1
Ich wurde an dem Tag geboren, der als Das Ende der Welt in die Geschichte einging.
Wie meine Eltern mir erzählten, war während meiner Geburt weltweit ein buntes Leuchten am Himmel zu sehen, und es blitzte und donnerte unablässig, so als tobte über den Köpfen der Menschen eine gewaltige Schlacht. Eine wissenschaftliche Erklärung für dieses Phänomen gab es nicht. Manche Leute glaubten, es handele sich um den Beginn einer außerirdischen Invasion, andere meinten, die Erde nähere sich der galaktischen Ebene, wieder andere erklärten, das Universum habe begonnen zu kollabieren. So oder so, es bestand kein Zweifel daran, dass der Jüngste Tag gekommen war. Die Menschen suchten Zuflucht in den Kirchen, um Buße zu tun, oder sie verkrochen sich zitternd vor Angst in ihren Betten.
Doch am Ende geschah nichts. Als die Uhren Mitternacht schlugen, wurde es wieder still auf Erden. Tränen der Erleichterung wurden vergossen, wildfremde Leute fielen einander in die Arme und küssten sich. Gott hatte noch einmal Gnade bewiesen, riefen sie. Forderungen wurden laut, dieses Datum zum Tag der Wiedergeburt zu erklären, auf dass die Menschen von nun an einen ehrlicheren, reineren und dankbareren Lebenswandel führen mochten. Es dauerte allerdings nicht lange, und das Ereignis geriet wieder in Vergessenheit. Die Menschheit machte weiter wie eh und je – Gewalt im Nahen Osten, die nächste weltweite Finanzkrise … Das Leben nahm seinen Lauf, mit all den großen und kleinen Problemen, die es zu lösen galt. Die Welt war viel zu beschäftigt, und das viel zitierte Ende der Welt erschien den Menschen zunehmend wie ein schlechter Scherz, den man besser schnell wieder vergaß.
Natürlich habe ich selbst keinerlei Erinnerung an das alles, denn ich war ja gerade erst geboren worden. Auch was während der darauffolgenden Jahre passierte, weiß ich nur aus Erzählungen.
Meine früheste Erinnerung ist die an den Tag der Olympischen Eröffnungszeremonie. Ich war zwar erst vier Jahre alt, doch ich spürte die Vorfreude und Erregung überall. Meine Eltern erklärten mir, dass hier bei uns in Peking die Olympischen Spiele stattfänden. Ich wusste nicht, was »Olympische Spiele« waren, aber ich verstand instinktiv, dass es sich um ein überaus freudiges Ereignis handeln musste. An jenem Abend nahm meine Mutter mich mit nach draußen. Die Straßen waren voller Menschen, und Mama musste mich hochheben, damit ich etwas sehen konnte. Und was ich sah, war eine gigantisch leuchtende Fußspur, die wie von Zauberhand gemalt am Nachthimmel erschien, so als ob ein Riese in der Luft hin und her rannte. Ich war völlig überwältigt.
Mama nahm mich mit zum kleinen Park bei uns im Viertel, in dem eine Filmleinwand aufgebaut worden war, die eine Live-Übertragung der Zeremonie zeigte. Ich weiß noch, dass es sehr voll war und eine regelrechte Volksfestatmosphäre herrschte. Ich ließ meinen Blick über die Menge schweifen, und da entdeckte ich Qiqi. Sie trug ein kurzes rosa Röckchen und Schuhe, die beim Laufen leuchteten. Die Haare hatte sie zu zwei seitlich abstehenden Zöpfen gebunden. Sie schenkte mir ein süßes Lächeln und rief: »Bao-Gege!« Ich war zwar bloß einen Monat älter als sie, aber dennoch stets der große Bruder .
Qiqis und meine Mutter waren schon vor unserer Geburt gute Freundinnen gewesen. Ich muss Qiqi daher auch früher schon oft gesehen haben, aber leider kann ich mich nicht mehr daran erinnern. Der Abend der Eröffnungszeremonie ist meine erste lebendige Erinnerung an sie. Zum ersten Mal bekam ich einen ganz subjektiven Begriff dafür, was »Schönheit« bedeutete. Qiqi war wunderschön an diesem Abend.
Während die Erwachsenen sich unterhielten und gemeinsam die Live-Übertragung verfolgten, hockten Qiqi und ich plappernd neben einem Blumenbeet. Später erschien auf der Leinwand ein elliptisches, hell angestrahltes Gebilde, das aussah wie ein riesiger geflochtener Korb. Ich fragte Qiqi, was das sei. Das sei das Vogelnest , antwortete sie. Doch in diesem Vogelnest befanden sich keine Vogelküken, sondern eine riesengroße Seite Malpapier, über welches in unablässiger Folge neue Bilder huschten. Qiqi und ich waren hellauf begeistert. Sie fragte mich, wie man solche Bilder malte. Mit dem Computer, antwortete ich. Mein Vater könne das auch. Ich würde ein ganz großes Bild für sie malen, versprach ich, und genoss ihren bewundernden Blick. Später zeigte das Fernsehen ein singendes kleines Mädchen, das kaum älter aussah als wir. Qiqi war jedoch viel schöner als sie, fand ich.
