anzuerkennen, dass wir diesem Dispositiv unterworfen sind, insofern es ein Wahrheitsregime ist. Er bringt uns somit dazu, zu begreifen, dass das, was wir als unser Wesen und folglich als einen Ort der Nicht-Unterwerfung unter die Macht betrachten – uns selbst –, in Wirklichkeit ein Produkt dieser Macht ist. Folgen wir der von Judith Butler in Psyche der Macht vorgeschlagenen Analyse dieser Unterwerfung:

Macht denken wir uns gewöhnlich als das, was von außen Druck auf das Subjekt ausübt, was es zur Unterordnung zwingt und es auf eine niedrigere Stufe der Ordnung verbannt. […] Verstehen wir aber mit Foucault Macht auch als das, was Subjekte zuallererst bildet oder formt, was dem Subjekt erst seine schiere Daseinsbedingung und die Richtung seines Begehrens gibt, dann ist Macht nicht einfach etwas, gegen das wir uns wehren, sondern zugleich im strengen Sinne das, wovon unsere Existenz abhängt und was wir in uns selbst hegen und pflegen. […] Subjektivation besteht eben in dieser grundlegenden Abhängigkeit von einem Diskurs, den wir uns nicht ausgesucht haben, der jedoch paradoxerweise erst un136sere Handlungsfähigkeit ermöglicht und erhält. Subjektivation bezeichnet den Prozeß des Unterworfenwerdens durch Macht und zugleich den Prozeß der Subjektwerdung.21

Wenn sich das Subjekt als Subjekt konstituiert, das sich seines Seins und in gewissem Maße auch seiner Wahrheit bewusst ist, ist es in Wirklichkeit das Produkt einer Macht, die auf es ausgeübt wird und es unterwirft.

Die Bedeutung dieser Schlussfolgerung, zu der Foucault gelangt, ist sehr weitreichend. Zuallererst impliziert sie, dass alles, einschließlich des Subjekts, historisch determiniert ist, das heißt, dass es nichts Invariantes gäbe, nichts, was nicht von dem bestehenden Dispositiv der Macht abhängig wäre. Was eine Reihe von Problemen aufwirft, die die Möglichkeit der Erkenntnis betreffen: Es gäbe grundsätzlich nichts zu erkennen, es gäbe kein Wissen, sondern Kenntnisse.

Vor allem, und das ist der dritte Aspekt der Verbindung von Sexualität und Macht, hat diese Schlussfolgerung etwas Hoffnungsloses, da sie die Möglichkeit des Widerstands äußerst problematisch macht: Es gibt offenbar kein Außerhalb der Macht, von dem aus man die Macht, die auf uns ausgeübt wird, denken und bekämpfen könnte. Dennoch schließt Foucault den Willen zum Wissen mit einem rätselhaften Aufruf zum Widerstand:

Man muss sich von der Instanz des Sexes frei machen, will man die Mechanismen der Sexualität taktisch umkehren, um die Körper, die Lüste, die Wissen in ihrer Vielfältigkeit und Widerstandsfähigkeit gegen die Zugriffe der Macht auszuspielen. Gegen das Sexualitätsdispositiv kann der Stützpunkt des Gegenangriffs nicht das Sex-Begehren sein, sondern die Körper und die Lüste.22

137Mittels seiner genealogischen Untersuchung, die ihn von einer Analytik der Macht zu einer Analyse des Sexualitätsdispositivs, dann von der Sexualität zum Sex und schließlich zum Begehren führt, gelingt es Foucault zu zeigen, dass das, was man für natürlich hielt, konstruiert ist, und vor allem, dass die Kausalität, die dem Sex gewöhnlich zugeschrieben wird, falsch ist. Der Sex ist nicht die Ursache dessen, was wir sind, er sagt uns keine Wahrheit über uns selbst, er ist eine Wirkung, ein Ergebnis der Macht, das uns nicht einmal die Wahrheit über diese Macht sagt. Das Begehren ist das Resultat dieses Sexes, der im Zuge des Prozesses der Heterosexualisierung im Dispositiv der Sexualität auf es einwirkt: Dieses Dispositiv schreibt vor, dass jeder geschlechtlichen Identität eine bestimmte Art von Begehren entspricht, die Frauen begehren Männer, die Männer begehren Frauen. Von einem kausalen Prinzip oder von Verdrängung ist hier nicht mehr die Rede, und das aus gutem Grund: Es gibt in dem, was wir als Sex bezeichnen, nichts Natürliches, bereits Daseiendes, von Machtstrukturen Unabhängiges.

Sobald diese umgekehrte Kausalitätslinie zwischen dem Begehren und dem Sexualitätsdispositiv festgestellt ist, bleibt beim Leser von Michel Foucault und offenbar auch bei Foucault selbst ein Gefühl des Unbehagens zurück: Wenn ein Dispositiv der Macht, das wir als Dispositiv der Sexualität bezeichnen, unsere Konstitution als Subjekt beeinflusst und der Sex konstruiert, was wir für gegeben hielten, und die Natur unseres Begehrens bestimmt, was ist dann unser Feld des Handelns? Wenn diese Macht sich so sehr unserer Körper annimmt, was bleibt uns dann noch, was nicht von ihr bestimmt wäre?

138Die Lust, ein von der Macht unberührter Ort

Auf dieses Unbehagen lautet Foucaults Antwort, ohne viel zu erklären: Was nicht von der Macht bestimmt wird, sind die Körper und die Lüste. Die Körper sind nur sehr sekundär Konstrukte der Macht,23 sie sind im Wesentlichen und ursprünglich eine biologische Gegebenheit. Diese Gegebenheit war sicher Gegenstand einer starken Erotisierung, die sie elektrisiert und zu einem Feld der Begierden gemacht hat, dennoch ist sie keine von der Macht erfundene Fiktion, sondern etwas, das bereits da ist. Die Handlung, die das freie Subjekt an diesem Körper vornehmen kann, ist einzigartig, sie ist eine Maximierung der Lüste, der Praktiken, die erlauben, Empfindungen zu haben, die so angenehm wie möglich sind. Die Lust, die Lüste in ihrer Unterschiedlichkeit und Vielfältigkeit sind der einzige Ort, der der Macht widerstehen kann. Dies ist kein von der Macht unberührter Ort, schon allein insofern der Körper vom Sexualitätsdispositiv in Beschlag genommen wurde, aber es ist ein Ort, an dem es möglich ist, mit einem Einfallsreichtum hinsichtlich der Quellen der Lüste ein Neben-der-Macht zu erfinden. Der einzige Text, in dem Foucault diesen Einfallsreichtum der Lüste wirklich thematisiert, ist ein Interview in einer kanadischen Zeitschrift mit dem Titel »Sex, Macht und die Politik der Identität«.24 Darin theoretisiert Foucault die »SM-Subkultur«25 als Beispiel für die Schaffung neuer Möglichkeiten der Lust.

