1Raphaëlle Théry bezieht sich in ihrer Dissertation auf Samuel Freemans Charakterisierung dieses sozialen Liberalismus als »high liberalism«, was sie mit »libéralisme avancé (fortgeschrittener Liberalismus)« übersetzt und der den sozialen Zweig des Liberalismus kennzeichnet, der mit Mill seinen Anfang nahm und dessen letzter großer Vertreter Rawls ist. Die Trennung zwischen fortgeschrittenem Liberalismus und neoklassischem Liberalismus hängt mit dem Status zusammen, der den wirtschaftlichen Rechten und Freiheiten eingeräumt wird, die im fortgeschrittenen Liberalismus nicht als 315absolut angesehen werden, und der zum Kapitalismus in einem Spannungsverhältnis steht und keine Korrelation von politischem und wirtschaftlichem Liberalismus voraussetzt. Siehe Samuel Freeman, »Capitalism in the Classical and High Liberal Traditions«, Social Philosophy and Policy, Bd. 28, Nr. 2, 2011, S. 19-55, zit. n. Raphaëlle Théry, Libéralisme pénal, op. cit., S. 19.
2Bertrand Guillarme, »Deux critiques du consentement«, Raisons politiques, Nr. 46, 2012, S. 67-78.
3Ebd., S. 72.
4Anne Phillips, »Free to Decide for Oneself«, in Daniel I. O’Neill, Mary Lyndon Shanley, Iris Marion Young (Hg.), Illusion of Consent. Engaging with Carole Pateman, University Park, The Pennsylvania State University Press, 2008, p. 99-117.
5Für eine französischsprachige Bestandsaufnahme der verschiedenen Auffassungen von Autonomie beziehe ich mich mit Gewinn auf das ausgezeichnete Werk zu dieser Frage von Marlène Jouan und Sandra Laugier (Hg.), Comment penser l’autonomie?, Paris, PUF, 2009. Für einen Überblick über die zeitgenössische englischsprachige feministische Philosophie zur Autonomie sei auf den hervorragenden Artikel in der Stanford Encyclopedia of Philosophy verwiesen: Natalie Stoljar, »Feminist Perspectives on Autonomy«, in Edward N. Zalta (Hg.), Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2018, 〈https://plato.stanford.edu/archives/win2018/entries/feminism-autonomy〉.
6Susan Moller Okin, Justice, Gender, and the Family. New York, Basic Books, 1989, frz. Ausgabe: Justice, genre et famille, frz. Übers. v. Ludivine Thiaw-Po-Une, Paris, Flammarion, 2008.
7Ebd., S. 65.
8Nicht alle liberalen Feministinnen sind der Ansicht, dass die rawlssche Theorie mit dem Kampf für die Gleichstellung von Frauen und Männern unvereinbar ist. Die Philosophin Gina Schouten zeigt zum Beispiel, dass es möglich ist, feministische Politik mit rawlsschen Gerechtigkeitskriterien zu begründen. Gina Schouten, Liberalism, Neutrality, and the Gendered Division of Labor, Oxford: Oxford University Press, 2019.
9Dieses Unternehmen der Relektüre hat mit Susan Moller Okin begonnen, die Women and Western Political Thought (Princeton, Princeton University Press, 1979) veröffentlicht hat, gefolgt von unter anderem Public Man, Private Woman von Jean Elshtain (Public Man, Private Woman, Princeton, Princeton University Press, 1981) oder auch The Sexism of Social and Political Theory (Lorenne M.G. Clark u. Lynda Lange (Hg.), Toronto, University of Toronto 316Press, 1979) und vor allem The Sexual Contract von Carole Pateman (Cambridge, Polity Press, 1988) und Feminist Interpretations and Political Theory, das sie zusammen mit Mary Lindon Shanley herausgegeben hat (Cambridge, Polity Press, 1991).
10John Locke, Aufdeckung der falschen Prinzipien und Widerlegung der Begründung der Lehre Sir Robert Filmers und seiner Nachfolger, in John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, op. cit., §47, S. 103.
11Ebd., §48, S. 104.
12Diese Feststellung führt Pateman zu der Frage, welche politische Position Frauen in einer auf kontraktualistischen Prämissen beruhenden Gesellschaft haben können.
13Carole Pateman, »The Patriarchal Welfare State«, in Carole Pateman, The Disorder of Women, Cambridge, Polity Press, 1989, S. 179-209, S. 197.
14Ebd., S. 12.
15Wie Geneviève Fraisse zeigt, ist der Platz, den John Milton der Zustimmung in seinem Plädoyer für die Scheidung einräumt, ein wichtiger Schritt bei der Konzeptualisierung der Zustimmung als Ausdruck der persönlichen Autonomie. Geneviève Fraisse, Du consentement, op. cit., S. 31ff.
16Carole Pateman, Le Contrat sexuel, frz. Übers. v. Charlotte Nordmann, Paris, La Découverte, 2010, S. 171.