Es war eine herrliche, nahezu magische Nacht und blieb eine meiner schönsten Erinnerungen. Ich hoffte noch lange, dass China ein weiteres Mal die Olympischen Spiele veranstalten würde, aber leider kam es nie dazu. Als ich viele Jahre später meinem eigenen Sohn die prächtigen Szenen von damals schilderte, glaubte er mir nicht, dass unser Land einmal so glanzvolle Zeiten erlebt hatte.
An die Zeit im Kindergarten, den Qiqi und ich zusammen besuchten, kann ich mich kaum noch erinnern. Es war ein bilingualer Kindergarten, in dem zur Hälfte Englisch gesprochen wurde, aber es blieben so gut wie keine Eindrücke von dort hängen. Viel Englisch leider auch nicht. Ich weiß nur noch, dass Qiqi und ich zu Hause im Fernsehen oft zusammen Knuddelschaf und Wuselwolf angeschaut haben. Ich fand, sie hatte Ähnlichkeit mit dem Knuddelschaf – und ich angeblich mit dem Wuselwolf. »Wenn ich der Wuselwolf sein soll, dann bist du der Rote Kojote!«, stellte ich klar, woraufhin sie anfing, mich zu kneifen, was schließlich in einer kleinen Rauferei mündete. Qiqi verprügelte zwar gern andere Kinder, heulte aber selbst schon beim leichtesten Schubser. Damit sie nicht gleich heulend zu ihren Eltern rannte, holte ich schnell ein geraspeltes Eis mit süßen roten Bohnen aus dem Kühlfach. Das beschwichtigte sie, und durch die Tränenströme brach sich ein Lächeln Bahn. Gemeinsam verspeisten wir das Eis und guckten dabei Chibi Maruko Chan und Die Abenteuer von Rotkatze und Blauhase. So spielten, stritten und vertrugen wir uns, und eh wir’s uns versahen, hatte sich unsere Kindheit davongestohlen.
Für mich war es damals, als ob Qiqi und ich eine Einheit bildeten, ja, als wären wir ein und dieselbe Person. Nichts und niemand würde uns je auseinanderbringen. Doch dann, kurz vor unserer Einschulung, zog Qiqis Vater und mit ihm die gesamte Familie aus beruflichen Gründen nach Shanghai. Wir begleiteten sie alle zum Bahnhof. Während die Erwachsenen schweren Herzens Abschied voneinander nahmen, tollten Qiqi und ich genauso quietschvergnügt durch die Gegend wie sonst auch, als stünde bloß ein Wochenendausflug ins Pekinger Umland an. Als sie in den Zug gestiegen waren, tat Qiqi es ihren Eltern nach und winkte mir durchs Fenster fröhlich zu, und ich winkte zurück. Dann fuhr der Zug ab und nahm sie mit fort. Am nächsten Tag fragte ich Mama: »Wann kommt Qiqi zurück? Können wir Sonntag zusammen in den Beihai-Park gehen?«
Es wurde Sonntag, aber Qiqi kam nicht wieder. Auch nicht am Sonntag darauf. Sie war einfach so aus meinem Leben verschwunden. Jahre vergingen, ohne dass ich Qiqi wiedersah. Meine Erinnerungen an sie begannen mit der Zeit zu verblassen und in die Tiefen meines Bewusstseins abzusinken, doch ganz vergessen konnte ich sie nie.
In der Grundschule fand ich meinen besten Freund, den alle bloß »Blackie« nannten. Blackie wohnte im selben Wohnviertel wie ich. Sein Vater war Geschäftsmann und hatte es dem Vernehmen nach mit Immobilienspekulationen zu Geld gebracht. Blackie war nicht besonders gut in der Schule und musste oft von mir abschreiben. Um sich dafür zu revanchieren, lud er mich oft zum Spielen zu sich ein. Bei ihm zu Hause gab es einen echt coolen Computer und dazu einen riesengroßen LCD-Flachbildschirm, der beinahe die halbe Wand bedeckte. Darauf Autorennspiele und Beat’em-Ups zu spielen war das Größte. Leider erlaubten die Erwachsenen es uns nur sehr spärlich – bis in meinem dritten Schuljahr SARS ausbrach. In unserem Wohnviertel erkrankte jemand, was auch Blackie und mich zu potenziellen Virusträgern machte, die zu Hause in Quarantäne bleiben mussten. Wir durften nicht zur Schule und spielten stattdessen Computer bis zum Abwinken.
