Am Ende dieses Durchgangs der Ambivalenzen der Zustimmung ist Folgendes festzustellen: Einerseits fungiert das Konzept der Zustimmung als unumgängliches Instrument zur Befreiung unterdrückter Sexualitäten und erscheint dann als Mittel des Ausdrucks sexueller Autonomie. Angesichts der immensen Schäden, die die erhebliche Regulierung der Sexualität angerichtet hat (Kriminalisierung des Sexes außerhalb der Ehe, der Homosexualität, der Pathologisierung bestimmter Praktiken usw.), ist es wünschenswert, einen Rahmen zur Verfügung zu stellen, der den Menschen erlaubt, selbst zu entscheiden, was sie mit ihrer Sexualität machen wollen. Andererseits sieht die Realität so aus, dass die männliche Herrschaft unsere Sexualitäten tiefgreifend prägt, so dass die Zustimmung der Frauen als eine leere Hülse erscheinen kann, die nur dazu dient, eine ungerechte soziale und sexuelle Ordnung zu legitimieren.
Dieser scheinbare Widerspruch erklärt sich teilweise, wenn man begreift, dass bei der Frage nach der sexuellen Zustimmung zwei verschiedene Probleme im Mittelpunkt stehen: das Problem der Geschlechterungerechtigkeiten in der Sexualität und das Problem der persönlichen Autonomie, insbesondere der sexuellen Autonomie. Denn die Debatten um das Konzept der Zustimmung machen zunächst einmal die geschlechtsspezifischen Ungerechtigkeiten im Zentrum unseres Sexuallebens deutlich und erlauben uns, sie zu bekämpfen. Die männliche Herrschaft strukturiert unsere Sexualitäten, einschließlich, wenn auch in geringerem Maße, der nicht heterosexuellen Sexualitäten, und die Sexualität stellt aufgrund des ihr in der sozialen Welt gegebenen Platzes für Frauen, nicht heterosexuelle Männer, nicht binäre Personen und Kinder einen Ort besonderer Verwundbarkeit dar. Diese Verwundbarkeit wird durch Hierarchien der Rasse, Klasse und Wertschätzung verstärkt. Im Rahmen dieses Problems der Geschlechterungerechtigkeiten stellen sich folgende Fragen: Wie können wir erreichen, dass Männer aufhören, andere Personen zu vergewaltigen, zu missbrauchen und zu sexuellen Handlungen zu zwingen? Und wie können wir erreichen, dass die Geschlechternormen Personen, insbesondere Frauen, nicht daran hindern, eine selbst gewählte Sexualität zu haben?
Soziale Geschlechternormen sind die Quelle häufiger Ungerechtigkeiten, insbesondere im Bereich der Sexualität. Wie ich in Wir werden nicht unterwürfig geboren. Wie das Patriarchat das Leben von Frauen bestimmt dargelegt habe, sind die Normen der Weiblichkeit Normen der Unterwerfung. Das bedeutet, dass Frauen, in unterschiedlichem Maße, dazu erzogen werden, sich den Männern und den Normen des Patriarchats zu unterwerfen, und dass die Gesellschaft ihre Unterwerfung mehr schätzt als ihre Freiheit. Konkret wird von Frauen erwartet, dass sie sich um ihre Mitmenschen kümmern, dass sie großzügig, selbstlos und freundlich sind, kurz gesagt, dass sie die Bedürfnisse und Wünsche anderer, insbesondere der Männer, ihren eigenen überordnen. Nun kann man sich aber gut vorstellen, dass dies im sexuellen Bereich problematisch sein kann: Wenn von den Frauen erwartet wird, dass sie generell den Wünschen anderer und insbesondere derer, die sie lieben, Priorität verleihen, ist schwer verständlich, weshalb diese Erwartungen nicht auch im Schlafzimmer gelten sollten. Die Normen, die die Sexualität der Frauen umgeben, machen es Frauen auch schwer, ihr Begehren auszudrücken und sogar zu erfassen: Wie MacKinnon sagt, »leben alle Frauen in der sexuellen Objektivierung wie die Fische im Wasser«.1 Frauen werden dazu erzogen, sich als Objekte der Begierde für die Männer zu begreifen, als Beute, die darauf warten muss, gejagt zu werden. Eine ganze Reihe von gesellschaftlichen Praktiken setzt voraus, dass der Mann »den ersten Schritt machen« muss, dass »der Mann ansagt, die Frau zusagt« und dass die aktive Bekundung sexuellen Verlangens oder die Einforderung 204sexueller Lust Männern einen besseren sozialen Status garantiert, während Frauen für das gleiche Verhalten Gefahr laufen, im Namen eines Mangels an Tugend und Schamgefühl verurteilt zu werden. Der Ausdruck »leichtes Mädchen« zeugt beispielsweise von diesem Komplex von Normen und Vorurteilen, wonach eine Frau immer zuerst Widerstand leisten muss, erobert werden muss und nicht autonom entscheiden darf, was sie will und was ihr gefällt. Schließlich wird, wie insbesondere Nicola Gavey betont, allgemein angenommen, dass Frauen Sex nicht um seiner selbst willen suchen, sondern wegen der sekundären Vorteile, die sie daraus ziehen können, und insbesondere weil sie, indem sie den Männer Sex »geben«, das bekommen könnten, was sie sich wünschen, nämlich eine langfristige monogame Beziehung. Dieses Vorurteil veranschaulicht zum Beispiel der Druck, der auf Frauen ausgeübt wird, sehr schnell nach der Entbindung wieder sexuelle Beziehungen zu haben, da die Wiederaufnahme des Geschlechtsverkehrs als notwendig dargestellt wird, damit der Partner nicht untreu wird oder seine Partnerin verlässt.2
Die gesellschaftlichen Normen der Männlichkeit sind noch mehr eine Quelle von Geschlechterungerechtigkeiten. Die erste Quelle patriarchaler Ungerechtigkeit und Gewalt ist die Vorstellung, dass Männer ein permanentes und zugleich zwingendes sexuelles Verlangen haben: Sie hätten immer Lust auf sexuelle Beziehungen und könnten ihr Verlangen nicht kontrollieren.3 Das besagen zum Beispiel die Diskurse, die die Prostitution im Namen der Tatsache legitimieren, dass sie ein Mittel sei, um Frauen – das heißt hier ehrbare Frauen, die also ihre sexuellen Gunstbeweise nicht kommerzialisieren – vor sexuellen Übergriffen zu schützen, indem sie den Männern gestat205ten, ihr Verlangen zu befriedigen. Es versteht sich von selbst, dass keine wissenschaftliche Untersuchung der männlichen Sexualität die Vorstellung bestätigt, dass Männer ein ständiges sexuelles Verlangen haben oder dass dieses Verlangen nicht kontrolliert werden könnte.
Die zweite Quelle der Ungerechtigkeiten, die mit der ersten zusammenhängt, ist, dass Männer ein Recht auf sexuelle Beziehungen und ein Recht auf sexuellen Zugang zu Frauen hätten. Dieser Diskurs von einem »Recht auf Sex«4 hat sich in seiner ganzen Widerlichkeit in den von den sogenannten Incels – für involuntary celibates, das heißt »unfreiwillig sexuell Enthaltsame« – begangenen Verbrechen manifestiert. Diese Männer,5 denen gemeinsam ist, dass sie sich von Frauen zu Unrecht zurückgewiesen fühlen, treffen sich in Internetforen, um sich über ihre Situation zu beschweren, Frauen zu erniedrigen, deren Desinteresse sie nicht ertragen können, und versuchen, Männer zu bestrafen, die sie um ihre Schönheit oder ihren sozialen Status beneiden. Diese Gruppen könnten lachhaft sein, wenn diese Diskurse nicht der Kern mehrerer frauenfeindlich motivierter Verbrechen gewesen wären,6 darunter der Anschlag von Isla Vista 2014, bei dem 6 Menschen getötet und 14 verletzt wurden, ein Anschlag mit einem Lieferwagen in Toronto 2018 (10 Tote und 16 Verletzte) und ein Amoklauf in Atlanta im März 2021 (8 Tote und ein Verletzter). Diese Verbrechen, deren Ideologie der des Täters des Massakers an der Polytechnischen Hochschule in Montreal 1989 nahekommt, wurden von Männern begangen, die sich berechtigt fühlten, auf den Terror zurückzugreifen, um sich dafür zu rächen, dass die Frauen ihnen nicht das ihnen – wie sie meinen – zustehende Recht gewähren, über den Körper der Frauen zu verfügen, die sie begehren. Die Tatsache, dass Männer 206glauben können, ein Recht auf den Körper von Frauen, auf ihre Aufmerksamkeit und ihre Liebe zu haben, steht im Mittelpunkt der zeitgenössischen feministischen philosophischen Überlegungen zur Sexualität.7
Die Philosophin Kate Manne zeigt insbesondere, dass die männliche Herrschaft den Männern einen sense of entitlement verleiht, was man mit »Gefühl, dass uns alles rechtmäßig zusteht« übersetzen könnte, vor allem in ihrer Beziehung zu Frauen. Dieses Gefühl liefert nicht zuletzt die ideologische Grundlage für die Gewaltanwendung von Männern: Weil ihnen vorenthalten wird, worauf sie ein Anrecht haben sollten und was einen elementaren Teil ihrer Männlichkeit ausmachen würde, kann es ihnen, wenn nicht legitim, so doch zumindest möglich erscheinen, Gewalt anzuwenden, einschließlich der zügellosesten Gewalt. Weit entfernt vom »Ausraster« oder »Durchdrehen« – Ausdrücke, die den Eindruck von einem pathologischen und vereinzelten Verhalten erwecken sollen – zielt die Anwendung von Gewalt darauf ab, wieder eine als normal und wünschenswert angesehene Ordnung der Welt herzustellen, in der die Frauen »an ihrem Platz« sind.8 Im Bereich der Sexualität steht das entitlement nicht nur im Mittelpunkt der männlichen Gewalt, sondern auch einer ganzen Reihe von Verhaltensweisen von Männern, die von der Druckausübung zur Erlangung von Geschlechtsverkehr bis hin zu dem einfachen Faktum reichen, sich nicht darum zu kümmern, ob eine Zustimmung ihrer PartnerIn[3] vorliegt oder nicht, weil sie es für selbstverständlich halten, dass ihre PartnerIn zwangsläu207fig einwilligt oder dass, selbst wenn er oder sie es nicht tut, ihnen diese Zustimmung zusteht.