Ich denke, dass wir da eine Art Schöpfung, schöpferisches Unternehmen haben, bei denen ein Hauptmerkmal das ist, was ich Desexualisierung der Lust nenne. Die Vorstellung, 139dass die sexuelle Lust die Grundlage aller möglichen Lüste ist, dies, denke ich, ist wirklich etwas, das falsch ist.26

Was als Ort des Widerstands zum Tragen kommt, ist nicht die Lust im Singular (die Verwendung des Singulars zeigt den konstruierten und aufgezwungenen Charakter des Begehrens, des Sexes, der Sexualität), sondern es sind die Lüste, die Lüste der Körper, die es ihnen ermöglichen, sich zu desexualisieren, das heißt, sich von der Machtinstanz zu befreien, die der Sex darstellt. Diese Lüste sind neue Lüste, die vom Sexualitätsdispositiv nicht als Möglichkeit angeboten werden; Fistfucking oder SM sind gute Beispiele dafür. Es sind die Lüste des Körpers und nicht die Lüste des Sexes.

Man kann, ohne zu übertreiben, davon ausgehen, dass diese von Foucault vorgeschlagene Konzeption der Sexualität alle Diskurse über die Sexualität seit 1976 geprägt hat. Einerseits stand sie im Zentrum der allmählich akzeptierten Infragestellung einer hypothetischen Natürlichkeit der Sexualität: Während religiöse Diskurse einerseits und die Anfänge der Sexualwissenschaft im 19. Jahrhundert27 andererseits den Eindruck erweckt hatten, es gebe so etwas wie eine natürliche Sexualität, macht Foucault den ideologischen Charakter dieser Diskurse, kurz: ihre politische Dimension, deutlich. Das foucaultsche Erbe ist jedoch sehr komplex: Anhand dieses Überblicks wird deutlich, dass Foucault sowohl im Dienste des Argwohns gegen jeden staatlichen Eingriff in die Wünsche und Lüste als auch im Dienste der Erkennung der Art und Weise verwendet werden kann, wie die Machtverhältnisse, die die Gesellschaft bilden – vor allem die Geschlechterverhältnisse –, in der Sexualität ausgespielt werden und sie somit zu einem politisch absolut nicht 140neutralen Terrain machen. Es ist auch nicht schwer, sich eine Kritik an der sexuellen Zustimmung im Namen der Tatsache vorzustellen, dass es sich dabei um ein weiteres Dispositiv zur Disziplinierung der Sexualität durch das Wort handelt, das in mancherlei Hinsicht zum Geständnis analog ist, oder um eine Verteidigung der sexuellen Zustimmung als Förderin eines Regimes der Lüste, das allein einen Widerstand gegen die Macht erlaubt. Man kann sich auch ziemlich gut vorstellen – und dies umso besser, als er diese Position selbst vertreten hat –, wie Foucault gegen Diskurse eingesetzt werden könnte, die darauf abzielen, Kinder vor Sexualverbrechern zu schützen.28 Und tatsächlich wurde Foucault als Referenz für fast alle Verteidigungen oder Kritiken der sexuellen Zustimmung herangezogen, von den libertärsten Positionen der Notwendigkeit einer völligen Abwesenheit einer staatlichen Kontrolle der Sexualität und damit der zentralen Stellung, die der Zustimmung gegeben wird, über die radikalsten feministischen Positionen zur Unmöglichkeit für Frauen, heterosexuellem Sex zuzustimmen, bis hin zu Positionen, die absolut gegen die Festlegung eines Mindestalters für die Zustimmung gerichtet sind. In dieser Hinsicht ist die gesamte Argumentation dieses Buches vom foucaultschen Ansatz inspiriert, auch wenn die Schlussfolgerungen, zu denen ich komme, sich von denen unterscheiden, die man vielleicht direkt von Foucault ableiten kann.

Wenn wir jedoch den genauen Blickwinkel der Politisierung der Sexualität betrachten, die zur gleichen Zeit wie die sexuelle Revolution stattfindet, müssen wir uns eine andere Debatte ansehen, in der Foucault zentral war, nämlich die Politisierung des Intimen durch die Feministinnen. Denn die Debatten über die sexuelle Zustimmung entspringen vor allem der Politisierung der gesamten Privatsphäre und damit auch der Sexualität als Teil dieser Privatsphäre und – durch diese Politisierung – der Infragestellung der sehr klaren Unterscheidung zwischen Vergewaltigung und Sex. Man kann mit Freud sagen, dass die Kultur die sexuellen Wünsche unterdrückt und damit zu einer Verdrängung des Sexualtriebs führt, oder mit Foucault, dass die Sexualität im Zentrum von Dispositiven des Macht-Wissens steht und folglich von Machtverhältnissen durchzogen ist. Das ist jedoch nicht das Gleiche wie zu sagen, dass durch die Sexualität eine bestimmte Form von gesellschaftlicher Herrschaft ausgeübt wird, nämlich die von Männern über Frauen, in dem, was einige Feministinnen als Heteropatriarchat29 bezeichnet haben. Letztere Vorstellung ist ein Produkt feministischer Praktiken, die mit der sexuellen Revolution einhergingen, insbesondere der feministischen Gesprächsgruppen, die auf Englisch consciousness raising groups genannt wurden, um zu betonen, dass ihr Ziel darin bestand, sich die Unterdrückungsmechanismen des Patriarchats bewusst zu machen.30 In diesen Gruppen, die sich in der überwiegenden Mehrheit der Fälle nicht gemischtgeschlechtlich, ohne Männer treffen, ergreifen Frauen das Wort, um 142über ihre täglichen Erfahrungen zu sprechen. Allein die Tatsache, mit anderen Frauen die intimsten Seiten ihres Lebens zu teilen, erlaubt ihnen, sich der Verwandtschaft ihrer Erfahrungen bewusst zu werden, so dass diese Erfahrungen nicht mehr als Produkt einer bestimmten individuellen Geschichte erscheinen, sondern als Ausdruck der gesellschaftlichen Unterdrückung, nämlich der männlichen Herrschaft. Diese Praktik macht deutlich, dass die Intimsphäre, in der sie ihre Entscheidungen als Frucht ihrer Freiheit begriffen, in Wirklichkeit der Ort ist, an dem »jede Frau auf eine ihr eigene Art und manchmal auch freiwillig in ihren privatesten Beziehungen die Struktur von Herrschaft und Unterwerfung reproduziert, die die gesamte soziale Ordnung charakterisiert«.31 Diese Analyse gestattet den Frauen zu begreifen, dass das Private politisch ist und dass dies vier Dimensionen hat:

Erstens: Frauen als Gruppe werden von Männern als Gruppe und damit als Individuen beherrscht. Zweitens sind Frauen in der Gesellschaft nicht aufgrund einer persönlichen Natur oder der Biologie untergeordnet. Drittens durchdringt und bestimmt die geschlechtsspezifische Teilung, die die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung einschließt und die Frauen in Berufen mit hohen Absätzen und niedrigem Status hält, die Frauen bis in ihre persönlichen Gefühle in ihren Liebesbeziehungen. Viertens: Da die Probleme einer Frau nicht ihre individuellen Probleme sind, sondern die der Frauen insgesamt, können sie nur als Ganzes angegangen werden.32

Die Praktik des consciousness raising beleuchtet die Funktionsweise der männlichen Herrschaft in ihrer ganzen Komplexität. Und sie macht deutlich, dass das Intime 143und insbesondere die Sexualität politisch sind und folglich auch Gegenstand politischer Kämpfe sein müssen.

Ein neues Verständnis der Vergewaltigung

Diese Gesprächsgruppen produzieren auch ihren Teil an konkreten Erkenntnissen über das Leben der Frauen. Insbesondere stellen sie, wie Maria Bevacqua33 und Nicola Gavey34 zeigen, das Bild von der Vergewaltigung radikal auf den Kopf. Bislang galt die Vergewaltigung allgemein als ein außergewöhnliches Verbrechen, das von abweichenden Individuen in einem öffentlichen Umfeld begangen wird, zum Beispiel vergewaltigt ein Unbekannter eine Frau in einer dunklen Straße. Doch als Frauen begannen, sich zu treffen und über ihre Erfahrungen mit der Sexualität zu sprechen, drängte sich der Eindruck auf: Sexuelle Gewalt im Allgemeinen und Vergewaltigungen im Besonderen wurden in erster Linie von ihren Ehemännern, ihren Exmännern, ihren Vätern, ihren Brüdern und ihren Onkeln begangen. Und sie waren weit davon entfernt, etwas Außergewöhnliches zu sein. So entwickelte sich sowohl im eigentlichen Aktivismus als auch in der theoretischen Arbeit der Feministinnen der 1970er Jahre die Vorstellung, dass Vergewaltigung kein Verbrechen wie jedes andere ist, sondern eine Manifestation des Patriarchats, das mit der Herrschaft der Männer über die Frauen verbunden und dieser inhärent ist. Innerhalb weniger Jahre wird die Vergewaltigung so zu einem politischen Thema.

Wenn die Vergewaltigung nicht mehr das Werk kranker und einzelner Wesen ist, sondern eine alltägliche Manifestation der männlichen Herrschaft in den intimen Beziehungen der Frauen mit den Männern ihres Umfelds, 144drängt sich die Frage auf: Wie kann man die Vergewaltigung von Sex unterscheiden? Diese bis dahin scheinbar selbstverständliche Unterscheidung – Sex war das, was man mit seinem Ehemann tat, Vergewaltigung das, was einem von einem gewalttätigen Fremden aufgezwungen wurde – ist dies nun überhaupt nicht mehr: Die Aussagen dieser Frauen zeigen, dass sexuelle Gewalt und Vergewaltigung zuerst in der Familie und insbesondere mit ihrem Ehemann stattfinden. Das macht die Unterscheidung von Sex und Vergewaltigung komplex. Während es klar ist, was eine Vergewaltigung ausmacht, wenn es sich um einen bewaffneten Fremden auf einem Parkplatz handelt, ist die Ermittlung im privaten Bereich schwieriger: Muss während des Geschlechtsverkehrs Gewalt angewendet werden, damit es sich um eine Vergewaltigung handelt? Aber was macht man in diesem Fall mit sexuellen Beziehungen, die von Ehemännern erzwungen werden, die ihre Ehefrauen in ständiger Angst leben lassen? Wie kann man feststellen, ob eine Drohung oder Nötigung vorliegt oder nicht, wenn eine Frau beispielsweise finanziell vollkommen von ihrem Ehemann abhängig ist? Indem der Feminismus der 1970er Jahre die Perspektive auf die Vergewaltigung radikal verändert, stellt er eine noch beunruhigendere Frage: Wenn die Vergewaltigung eine Manifestation männlicher Herrschaft ist und nicht die außergewöhnliche und pathologische Tat böser Männer, würde das dann bedeuten, dass ein erheblicher Teil dessen, was wir einfach als Sex betrachten, in Wirklichkeit eine Vergewaltigung ist? Und würde das bedeuten, dass wir anstelle einer Binarität von Vergewaltigung und Sex den Sex in einem Kontinuum denken sollten, das von der gewalttätigsten Vergewaltigung bis zum begehrtesten Sex reicht?