Die Erwachsenen waren während der monatelangen SARS-Epidemie jedoch sehr angespannt. Die Besorgnis stand ihnen in die Gesichter geschrieben, und allzu oft gaben sie lange Seufzer von sich. Sie hamsterten große Mengen Vorräte und verließen das Haus nur noch, wenn es wirklich nötig war. Und wenn sie rausgingen, dann nur mit dickem Mundschutz. Sie zwangen mich, täglich eine elend bittere »Medizin« zu trinken, von der es hieß, sie könne SARS vorbeugen, und verboten mir streng, auch nur einen Fuß außerhalb unseres Wohnviertels zu setzen.
Obwohl ich noch ein Kind war, bekam ich doch langsam etwas mehr von den Geschehnissen ringsum mit. Ich begriff, dass diese Krankheit für China und auch für den Rest der Welt eine Bedrohung darstellte, und bekam ebenfalls Angst. Zum ersten Mal im Leben spürte ich selbst diese Art Endzeitstimmung und allgegenwärtige Furcht. Einmal hörte ich zu, wie meine Eltern mit den Nachbarn die neuesten Gerüchte austauschten. Es gäbe draußen bereits zigtausend Todesfälle, hieß es. Als ich das hörte, ergriff mich echte Panik, und in der darauffolgenden Nacht plagten mich Albträume. Ich träumte, dass SARS alle Menschen um mich herum hinweggerafft hatte und ich der einzige noch lebende Mensch auf der ganzen Welt war. In einem anderen Traum nutzten die Amerikaner die SARS-Epidemie in China aus, um uns anzugreifen, überall fielen Bomben … Mehrmals schreckte ich schweißgebadet auf.
Natürlich passierte nichts dergleichen, und die geheimnisvolle Lungenkrankheit verschwand schließlich ebenso still und leise, wie sie gekommen war .
Doch das war ja auch erst der Anfang. Die Zukunft hielt noch viele, weitaus schrecklichere Dinge für meine Generation bereit. Jung und unwissend, wie wir waren, konnten wir sie uns bloß noch nicht einmal vorstellen.
2
Mein Traum von einer amerikanischen Invasion während der SARS-Epidemie rührte daher, dass amerikanische Truppen zu dieser Zeit den Irak und Afghanistan besetzt hielten. Die Fernsehnachrichten berichteten laufend darüber, dass sie einen gewissen »Saddam« gefangen hatten und die Suche nach einem Bin-Soundso weiter auf Hochtouren lief. Zum Abendessen lief auf allen Kanälen die Nachrichtensendung des Staatsfernsehens. Ich konnte Amerika nicht leiden. Wieso mussten die so hinterhältig und böse sein und ständig Kriege anzetteln? Und was hatten sie gegen diesen alten Mann, dass sie ihn einsperren, vor Gericht zerren und schließlich sogar hängen wollten? Dieser Saddam tat mir echt leid. Von da an freute ich mich insgeheim über jeden Rückschlag, den die Amerikaner einsteckten. Und derer sollten viele kommen.
Nicht lange nach SARS meldeten die Nachrichten, dass sich im Irak eine »Republikanergarde« oder so ähnlich eingeschaltet hatte. Sie befreite Saddam, und unter seiner Führung drängte sie die amerikanischen Invasoren immer weiter zurück. Am Ende gelang es ihnen tatsächlich, die USA aus dem Irak zu vertreiben.
In Afghanistan lehnten sich unterdessen die »Dalli-Ban« auf und verwickelten die Amis in einen tödlichen Guerillakrieg im Gebirge. Aber dieser Bin-Soundso war noch krasser. Er ersann einen Angriffsplan, dessen Ausführung die ganze Welt erschüttern ließ: Mit Passagierflugzeugen brachte er zwei Hochhaustürme in den USA zum Einsturz, woraufhin die Amerikaner es mit der Angst zu tun bekamen und umgehend ihre Truppen zurückholten. Ein Admiral der Volksbefreiungsarmee mit Namen Zhang Zhaozhong kommentierte, dies sei der Anfang vom Ende der amerikanischen Vormachtstellung in der Welt.