Nehmen wir ein konkretes Beispiel, um die Ungerechtigkeiten zu verdeutlichen, die diese Geschlechternormen bei der Zustimmung entstehen lassen: Ein Paar begegnet sich auf einer Party, gefällt sich und schickt sich an, die Nacht miteinander zu verbringen. Der Mann ist sich sicher, dass die Frau Lust dazu hat, er küsst sie und zieht sie aus. Sie ist sich nicht sicher, ob sie Lust hat, traut sich aber nicht, nein zu sagen – schließlich denkt sie, dass sie die Party nicht mit ihm hätte verlassen sollen, dass sie für ihn als »Anmacherin« gelten wird, das heißt, dass sie ihn verführt hätte, ohne dann die »logische Fortsetzung« der Verführung zu akzeptieren, die die Penetration sein soll. Es versteht sich von selbst, dass die Vorstellung der »Anmacherin« Teil der Idee eines Rechts auf Sex ist. Wenn der Mann sie in diesem Moment fragen würde, »hast du Lust, weiterzugehen?«, würde sie wahrscheinlich das Gesicht verziehen, etwas murmeln, etwas verlegen sein, was ihrem Partner erlauben würde, zu verstehen, dass sie nicht in der gleichen Stimmung sind. Aber ihren Mut zusammenzunehmen, um ihn zu stoppen, ihm zu erklären, dass sie eigentlich lieber gehen würde, erscheint ihr unmöglich. Weshalb? Vor allem, weil Frauen im Allgemeinen dazu erzogen werden, nett, gefällig und freundlich zu sein, sich um die Bedürfnisse der anderen zu kümmern, ihnen oft sogar zuvorzukommen – »ja« zu sagen. Umgekehrt werden die Männer dazu erzogen, sich zu behaupten, ihren Willen zu äußern und zu verteidigen, ihr sexuelles Verlangen als Bedürfnis zu betrachten – so sehr, dass eine kürzlich durchgeführte Studie mit 150 Männern feststellt, dass 30% der Teilnehmer von einer Vergewaltigungsabsicht berichteten, als sie analysieren sollten, wie sie sich 208in einem Kontext verhalten würden, in dem eine Frau, die sie gerade kennengelernt haben, letztlich keinen Sex mit ihnen haben möchte.9 Dies führt manchmal dazu, dass die Männer die Ablehnung einer Frau übelnehmen: Die zahllosen Erfahrungen mit Belästigungen auf der Straße, die in Beschimpfungen der uninteressierten Frau ausarten, sind unter unzähligen anderen Beispielen nur ein Beispiel für das, was Frauen oft dazu bringt, vor der Reaktion eines Mannes, dessen Annäherungsversuche abgelehnt werden, Angst zu haben, ja sie zu fürchten. Die betreffende Frau kann den Geschlechtsverkehr, auf den sie keine Lust hat, somit nicht ablehnen aufgrund der kombinierten Wirkung der Normen der Weiblichkeit, die sie dazu führen, »ja« zu sagen, und der Normen der Männlichkeit, die ihr sehr gute Gründe geben, die Reaktion zu fürchten, die der Mann haben könnte, wenn sie »nein« sagt.
Diese Kurzdarstellung der sozialen Geschlechternormen soll nicht besagen, dass alle Männer frauenfeindlich und gewalttätig oder alle Frauen unterwürfig und entfremdet sind, sondern dass wir in einer Gesellschaft leben, die von Beziehungen strukturiert ist, bei denen die Männer die Frauen beherrschen. Somit treibt die Gesellschaft Männer und Frauen dazu, sich auf eine bestimmte Art zu verhalten, die die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen fortschreibt und im sexuellen wie auch in anderen Kontexten zu Geschlechterungerechtigkeiten führt. Diese sozialen Normen und Ungerechtigkeiten, zu denen sie führt, stehen im Mittelpunkt der Probleme, welche die Zustimmung aufwirft. Einerseits sieht man, dass die Vorstellung, dass der Geschlechtsverkehr nur legitim sein kann, wenn er einvernehmlich ist, ein emanzipatorisches Potenzial bezüglich dieser Geschlechternormen hat: Zu denken, dass alle Beteiligten sexuellen Beziehungen zu209stimmen müssen, wirkt der Vorstellung entgegen, dass die Frauen den Männern Sex schulden, dass sie »nein« sagen, aber »ja« meinen, dass sie »Anmacherinnen« sind, wenn sie keine sexuellen Beziehungen haben wollen. Andererseits fordern diese Geschlechternormen aber auch zu einem großen Misstrauen gegenüber der Hypothese von der »moralischen Magie«10 der Zustimmung auf, die reichen würde, um aus jeder einvernehmlichen Beziehung eine legitime Beziehung zu machen. Denn wie wir im ersten Kapitel bezüglich der rousseauschen Konzeption der Zustimmung gesehen haben, ist das Vokabular der Zustimmung zentral für eine differenzialistische und letztlich ungerechte Sicht der Verführungsbeziehungen, bei denen die Frau sich zur tugendhaften und passiven Beute machen muss und darauf wartet, von einem unternehmungslustigen Mann gejagt und mitgenommen zu werden. Es handelt sich dann weniger um eine Zustimmung, die die Autonomie der betreffenden Frau zum Ausdruck bringen würde, als vielmehr um Beziehungen, die als leiser Krieg der Geschlechter verstanden werden, bei dem der Mann dazu berufen ist, über die weibliche Abwehr zu triumphieren. Und vor allem, wie Catharine MacKinnon gezeigt hat, schaffen diese Geschlechternormen und die strukturelle männliche Herrschaft, die ihnen zugrunde liegt, eine derartige Ungleichheit zwischen Männern und Frauen, dass es nicht sicher ist, dass Frauen ernsthaft zu irgendetwas zustimmen können, insbesondere weil man, um ernsthaft einwilligen zu können, nicht zustimmen können muss und das Patriarchat den Frauen diese Möglichkeit oft nimmt.
Es gibt vor allem zwei Grundprobleme, die einer unkritischen Übernahme des Vokabulars der Zustimmung, wie es üblicherweise verwendet wird, entgegenstehen: Das erste Problem ist das der epistemischen Ungerechtigkeiten. Der Ausdruck »epistemische Ungerechtigkeit« wurde von der britischen Philosophin Miranda Fricker vorgeschlagen11 und führte zur Entstehung eines neuen Feldes der Epistemologie – das heißt des Zweigs der Philosophie, der sich der Untersuchung der Art und Weise widmet, in der Wissen produziert wird.12 Ihr Ziel ist es, Ungerechtigkeiten aufzuzeigen, die die Produktion und Rezeption von Wissen betreffen, und insbesondere die folgenden Fragen zu stellen: Wer kann Wissen produzieren? Wer hat eine Stimme (und wer nicht)? Wer kann verstanden und wem kann geglaubt werden? Welche Wissensproduktionen werden als legitim oder wichtig angesehen (und welche nicht)?
Diese Fragen sind grundlegend, um die Auswirkungen der verschiedenen Formen sozialer Herrschaft auf die Produktion und Verbreitung von Wissen zu verstehen, aber auch auf die soziale Stellung, die jede/r einnimmt: Die Fähigkeit, angehört und glaubwürdig zu sein, wird nicht von jedem und jeder gleichermaßen geteilt und hat Einfluss auf die sozialen Hierarchien. Ein ganz einfaches Beispiel ist der zeitgenössische Diskurs über die #MeToo-Bewegung als Bewegung der »Befreiung des Wortes« von Frauen, schwulen Männern oder Inzestopfern: Dieser Diskurs besteht darin, zu behaupten, dass die Wortergreifung bekannter Frauen die Frauen, die bis dahin geschwiegen haben, dazu animiert hat, endlich ihre Erfah211rungen zu teilen. Die Realität sieht jedoch ganz anders aus: Sicher hat die #MeToo-Bewegung zu einer neuen Bewusstwerdung der von Männern an Frauen, Männern und Kindern verübten Gewalt beigetragen. Aber dieses Bewusstsein kommt weder allein noch selbst hauptsächlich von einer neuen Ergreifung des Wortes, sondern von einer neuen Rezeption dieses Wortes: Personen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind, haben diese Gewalt nicht geheim gehalten. Hingegen ist die Tatsache, dass ihr Wort nicht gehört und nicht erhört wird, dass ihre Anzeigen in der überwiegenden Mehrheit nicht weiterverfolgt werden, dass die Gerichtsverfahren dazu tendieren, den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen in Frage zu stellen, und die soziale Stigmatisierung der Opfer (zum Beispiel die Vorstellung, dass ein Vergewaltigungsopfer durch die Vergewaltigung für immer beschädigt ist) dazu geführt haben, dass ihre Worte und die Erkenntnisse über die soziale Welt nicht ernst genommen wurden und einige von ihnen aus der Gewissheit heraus, nicht gehört zu werden, zuweilen vielleicht darauf verzichtet haben, sich zu äußern. Dies gilt umso mehr, wenn sie rassisiert, arm, trans, behindert und/oder Sexarbeiterinnen waren. Dass bekannte und mächtige Frauen das Wort ergriffen, erlaubte lediglich eine Veränderung der Bedingungen, unter denen das Wort dieser Personen rezipiert wurde.
Die Philosophin Kristie Dotson unterscheidet drei Arten von epistemischer Ungerechtigkeit, die es zu bekämpfen gilt:13 die testimoniale Ungerechtigkeit und die hermeneutische Ungerechtigkeit, die bereits Fricker identifiziert hatte und zu denen sie die Beitragsungerechtigkeit hinzufügt. Die testimoniale Ungerechtigkeit ist die Ungerechtigkeit, die darin besteht, einem Sprecher aufgrund von Vorurteilen, die man ihm gegenüber hat, weniger Glaub212würdigkeit zuzugestehen. Die afroamerikanische Juristin Patricia Williams erzählt beispielsweise, dass in einer Vorlesung in Stanford ihr Bericht über ihre Erfahrungen mit Rassismus in einem Geschäft aufgrund des rassistischen Vorurteils, dass afrikanisch-amerikanische Frauen »verlogen« und »paranoid« seien, von den Studenten mit Argwohn betrachtet werden konnte. Worum es geht, ist die Fähigkeit, als glaubwürdige Quelle von Erkenntnissen und Erfahrungen angesehen zu werden. Die hermeneutische Ungerechtigkeit ist die Ungerechtigkeit, die dadurch entsteht, dass die gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen verhindern, dass die soziale Erfahrung bestimmter Menschen bekannt werden kann, weil sie nicht anerkannt werden kann. Diese Art von Ungerechtigkeit wurde weitgehend durch die Arbeit farbiger Frauen deutlich, die zeigten, wie Rassismus und Sexismus sie daran hinderten, über die Sprache und die Werkzeuge zu verfügen, die notwendig waren, um ihre eigene Erfahrung der Welt zu verstehen.14 Die Beitragsungerechtigkeit ist die Ungerechtigkeit, die auftritt, wenn privilegierte Personen sich weigern, andere hermeneutische Ressourcen zu nutzen oder auch nur zu versuchen, diese kennenzulernen, als jene, die unterdrückte Menschen mundtot machen und sie daran hindern, zur Schaffung von Wissen beizutragen. Dies ist zum Beispiel die von vielen nicht weißen Feministinnen hervorgehobene Ungerechtigkeit, wenn weiße Feministinnen sich nicht bemühen, die Arbeiten nicht weißer Feministinnen zu lesen, kennenzulernen und zu diskutieren, und sie damit unsichtbar machen und einen theoretischen Korpus aufrechterhalten, der es nicht erlaubt, Erfahrungen zu berücksichtigen, die sich von ihren eigenen unterscheiden. Diese dritte Form der Ungerechtigkeit hängt mit einem Phänomen zusammen, das der Philosoph José Medina als 213»aktive Ignoranz« bezeichnet, nämlich die Bemühungen, die man aktiv unternehmen kann, um die Kenntnisnahme von Wahrheiten zu vermeiden, die man möglicherweise nicht gerne hört, wenn man sich in einer Position der sozialen Dominanz befindet. Medina unterscheidet zwischen der Tatsache, dass es nicht notwendig ist, etwas zu wissen, und der Tatsache, dass es notwendig ist, etwas nicht zu wissen: Zuweilen weisen sozial privilegierte Personen eine Form von epistemischer Faulheit auf, die sie zu einer Form von Achtlosigkeit führt; zuweilen bemühen sie sich aktiv darum, ganze Aspekte des sozialen Lebens auszublenden und zu ignorieren (im doppelten Sinne von nicht wissen und so tun, als ob man es nicht sieht).15
Diese verschiedenen Formen der epistemischen Ungerechtigkeit haben weitreichende Konsequenzen für sozial unterdrückte Menschen im Allgemeinen und für Frauen, vor allem für diejenigen, die nicht weiß, gesund und wirtschaftlich privilegiert sind, und sie nehmen im sexuellen Bereich besonders schwerwiegende Formen an. Sie sind so zahlreich, dass es schwierig wäre, eine vollständige Liste zu erstellen. In Bezug auf die testimoniale Ungerechtigkeit wurde weiter oben erwähnt, dass Zeugenaussagen hinsichtlich sexueller Gewalt von den Leuten, an die sie sich richten, nicht rezipiert werden16 (in dem Sinne, dass sie nicht gehört oder nicht erhört werden) – von der Justiz, aber zum Beispiel auch vom Umfeld, von den Eltern in Fällen von Inzest. Dieses Phänomen erklärt zum Teil die sehr große Diskrepanz zwischen den begangenen sexuellen Gewalttaten und denjenigen, die der Justiz gemeldet werden: Die Frauen wissen im Allgemeinen, dass sie Gefahr laufen, dass man ihnen nicht glaubt, wenn sie Anzeige erstatten, und dass dieses Risiko umso größer ist, wenn sie arm, nicht weiß oder Prostituierte sind.