145Die sex wars

Die feministische Politisierung des Intimen und vor allem die Frage nach dem Kontinuum von Vergewaltigung und Sex haben Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre zu den sogenannten sex wars geführt.35 Um es ganz kurz zu sagen, führte die Erkenntnis, dass die Sexualität von Machtverhältnissen durchzogen ist, bei den Feministinnen und insbesondere bei den lesbischen Feministinnen, die im Zentrum eines Aktivismus standen, der, wie ein Slogan sagt, davon ausging, dass »Lesbianismus die Praxis, Feminismus die Theorie« ist, zu zwei Arten von Grundpositionen. Ein Teil der radikalen Feministinnen, die einen politischen Lesbianismus forderten, allen voran Andrea Dworkin oder auch Adrienne Rich, vertraten die Vorstellung eines Kontinuums zwischen Vergewaltigung und Sex in heterosexuellen Beziehungen, das es schwierig machte, sich heterosexuelle Beziehungen vorzustellen, die von der männlichen Herrschaft befreit sind. Diese Feministinnen bekämpften aktiv die Prostitution und Pornographie mit der Begründung, dass die Pornographie eine Form von misogyner Entmenschlichung der Frauen darstelle,36 und bekundeten ein großes Misstrauen gegenüber der Idee, dass Sex eine emanzipatorische Praxis darstellen könnte. Auf der anderen Seite führte das Aufkommen der Schwulen- und Lesbenbewegung dazu, dass radikale Lesben, Queers und Transgender, von denen man hätte annehmen können, dass sie mit Andrea Dworkins antisexuellen Positionen übereinstimmen, im Gegenteil ihre Zugehörigkeit zu der damals so genannten »Ledergemeinschaft« beanspruchten und sich, weiter gefasst, von BDSM als emanzipatorischer Praxis an146gezogen fühlten.37 In der Tat kamen BDSM-Praktiken seit den frühen 1970er Jahren als ein charakteristisches Merkmal der amerikanischen Schwulenkultur auf, die von der Ästhetik der Ledersubkultur nicht zu trennen war,38 und wurden im Rahmen des Kampfes für die Gleichberechtigung von Homosexuellen als Identitätsmerkmal in Anspruch genommen.39 Gegen den radikalen Feminismus, der den Sadomasochismus kritisierte, weil er hegemoniale und repressive sexuelle Normen reproduziere, die für die Frauen schädlich seien, und zusammen mit schwulen Aktivisten und Denkern, einschließlich und vielleicht vor allem Michel Foucault, verteidigten diese lesbischen Aktivistinnen BDSM als einen Raum der Freiheit und Wiederaneignung der Lust außerhalb des Rahmens der sogenannten normalen Sexualität.40 In diesem Rahmen wird der Unterschied zwischen dem Michel Foucault, der die amerikanische Schwulen- und Lesbenbewegung inspirierte, insbesondere im Rahmen der Debatten über SM, und dem in Frankreich bekannten Michel Foucault verständlich. Diese unterschiedliche Rezeption ist sicher mit der Erfindung des Konstrukts der French Theory41 in den amerikanischen Abteilungen für vergleichende Literaturwissenschaft zu erklären, aber auch mit dem Unterschied zwischen Michel Foucaults Stellungnahmen in Frankreich und seinen sexuell expliziteren und direkter mit der BDSM- und Lederkultur verbundenen Stellungnahmen während seiner Aufenthalte in Kalifornien.42

Die Debatten über den Stellenwert der Sexualität für die Emanzipation der Frauen führten zu heftigen Auseinandersetzungen, insbesondere bei der berühmten Konferenz des Barnard College 1982, und wurden weitgehend als Spaltung der feministischen Bewegung in ei147nen sogenannten »Pro-Sex«-Feminismus dargestellt, der die Idee vertritt, dass eine erfüllte Sexualität der Frauen, auch mit Männern, nicht nur möglich ist, sondern eines der Ziele des feministischen Kampfes sein sollte, und in einen sogenannten »Anti-Sex«-Feminismus, für den der heterosexuelle Geschlechtsverkehr zu sehr die Form einer Vergewaltigung hat, als dass er nicht aufgegeben werden müsste. Diese Darstellung ist nicht unproblematisch: Sie zielt natürlich darauf ab, die »Anti-Sex«-Feministinnen zu diskreditieren, die als alte Jungfern erscheinen, die unfähig sind, die Freuden des Sexes zu erfahren, und weiter gefasst hält sie das Klischee von Frauen aufrecht, die zu nichts anderem mehr fähig sind, als sich in den Haaren zu liegen. Indem sie nur die Uneinigkeiten betont, verschweigt sie aber vor allem, wie Lorna Bracewell zeigt, die grundlegende Einigkeit beider Lager: Die Sexualität ist politisch, die »obligatorische Heterosexualität«43 ist das Theater des Patriarchats, und es ist wichtig, alternative Praktiken zu finden.

Eine der beiden großen Schwierigkeiten der sex wars ist die Frage, ob BDSM eine Form von Emanzipation darstellen kann oder ob es darum geht, unter dem Deckmantel einer Parodie der Emanzipation sexistische und patriarchale Normen zu reproduzieren. In der Zeit nach den sex wars, in der das »Pro-Sex«-Lager insgesamt gesiegt hat, ist es verlockend, zu glauben, dass diese Fragen von vornherein geklärt sind. Doch die heutigen Debatten über die Weise, in der das Etikett kink (ein Sammelbegriff, der 148für nicht standardmäßige Sexualpraktiken benutzt wird) von Männern verwendet werden kann, um im Rahmen von sexuellen Beziehungen, die nicht der BDSM-Szene zuzuordnen sind, nicht einvernehmliche Gewalt zu begehen, erweisen, dass dies bei weitem nicht der Fall ist. 2019 zeigte zum Beispiel eine im Auftrag des britischen Radiosenders BBC 5 durchgeführte Umfrage, dass 38% der Frauen unter 40 Jahren in Großbritannien die Erfahrung gemacht hatten, während eines Geschlechtsakts ohne ihre Zustimmung geohrfeigt oder gewürgt worden zu sein oder einem Spuck- oder Würgereflex ausgesetzt gewesen zu sein.44 Die Praktiken des nicht einvernehmlichen Würgens, die oft mit dem englischen Begriff choking verharmlost werden, sind umso problematischer, als sie extrem gefährlich sind.45

Die für uns entscheidende Frage, die BDSM-Beziehungen aufwerfen, ist die, inwiefern diese Praktiken, die der Zustimmung im liberalen Sinne einen besonders zentralen Platz einräumen und die im Zentrum der Debatten über den politischen Charakter des Sexes stehen, von Geschlechterungleichheiten durchzogen sind. Während der sex wars stützte sich die Anklage des BDSM seitens eines Teils der Feministinnen auf dieselbe Kritik, die auch bei der Juristin Muriel Fabre-Magnan implizit vorhanden ist: BDSM sei eine Erotisierung bestehender Machtverhältnisse, die auf der Beherrschung der Frauen durch die Männer beruhen. In dieser Hinsicht sei BDSM eine Form unter anderen, in denen sich die Herrschaft der Männer und die Objektivierung der Frauen in die Sexualität einschreiben. Nach Ansicht der Verfechter von BDSM in den Schwulen- und Lesbengemeinschaften handelt es sich hingegen um eine befreiende Praktik, da sie die in der Gesellschaft etablierten Machtverhältnisse umzukehren 149erlaubt; BDSM besteht in der Kunst, Machtverhältnisse umzukehren und zu parodieren, und ist insofern zutiefst emanzipatorisch.