Zwei weitere Jahre vergingen, und Blackie und ich kamen gemeinsam in die Mittelschule, wenn auch nicht in dieselbe Klasse. Im ersten Jahr machte das Gerücht von einer uralten Prophezeiung die Runde, der zufolge das Ende der Welt bevorstand. Keine Ahnung, warum, aber diese Sorte von Legenden scheint echt beliebt zu sein. Vielleicht fühlen die Menschen sich grundsätzlich nie sicher auf dieser Erde. Wirtschaftlich ging es damals gerade allenthalben abwärts, und nach und nach drifteten immer mehr Regionen ins Chaos. Russland, Jugoslawien, Somalia … Die Amerikaner schreckten vor gar nichts mehr zurück und bombardierten allen Ernstes unsere Botschaft in Belgrad, was wütende Massenproteste nach sich zog. Studenten zogen zur Amerikanischen Vertretung in Peking und warfen die Scheiben ein.
Ich bekam diese Ereignisse allerdings eher am Rande mit, denn damals strahlte das Fernsehen gerade frisch Die Perlenprinzessin aus, eine kostümstarrende Seifenoper. Die ganze Klasse war total verrückt danach, und jeden Tag wurde diskutiert, wie es mit Xiaoyanzi und Prinz Yongqi wohl weiterging. Vom Weltgeschehen verstanden wir nicht viel, und so konnte es von uns aus auch gern bleiben .
Doch allmählich machten sich die Auswirkungen des globalen Verfalls zunehmend in unserem Alltag bemerkbar. Die Immobilienpreise befanden sich im freien Fall. Blackies Vater verspekulierte sich und stieg auf Aktien um, vergrößerte seine Verluste dadurch aber nur noch. Zwar sanken auch sonst die Preise, die Löhne gingen jedoch ebenfalls zurück. Da sich niemand mehr teure Elektronikwaren leisten konnte, wurde deren Produktion nach und nach eingestellt. Als der LCD-Fernseher von Blackies Eltern den Geist aufgab, waren Geräte dieser Art schon gar nicht mehr erhältlich, und so wurde als Ersatz ein klobiger Röhrenfernseher angeschafft, dessen Bild nicht nur um einiges kleiner war, sondern auch noch gewölbt, sodass alles ganz verzerrt aussah. Der Laptop meines Vaters verschwand – ich weiß nicht, wohin – und wurde durch einen Desktop-PC mit deutlich schlechterer Ausstattung ersetzt. Es hieß, die Rezession in den USA sei an allem schuld. Mit der Zeit waren auch immer mehr Webseiten nicht länger aufrufbar, und von den Computerspielen, die herauskamen, war eines schlechter als das andere, wodurch Computer gänzlich ihren Reiz verloren. Wir Teenager verbrachten unsere Zeit lieber in Videospielhallen, die jetzt überall eröffneten. Bei den Erwachsenen kam Qigong in Mode.
Aber das alles hatte zumindest einen großen Vorteil: Der Himmel über Peking wurde zusehends klarer. Als ich klein gewesen war, hatte immer eine graue Dunstglocke über der Stadt gehangen und einem das Atmen schwer gemacht. Doch mit der Zeit zeigte der Himmel immer häufiger seine ursprüngliche Farbe, bis er sich schließlich fast immer strahlend blau und mit kleinen weißen Wölkchen gesprenkelt über uns wölbte – solange nicht gerade ein Sandsturm durchzog .
In den Sommerferien nach dem zweiten Mittelschuljahr – also nach der achten Klasse – trat jemand von Neuem in mein Leben: Qiqi kam nach Peking und wohnte für ein paar Wochen bei uns. Sie hatte sich sehr verändert. Sie war bereits gut einen Meter sechzig groß, schlank und trug eine Brille. Ihre kindlichen Züge waren feinen, weichen Konturen gewichen. Sie hatte große, wache Augen und eine überaus sanfte, weibliche Ausstrahlung. Ich fand sie auch jetzt noch wunderschön.
Als sie mich sah, lächelte sie bloß verlegen. Sie rannte auch nicht mehr hinter mir her und rief »Bao-Gege!«, sondern nannte mich jetzt bei meinem vollen Namen. Ihrer Aussprache merkte man nicht mehr an, dass sie aus Peking kam, stattdessen sprach sie jetzt mit dem weichen, wohlklingenden Akzent Südchinas. Ich versuchte, mit ihr über die Olympischen Spiele zu plaudern und wie wir früher immer zusammen das Knuddelschaf geguckt hatten, aber zu meiner großen Enttäuschung meinte sie, sie könne sich an vieles von damals kaum noch erinnern.