214Selbst außerhalb des Kontexts sexualisierter Gewalt im eigentlichen Sinne kennt und erfasst man den Sex als soziale Praxis aus der Perspektive derer, die die Macht haben, die weißen heterosexuellen Männer. Daraus folgen hermeneutische Ungerechtigkeiten: Zum Beispiel neigt man, wie wir oben gesehen haben, dazu, sich den normalen Geschlechtsakt als Penetration und insbesondere als vaginale Penetration vorzustellen. Jeder Geschlechtsverkehr, der nicht heterosexuell oder penetrativ ist, erscheint als Abweichung von der Norm.17 Wenn man Frauen nach ihrer Lust befragt, stellt man außerdem fest, dass nur ein Drittel von ihnen durch die bloße vaginale Penetration einen Orgasmus hat,18 und ein Drittel der Frauen berichtet, beim letzten Geschlechtsverkehr Schmerzen gehabt zu haben.19 Was gewöhnlich als »Vorspiel« angesehen wird (und nicht der Geschlechtsverkehr als Penetration), ist das, was Frauen am ehesten Orgasmen verschaffen kann. Die Kluft zwischen dem Anteil der Männer und dem Anteil der Frauen, die keinen Orgasmus erreichen, sowie die Zahlen zur höheren sexuellen Zufriedenheit von Lesben20 im Vergleich zu heterosexuellen Frauen bedeuten, dass es seitens der Männer Mechanismen der epistemischen Faulheit und der aktiven Ignoranz gegenüber der Lust der Frauen gibt. Das heißt mit anderen Worten, dass die Männer sich nicht dafür interessieren, was die Frauen sexuell wünschen und schätzen. Und das beeinträchtigt wiederum die Fähigkeit heterosexueller Frauen, ihre Lust auszudrücken: Wer weiß, dass der Ausdruck seines Begehrens oder seiner Lust nicht vernommen wird, wird tendenziell aufhören, ihnen Ausdruck zu verleihen, und wenn diese fehlende Rezeption das Produkt eines Nicht-rezipiert-Werdens und systematischen Zum-Verstummen-gebracht-Werdens ihrer Worte ist, läuft diese 215Person möglicherweise sogar Gefahr, aufzuhören, in sich selbst dieses Begehren oder diese Lust zu erkennen. Da die Männer zudem nicht dazu sozialisiert werden, der Lust der Frauen Aufmerksamkeit zu schenken, sondern dazu sozialisiert werden, die Qualität ihrer sexuellen Leistung für einen wichtigen Indikator ihrer Männlichkeit zu halten, finden sich Frauen regelmäßig darin wieder, eine sexuelle Lust vorzutäuschen, die sie nicht empfinden, wodurch der Teufelskreis der männlichen Ignoranz aufrechterhalten wird.
Feministische Philosophinnen haben vor allem die Auswirkungen von Pornofilmen auf die epistemischen Ungerechtigkeiten untersucht: Im Anschluss an Catharine MacKinnons Position, dass Pornographie die Frauen auf das Schweigen reduziere,21 wurde die Frage, welche Auswirkungen diese Filme tatsächlich auf die Rezeption der Sprache der Frauen haben, zum Gegenstand zahlreicher philosophischer Arbeiten. Gemäß Rae Langton22 hat die Pornographie, indem sie unaufhörlich Frauen darstellt, die »nein« sagen, obwohl sie »ja« meinen, im wirklichen Leben zur Folge, dass das »Nein« der Frauen und die Ablehnung, die sie mit diesem Wort ausdrücken, von den Männern nicht ernst genommen wird. Es ist wichtig zu erkennen, dass der Konsum von Pornofilmen nicht per se schlecht ist oder von »pornosüchtigen« Männern betrieben wird, die zu einem normalen Sexualleben unfähig sind. Dennoch ist die Frage, wie Pornographie (vor allem der sogenannte Mainstream-Porno) die Fähigkeit der Frauen beeinflusst, in ihrem Sexualleben und anderswo gehört und ernst genommen zu werden, Gegenstand wichtiger philosophischer Debatten, die sehr viel interessanter sind als die Karikaturen, die vielleicht daraus gemacht wurden.23 Und die ersten Ergebnisse der jüngsten 216quantitativen Arbeiten von Fiona Vera-Gray und Clare McGlynn über die auf den meistbesuchten Plattformen verfügbaren Filme und den Konsum dieser Pornographie von Frauen24 deuten darauf hin, dass sich die Pornographie auf diesen Massenkonsumplattformen hinsichtlich sexualisierter Gewalt im realen Leben negativ auswirkt.
Das Ausmaß der epistemischen Ungerechtigkeiten im Bereich der Sexualität ist so groß, dass es unmöglich ist, hier alle im Detail aufzuführen, doch diese Beispiele erlauben, das für unseren Zweck Wichtigste hervorzuheben: Die Geschlechterungerechtigkeiten in der Sexualität nehmen unter anderem die Form von Ungerechtigkeiten an, die die Produktion und Rezeption von Erkenntnissen über die Sexualität in einem sehr weiten Sinne dieser Begriffe betreffen und die schädliche Auswirkungen auf die sexuellen Praktiken haben. So muss jeder Versuch einer Sexualethik, ob sie nun auf Zustimmung beruht oder nicht, diese Ungerechtigkeiten berücksichtigen und Wege vorschlagen, wie sie abgestellt werden können.
Das zweite Problem, mit dem sich das Vokabular der Zustimmung auseinandersetzen muss, wenn es die Geschlechterungerechtigkeiten lösen will, ist das der adaptiven Präferenzen, das heißt der Tatsache, dass sich die Präferenzen von Individuen an die Unterdrückung anpassen können, der sie ausgesetzt sind. Einer der Gründe, weshalb die Zustimmung als eine Möglichkeit angesehen wird, die Gerechtigkeit sexueller Beziehungen zu gewährleisten, ist, dass sie als eine Entscheidung betrachtet wird, die die Präferenzen des Individuums ausdrückt, und dass 217sie daher als Ausdruck der Autonomie dieses Individuums verstanden wird. Diese Auffassung beruht auf der Vorstellung, dass die Respektierung der Präferenzen der Individuen eine Garantie für Gerechtigkeit ist. Philosophen und Ökonomen haben jedoch gezeigt, dass Individuen in Kontexten der Unterdrückung nicht nur ihre Entscheidungen, sondern auch ihre Präferenzen an den Kontext anpassen, in dem sie sich befinden. Der Philosoph und Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen stellt das Problem folgendermaßen dar:
In Situationen dauerhafter Entbehrung jammern und klagen die Betroffenen nicht die ganze Zeit weiter. Sie unternehmen sehr oft große Anstrengungen, um sich an dem Wenigen, das sie haben, zu erfreuen und ihre persönlichen Wünsche auf ein bescheidenes – »realistisches« – Maß zu reduzieren. Und im Übrigen legt unter widrigen Umständen, an denen die Opfer durch ihre eigenen Anstrengungen nichts ändern können, das kluge Denken ihnen nahe, ihre Wünsche auf die kleinen Dinge zu konzentrieren, die sie möglicherweise erreichen können, anstatt nach etwas zu streben, was unerreichbar ist. Das Maß der Abwesenheit eines Wunsches könnte dann dafür sorgen, dass einem der Umfang der Entbehrungen der Betroffenen völlig entgeht, selbst wenn sie absolut nicht in der Lage sind, sich richtig zu ernähren, sich anständig zu kleiden, auch nur das kleinste bisschen Bildung zu erhalten und ein akzeptables Dach über dem Kopf zu haben.25
Sen zeigt, dass die Anpassung der Präferenzen rational ist: Die Menschen, die Sen beschreibt und bei denen es sich sehr häufig um Frauen handelt, unternehmen »große Anstrengungen«, um sich an eine Situation anzupassen, von der sie wissen, dass sie nicht die Macht haben, sie 218zu ändern. Das ist keine Form von Unaufrichtigkeit; im Gegenteil braucht die Anpassung der Präferenzen dieser Personen Zeit, erfordert Anstrengungen und erfolgt zumindest bis zu einem gewissen Grad bewusst (sonst würden sie keine Anstrengungen unternehmen). Indem Sen den objektiven Charakter der Entbehrungen, unter denen sie leiden, die Realität ihres Opferstatus und die Unmöglichkeit für sie, den Lauf der Dinge zu ändern, hervorhebt, macht er den rationalen Charakter dieser Anpassung deutlich: Sie zeigt ein kluges Denken. Man kann hier annehmen, dass sich Sen implizit auf Aristoteles bezieht,26 dem zufolge Klugheit die Tugend ist, die erlaubt, ein Kriterium oder eine Handlungsregel zu wählen, wenn man über ein Wissen über die kontingente Situation verfügt, in der man sich befindet.27 Die Klugheit ist dann der Ausdruck einer vernünftigen Reflexion und Erfassung der Situation. Betrachtet man eine Situation starker Entbehrung, der man nicht entkommen kann, erfordert die Klugheit eine Anpassung der Präferenzen. Wenn er von klugem »Denken« spricht, betont er auf jeden Fall, dass diese Anpassung nicht nur aus der Sicht der Personen, die sie vornehmen, sondern auch objektiv rational ist.