17Die Doktrin der Deckung war eine Rechtsdoktrin, die im Vereinigten Königreich und in den Ländern des Common Law bis Ende des 19. Jahrhunderts galt. Sie bestand darin, dass die Rechtspersönlichkeit der Ehefrau, der feme covert, mit der ihres Ehemannes verschmolzen wurde. Eine verheiratete Frau hatte keine eigenen Rechte, sie durfte keinen Besitz haben, keine Rechtsdokumente oder Verträge unterzeichnen, keinen Lohn für sich behalten oder eine Ausbildung erhalten, ohne dass ihr Ehemann zustimmte.
18Carole Pateman, Le Contrat sexuel, op. cit., S. 172.
19Claude Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 1981, S. 645, zit. in Carole Pateman, Le Contrat sexuel, op. cit., S. 94-95.
20»Die in der klassischen Vertragstheorie angeführten Verträge beziehen sich nicht nur auf materielle Güter, sondern auf Eigenschaften in dem bestimmten Sinne des Eigentums an der Person, und sie beinhalten den Tausch von Gehorsam gegen Schutz. […] Die kontraktualistische Theorie befasst sich im Wesentlichen mit der Möglichkeit, soziale Beziehungen zu schaffen, die durch Unterordnung 317begründet werden, so dass ihr Gegenstand nicht in erster Linie der Tausch ist.« Ebd., S. 92-93.
21Im französischen Recht wird die Möglichkeit der Vergewaltigung zwischen Ehegatten 1992 von der Strafkammer des Kassationsgerichtshofs anerkannt (Crim., 11. Juni 1992), die feststellt, dass »die Vermutung der Zustimmung der Ehegatten zu sexuellen Handlungen, die in der Intimität des ehelichen Privatlebens vorgenommen werden, nur bis zum Beweis des Gegenteils gilt«, und damit der Vermutung der Zustimmung der Ehegatten nicht mehr einen unwiderlegbaren, sondern einen einfachen Charakter verleiht. Die Anführung der einfachen Vermutung der Zustimmung der Ehegatten zum Sex wurde 2006 in das Strafgesetzbuch aufgenommen und 2010 wieder daraus entfernt. Siehe hierzu den Artikel (mit dem unglücklichen Titel) von Thomas Besse, »Les agressions sexuelles dans la sphère conjugale, casse-tête de Cupidon à l’adresse du juge répressif«, Revue de science criminelle et de droit pénal comparé, 2018/1, Nr. 1, S. 21-30.
22Die besondere Struktur des Ehevertrags geht in diese Richtung: Im Gegensatz zu anderen Verträgen, die mit ihrer Unterzeichnung wirksam werden, beinhaltet die Ehe zwei verschiedene Momente: die Zeremonie und den Vollzug, das heißt die Inbesitznahme des Körpers der Frau durch den Ehemann. Der Vollzug galt lange Zeit als Kriterium für die Gültigkeit des Bundes.Wenn ein Vertrag unterzeichnet wurde, die Ehe aber noch nicht vollzogen war, konnte die Ehe annulliert werden.
23Die Idee der wirtschaftlichen Ausbeutung der Frauen in der Ehe und im weiteren Sinne auch in der Sexualität ist Gegenstand einer eigenen feministischen Literatur. Ich beziehe mich vor allem auf die Arbeiten von Christine Delphy, Paola Tabet, Colette Guillaumin, Danièle Kergoat und Silvia Federici.
24Carol Pateman, »Women and Consent«, op. cit., S. 74.
25Ebd., S. 76.
26Ich erinnere hier an den Hauptunterschied zwischen Unterordnung und Unterwerfung: Eine Unterordnung liegt vor, wenn ein Individuum oder eine Gruppe von Individuen einer anderen Person untergeordnet wird und sich gegenüber der unterordnenden Gruppe in einer hierarchisch unterlegenen Position befindet. Die Unterordnung bezieht sich auf eine objektive Feststellung und sagt nichts über die Gründe für diese Situation oder über die Erfahrungen derjenigen aus, die sich in dieser Situation befinden. Spricht man hingegen von Unterwerfung, dann bezieht man sich auf die subjektive Erfahrung desjenigen, der unterworfen ist, und geht davon 318aus, dass es keinen aktiven Widerstand gegen diese Unterwerfung gibt.
27Maurice Godelier, »La part idéelle du réel. Essai sur l’idéologique«, L’Homme, Bd. 18, Nr. 3-4, 1978, S. 155-188, S. 176. Ein Teil dieser Passage wird zitiert in Nicole-Claude Mathieu, »Quand céder n’est pas consentir. Des déterminants matériels et psychiques de la conscience dominée des femmes et de quelques-unes de leurs interprétations en ethnologie«, in Nicole-Claude Mathieu (Hg.), L’Arraisonnement des femmes. Essais en anthropologie des sexes, Paris, Éditions de l’EHESS, 1985, S. 169-245.
28Ebd., S. 177.
29Nicole-Claude Mathieu, L’Anatomie politique. Catégorisations et idéologies du sexe, op. cit., S. 11.
30Dies., »Quand céder n’est pas consentir«, op. cit., S. 187.
31Ebd., S. 210.