Von meinen Eltern erfuhr ich, dass Qiqis Eltern mitten im Scheidungsprozess steckten. Sie hatten sich hoffnungslos zerstritten und konnten sich weder über das Sorgerecht noch das Geld einigen. Die Tochter störte da nur, deshalb wurde sie für eine Weile nach Peking abgeschoben. Qiqi war dementsprechend bedrückt. Man konnte ihr ansehen, was für eine schwere Zeit sie durchmachte. Am Abend ihrer Ankunft hörte ich sie in ihrem Zimmer sogar leise weinen. Ich wusste ihr nicht anders zu helfen, als mich mit ihr zusammen durch alle leckeren Imbisse der Umgebung zu futtern, gemeinsam die Stadt neu zu erkunden und sie mit so vielen Geschichten wie möglich abzulenken. Qiqi kam zwar aus Peking, aber sie war noch sehr klein gewesen, als sie wegzog. Sie hatte die Stadt seither nicht mehr besucht. Also fuhr ich den ganzen Sommer über mit ihr auf dem Fahrrad kreuz und quer durch Pekings breite Straßen und enge Gassen, bis wir restlos alles abgeklappert hatten.
Allmählich wurden wir wieder vertrauter miteinander. Jedoch nicht auf eine unzertrennliche Art wie Kleinkinder, sondern mit einem Element pubertärer Verschämtheit und Zuneigung dabei. Noch nicht Liebe, aber doch mehr als bloße Freundschaft.
Qiqi lernte damals auch meine Freunde kennen, allen voran Blackie, dessen Besuchsfrequenz sich deutlich steigerte, nachdem er erfuhr, dass wir ein Mädchen zu Besuch hatten. Einmal machten wir zu dritt eine Wanderung auf den Duftberg. Blackie reichte Qiqi beim Erklimmen der Steinstufen die Hand, wo es nur ging, war überhaupt sehr zuvorkommend und gab laufend Witze zum Besten. Die beiden schienen sich prächtig zu verstehen. So prächtig, dass ich mich ziemlich mies dabei fühlte. Mir wurde zum ersten Mal bewusst, dass ich meine Freundschaft mit Qiqi ungern mit anderen teilte, nicht mal mit Blackie.
Als die Sommerferien sich ihrem Ende näherten, musste Qiqi zurück nach Shanghai. Meine Eltern hatten am Tag ihrer Abreise zu arbeiten, daher begleitete ich sie zum Bahnhof. Irgendwie schafften wir beiden Teenager es, uns in den überfüllten Zug zu quetschen. Es blieb noch eine halbe Stunde bis zur Abfahrt. Ich nahm meinen Mut zusammen und zog das kleine rechteckige Päckchen aus dem Rucksack, das ich schon lange vorbereitet und verpackt hatte. Stotternd reichte ich es ihr: »Hier … Das … ein Geschenk für dich.«
»Oh! Was ist es denn?«, rief sie sichtlich überrascht.
»Ach, es ist nichts … Kannst es ruhig irgendwann später au fmachen, nicht je…« Ich hatte noch nicht ausgesprochen, da riss Qiqi schon flink das Geschenkpapier auf, und das dicke Mathematik-Übungsbuch für Mittelschüler, welches sich dahinter verbarg, kam zum Vorschein. Sie warf mir einen fragenden Blick zu.
»Du hast doch gesagt, dass du nicht so gut bist in Mathe, und da dachte ich, also … Ich fand das Buch sehr nützlich, vielleicht hilft es dir ja …« Anstatt mich ausreden zu lassen, brach Qiqi in schallendes Gelächter aus. Sie bog sich regelrecht vor Lachen. Ich kam mir vor wie der dümmste Mensch auf dem gesamten Planeten.
»Wer schenkt denn einem Mädchen so was!«, brachte sie prustend hervor und warf endlich einen beiläufigen Blick auf das Deckblatt. Ihr Lachen gefror, als sie das Puschkin-Gedicht las, das ich ihr hingeschrieben hatte:
Wenn das Leben dich betrügt,
Sei nicht traurig, nicht beklommen!
Bleib auch beim Schicksalsschlag vergnügt:
Ein bessrer Tag, glaub mir, wird kommen.
Das Herz: im Zukünftigen lebt’s;
Die Gegenwart kennt nur Beschwerden;
Doch schon im Nu ist sie verweht;
Und was vergeht, wird wieder werden.
Darunter hatte ich noch eine Widmung geschrieben: »Für Zhao Qi, damit Du Dich an die schönen Seiten des Lebens erinnerst. Sei fröhlich, liebe das Leben und bleib Deinen Idealen treu.« Wenn ich heute darüber nachdenke, hätte ich mir wohl kaum etwas Dämlicheres ausdenken können.
Qiqi presste das Buch fest an die Brust und schenkte mir ein strahlendes Lächeln. In ihren Augenwinkeln glitzerte es feucht.
3
Nach Qiqis Abreise kehrte erneut Ruhe in meinen Alltag ein. Doch es dauerte noch lange, bis sich auch die Wogen in mir wieder glätteten.