Dieser Punkt ist entscheidend, denn er hilft zu verstehen, wie bestimmte Situationen oder Sexualpraktiken von Frauen sowohl gewählt werden als auch ihnen schaden können. Wie die Philosophin Serene Khader zeigt,
sind Menschen mit adaptiven Präferenzen sowohl Personen, die aktiv wählen und deren tiefgreifenden Vorstellungen vom Guten Respekt verdienen, als auch Personen, die an ihrer Situation der Entbehrung beteiligt sind und deren Verhaltensweisen, die diese Situation aufrechterhalten, in Frage gestellt werden müssen.28
219Das Problem, das sich dann stellt, ist das »Dilemma der Agentivität«,29 das heißt die Schwierigkeit, die Verwundbarkeit unterdrückter Personen zu erkennen und zu analysieren und ihnen dabei ihre Handlungsfähigkeit zuzugestehen und zu respektieren. Man muss verstehen, dass die Unterdrückung sowohl die Autonomie behindert als auch die Agentivität formt, so dass unterdrückte Personen scheinbar sowohl ihre Situation wählen (auch wenn sie uns repressiv erscheint) als auch ihrer Autonomie beraubt sind.
Man kann sich relativ leicht vorstellen, dass sich dieses Problem in Verbindung mit der sexuellen Zustimmung stellen kann: Man muss sowohl die sexuellen Entscheidungen respektieren, die die Frauen als ihre Entscheidungen treffen, und berücksichtigen, dass diese Entscheidungen Erzeugnisse männlicher Herrschaft sind und den Frauen schaden. Da Frauen dazu erzogen werden, sich um andere zu kümmern und zu wollen, was die anderen wollen, ist es sehr wahrscheinlich, dass ihre sexuellen Wünsche zumindest teilweise das Produkt dieser Erziehung und ihrer geschlechtsspezifischen Sozialisation sind und daher zu den Ungerechtigkeiten beitragen, denen sie ausgesetzt sind. Dennoch ist es von grundlegender Bedeutung, ihre Entscheidungen zu respektieren, da sonst die Gefahr besteht, dass die Ungerechtigkeit, die ihnen durch die Geschlechternormen zugefügt wird, verdoppelt wird. Allgemeiner gesagt fordern die epistemischen Ungerechtigkeiten und die adaptiven Präferenzen dazu auf, sich vor der Vorstellung zu hüten, dass die Zustimmung ein unmittelbar lesbarer Ausdruck der Freiheit eines jeden ist: Wenn sich die Präferenzen an die Unterdrückung anpassen, wenn es Ungerechtigkeiten gibt, die nicht nur bei der Rezeption dieser Präferenzen, sondern auch bei ihrer 220Formulierung Verzerrungen schaffen, muss man sich davor hüten zu glauben, dass es sich von selbst versteht, die Autonomie einer/s jeden zu respektieren und mithin zu identifizieren.
Das Vokabular der Zustimmung ist, wie wir gesehen haben, zunächst das Produkt einer individualistischen Perspektive, die versucht, die Achtung der persönlichen Autonomie der Individuen zu gewährleisten – in den Verträgen, die sie unterzeichnen, in den politischen Regimen, unter denen sie leben, in den Erlaubnissen, die sie erteilen, in den medizinischen Behandlungen, die sie erhalten. In dieser Hinsicht zielt die Verwendung des Konzepts der Zustimmung in der Sexualität darauf ab, die Autonomie des Individuums in den Mittelpunkt der Sexualmoral zu stellen und vor einem Paternalismus zu schützen, der lange Zeit in sexuellen Angelegenheiten die Norm war und dazu führte, Praktiken zu bestrafen, die nicht unter die reproduktive Heterosexualität fallen. In diesem Zusammenhang besteht die Wahrung der sexuellen Autonomie darin, das zu gewährleisten, was im Englischen mit zwei verschiedenen Redewendungen ausgedrückt wird, freedom from und freedom to:30 eine Freiheit, die sowohl als Abwesenheit von Hindernissen (zum Beispiel frei sein im Sinne von nicht gezwungen sein, mit jemandem Geschlechtsverkehr zu haben) als auch als echte Wahlfreiheit (zum Beispiel nicht heterosexuelle oder nicht reproduktive Beziehungen zu haben) zu verstehen ist.
Man geht davon aus, dass die Zustimmung die sexuelle Handlung rechtfertigt, weil sie die Autonomie der Person zum Ausdruck bringt, die sie erteilt. Doch bei dieser Vorstellung denkt man, dass die Person, die ihre Autonomie zum Ausdruck bringt, indem sie zustimmt, absolut frei ist, zuzustimmen oder nicht, in dem Sinne, dass 221nichts anderes als ihr Wille ihre Entscheidung bestimmt. Die soeben dargelegten Mechanismen gesellschaftlicher Herrschaft sind nun aber so beschaffen, dass es offensichtlich scheint, dass niemand absolut frei ist, den Geschlechtsverkehr zu akzeptieren oder abzulehnen, in dem Sinne, dass die Entscheidungen eines und einer jeden von den gesellschaftlichen Normen geprägt sind und dass es nicht immer möglich ist, die Zustimmung oder Ablehnung auszudrücken. Wenn man davon ausgeht, dass die Zustimmung ein Ausdruck vollständiger Autonomie sein muss, um eine gültige Zustimmung zu sein, dann gibt es keine gültige sexuelle Zustimmung.
Im Grunde ist die Frage der sexuellen Zustimmung analog zum klassischen philosophischen Problem des freien Willens, bei dem sich die Vorstellung, dass die Individuen ihre Handlungen selbst wählen können und folglich moralisch verantwortlich sind, und die Vorstellung, dass unsere Handlungen von Naturgesetzen und sozialen Gesetzen bestimmt werden, gegenüberstehen. Auf der einen Seite sind die eben genannten gesellschaftlichen Normen so beschaffen, dass es unmöglich erscheint, im Bereich der Sexualität zu irgendetwas vollständig zuzustimmen: Wenn das Patriarchat unsere Wünsche und Lüste prägt, wenn es für die Männer die Vorstellung von Sex als Leistung und Gewalt prägt und für die Frauen den Gehorsam, die Verfügbarkeit prägt, kurz gesagt ihre Unterwerfung, dann werden wir alle von diesen Normen so geprägt, dass wir nicht wirklich wählen können, was wir wollen und wie wir dies ausdrücken. Andererseits erkennen wir intuitiv, dass es sexuelle Beziehungen gibt, die wir gewählt, gewollt und genossen haben, und dass dies einen absoluten Unterschied macht zu sexuellen Beziehungen, die wir nicht gewollt haben. Das ist für Feministinnen 222aus zwei Gründen entscheidend: Zum einen, weil die Anerkennung der Wahl, die Frauen nach eigenen Angaben treffen, wichtig ist, um die Ungerechtigkeit, die darin besteht, ihre Aussagen nicht ernst zu nehmen, nicht erneut zum Tragen zu bringen. Und zum anderen, weil die Anerkennung der Tatsache, dass wir alle in unserer Sexualität einen Freiraum in Bezug auf die Geschlechternormen haben, entscheidend ist, wenn wir glauben wollen, dass die Männer eine individuelle Verantwortung für die von ihnen begangene sexualisierte Gewalt haben.
Ebenso wie das philosophische Problem des freien Willens lässt jedoch auch das Problem der Zustimmung Positionen zu, die man als kompatibilistisch oder einfach als nicht ideal bezeichnen kann. In Wirklichkeit sind sich viele Philosophinnen, die sich für die Zustimmung interessieren, dieses Problems bewusst und unterscheiden zwischen dem, was man als eine ideale Theorie der Zustimmung bezeichnen kann – welche die genauen Bedingungen untersucht, unter denen eine sexuelle Zustimmung eine sexuelle Handlung rechtfertigt –, und einer nicht idealen Theorie der Zustimmung, die die in der Sexualität wirkenden Herrschaftsmechanismen berücksichtigt, um zu beurteilen, unter welchen Bedingungen eine Zustimmung gültig sein kann.31 Wie die Philosophin Quill Kukla zeigt, glaubt niemand ernsthaft an die Vorstellung, dass es ohne volle Autonomie keine Zustimmung geben kann: Vollständige Autonomie ist ein Ideal, das mit unserer Erfahrung nicht übereinstimmt; in Wirklichkeit »fluktuiert unsere Autonomie je nach Kontext […]. Kompromisse in Bezug auf unsere Autonomie sind die Norm und nicht die Ausnahme«.32
Zusammenfassend lautet das Gesamtproblem: Wie sieht eine Sexualethik aus, wenn man einerseits geschlechts223spezifische Ungerechtigkeiten vermeiden und andererseits die sexuelle Autonomie der Beteiligten respektieren und anerkennen will? Und das spezifische Problem, das uns beschäftigt, lautet: Ist das Konzept der Zustimmung tatsächlich der Grundpfeiler einer solchen Ethik? Wenn ja, um welche Zustimmung handelt es sich?
Wie wir gesehen haben, wird das Konzept der Zustimmung verwendet, um zwei Probleme in der auf die Sexualität angewandten Moralphilosophie zu lösen: die Frage, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit ein Geschlechtsverkehr zulässig ist (und somit auch, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit er das nicht ist), und die Frage, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit ein Geschlechtsverkehr positiv gut ist. Einfacher ausgedrückt lautet die erste Frage, ob die Zustimmung uns ein gutes Instrument an die Hand gibt, um das zu denken, was bei bestimmten sexuellen Interaktionen moralisch schlecht ist.33 (Ich erinnere hier an die im 2. Kapitel eingenommene Position: Die Analyse der Zustimmung auf der moralischen Ebene muss der Analyse in juristischen Begriffen logisch und chronologisch vorausgehen: Wir müssen zuerst auf der moralischen Ebene über die Funktion nachdenken, die die Zustimmung bei der Unterscheidung zwischen gutem und schlechtem Sex haben kann, bevor wir darüber nachdenken können, welchen Platz das Recht bei der Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt einnehmen sollte.)
Tatsächlich ist das erste und dringendste Problem, mit dem sich eine moralische und politische Analyse der Sexualität auseinandersetzen muss, die Frage, wie man dafür sorgen kann, dass die Sexualität nicht zum Schauplatz von Ungerechtigkeiten und Verletzungen wird. Der Philosophin Linda Alcoff folgend wird hier der Begriff »sexuelle Verletzungen« dem Begriff »sexualisierte Gewalt« aus einem einfachen Grund vorgezogen, dass ein beträchtlicher Teil der Verletzungen der sexuellen Autonomie und Unversehrtheit nicht im physischen Sinne des Wortes gewalttätig ist.34 Lange Zeit dachte man jedoch sowohl in der rechtlichen als auch in der moralischen Sphäre, dass Sex nur dann problematisch sein kann, wenn er körperliche Gewalt beinhaltet; das hat dazu beigetragen, dass der Schaden unsichtbar gemacht wurde, der von einem mit subtileren Mitteln der Nötigung zustande gekommenen Sex hervorgerufen wird.