BDSM, die Kunst der Umkehrung und Parodie der Machtverhältnisse

Das erste Argument, um die Komplizenschaft von BDSM mit bestehenden Hierarchien zu widerlegen, zeigt sich in der Vertragspraxis selbst. Während die Strukturierung der Gesellschaft und die repressiven sozialen Hierarchien für das Subjekt immer schon da sind, macht der Vertrag deutlich, dass es bei BDSM einen früheren Zustand der Gleichheit und Freiheit gibt. Selbst bei langfristigen Dominanz- und Unterwerfungsverhältnissen muss es, damit diese Beziehungen zustande kommen, eine erste Phase der Erstellung eines Vertrags und der Verhandlung der Bedingungen geben, in der die Partner gleichberechtigt sind. Die beiden vertragschließenden Individuen werden insoweit als unabhängig, rational und nicht schutzlos verstanden. Sie entscheiden sich aus freien Stücken dafür, eine Verpflichtung gegenüber dem anderen einzugehen, um sexuelle Lust zu erlangen. Entgegen der Vorstellung, dass die unterworfene Person in dieser Vereinbarung notwendig ein Opfer oder geringerwertig wäre, ist der Rückgriff auf den Vertrag und der beträchtliche Raum, der in diesem den Wünschen und Grenzen des oder der dann Unterworfenen eingeräumt wird, ein Zeichen dieser anfänglichen Gleichheit. Das hierarchische Machtverhältnis zwischen den Partnern wird durch den Vertrag geschaffen, und der Vertrag stellt seine Fiktion her: Das Machtverhältnis besteht während der Spielszene, aber es 150ist fiktiv in dem Sinne, dass die Beteiligten wissen, dass sie gleich sind und gleichermaßen Schöpfer dieses Verhältnisses sind. Der Vertrag führt eine klare Trennung zwischen der sexuellen Spielszene und der Außenwelt ein.

Das Erfordernis von Verhandlungen, das sich aus dem Rückgriff auf den Vertrag ergibt, ist ebenfalls zentral für das Verständnis von BDSM als befreiende Praxis. Denn es verpflichtet zu einer Diskussion über die Zustimmung und ihre Grenzen, die in konventionellen Sexualbeziehungen oft fehlt und nicht einvernehmliche Sexualpraktiken zur Folge haben kann. Wie Janet Halley zeigt, ist jeder Geschlechtsverkehr mit dem konfrontiert, was sie als »Willensproblematik«46 bezeichnet. Das Begehren wird von dem Paradoxon angetrieben, dass man wollen kann, ohne zu wissen, was man will, wodurch das Risiko eines ungewollten Geschlechtsverkehrs entsteht. Was die Verfasserin einer Notiz in der Harvard Law Review als »Ausarbeitung von Zustimmungsritualen«47 beim BDSM bezeichnet, verringert diese Risiken drastisch.

Das entscheidende Argument für BDSM ist die Art und Weise, in der hier Machtverhältnisse zum Tragen kommen. Denn auch wenn BDSM auf der Erotisierung von Machtverhältnissen beruht, sind diese nicht mit denen in der realen Welt gleichzusetzen, wie Anne McClintock zeigt:

Zu sagen, dass beim einvernehmlichen SM der »Dominante« die Macht hat und der Sklave sie nicht hat, heißt, das Theater für die Realität zu halten. Die Ökonomie des SM ist eine Ökonomie des Wandels: vom Sklaven in den Meister, vom Erwachsenen in das Baby, von Schmerz in Lust, vom Mann in die Frau und umgekehrt. […] Im Gegensatz zu einem beliebten Stigma verwischt SM das Gesetz, dass die Männlich151keit ein Synonym für Beherrschung sei und die Unterwerfung ein weibliches Los.48

Die Organisation von BDSM in Clubs, der Rückgriff auf den Vertrag, die Formalisierung der Spielszenen, alles arbeitet darauf hin, die theatralische Dimension des erotisierten Machtverhältnisses zu betonen. Einerseits eröffnet die Ökonomie des Wandels, die für die Dauer der Spielszene die sozialen Positionen zu tauschen erlaubt, die Möglichkeit einer kathartischen Beziehung zu diesen Hierarchien. Andererseits erlaubt die Tatsache, dass die sozialen Hierarchien nachgespielt, vergrößert und parodiert werden, sie zu beleuchten und in Frage zu stellen. Darin ist die Beziehung des BDSM zu den Machtverhältnissen in der Gesellschaft analog zur Beziehung der Dragqueens zu den Geschlechterstereotypen: Die sozialen Normen zu vergrößern und zu parodieren erlaubt, sie zu kritisieren; und die Identität der Subjekte zu verändern, die diese Normen verkörpern, zeigt den konstruierten Charakter ihrer angeblichen Natürlichkeit. Die Performativität des BDSM wird durch den Vertrag, der die Übertragbarkeit der Macht manifestiert, noch verstärkt. Denn der Vertrag kehrt die üblichen Hierarchien um, da es, wie bei Sacher-Masoch gesehen, der Unterwürfige ist, der die für seine Lust notwendigen Regeln aufstellt.49 Laut einer soziologischen Untersuchung von Damien Lagauzère handelt es sich bei BDSM in Wirklichkeit hauptsächlich um masochistische und »masozentrische« Praktiken:50 In der überwiegenden Mehrheit der Fälle gestaltet der Masochist die Inszenierung, die eine Transformation der Realität sein soll, damit sie seinen Phantasien entspricht. Das »Opfer« wählt seinen Peiniger aus, erzieht ihn und formt ihn nach seiner Phantasie; es konstruiert also aktiv den 152Kontext seiner Passivität. Insofern macht das Opfer den Henker, da der Henker das ausführt, was das Opfer von ihm verlangt.51

BDSM scheint folglich keine Praktik zu sein, die die sozialen Hierarchien reproduziert, sondern vielmehr eine Praktik, die sich von den strukturell hierarchischen Verhältnissen in der Gesellschaft emanzipiert. In diesem Rahmen müsste man also die Unterwerfung des BDSM von anderen Arten der Unterwerfung unterscheiden, die teilweise auf den sozialen Hierarchien beruhen würden. Die BDSM-Unterwerfung ist das Ergebnis eines einfachen erotischen Rollenspiels, das innerhalb eines Vertrags zwischen unabhängigen und zustimmenden Individuen umgesetzt wird. Sie wird weder mehr noch weniger axiologisch gewertet als ihr Gegenstück, die sexuelle Dominanz, und sie teilt mit dieser das gleiche Ziel, die sexuelle Lust, die als rein körperlich und als solche als absolut unpolitisch angesehen wird.