Bei ihrer Ankunft hatte Qiqi ein Buch dabei, das Blütezeit, Regenzeit hieß, ein Jugendroman, der damals bei pubertierenden Mädchen sehr angesagt war. Sie hatte den Einband zum Schutz sorgfältig mit Kalenderpapier umwickelt und mit einem Aufkleber versehen, auf dem sie in schöner, gleichmäßiger Handschrift den Titel vermerkt hatte. Aus Neugier hatte ich zwar mal einen Blick hineingeworfen, es jedoch für ziemlich uninteressant befunden und wieder beiseitegelegt. Aber als Qiqi uns verließ, vergaß sie es mitzunehmen. Irgendwie schien mir dieses Buch ein klein wenig von Qiqis Aura festzuhalten, daher nahm ich es an mich und versteckte es heimlich in der hintersten Ecke meines Schreibtischs, damit Mama nicht auf die Idee kam, es an sich zu nehmen. Ebenso heimlich holte ich es bisweilen hervor und las darin herum, bis ich es schließlich ganz durchhatte. Ich kam nicht umhin, mich und Qiqi mit den Figuren im komplexen Beziehungsgeflecht des Romans zu vergleichen, und fragte mich, welchen der Hauptfiguren wir wohl am meisten glichen. Einmal machte ich den Fehler, Blackie davon zu erzählen. Es fehlte nicht viel, und er hätte sich totgelacht.
Jungs lasen nun mal keine Mädchenromane. Aber das hieß nicht, dass wir mit den darin geschilderten Gefühlen nichts anfangen konnten. In der Mittelschule war Liebe das Thema schlechthin. Alle sammelten Liebesgedichte, sangen Pop-Balladen mit und klebten vor den Fernsehbildschirmen, sobald Die Legende der Adlerkrieger lief. Sternzeichen waren groß in Mode, und wir verbrachten unsere Zeit damit, die astrologische Kompatibilität bestimmter Mitschülerinnen und Mitschüler zu bestimmen.
Als ich einmal mit einem Mädchen namens Shen Qian zusammen zum Putzdienst eingeteilt war, erklärte irgendjemand uns zum Pärchen, woraufhin die ganze Klasse uns sofort damit aufzuziehen begann. Ich beteuerte, dass an diesem Gerücht nicht das Geringste dran sei, machte die Sache so aber natürlich nur noch schlimmer. Ich wusste keinen anderen Rat, als Shen Qian demonstrativ zu ignorieren, doch das wurde damit erklärt, dass bei »den beiden Frischvermählten« der »Haussegen« schief hing. Ich war mit der Situation eindeutig überfordert.
Am Ende war es Shen Qian, die mich aus der Klemme holte. Sie gab freimütig zu, dass sie in einen smarten älteren Jungen aus einer nahen Oberschule verliebt sei. Diese Enthüllung schlug so hohe Wellen, dass die albernen Gerüchte um mich und sie von ganz allein verstummten.
Shen Qians frühreife Schwärmerei versetzte die gesamte Schule in helle Aufregung. Es dauerte nicht lange, bis Lehrer und Eltern einschritten und dem Spuk ein Ende machten. Von da an wurde Shen Qian kühl und unnahbar und flüchtete sich in Bücher, die uns damals völlig abstrus und unverständlich erschienen. Sie las kontemplative Essaysammlungen über chinesische Kultur, obskure Philosophie und andere uns fremde Themen. Wir waren überzeugt, dass aus ihr einmal eine Schriftstellerin werden würde. Doch ihre Schulaufsätze waren den Lehrern zu unorthodox und wurden ein ums andere Mal zum Ziel vernichtender Kritik.
Diese Verwicklungen brachten Shen Qian und mich einander nicht näher, doch sie festigten meine Gefühle für Qiqi. Sie mochte vielleicht nicht als große Schönheit durchgehen, und außerdem wohnte sie weit weg in Shanghai, aber Qiqi war die Einzige, die mir etwas bedeutete. Leider lag nun halb China zwischen uns, und wir sahen uns nie. Nur wenn unsere Mütter telefonierten, erfuhr ich hin und wieder Neuigkeiten von ihr. Sie war nach der Scheidung bei ihrer Mutter geblieben, und dem Vernehmen nach hatten die beiden es nicht gerade leicht. Aber zum Glück ließ Qiqi sich nicht unterkriegen und zeigte in der Schule außerordentlich gute Leistungen. Ihr Ergebnis bei den Mittelschul-Abschlussprüfungen reichte für die Aufnahme an einer Eliteoberschule. Natürlich hatte ich die Mittelschule da ebenfalls schon abgeschlossen und bereitete mich auf den Schulwechsel vor.