Das Problem der sexuellen Verletzungen ist in dreifachem Sinne ein Geschlechterproblem: Diese Verletzungen werden fast ausschließlich von Männern begangen, sie richten sich überwiegend gegen Frauen, und sie haben vor allem Auswirkungen auf alle Frauen und nicht nur auf die, die ihnen zum Opfer fallen. Denn, und das ist der Punkt, an dem das Problem der Vergewaltigung in besonderem Maße ein Problem der Frauen ist, obwohl auch Männer und Kinder Opfer von Vergewaltigungen sind: Die Vergewaltigungsdrohung prägt das Leben aller Frauen und erzeugt für alle Frauen Ungerechtigkeiten. Wie die Philosophin Ann Cahill zeigt, führt die Vergewal225tigungsdrohung dazu, dass sich Frauen standardmäßig in einer Situation des »Prä-Opfers«35 befinden, die für das prägend ist, was sie tun können, was sie sich wünschen können. Cahill beschreibt dieses Phänomen, indem sie betont, dass die Frauen dazu erzogen werden, sich ständig in Gefahr zu wissen, sexuell angegriffen zu werden, und ihr Verhalten ständig an diese Bedrohung anzupassen, sei es, dass sie abends nicht alleine ausgehen, nicht in eine leere U-Bahn steigen, nicht den Blick eines Mannes kreuzen, den man auf einer menschenleeren Straße trifft, oder nicht alleine reisen.36 Diese Vergewaltigungsdrohung trägt dazu bei, die körperlichen Gewohnheiten der Frauen und ihre Bewegungen zu prägen; die gelebte Erfahrung der Frauen ist die Erfahrung, dass sie wissen, dass sie vergewaltigbar sind und gewissermaßen mit einer Vergewaltigung rechnen müssen. Die Philosophin Susan Brison hält in ihrem bemerkenswerten Buch über ihre Erfahrung der Vergewaltigung und der Zeit danach37 in dieser Hinsicht den Gedanken fest, der ihr im Moment der Vergewaltigung durch den Kopf ging: Es war also das, wovor man mich von Kind an gewarnt hatte. Die Vergewaltigung fügt nicht nur den Frauen, die sie erleben, Schaden zu, sondern sie fügt allen Frauen Schaden zu, indem sie das Leben der Frauen als die Gefahr durchzieht, auf die sie sich vorbereiten und mit der sie sich möglicherweise abfinden müssen, als eine Erfahrung, die sie zu zerstören und sozial zu stigmatisieren droht (wenn man sich an die gängige Vorstellung hält, dass man sich von einer Vergewaltigung nicht erholen kann).
Somit ist es sehr wichtig, die sexuellen Verletzungen und vor allem die Vergewaltigung zu bestimmen. Wie wir gesehen haben, wurde die Vorstellung von der Vergewaltigung völlig revidiert, als Ende der 1970er Jahre 226gezeigt wurde, dass die Vergewaltigung keine seltene und barbarische Tat ist, die von einzelnen, ausgegrenzten, ihren Opfern unbekannten Männern begangen wird, denen es an Sex fehlt, sondern eine Tat, die von vielen völlig respektablen und ansonsten »normalen« Männern mit einem oft erfüllten Sexualleben begangen wird, die den Opfern oft nahestehen (Vater, Bruder, Ehemann, Freund usw.). Nun hat diese Entdeckung zum einen gezeigt, dass die in vielen Ländern38 lange Zeit geltende juristische Definition der Vergewaltigung als körperliche Gewalt nicht der Realität der Vergewaltigung entspricht, und zum anderen, dass eine klare und vollständige Unterscheidung zwischen normalem Sex und Vergewaltigung nicht so einfach ist, wie man denkt. Dies sieht man an den feministischen Debatten über die Frage, ob die Vergewaltigung Sex oder Gewalt ist,39 die der breiten Öffentlichkeit durch Slogans bekannt sind wie »Die Vergewaltigung ist für den Sex das, was eine Schaufel ins Gesicht zu bekommen für die Gartenarbeit ist«. Das Problem ist: Wenn die Vergewaltigung regelmäßig von Leuten begangen wird, mit denen man »normale« sexuelle Beziehungen haben kann (und manchmal auch hat), und wenn diese »normalen« Beziehungen auch sexuelle Beziehungen beinhalten können, die durch Druck oder Formen von Affektiverpressung erzwungen wurden, wie kann man dann den Sex von der Vergewaltigung oder von sexuellen Übergriffen unterscheiden?
Die Antwort, die heute selbstverständlich zu sein scheint und die auch in vielen Ländern nunmehr als rechtliche Definition gilt, besteht darin, zu sagen, dass die Vergewaltigung penetrativer Sex (oder Oralverkehr) ohne Zustimmung ist. Aber was genau bedeutet »ohne Zustimmung«?
Wenn man sagt, dass jeder Geschlechtsverkehr ohne Zustimmung eine Vergewaltigung ist, stellt sich als erstes Problem die Frage, was man unter »Zustimmung« versteht. Es scheint sich von selbst zu verstehen, dass man sich in diesem Fall nicht auf die positive Auffassung von Zustimmung beziehen kann, die hier ausgehend von Kant untersucht wurde, und dass sich hier die »Zustimmung« auf eine Vereinbarung bezieht, die zum Register der Genehmigung gehört (also die formale und vom Liberalismus geerbte Definition, die im 2. Kapitel ausgemacht wurde). Wenn man versucht, genau zu beschreiben, was in diesem Zusammenhang geschieht, gibt man, wenn man einer sexuellen Handlung zustimmt, jemandem das Recht, das er nicht hatte, uns zu berühren und in uns einzudringen. Wir verzichten also auf einen gewissen Schutz unserer körperlichen Unversehrtheit und erlauben einer Person, etwas zu tun, was normalerweise eine Verletzung darstellen würde.40
Die Frage nach den Bedingungen, unter denen eine solche Erlaubnis erteilt werden kann, ist indes komplex. Die erste Frage, die viele Philosophen beschäftigt, ist die Frage nach dem Umfang der Zustimmung. Der Philosoph Tom Dougherty41 nimmt das Beispiel von jemandem, der zu seinem Gast sagt: »Fühl dich wie zu Hause.« Der Gast weiß intuitiv, dass ihm dies beispielsweise die Erlaubnis gibt, sich ein Glas Wasser einzuschenken, aber nicht die Erlaubnis, die Möbel seines Gastgebers zu verkaufen. Ebenso bedeutet die Zustimmung, mit jemandem zu schlafen, nicht, dass man jeder sexuellen Praxis zustimmt, die von dieser Person initiiert wird. Das hat na228türlich grundlegende Folgen für die Frage, woraus man die Zustimmung einer Person schließen kann: Es ist nicht selbstverständlich, dass die Zustimmung zu Zärtlichkeiten oder einer Penetration mit den Fingern die Zustimmung zu einer Penetration mit dem Penis impliziert. Und wenn man hört, dass das Betreten des Schlafzimmers eines Mannes gleichbedeutend mit der Zustimmung zum Sex sei, glaubt die überwiegende Mehrheit der Männer zum Beispiel nicht, dass ihre Partnerin das Recht hat, mit ihren Fingern ungefragt in ihren Anus einzudringen, weil sie dem Geschlechtsverkehr zugestimmt haben.
Die zweite Frage lautet, ob die Zustimmung von einer geistigen Haltung oder einer bestimmten Form der Kommunikation ausgeht. Wenn man die Zustimmung als Ausdruck der Autonomie des Willens denkt, stellt man sie sich als eine mentale Einstellung vor (das heißt als Tatsache, dass man eine Wahl geistig trifft). Zustimmen würde bedeuten, einverstanden zu sein, also zu denken, dass man einverstanden ist, ohne dies notwendigerweise sagen zu müssen. Dennoch erscheint es uns evident, dass, selbst wenn ich damit einverstanden bin, dass eine Freundin mein Fahrrad ausleiht, sie nicht das Recht hat, dieses Fahrrad zu nehmen, ohne dass ich ihr meine Zustimmung gegeben habe. Informationsdefizite machen ein weiteres Problem deutlich: Wenn meine Zustimmung nur das Ergebnis meiner Absicht ist zuzustimmen, dass ich diesem Geschlechtsverkehr zustimme, weil ich zum Beispiel denke, dass die Person, mit der ich schlafe, ledig ist, und diese Person in Wirklichkeit verheiratet ist, dann würde das bedeuten, dass ich diesem Geschlechtsverkehr nicht zugestimmt habe.42 Hier sieht man, dass dieses Argument auch verwendet werden könnte, um zu sagen, dass es keine Zustimmung geben kann, wenn der Verführungs229prozess Lügen oder Auslassungen beinhaltet hat – was in der Regel der Fall ist! Auch wenn es legitim sein kann, der Meinung zu sein, dass die Diskrepanz zwischen meinem Glauben und der Realität Auswirkungen auf die moralische Qualität des Geschlechtsverkehrs hat (insbesondere im Fall von Lügen, die auf die Erlangung der Zustimmung abzielen), kann man dennoch nicht davon ausgehen, dass diese Diskrepanz ausreicht, um von Vergewaltigung zu sprechen. Und dies bestätigt die Vorstellung, dass die Zustimmung kommuniziert werden muss, das heißt, dass die Person, die zustimmt, ihre Zustimmung ausdrücken und diese Zustimmung als solche von der Person, für die sie bestimmt ist, empfangen werden muss.43 Wie Dougherty zeigt, besteht die befriedigendste Situation darin, davon auszugehen, dass die Zustimmung »die bewusste Annahme eines Verhaltens beinhaltet, das den Willen ausdrückt«.44
Wenn man akzeptiert, dass die Zustimmung nicht nur eine geistige Haltung sein kann und daher kommuniziert werden muss, erkennt man notwendigerweise an, dass die allgemein angenommene Vorstellung,45 dass die Zustimmung auf der Grundlage von »Wer nichts sagt, stimmt zu« abgeleitet werden könnte, nicht gültig ist, da man nicht davon ausgehen kann, dass nichts zu sagen immer eine Form der Zustimmung darstellt. Es muss eine Handlung stattfinden, in diesem Fall die Äußerung der Zustimmung, damit eine Zustimmung vorliegt. Das bedeutet zumindest, dass die sexuelle Zustimmung als positiv oder affirmativ verstanden werden muss, das heißt, es muss eine aktive Äußerung der Zustimmung erfolgen, damit man wirklich von sexueller Zustimmung sprechen kann.