Unterwerfungsverträge und Verstärkung der Geschlechterhierarchien

Dennoch wirft BDSM eine Reihe von Problemen auf, wenn man seine Funktionsweise im Lichte der geschlechtsspezifischen Struktur der Gesellschaft betrachtet. Denn auch wenn es schwierig ist, verlässliche Zahlen zur Sexualität im Allgemeinen und zu BDSM im Besonderen zu erhalten, scheint es, dass BDSM entgegen dem Bild von BDSM als Umkehrung der Machtverhältnisse häufig die auf dem Geschlecht beruhenden sozialen Hierarchien widerspiegelt. In einer aktuellen quantitativen psychologischen Studie52 werden 902 BDSM-Anhänger und 434 Teilneh153mer einer Kontrollgruppe befragt, um die psychologische Gesundheit von BDSM-Anhängern zu untersuchen. Soweit ich weiß, ist dies die einzige groß angelegte Studie über BDSM-Anhänger, die die Verteilung der Praktiken nach Geschlecht abfragt.53 Gemäß dieser Studie waren »bei den Männern 33,4% Sub [unterwürfig], 18,3% Switch [Wechsel der Position je nach Fall] und 48,3% Dom [dominant], während bei den Frauen die Prozentsätze 75,6%, 16,4% und 8% betrugen. Laut dieser Studie befinden sich also bei BDSM-Praktiken die Männer mehrheitlich in der dominanten Position und die meisten Frauen in der unterwürfigen Position.54 Diese Zahlen, die mit den Informationen in der wissenschaftlichen Literatur zu BDSM übereinstimmen, sind besorgniserregend: Wenn die Frauen bei BDSM in der überwiegenden Mehrheit unterwürfig und die Männer in der überwiegenden Mehrheit dominant sind, scheint es schwer vorstellbar, dass BDSM erlaubt, die Machtverhältnisse umzukehren, die in heterosexuellen Interaktionen herrschen.

Sieht man sich die BDSM-Praktiken und die Verträge genauer an, erweist sich BDSM in Bezug auf die Geschlechterdifferenz zunehmend als problematisch. Erstens scheint es,55 dass die BDSM-Praktiken in der überwiegenden Mehrheit der Fälle zwischen einem oder mehreren dominanten Männern und einer oder mehreren unterwürfigen Frauen stattfinden. Wenn die Fälle sich umgekehrt verhalten, handelt es sich meist um Fälle, in denen unterwürfige Männer die Dienste einer professionellen Domina erhalten,56 manchmal gegen Bezahlung. Dieser Unterschied ist wichtig und wird noch wichtiger, wenn man sich die Art der Verträge des BDSM ansieht. Wie wir bereits weiter oben gesehen haben, können sich die Verträge auf zwei Arten von Beziehungen erstrecken: Sie 154können die Regeln für eine bestimmte Spielszene festlegen oder die Regeln für eine zeitlich begrenzte Dominanz-/Unterwerfungsbeziehung aufstellen, die nach Ansicht ihrer Adepten einen Lebensstil darstellt. Im ersten Fall gilt der Vertrag so lange, wie die Spielszene andauert, im zweiten Fall gilt der Vertrag so lange, wie der Dominante es wünscht oder so lange, bis die unterworfene Person den Vertrag gemäß den darin enthaltenen Bestimmungen zur Vertragsauflösung kündigt. Die Tatsache, dass nur sehr wenige Frauen in der dominanten Position sind und dass diejenigen, die es sind, häufig professionelle Dominas sind – die also Verträge verwenden, deren Laufzeit sich auf eine Spielszene beschränkt –, lässt vermuten, dass die Beziehungen, die durch langfristige Verträge geregelt werden, überwiegend Beziehungen zwischen einem dominanten Mann und einer unterwürfigen Frau sind.

Die langfristigen Verträge

Diese Vertragsform wirft hinsichtlich der Zustimmung der Unterwürfigen und des zum Tragen kommenden Austauschs eine besondere Schwierigkeit auf und gibt Grund zu der Befürchtung, dass BDSM, wie die radikalen Feministinnen der sex wars glaubten, ein verstecktes Vehikel männlicher Herrschaft sein könnte, wenn es in einem heterosexuellen Kontext stattfindet.

Ein Beispiel für derartige Verträge findet sich in den berühmten Fifty Shades of Grey: In diesem Text, der eher ein Kitschroman als BDSM-Literatur ist, verliebt sich die Heldin in einen reichen und gutaussehenden Unternehmer, der die Besonderheit hat, ein Anhänger solch langfristiger Beziehungen von Dominanz und Unterwerfung 155zu sein. Er schlägt ihr daher vor, »seine Unterworfene« zu werden und einen Vertrag zu unterzeichnen. Dieser Vertrag ähnelt vom Typus her sehr stark einem langfristigen BDSM-Vertrag, der häufig im Internet und in der Spezialliteratur angeboten wird, und hat diesen einem breiten Publikum bekannt gemacht, da er im Roman vollständig wiedergegeben wird.

Dieser Vertragsentwurf entspricht exakt den Erwartungen an einen BDSM-Vertrag, wie er beschrieben wurde: Er verwendet ein juristisches Vokabular und eine juristische Form, er legt die Pflichten beider Parteien fest, er sieht die Einführung von »safe words« vor, von Grenzen, denen die Unterwürfige zustimmt. Er stellt sicher, dass die drei Säulen safe, sane and consensual eingehalten werden, indem er vor allem sehr detailliert auf Fragen der Hygiene im weitesten Sinne eingeht (Klauseln 3, 4, 7, 15.1, 15.4). Insbesondere sieht er vor, dass keine dauerhaften Spuren auf dem Körper der Unterwürfigen hinterlassen werden und dass die vorgesehenen Praktiken aufgrund ihrer Schwere nicht zu einer medizinischen Behandlung führen. Er nennt die Bedingungen für die Auflösung des Vertrags, legt die zeitliche Begrenzung (drei Monate) fest und erörtert die mögliche Notwendigkeit von Nachverhandlungen (Klausel 15). Einige Bestimmungen scheinen jedoch über eine Verhandlung unter Gleichen über Rollenspiele und Sexualpraktiken hinauszugehen.