Schon während meiner dreijährigen Mittelschulzeit hatte in der Partei ein Mann namens Deng Xiaoping seinen Aufstieg begonnen. Später wurde ihm ein Platz im Zentralkomitee zuteil, und obwohl Generalsekretär Jiang weiterhin offiziell den Posten des Parteivorsitzenden bekleidete, hatte Deng in Wirklichkeit bereits die Zügel in der Hand, munkelte man.
Deng war federführend bei der nun im ganzen Land vorangetriebenen Systemreform des Staatseigentums und stellte zudem eine Vielzahl von Theoremen auf. Irgendwas mit Sozialismus chinesischer Prägung und von weißen und schwarzen Katzen, die allesamt gut waren, solange sie nur Mäuse fingen. Eine Menge Leute nutzten die Gelegenheit und wurden über Nacht steinreich, doch es gab auch viele, die sich nicht einmal mehr Grundnahrungsmittel leisten konnten. Die Konjunktur insgesamt ließ nach, und die kleine Firma meines Vaters ging pleite. Im Zuge von Dengs Reformen fand er jedoch schnell Anstellung in einer staatseigenen Fabrik und damit eine »eiserne Reisschüssel«, dank derer wir zumindest nicht hungern mussten.
Im Vergleich mit dem Rest der Welt ging es China aber gar nicht mal so schlecht. Eine von Südostasien ausgehende Finanzkrise zog weltweit reihenweise andere Länder in Mitleidenschaft, hieß es. In Russland war die Wirtschaft komplett zusammengebrochen, sodass dort angeblich sogar Studentinnen auf den Strich gehen mussten, um zu überleben. Jugoslawien versank im Bürgerkrieg; in irgendeinem kleinen afrikanischen Staat ereignete sich ein Völkermord; obwohl sie ihre Truppen abgezogen hatten, verhängten die Amerikaner eine Blockade über den Irak …
All dies tangierte mein Leben natürlich so gut wie überhaupt nicht. Ich war weiter vollauf mit der Schule und den anstehenden Zulassungsprüfungen für die Uni beschäftigt. Und mit meiner hin und wieder aufkommenden Sehnsucht nach Qiqi.
Im ersten Jahr an der Oberschule kam es in Mode, »Brieffreundschaften« zu schließen, also sich per Brief mit wildfremden Leuten auszutauschen. Im Grunde unterschied sich das nicht groß von den Online-Freundschaften von früher, bloß hatte es etwas mehr literarisches Flair. Irgendwann hielt ich es nicht länger aus, nahm allen Mut zusammen und schrieb Qiqi unter Vorwand des gegenseitigen »Sprachaustauschs« einen auf Englisch verfassten Brief, in dem es vor Fehlern nur so wimmelte. Ich hätte ihn ihr gern per E-Mail geschickt, aber Computer waren mittlerweile weitestgehend aus dem Alltag verschwunden, und so blieben nur Tinte und Papier. Als ich den Umschlag in den Briefkasten eingeworfen hatte, begann ich augenblicklich, es zu bereuen. Ich kam mir mit einem Mal viel zu aufdringlich vor, doch es gab schon kein Zurück mehr.
Zwei Wochen – die mir wie Jahre vorkamen – verstrichen, doch dann erreichte mich tatsächlich eine Antwort von Qiqi! Bei ihr hatte sich der bilinguale Kindergarten offensichtlich besser bezahlt gemacht, denn ihr Englisch war meinem meilenweit voraus. Und ganz abgesehen vom Inhalt war ihre Handschrift ebenfalls um einiges ansehnlicher als meine, mit gleichmäßig fließenden Zeilen, wie bei einer Klavierpartitur. Mithilfe eines Wörterbuchs ging ich den Brief zigmal durch, bis ich ihn beinahe auswendig konnte. Mein Englischniveau fühlte sich schon gleich viel höher an.
Qiqis Brief war nicht sonderlich lang, nur etwas mehr als eine Seite. Sie schrieb, das Übungsbuch, das ich ihr geschenkt hatte, habe ihr sehr geholfen als es darum ging, sich für die Schwerpunktschule zu qualifizieren, sie sei mir sehr dankbar, et cetera et cetera … Zudem empfahl sie mir New Concept , ein System zum Englischlernen, das mir bestimmt sehr helfen würde, und erzählte noch ein wenig von ihrer Schule. Aber viel mehr freute ich mich über ein paar kurze Sätze ganz am Ende. Sie fragte mich, wie es denn an meiner Oberschule so sei und wie es Blackie gehe – ganz offensichtlich erwartete sie eine Antwort von mir !
Von da an blieben wir ohne das Zutun unserer Eltern in Kontakt. Wir schrieben uns regelmäßig Briefe auf Englisch, deren Inhalt zwar recht banal war – es ging hauptsächlich um Schule und unsere Gedanken über die eigene Zukunft –, aber für mich war es das höchste der Gefühle, mich überhaupt mit ihr austauschen zu können. Es war ein tolles Gefühl zu wissen, dass es jemanden gab, irgendwo am anderen Ende der Welt, der an einen dachte und sich für einen interessierte.