Die Kommunikation reduziert sich jedoch nicht nur auf die Äußerung, sondern beinhaltet auch die Rezeption. 230Dieser Aspekt der Kommunikation der Zustimmung wird bei den Diskussionen über die Zustimmung tendenziell übergangen und als etwas verstanden, das die Frauen den Männern geben. Damit wirklich eine Zustimmung vorliegt, muss der Wille der zustimmenden Person, der durch aktive Kommunikation zum Ausdruck kommt, von der Person, für die er bestimmt ist, angemessen empfangen werden. Und dazu bedarf es zweierlei: dass der Empfänger das aussagekräftige Verhalten anhand der ihm zur Verfügung stehenden Informationen interpretiert und dass er sich nach dem erkundigt, was ihm möglicherweise fehlt, um die Situation richtig zu interpretieren.46 Dougherty nimmt das Beispiel der Zustimmung eines Patienten zu einem medizinischen Verfahren: Der Arzt muss gute Gründe für die Annahme haben, dass der Patient genau verstanden hat, worin das Verfahren besteht (indem er es ihm zum Beispiel beschreibt), damit er die Unterzeichnung der Einverständniserklärung als gültig ansehen kann.
Bei diesem Verständnis der Zustimmung ist die Häufigkeit von sexuellen Beziehungen, die nicht einvernehmlich sind, weil die Zustimmung nicht geäußert wurde oder weil die Mitteilung der Nicht-Zustimmung vom Partner nicht rezipiert wurde – unabhängig davon, ob er für die Nicht-Rezeption verantwortlich ist oder nicht[4] – nun 231aber beträchtlich. In diesem Zusammenhang würde die Aussage, dass jeder nicht einvernehmliche Geschlechtsverkehr[5] eine Vergewaltigung ist, bedeuten, dass jeder Geschlechtsverkehr, der ohne Mitteilung der Zustimmung stattfindet, eine Vergewaltigung ist. Diese Vorstellung widerspricht den Vorstellungen und Erfahrungen der meisten Menschen und vor allem widerspricht sie den meisten statistisch normalen sexuellen Praktiken: Der aktive Ausdruck der Zustimmung zum Sex ist nicht – oder jedenfalls noch nicht – Teil des normalen Ablaufs des sexuellen Skripts und erscheint, wenn er stattfindet, als Bruch in der Kontinuität der amourösen und sexuellen Begegnung – im Sinne einer Unterbrechung des normalen Ablaufs der Dinge.47 Und sofern es nicht, wie bei MacKinnon und Dworkin, in einem ganz bestimmten politischen Rahmen geschieht, ist zu sagen, dass die überwiegende Mehrheit der sexuellen Beziehungen Vergewaltigungen sind, nicht nur unfair gegenüber den Menschen, die sich um die Wahl ihrer sexuellen Praktiken bemühen, sondern vor allem auch gegenüber den Opfern von Vergewaltigungen, deren spezifische Erfahrung in einer Verallgemeinerung des Missbrauchs gleichsam untergeht. Kurz gesagt lautet das Problem: Entweder man geht davon aus, dass jeder penetrative Geschlechtsverkehr, dem keiner der Partner widersprochen hat, einvernehmlich ist, 232und in diesem Fall scheint es wahrscheinlich, dass jede nicht einvernehmliche Interaktion eine Vergewaltigung ist, oder man geht davon aus, dass die Zustimmung mehr ist als der Nicht-Widerstand oder das passive Nachgeben und dass sie kommuniziert werden muss, und in diesem Fall besteht ein Unterschied zwischen nicht einvernehmlichem Sex und Vergewaltigung.
Die erste Lösung ist aus einer Reihe von Gründen unbefriedigend. Der erste von vielen Psychologen, Ärzten und Feministinnen hervorgehobene Grund ist die Schockstarre: Die Paralyse gehört zu den grundlegenden menschlichen Schutzreflexen48 und wird bei einer beträchtlichen Anzahl von Opfern sexueller Übergriffe beobachtet.49 Neben diesem körperlichen Reflex der Paralyse können andere Gründe dazu führen, dass eine Frau nicht in der Lage ist, den Geschlechtsverkehr abzulehnen. Der offensichtlichste ist die Androhung körperlicher Gewalt: Die Verbreitung männlicher Gewalt gegen Frauen, das unter Frauen allgemein geteilte Wissen, dass viele Männer nicht davor zurückschrecken, körperliche Gewalt anzuwenden, wenn sie nicht die sexuellen Gefälligkeiten erhalten, auf die sie ihrer Meinung nach ein Anrecht haben, sowie die Unmöglichkeit, herauszufinden, ob sie es mit einem dieser Männer zu tun haben, führen dazu, dass Frauen aus gutem Grund befürchten müssen, nicht nur vergewaltigt, sondern auch geschlagen zu werden, wenn sie sich einem Geschlechtsverkehr widersetzen, den sie nicht wollen.50 Andererseits widerspricht die Forderung, dass eine Person »nein« sagen muss, um den Geschlechtsverkehr abzulehnen, nicht nur den sozialen Normen der Kommunikation, sondern auch den Normen der Weiblichkeit. Nicola Gavey erwähnt ein Gespräch, in dem eine Frau zu ihr sagte:
233Warum kann ich nicht nein sagen? […] Ich habe es in der Vergangenheit als sehr schwierig empfunden, zu einem Mann nein zu sagen, der mit mir schlafen wollte. Sehr schwierig. Im Grunde praktisch unmöglich.51
Und Gavey erklärt diese Schwierigkeit mithilfe von Untersuchungen der Konversationsanalyse. Diese Literatur zeigt, dass Slogans gegen sexualisierte Gewalt, die junge Frauen dazu auffordern, »einfach nein zu sagen«, problematisch sind, weil sie nicht berücksichtigen, wie Ablehnungen im normalen Leben üblicherweise kommuniziert werden.52 In unserem täglichen Austausch ist »nein« nicht die normale Antwort auf einen Vorschlag – es ist eine »nicht präferierte« Antwort, um das Fachvokabular zu verwenden.53 Schweigen, Komplimente, schwache Akzeptanz (»hmmm … warum nicht?«) werden bevorzugt, anstatt einfach »nein« zu sagen, und »nein« zu sagen birgt die Gefahr, als sehr schroffe oder sogar verletzende Antwort wahrgenommen zu werden, was das Risiko von Gewalt verstärkt und den Kontrast zwischen einer solchen Antwort und den Normen der Weiblichkeit verstärkt. Denn den Geschlechtsverkehr klar abzulehnen bedeutet, dass man seinen Willen und seine körperliche Unversehrtheit in den Vordergrund stellt und sich nicht nett und entgegenkommend verhält, was das genaue Gegenteil des Verhaltens ist, zu dem Frauen erzogen werden.54 Diese Analyse erlaubt zu verstehen, dass die Erwartung an eine Frau, »nein« zu sagen, wenn sie nicht will, unvernünftig ist, weil es zu viel kostet.
Aus all diesen Gründen ist klar, dass das Risiko groß ist, dass eine Frau einen Geschlechtsverkehr, den sie eigentlich nicht will, nicht ablehnen kann. Und das führt zu dem zweiten Grund, weshalb die Annahme, dass eine 234Vergewaltigung nur dann vorliegt, wenn eine Person »nein« sagt, problematisch ist: Diese Auffassung von der Vergewaltigung macht implizit das Opfer für das Auftreten der Vergewaltigung verantwortlich. Denn zu sagen, dass eine Vergewaltigung vorliegt, wenn das Opfer nicht »nein« gesagt hat, bedeutet, dass das, was zu einem Verbrechen führt, nicht von der Tat selbst oder von demjenigen herrührt, der sie begeht, sondern von der fehlenden Reaktion des Opfers, das hätte reagieren müssen, wenn es nicht wollte, dass die Tat geschieht. Es ist dann seine Schwäche, die als Ursache des Verbrechens gesehen wird, und nicht die kriminelle Absicht der Person, die das Verbrechen begeht, was die Ungerechtigkeit des Verbrechens selbst noch steigert.
Oftmals ist zu hören, dass Frauen »nein« sagen sollten, weil dies der beste Weg sei, ein Missverständnis zu vermeiden, und dass ein Missverständnis häufig zu Anzeigen wegen Vergewaltigung führe.55 In der Tat haben viele Studien darauf verwiesen, dass es eine sehr große Diskrepanz gibt zwischen den Signalen sexuellen Interesses oder Desinteresses, die die Frauen nach ihren Worten aussenden, und denen, die die Männer empfangen. Lange Zeit wurde angenommen, dass die Geschlechternormen Missverständnisse zwischen den Geschlechtern hervorrufen, die dazu führen, dass Männer regelmäßig eine sexuelle Absicht sehen, wo Frauen keine haben. Die Bekundungen der Zustimmung oder der Nicht-Zustimmung sollten daher so klar wie möglich sein, um solche Missverständnisse zu vermeiden.56 Tatsächlich zeigen Laborstudien, dass Männer und Frauen, die mit denselben Szenarien konfrontiert werden, die Situationen auf die gleiche Weise interpretieren, ohne dass Männer daran scheitern, Ablehnungen zu verstehen.57 Außerdem spricht die Tat235sache, dass eine beträchtliche Anzahl von Vergewaltigern mehrere Vergewaltigungen an mehreren Opfern begangen hat, gegen die Hypothese der Vergewaltigung als Missverständnis.58 Es gibt kein Missverständnis oder Problem bei der Kommunikation der Zustimmung, sexualisierte Gewalt entspringt der Tatsache, dass Männer dazu entschlossen sind, die Nicht-Zustimmung der Personen zu ignorieren, die sie zum Sex nötigen.59
Da es also nicht haltbar ist, jeden Geschlechtsverkehr, zu dem keiner der Partner »nein« gesagt hat, als einvernehmlich zu betrachten, muss man begreifen, dass die Zustimmung mehr ist als der Nicht-Widerstand oder das passive Nachgeben und dass sie kommuniziert werden muss. Das Problem einer solchen Auffassung ist, dass sie sich nicht mit der Vorstellung vereinbaren lässt, dass jeder nicht einvernehmliche Sex eine Vergewaltigung ist. Denn nehmen wir das Beispiel von Sam und Raph, die sich auf einer Party kennenlernen, die Party gemeinsam verlassen, zu Sam gehen und einen von Raph eingeleiteten Geschlechtsverkehr haben. Es trifft zu, dass Sam damit einverstanden war, mit Raph Geschlechtsverkehr zu haben, aber Sam überließ Raph die gesamte Initiative, zeigte kein Zögern, aber auch keine Begeisterung. Man kann – darauf werden wir noch zurückkommen – davon ausgehen, dass Raph im Unrecht war, Sam nicht um ihre Zustimmung zu bitten, und dass Sam diese Erfahrung möglicherweise als Verletzung empfunden hat, aber zu sagen, dass eine solche Situation eine Vergewaltigung ist, ist eine Verwendung, die zu weit von der üblichen Verwendung des Begriffs der »Vergewaltigung« entfernt ist, um zielführend zu sein.
Der pragmatische Grund, aus dem viele Feministinnen die Auffassung vertreten, dass jeder nicht einvernehm236liche Geschlechtsverkehr eine Vergewaltigung ist, ist sehr einfach: Geschlechterungerechtigkeiten durchziehen die Sexualität, Männer schaden Frauen (und vielen anderen Menschen) in der Sexualität, und dieses Übel, das von Männern in der Sexualität begangen wird, wurde historisch verschwiegen. Nun ist die Vergewaltigung aber seit langem als ein sehr schweres Verbrechen anerkannt: Wenn man also sagt, dass die Verbrechen, die von Männern im Bereich der Sexualität begangen werden, Vergewaltigungen sind, hofft man, sich die Anerkennung ihrer Schwere zu sichern.