In erster Linie ist der Vertrag in Begriffen formuliert, die die Sub zu einem Objekt machen (Klausel 15.2: »akzeptiert die Sub als seine Sklavin«; Klausel 15.13: sie »versteht sich als Eigentum des Dom«, das er »benutzen kann, wie er möchte«) und ein Gegenstand ist, für dessen Unterhalt der Dom zahlen wird (Klausel 14 zum Beispiel unterstreicht diesen Punkt). Man könnte sich vorstellen, 156dass dies bedeutet, dass es sich bei dem fraglichen Vertrag um einen Arbeitsvertrag handelt, bei dem der Dom nicht die Unterwürfige selbst, sondern ihren Körper oder ihr Arbeitsvermögen für eine bestimmte Zeit besitzt. Dennoch ist kein Lohn vorgesehen, sondern der Dom begnügt sich damit, für den »Unterhalt« der Unterwürfigen aufzukommen. Es geht nicht mehr, wie bei Sacher-Masoch, darum, in der Lust am Schmerz autonom zu sein, sondern darum, für die Dauer des Vertrags jegliche Form von Freiheit aufzugeben. Während dieser drei Monate gehört die Sub nicht mehr sich selbst, insofern sie »dem Dom in jeglicher dem Dom als angemessen erscheinenden Weise dient und sich bemüht, dem Dom im Rahmen ihrer Möglichkeiten jederzeit Vergnügen zu bereiten«, ohne dass es für diesen Gehorsam eine andere Grenze gibt als die im Vertrag festgelegten sexuellen Grenzen.57 Die einzige Vorkehrung, die verhindert, dass dieser Vertrag als zeitlich begrenzter Sklavenvertrag eingestuft wird, ist die Nennung der Pflichten des Dom, deren Nichteinhaltung zum sofortigen Vertragsbruch führen würde (Klauseln 15.1 bis 15.12). So könnte man diesen Vertrag als wohlwollenden Sklavenvertrag bezeichnen,58 da er auf der Notwendigkeit beruht, sich um »das Wohlergehen und die angemessene Erziehung, Leitung und Disziplinierung der Sub« zu kümmern (Klausel 7). Obwohl er wohlwollend ist, beraubt er die Sub trotzdem des Wesentlichen ihrer Agentivität durch eine Entfremdung, die in jeder Hinsicht der von Rousseau angeprangerten Entfremdung entspricht.

Zweitens machen dieses scheinbare Wohlwollen des Vertrags und das Bestreben, sich nicht nur der Zustimmung, sondern auch im weitesten Sinne der Sicherheit der Untergebenen zu versichern, ihn zu einem dezidiert paternalistischen Vertrag. Zum einen hat die Sub nicht 157das Recht, die Handlungen des Dom an ihr in Frage zu stellen oder auch nur eine Erklärung dafür zu verlangen (15.18: »Die Sub akzeptiert ohne Widerrede alle Disziplinierungsmaßnahmen«; 15.20: »Die Sub unterwirft sich ohne Zögern und Widerworte«; 15.21: »ohne Zögern, Nachfrage oder Klage«). Zum anderen kontrolliert der Dom zu jeder Zeit und an jedem Ort das Verhalten der Sub, da er entscheidet, wann sie schläft, was sie isst, wie sie sich körperlich betätigt etc. Der Vertrag offenbart nicht nur den Wunsch des Dom nach Kontrolle, sondern auch die Vorstellung, dass der Dom besser als die Sub weiß, was für sie am besten ist, und dass er in dieser Eigenschaft an ihrer Stelle die sie betreffenden Entscheidungen zu treffen hat. Diese Vorstellung widerspricht der Grundlage von Mills Liberalismus, wonach die Begrenzung der staatlichen Macht über die Individuen die Funktion hat, den Individuen die Freiheit zu garantieren, für sich selbst zu entscheiden und sich als menschliche Wesen so zu entfalten, wie sie wollen.

Der Vertrag in Fifty Shades of Grey untergräbt die bestehenden sozialen Hierarchien nicht, sondern verstärkt sie. Der Anhang dieses Vertrags hat die Funktion sicherzustellen, dass die Sub den Stereotypen der Weiblichkeit entspricht, das heißt schlank, sportlich, diskret, enthaart, gesund und vor allem schamhaft ist. Umgekehrt bringt der Vertrag die Männlichkeit des Dom zum Ausdruck, der nicht nur dominiert und weiß, was für die Sub gut ist, sondern auch für alle geplanten Ausgaben aufkommt. Tatsächlich scheint diese Art von Vertrag im wirklichen Leben umgesetzt zu werden,59 und die Bestimmungen hinsichtlich Schlankheit oder – da die betroffenen Parteien zuweilen weniger wohlhabend sind als Christian Grey – hinsichtlich Hausarbeit und Kindererziehung stehen hier 158an prominenter Stelle.60 Insofern scheint diese Art von Vertrag dazu benutzt werden zu können, die geschlechtsspezifische Hierarchie der Gesellschaft zu verstärken und einen Vorwand für eine Rollenverteilung zu bieten, die ohne das Etikett BDSM als sexistisch erscheinen würde. Während BDSM sich damit rühmt, mit seiner Praxis selbst Gesellschaftskritik zu üben, erscheint es hier eher als ein im Namen seiner Flüchtigkeit gesellschaftlich aufgewerteter Paravent, hinter dem sich männliche Dominanz in ihrer traditionellsten Form verbirgt.

Abgesehen von der Gefahr einer Verstärkung der Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern, die unbemerkt bliebe, weil sie hinter dem Etikett BDSM versteckt wäre, lässt die Konformität solcher Verträge mit den herrschenden sozialen Hierarchien Zweifel an der Gültigkeit der darin zum Ausdruck gebrachten Zustimmung aufkommen. In der Tat kann man sich fragen, welchen Raum eine verliebte junge Frau, aber noch mehr eine verheiratete Frau hat, um einen solchen Vertrag abzulehnen, der ihr von ihrem Ehemann angetragen wird. Muriel Fabre-Magnan äußert diese Sorge indirekt, wenn sie nach den Konsequenzen der Änderung der Rechtsprechung des EGMR für die Rechte der Frauen und insbesondere der misshandelten Frauen fragt.61 Denn sie unterstreicht, dass die unterlassene Anzeige geschlagener Frauen als Ausdruck ihrer Zustimmung erscheinen könnte, wo feministische Kämpfe gezeigt haben, dass diese Frauen zum Beispiel zu verängstigt waren, um es zu schaffen, ihren Partner zu verlassen, oder zu arm, um sich eine solche Flucht erlauben zu können. Wie bereits gesagt, scheint es schwierig, sicherzustellen, dass die Ehefrau im Fall K.A. et A.D. c. Belgique aufgrund ihrer Ehe in der Lage war, eine volle und uneingeschränkte Zustimmung zu ertei159len oder dies zu unterlassen. Es gibt keinen Beweis dafür, dass sich die Frau nicht in einer solchen wirtschaftlichen oder persönlichen Situation befindet, dass sie nicht die Wahl hat, ihrem Ehemann die Zustimmung zu erteilen oder nicht. In solchen Fällen, in denen die Zustimmung nicht mit Sicherheit festgestellt werden kann, oder bei langfristigen Verträgen ist die Unterscheidung zwischen BDSM-Unterwerfung und Unterwerfung überhaupt nicht mehr klar zu erkennen.