32Das bedeutet nicht, dass diese Werte nicht zu Zwecken der Emanzipation transformiert werden können, »aber es ist keineswegs dasselbe, einen allgemeinen Begriff zu seinem Vorteil zu übernehmen, nachdem man begriffen hat, dass er einem dient, wie ihn davor zu verwenden – in welchem Fall er nur ein Instrument der Mystifizierung ist«, ebd., S. 216.
33Sie schreibt so: »Ich glaube nicht, dass es die Idee von den ›Diensten‹ ist, die die Herrschenden ihnen erweisen (Godelier 1978c und anderswo), die in erster Linie im Bewusstsein der Frauen präsent ist, sondern dass der Ansturm auf ihren Körper und ihr Bewusstsein durch die Einschaltung und die ständige sie einschränkende körperliche und geistige Präsenz der Männer sie zum Nachgeben bringt.« Ebd., S. 228.
34Nicole-Claude Mathieu (Hg.), L’Arraisonnement des femmes. Essais en anthropologie des sexes, op. cit., S. 9.
35Nicole-Claude Mathieu, »Quand céder n’est pas consentir«, op. cit., S. 227.
36Ebd., S. 230.
37Ebd., S. 232.
38Ebd., S. 233.
39Zur Frage, was die männliche Herrschaft mit der Psyche von Frauen macht, siehe Sandra Bartkys großartiges Buch Femininity and Domination: Studies in the Phenomenology of Oppression, New York, Routledge, 1990, in dem sie unter anderem eine phänomenologische Analyse dessen bietet, was mit Frauen passiert, wenn sie sich der männlichen Herrschaft bewusst werden.
40Ich habe die Idee der Zustimmung zur Unterwerfung weiterentwi319ckelt in On ne naît pas soumise, on le devient, Paris, »Climats«, Flammarion, 2018 (dt.: Wir werden nicht unterwürfig geboren. Wie das Patriarchat das Leben von Frauen bestimmt, übers. v. Andrea Hemminger, Berlin, Suhrkamp Verlag, 2021).
41Das ist die Bedeutung des Titels der Analyse, die Catharine MacKinnon vom Sexismus des Rechts vorlegt, Women’s Lives, Men’s Laws, Cambridge, Massachusetts, Belknap Press of Harvard University Press, 2005.
42Ebd., S. 343.
43Catharine MacKinnon, »Sexuality, Pornography, and Method: Pleasure under Patriarchy«, op. cit., S. 322.
44Ebd., S. 329-330.
45Zur Hypothese des weiblichen Masochismus siehe John Forrester, »Rape, Seduction and Psychoanalysis«, op. cit. Und Paula Caplan, The Myth of Women’s Masochism, New York, Dutton, 1985.
46Ebd., S. 340.
47Auch wenn einige Staaten seit den 2000er Jahren ihre Definition der Vergewaltigung geändert und das Kriterium der Stärke zugunsten des Kriteriums der Zustimmung aufgegeben haben, und auch wenn auf den amerikanischen Campus sich allmählich die affirmative Definition der Zustimmung durchsetzt, bedeutet bei Gericht das Kriterium des Beweises in Strafsachen, das verlangt, dass die Schuld »zweifelsfrei« festgestellt werden muss, faktisch, dass das Opfer nachweisen können muss, dass es den Geschlechtsverkehr abgelehnt hat (und nicht, dass es ihn nicht akzeptiert hat), damit es zu einer Verurteilung wegen Vergewaltigung kommen kann. Siehe zum Beispiel Michelle Anderson, »Negotiating Sex«, Southern Californian Law Review, Bd. 78, 2005.
48MacKinnon verwendet dieses Beispiel, um zu provozieren. Es versteht sich von selbst, dass, wenn das gesetzliche Kriterium der Zustimmung nicht die Aussage zuließe, dass eine tote Frau nicht eingewilligt hätte, die Tatsache, dass der Mann sie tot wusste, ihn zum einen der Körperverletzung und zum anderen der Vergewaltigung schuldig machen würde, insofern er wusste, dass sie nicht in der Lage war, zuzustimmen.
49Catharine MacKinnon, »Rape Redefined«, Harvard Law & Policy Review, Bd. 10, Nr. 2, 2016, S. 431-477, S. 442.
50Ebd.
51Ebd., S. 440.
52Zum Beispiel in der Definition von Peter Westen, The Logic of Consent: the Diversity and Deceptiveness of Consent as a Defense to Criminal Conduct, Aldershot, Ashgate, 2004.
320Catharine MacKinnon, »Rape Redefined«, op. cit., S. 442.
54Estelle Ferrarese, »The Political Grammar of Consent: Investigating a New Gender Order«, Constellations, Bd. 22, Nr. 3, 2015, S. 462-472, S. 464-465.
55Zu der epistemologischen Frage der Verbindung zwischen männlicher Herrschaft und Wissensproduktion siehe die Texte von Sandra Harding und Sally Haslanger, die im zweiten Teil von Manon Garcia (Hg.), Philosophie féministe: Patriarcat, savoirs, justice, Paris, Vrin, Textes clés, 2021, zusammengetragen sind.
56Catharine MacKinnon, »Sexuality, Pornography, and Method: Pleasure under Patriarchy«, op. cit., S. 343.