Das Problem ist jedoch Folgendes: Wie Georges Vigarello zeigt, hat der Grund, aus dem die Vergewaltigung historisch als ein sehr schweres Verbrechen anerkannt wurde, nichts mit dem Frauen angetanen Unrecht zu tun, sondern vielmehr mit dem Willen reicher Männer, die sicherstellen wollten, dass ihre Kinder auch wirklich ihre waren und sie nicht Gefahr liefen, ihr Erbe an die Kinder eines anderen weiterzugeben.60 Darüber hinaus ist die Anerkennung der Schwere der Vergewaltigung, beispielsweise in der Rechtswissenschaft, untrennbar mit der Vorstellung verbunden, dass die Vergewaltigung ein sehr seltenes Verbrechen ist. Zwar hat das geteilte Gefühl von der Schwere der Vergewaltigung den Wandel in der Auffassung dessen überdauert, was die Schwere der Vergewaltigung ausmacht. Doch beruht dieses Gefühl weniger auf der Anerkennung des Problems, das die von Männern begangenen Verletzungen verursachen, als vielmehr auf einer Reihe von teilweise sexistischen Vorstellungen von dem Unrecht, das Vergewaltigungsopfern angetan wird (insbesondere die Vorstellung, dass ein Vergewaltigungsopfer nie darüber hinwegkommen kann und, implizit, für andere Männer verloren ist61). Zudem lässt die Tatsache, 237dass viele in den feministischen Diskursen über Vergewaltigung ein Zeichen des puritanischen Kampfs gegen Sex überhaupt sehen, bei dem die Zustimmung die Waffe der Frauen sei, die sich für eine sexuell enttäuschende Nacht rächen wollen,62 vermuten, dass diese Strategie nicht funktioniert.
Allgemeiner gesprochen ist es nicht notwendig zu sagen, dass jeder Geschlechtsverkehr, dem nicht aktiv zugestimmt wurde, eine Vergewaltigung ist, um zu bekräftigen, dass jeder Geschlechtsverkehr, dem nicht aktiv zugestimmt wurde, moralisch schlecht und damit moralisch unzulässig ist (der Übergang von der moralischen Unzulässigkeit zum gesetzlichen Verbot ist nicht selbstverständlich, und die Analyse erfolgt auch hier auf der moralischen Ebene, selbst wenn sie Auswirkungen auf die rechtliche Auffassung von der Vergewaltigung hat). Die Zustimmung bietet ein wirksames Instrument, um zwischen moralisch schlechtem und moralisch zulässigem Sex zu unterscheiden, und diese Unterscheidung ist in gewissem Maße von der Frage zu trennen, wie die Vergewaltigung am besten definiert werden kann. Denn es ist wichtig zu erkennen, dass die moralische Bewertung der Sexualität nicht binär ist und dass nicht alle Formen von moralisch schlechtem Sex zwangsläufig gleich schlecht sind. Um konkrete Beispiele zu nennen, könnte man sich drei verschiedene Hypothesen über die Nacht vorstellen, die Raph und Sam miteinander verbringen, sobald sie bei Sam ankommen (die Figuren sind gendered, wenn ihr Geschlecht Auswirkungen auf den Ablauf des Szenarios hat):
(1) Raph leitet den Geschlechtsverkehr ein, und Sam will nicht, dass der Geschlechtsverkehr stattfindet. Sam weist Raph zurück. Doch Raph wird wütend und schreit, 238dass Sam ihn eingeladen hat, dass er nie gekommen wäre, wenn es nicht um Sex gegangen wäre, und zwingt Sam zum Geschlechtsverkehr.
(2) Raph leitet den Geschlechtsverkehr ein, und Sam will nicht, dass der Geschlechtsverkehr stattfindet. Sam weist Raph zurück. Aber Raph wird wütend und schreit, dass Sam ihn oder sie eingeladen hat, dass er oder sie nie gekommen wäre, wenn es nicht um Sex gegangen wäre, und Sam lässt den Geschlechtsverkehr aus Schuldgefühlen zu.
(3) Raph leitet den Geschlechtsverkehr ein, und Sam will nicht, dass der Geschlechtsverkehr stattfindet. Sam weist Raph zurück. Aber Raph hat nicht die Absicht zu schlafen, also versucht Raph erneut mehrmals, den Geschlechtsverkehr mit Sam einzuleiten. Sam ist erschöpft und lässt Raph schließlich gewähren, in der Hoffnung, endlich schlafen zu können.
(4) Raph leitet den Geschlechtsverkehr ein und Sam will nicht, dass der Geschlechtsverkehr stattfindet. Sie sagt sich, dass sie ihn zu sich nach Hause eingeladen hat und dass es jetzt zu spät ist, um abzulehnen, also lehnt sie den Geschlechtsverkehr nicht ab. Sie macht nichts, was darauf hindeutet, dass sie einverstanden wäre, und Raph penetriert sie.
(5) Raph leitet den Geschlechtsverkehr ein, und Sam will nicht, dass der Geschlechtsverkehr stattfindet, aber sie hat Angst, dass Raph gewalttätig reagieren könnte, wenn sie ihn zurückweist. Sie macht nichts, was darauf hindeutet, dass sie einverstanden wäre, und Raph penetriert sie.
(6) Raph leitet den Geschlechtsverkehr ein, und Sam hat keine Lust, dass der Geschlechtsverkehr stattfindet, sagt sich aber, dass Raph nett war, dass er zu ihr nach 239Hause gekommen ist, dass sie hätte wissen müssen, dass er mit ihr schlafen will und dass sie es sich daher nicht erlauben kann, sich zu weigern. Raph fragt sie, ob sie Lust hat, mit ihm Geschlechtsverkehr zu haben, sie sagt »ja«, und der Geschlechtsverkehr findet statt.
(7) Raph leitet den Geschlechtsverkehr ein, und Sam hat keine Lust, dass der Geschlechtsverkehr stattfindet, aber sie mag ihren Ruf als unerschrockene Verführerin und akzeptiert daher verbal den Geschlechtsverkehr, den Raph ihr vorschlägt.
Diese verschiedenen Szenarien, die immer wieder erlebten und beschriebenen Situationen entsprechen, können alle als problematisch angesehen werden und entsprechen alle Situationen, in denen der Geschlechtsverkehr stattgefunden hat, obwohl eine/r der PartnerInnen es nicht wollte. Trotzdem kann man mit guten Gründen annehmen, dass sie unterschiedlich schwerwiegend sind und dass sich beispielsweise Szenario (1) von Szenario (7) so stark unterscheidet, dass es gerechtfertigt ist, die Situationen unterschiedlich zu bezeichnen. Man kann sich vorstellen, dass es für Sam nicht dasselbe ist, ob sie zum Geschlechtsverkehr gezwungen wird oder nicht, und Raphs moralische Verantwortung ist nicht dieselbe, wenn er Sam aktiv zwingt, wenn er sich nicht um ihre Zustimmung kümmert oder wenn er sich bemüht, sich dieser zu versichern. In den ersten beiden Szenarien zwingt Raph Sam zum Geschlechtsverkehr, auch im strengsten Sinne, den das Recht dem Zwang verleiht. Im dritten Szenario kann man der Meinung sein, dass Raph Sam zwingt, weil die Belästigung, die die wiederholten Versuche darstellen, Sams Entscheidungsfähigkeit ändert, aber das Recht würde dieses Szenario sicherlich nicht als Zwang betrachten, insofern die wiederholten Versuche Sam streng ge240nommen nicht daran hindern, den Geschlechtsverkehr abzulehnen. In den Szenarien (4) und (5) kümmert sich Raph nicht um Sams Lust oder Wünsche, und man kann davon ausgehen, dass er die ungerechten Normen, die die Geschlechterverhältnisse beherrschen, und die Angst ausnutzt, die die Gewalt der Männer den Frauen zu Recht einschärft. In den Szenarien (6) und (7) scheint es so, wie sie beschrieben werden, schwierig, ihm irgendeine Verantwortung zuzuweisen. Diese Beispiele zeigen, dass der Binarität legitimer Sex/nicht einvernehmlicher Sex eine Skala von Schweregraden vorzuziehen ist, die zum Beispiel erlauben würde, zwischen positiv nicht einvernehmlichem Sex, der alle Fälle von in weiterem Sinne erzwungenem Sex umfassen würde, von nicht aktiv einvernehmlichem Sex in dem Sinne zu unterscheiden, dass beispielsweise die erteilte Zustimmung nicht gültig ist, weil sie nicht frei gegeben wurde.63
Zu behaupten, dass diese Szenarien Fälle von nicht einvernehmlichem Sex mit einem ungleichen Schweregrad darstellen, bedeutet nicht, dass Sam nicht wirklich unter den weniger schweren Fällen leiden kann. Einfach gesagt kann man sich zweifellos vergewaltigt fühlen, ohne dass der andere eine Vergewaltigung begangen hat. Es ist jedoch aus mehreren Gründen wichtig, zwischen den Situationen zu unterscheiden: Der erste Grund ist, dass die Reaktion auf diese verschiedenen Situationen und die Art und Weise, wie man sie wirksam verhindern kann, unterschiedlich sind. Um die Extremfälle zu nehmen, scheint es klar, dass die Art und Weise, wie man Geschlechterstereotypen bekämpft, die dazu führen, dass sich eine Frau gezwungen fühlen kann, einen Geschlechtsverkehr zu akzeptieren, wahrscheinlich, zumindest teilweise, anders aussieht als die Art und Weise, wie man die männliche 241Neigung bekämpft, sexuelle Beziehungen mit Gewalt zu erzwingen. Der zweite Grund, der dem ersten nahezu entgegengesetzt zu sein scheint, ist, dass solche Unterscheidungen das herauszustellen erlauben, was die Philosophin Ann Cahill als »heteronormatives sexuelles Kontinuum« bezeichnet hat, und damit die Dimension des spezifischen moralischen Problems zu erfassen, das die »Grauzone« aufwirft.
Der Ausdruck »Grauzone« ist im französischen Mediendiskurs nach #MeToo aufgetaucht, um jene sexuellen Erfahrungen zu beschreiben, die streng genommen nicht unter den Begriff Vergewaltigung fallen oder von der Justiz nicht geahndet werden können, die aber dennoch zuweilen traumatische Erfahrungen darstellen und auf der moralischen und politischen Ebene Probleme bereiten. Der aus dem Englischen übersetzte Ausdruck geht auf die Arbeiten der neuseeländischen Psychologin Nicola Gavey und ihr äußerst wichtiges Werk Just Sex: The Cultural Scaffolding of Rape zurück,64 das 2005 veröffentlicht und 2019 aktualisiert wurde. In diesem Buch geht Nicola Gavey die Art und Weise durch, wie die Vergewaltigung bislang von Philosophen, Soziologen, feministischen Theoretikerinnen und Psychologen verstanden wurde. Sie stützt sich auf Interviews, die sie im Rahmen ihrer Forschungen zur Sexualpsychologie geführt hat, um zu zeigen, dass einige Philosophinnen zwar recht haben, wenn sie gegen MacKinnon und Dworkin einwenden, dass heterosexuelle Frauen einen Unterschied zwischen Vergewaltigung und 242einvernehmlichen sexuellen Beziehungen machen, dass es aber auch eine Reihe von gewöhnlichen Erfahrungen mit der heterosexuellen Sexualität gibt, die sich in einem Zwischenbereich befinden und dazu beitragen, die Vergewaltigungskultur und insbesondere das, was sie als das »kulturelle Gerüst der Vergewaltigung« bezeichnet, aufrechtzuerhalten, wobei sie die Co-Konstruktion von Patriarchat und Sexualität hervorhebt.