Ein letzter Fall kann uns helfen, das Problem besser zu identifizieren: Infolge der relativen Normalisierung von BDSM in den letzten Jahren wurde in einer Reihe von Artikeln berichtet, dass – entgegen dem, worauf der Gebrauch von Verträgen hindeuten könnte – viele Frauen aus der BDSM-Gemeinde sagen, dass sie bei diesen Praktiken vergewaltigt wurden.62 Auch wenn man sich auf den ersten Blick vorstellen kann, dass diese Zahlen oder Berichte über solche Vorfälle ein gefundenes Fressen für die BDSM-Gegner sind und daher möglicherweise aus ihren Reihen stammen, werden diese Bedenken durch die Tatsache ausgeräumt, dass Jay Wiseman, der Autor von SM 101, das als Standardwerk für eine Einführung in die Praktiken des BDSM gilt, selbst von diesem Problem berichtet hat. In einem mit »Are We Men a Bunch of Lying Pricks?« betitelten Artikel63 beschreibt er seine Ungläubigkeit, als er feststellte, dass es für eine seiner Partnerinnen und, wie er später herausfand, auch für viele seiner Freundinnen selbstverständlich war, dass dominante Männer regelmäßig die im Vertrag ausgehandelten Grenzen nicht respektieren, mit der Konsequenz, dass sie also regelmäßig nicht einvernehmlichen Sex haben. Was an diesem Artikel auffällt, ist neben der immensen Enttäuschung des Autors, dass es ihm absolut evident erscheint, 160dass die Frauen angesichts solcher Ereignisse »wegrennen« und auf die Praktizierung von BDSM verzichten sollten, es aber dennoch nicht tun. Wiseman berücksichtigt in diesem kurzen Artikel nicht die Möglichkeit, dass sie gerade, weil sie Frauen sind, solche nicht einvernehmlichen Beziehungen hinnehmen, die als Preis dafür verstanden werden, ihre sexuellen Wünsche und Freuden manchmal so ausleben zu können, wie sie es wollen. Vielleicht ist es gerade, weil sie als Frauen daran gewöhnt sind, dass ihre Entscheidungen oder ihr Wille nicht berücksichtigt werden, dass sie derartige Praktiken trotz des Risikos einer Vergewaltigung weiter betreiben. Die liberale Annahme, dass die Identität des Individuums und seine soziale Zugehörigkeit bei der Bewertung des Vertrags keine Rolle spielen dürfen, die der Verwendung von Verträgen und der Wertschätzung der Zustimmung zugrunde liegen, wird so in Frage gestellt: Eine Frau stimmt ihrer Unterwerfung zweifellos nicht auf die gleiche Weise zu wie ein Mann, und es ist sehr wahrscheinlich, dass die soziale Unterordnung von Frauen dazu führt, dass es für sie leichter ist, ihrer sexuellen Unterwerfung zuzustimmen.

Dieser Schnelldurchgang durch die Etappen der Politisierung des Sexes und der Intimität ist essentiell, um zu verstehen, worum es bei der zeitgenössischen Reflexion der sexuellen Zustimmung geht. Er beleuchtet zunächst den Grund, weshalb diese Debatte erst seit kurzem geführt wird: Der Sex musste dank der Psychoanalyse als Zentrum unserer Subjektivität erscheinen, er musste als ein natürlicher Trieb angesehen werden, der zu befreien ist, dieser Imperativ der Befreiung musste selbst kritisiert werden, und die Machtverhältnisse innerhalb der Sexualität mussten als Vektoren der Ungerechtigkeit theoretisiert 161werden, damit einerseits ein juristisches und politisches Vokabular, das der Zustimmung, auf die Sexualität angewendet wird, und damit andererseits dieses Vokabular zum Gegenstand von Uneinigkeit wird. Zweitens ist es dem feministischen Aktivismus und der feministischen Theorie zu verdanken, dass die beiden großen Fragen der zeitgenössischen Reflexion über die sexuelle Zustimmung auftauchen: Wie kann man den Unterschied zwischen Sex und Vergewaltigung fassen und feststellen? Und wie kann man harmonische und möglichst entpolitisierte intime Beziehungen konzipieren, die von den Mechanismen der sozialen Herrschaft, die sie durchziehen, befreit sind – insbesondere in der Heterosexualität?

Schließlich und tiefgreifender sind diese beiden Fragen Ausdruck eines Grundproblems der sexuellen Revolution und ihrer Ambivalenz für die Frauen. Die Fortschritte für die Frauen, welche die Liberalisierung der Empfängnisverhütung, die Legalisierung der Abtreibung und das Ende der Pflicht zur heterosexuellen Ehe darstellten, sind unbestreitbar. Die sexuelle Revolution hat auch die Entwicklung einer neuen Form des feministischen Aktivismus mit neuen Prioritäten ermöglicht, insbesondere die Politisierung des Intimen. Dennoch war die vermeintliche sexuelle Befreiung für die Frauen nicht so umfassend, wie sie es für Männer war. Das besagt vor allem die Kritik, die die Juristin und Philosophin Catharine MacKinnon daran übt: Die sexuelle Revolution war in erster Linie eine sexuelle Befreiung für die Männer, die aus der Sicht der Männer als solche gedacht wurde. Sie zeigt unter anderem, dass das, was zum zu befreienden »Sex« zählt, dem entspricht, was der Sex aus der Sicht der Männer ist – die Penispenetration –, und dass sowohl die Hypothese von einer notwendigen Ent-Unterdrückung des Sexes als auch 162die Pathologisierung fehlender weiblicher Lust mittels des Vorwurfs der Frigidität den sexuellen Interessen der Männer dienen: zu möglichst vielen Frauen sexuellen Zugang zu haben.64 Weiter gefasst haben die gängigen Vorstellungen, dass Frauen nicht »zu viele« sexuelle Beziehungen haben sollten, dass die weibliche Lust psychologisch (also entbehrlich) sei,65 dass die Frauen vor allem ein Verlangen nach sexueller Unterwerfung hätten, sowie die Entstehung einer neuen Form der heterosexuellen Partnerschaft, in der die Männer nicht mehr an die Imperative gebunden sind, die sie in der traditionellen Partnerschaft hatten (für die Familie sorgen, ein Leben lang verheiratet bleiben), ohne jedoch zu einer gleichberechtigteren Aufteilung der familiären Aufgaben verpflichtet zu sein, unwiderruflich zu einer Feststellung beigetragen, die im Mittelpunkt der #MeToo-Bewegung steht: Für die Frauen hat die sexuelle Befreiung nicht stattgefunden.

Wenn das Konzept der Zustimmung im politischen Denken für den Übergang von autoritären Regimen zur Demokratie zentral war, könnte es nun aber vielleicht auch der Schlüssel für den Übergang von einer repressiven, heteronormativen Sexualität zu egalitären intimen und erotischen Beziehungen sein.