Gavey schlägt eine Typologie dieser Erfahrungen vor, die sie folgendermaßen beschreibt:
Viele Frauen haben mir von Erfahrungen erzählt, die sie nicht als Vergewaltigung bezeichneten, bei denen es mir aber schwerfiel, sie nur als Sex zu sehen. Dazu gehörten Berichte über Situationen, in denen ein Mann Druck ausübte, der nicht auf der Anwendung oder Androhung von körperlicher Gewalt beruhte, die Frau aber trotzdem das Gefühl hatte, sich nicht widersetzen zu können, so bei Begegnungen, bei denen ein Mann hart und brutal war und die Frau beschrieb, dass sie den Sex zuließ, weil sie sich unfähig fühlte, ihn zu verhindern. Aber auch Berichte über Situationen, in denen ein männlicher Partner überhaupt keinen direkten Zwang anwendete, die Frau aber dennoch den Sex akzeptierte, der weder gewünscht noch genossen wurde, weil sie das Gefühl hatte, nicht das Recht zu haben, ihn zu verhindern, oder weil sie nicht wusste, wie sie ihn ablehnen soll. All diese unterschiedlichen Erfahrungsberichte weisen in ihrer Verschiedenartigkeit auf eine komplexe Grauzone hin zwischen dem, was als einvernehmlicher Sex angesehen werden kann, und der Vergewaltigung oder sexuellen Nötigung.65
Die Abgrenzung dieser Grauzone ist sehr wichtig: Wie Gavey etwas weiter unten schreibt, handelt es sich nicht 243um einen Sex, der einfach nicht erwünscht wäre in dem Sinne, dass die Partnerin kein sexuelles Verlangen hätte. Es gibt moralisch akzeptable und sogar moralisch gute sexuelle Beziehungen, die andere Motive als das sexuelle Verlangen haben: Wenn man beispielsweise eine Liebesbeziehung mit jemandem hat, kann man den Wunsch haben, dieser Person eine Freude zu machen oder ihr mit dem Geschlechtsverkehr seine Liebe zu zeigen. Es ist moralisch vollkommen vertretbar, mit jemandem Geschlechtsverkehr zu haben, ohne ein sexuelles Verlangen zu empfinden, weil man diese Person liebt und weil sie in diesem Moment ein sexuelles Verlangen hat, oder sogar, weil man eine andere, zum Beispiel narzisstische Befriedigung sucht als die rein sexuelle. Natürlich ist es gang und gäbe, dass die sexuelle Hingabe problematisch ist (zum Beispiel, wenn diese Hingabe auf der Vorstellung beruht, dass Frauen Männern Sex geben müssen, oder in Fällen von Affektiverpressung), aber es ist eine verkürzte Sicht der Sexualität und ihrer Bedeutung für das Leben und die Erfahrungen der Menschen, zu glauben, dass sie unbedingt durch das sexuelle Verlangen oder die Erregung motiviert sein muss, die man im Moment empfindet. Das Problem der Grauzone ist nicht der sexuell nicht begehrte Sex, sondern die sexuellen Interaktionen, die von Frauen nicht gewollt werden und die trotzdem als einvernehmlich in dem Sinne angesehen werden können, dass sie akzeptiert werden.66 Diese Interaktionen machen deutlich, was die Juristin Robin West als »Unrecht des einvernehmlichen Sexes« bezeichnet hat.67
Gavey schlägt anhand der von ihr verwendeten Beispiele eine Typologie der Gründe vor, die Frauen haben können, um solche Interaktionen nicht zu verhindern: mal weil die herrschenden Diskurse über die Hetero244sexualität so sind, dass die Frauen das Gefühl haben, den Männern verpflichtet zu sein, ihnen Sex zu schulden (zum Beispiel, wenn eine verheiratete Frau denkt, dass sie ihrem Mann mindestens einen Geschlechtsverkehr pro Woche schuldet, oder wenn eine junge Frau denkt, dass sie einer sexuellen Beziehung zustimmen muss, wenn sie auf eine Liebesbeziehung hofft); mal weil, wie oben erwähnt, »nein sagen« bedeuten würde, sich in einer Weise zu verhalten, die mit den Normen der Weiblichkeit und der höflichen Ablehnung zu sehr brechen würde; mal weil abzulehnen Auswirkungen auf ihre Identität im weiteren Sinne hätte (zum Beispiel würden sie riskieren, als »frigide Schlampe« zu gelten oder einfach den Status des »guten Sexes« oder der »Frau, die Sex liebt« verlieren, der in ihrer Paarbeziehung eine wichtige Rolle spielte); oder schließlich weil sie Angst vor den möglichen Folgen eines »Nein« haben und vor allem sehr oft Angst haben, vergewaltigt zu werden, wenn sie den Geschlechtsverkehr nicht akzeptieren. Dieser letzte Fall mag theoretisch betrachtet paradox erscheinen, ist es aber in der Praxis überhaupt nicht: Die Angst vor männlicher Gewalt und die Angst vor den traumatischen Folgen eines eindeutig erzwungenen Geschlechtsverkehrs sind so groß, dass die Frauen lieber in eine sexuelle Interaktion einlenken, die sie absolut nicht wollen, als das Risiko einer Vergewaltigung einzugehen. Diese Taxonomie umfasst die Gesamtheit der von dem Soziologen Jean-Claude Kaufmann68 online gesammelten Erlebnisberichte sowie die Typologie der Soziologin Alexia Boucherie. Letztere hat im Vergleich zu Gaveys Arbeiten den großen Vorzug, dass sie zeigt, dass diese Dynamiken auch in nicht heterosexuellen sexuellen Interaktionen am Werk sind:69 Die Geschlechternormen und die spezifischen Normen der Heterosexualität als 245soziales System beeinflussen die sexuellen Beziehungen aller und verursachen eine ganze Reihe von Übeln und Ungerechtigkeiten.
Aus der Existenz dieser Grauzone und den vorgeschlagenen Typologien kann man zwei Lehren ziehen. Die erste, die uns bereits geläufig ist und die sehr wichtige Konsequenzen hat, insbesondere auf der rechtlichen Ebene, ist, dass das Prisma der individuellen Verantwortung weder ausreicht, um den moralischen Problemen der Sexualität Rechnung zu tragen, noch, um diese Probleme zu bekämpfen. Tatsächlich haben die Männer in einem Teil der betreffenden Fälle die befragten Frauen nicht aktiv genötigt und zuweilen sogar nichts unternommen, um die Frau daran zu hindern, die sexuelle Interaktion abzulehnen. Zwar profitierten sie insgesamt von einem sexuellen Skript, von Geschlechternormen und sozialen Realitäten (insbesondere über die Gewalt der Männer), die sie begünstigten, aber sie hatten nicht unbedingt die Absicht, die Frau zu zwingen oder sie auch nur dazu zu drängen, zuzustimmen. Und diese Frauen befanden sich häufig in einer Situation, in der es für sie zu aufwendig oder schlichtweg unmöglich war, ihre Ablehnung zu äußern. Man kann über die Moralität des Sexualverhaltens also nicht reflektieren, ohne aktiv die patriarchalen Strukturen und die Art und Weise zu berücksichtigen, wie sie die Wahlmöglichkeiten beeinflussen, die den Frauen zur Verfügung stehen. Und es muss möglich sein, die Existenz ungewollter sexueller Beziehungen in Betracht zu ziehen, ohne dass der Partner, der sie initiiert hat, an der fehlenden Zustimmung schuld ist.
Die zweite Lehre besteht in der – komplexen – Tatsache, dass die bloße Existenz dieser Grauzone einerseits eher ein Kontinuum als eine klare Binarität zwischen 246normalem Sex und Vergewaltigung und andererseits auf der individuellen Ebene die Existenz eines klaren Unterschieds zwischen aktiv gewolltem oder einvernehmlichem und nicht gewolltem oder nicht einvernehmlichem Sex widerspiegelt. Anstelle einer Unterscheidung zwischen normalem Sex und Vergewaltigung, bei der der normale Sex das wäre, was sich in der überwiegenden Mehrheit der sexuellen Interaktionen abspielt, und die Vergewaltigung ein schweres und seltenes Verbrechen, das in seinem Ausnahmecharakter leicht zu definieren ist, begreift man, dass die Vergewaltigung ein Extremfall in einem Kontinuum nicht gewollter sexueller Beziehungen ist, die vermutlich einen beträchtlichen Teil der sexuellen Beziehungen ausmachen. Klar zu identifizieren, was den Unterschied zwischen den moralisch guten und den anderen Sexualbeziehungen ausmacht, ist somit schwieriger, als man annehmen könnte. Gegen eine Sichtweise des Geschlechtsverkehrs, den die Partner und nur sie auf der Grundlage einer einfachen Wahl einleiten, die auf ihrem sexuellen Verlangen beruht, sieht man eine Vielfalt von Motivationen für die sexuelle Aktivität zum Vorschein kommen und die Schwierigkeit, klar zwischen sozialem Druck, Nachlässigkeit, Zwang und Bedrohung zu unterscheiden. Und man begreift, wenn das Kriterium für die Legitimität sexueller Beziehungen darin besteht, dass sie absolut und positiv einvernehmlich sind, es so gut wie sicher ist, dass ein beträchtlicher Teil des täglichen Sexes illegitim ist: Es ist eher der gewollte Sex als der nicht einvernehmliche Sex, der die Ausnahme zu sein scheint.
Gleichzeitig zeigen sowohl die von Gavey befragten Frauen als auch die von Kaufmann70 gesammelten Erfahrungsberichte und die Analysen von Boucherie, dass alle – und insbesondere die Frauen – einen Unterschied 247zwischen gewollten und ihnen aufgezwungenen sexuellen Beziehungen machen. Für diese Frauen – und viele andere Aussagen von Frauen über ihre Sexualität gehen in diese Richtung – können sexuelle Handlungen gewollt, begehrt und genossen werden, und die Erotik kann zu den großen Freuden des Lebens gehören, auch in einem patriarchalischen Kontext. Wenn die normale Erfahrung von Sex häufig eine Erfahrung der Nicht-Zustimmung ist und Sex andererseits eine Erfahrung ist, die nicht nur lustvoll, sondern für die menschliche Erfahrung auch zutiefst strukturierend sein kann, dann lauten die zentralen Fragen: Was ist moralisch guter Sex? Und wie können wir dafür sorgen, dass die Erfahrung von Sex mehrheitlich gut wird?