Qiqi erzählte mir, dass ihre Mutter erneut geheiratet hatte. Ihr Stiefvater brachte ein eigenes Kind mit in die Ehe und verhielt sich ihr gegenüber vollkommen gleichgültig. Sie hatte immer das Gefühl, nicht wirklich zur Familie zu gehören, und konnte es kaum erwarten, auf die Uni zu gehen, von zu Hause auszuziehen und ihr eigenes, unabhängiges Leben zu führen.
Ich schloss die Oberschule ohne größere Probleme ab und hatte bei den Universitäts-Zulassungsprüfungen ein gutes Händchen, sodass ich mir meine Uni selbst aussuchen konnte. Ich traute mich, rief Qiqi an und fragte, wo sie vorhatte zu studieren. Sie sagte, sie wolle weg aus Shanghai und habe sich für ein Anglistikstudium in Nanjing entschieden.
Ich zog in Erwägung, ebenfalls nach Nanjing zu gehen, zum einen, weil Qiqi dort sein würde, aber auch weil ich fand, das etwas Abstand zu meinen Eltern mir nicht schaden konnte. Ich freute mich ebenfalls darauf, mein Leben endlich selbst in die Hand zu nehmen. Meine Eltern waren jedoch strikt dagegen, und wir hatten einen riesigen Streit deswegen. Letztendlich musste ich mich wohl oder übel geschlagen geben und schrieb mich für Sinologie an der Beida ein, der Peking-Universität .
Blackie war auf eine Fachoberschule gegangen und hatte es nicht auf die Universität geschafft. Stattdessen begann er nach dem Abschluss, als Verkäufer in einem Warenhaus zu arbeiten. Beide waren wir fest davon überzeugt, dass uns eine strahlende Zukunft erwartete.
4
Auf die Uni zu gehen war wie eine Befreiung aus dem unfreiwilligen Mönchsdasein der Oberschule. Die Kontakte zum anderen Geschlecht waren entspannter und weniger reguliert. Zwar waren Liebeleien zwischen Studierenden offiziell nicht erwünscht, die Verantwortlichen drückten in dieser Hinsicht jedoch weitestgehend beide Augen zu. Überall sah man turtelnde Pärchen, erst recht in der für ihre romantische Verklärtheit bekannten Sinologischen Fakultät. Die charismatischeren Kommilitonen aus meinem Wohnheim lachten sich innerhalb kürzester Zeit reihenweise gut aussehende Freundinnen an, was ihnen natürlich massenweise neidische Blicke einbrachte.
Auch Shen Qian studierte an der Beida. Politikwissenschaft. Meine Kameraden von früher feixten, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis wir endlich zusammenfänden. Doch Shen Qian veröffentlichte schon bald ein selbstverfasstes Gedicht in der Unizeitung, das einen immensen Widerhall hervorrief und ihr sofort Zugang zu den Dichter- und Künstlerkreisen auf dem Campus verschaffte. Sie wurde zu einer der angesagtesten Persönlichkeiten der ganzen Uni, und bis auf ein paar sporadische Klassentreffen gab es zwischen uns so gut wie keine Berührungspunkte .
Auch nach dem Wechsel auf die Uni schrieben Qiqi und ich einander weiter Briefe, bloß brauchten wir unsere Korrespondenz nicht länger hinter einer Fremdsprache zu verstecken. Wir schrieben uns jede Woche, meist mehr als ein Dutzend Seiten. Wir tauschten uns über alle möglichen Dinge in unseren Leben aus, von interessanten über alberne bis hin zu trivialen. Wir mussten oft Zusatzporto zahlen.
Ich hätte diese letzte dünne Trennschicht gern durchbrochen, die wie Fensterpapier zwischen uns hing, doch jedes Mal, wenn ich kurz davor war, versagte mir der Mut.
Aber dann – das zweite Studienjahr hatte bereits begonnen – tauchte in einem von Qiqis Briefen aus dem Nichts plötzlich ein neuer, eindeutig männlicher Name auf. Sie erwähnte diesen Namen so beiläufig und ohne ihn weiter zu erläutern, dass es sich dabei um jemanden handeln musste, der längst ganz selbstverständlich Teil ihres Alltags war. Als ich nachfragte, wer denn dieser männliche Kommilitone sei, antwortete sie, es handle sich um ihren Klassensprecher, ein gut aussehender Typ, der fließend Englisch spreche und auch mit ihr in die Theater-AG gehe.
Beim Lesen des Briefs kam wieder dieses miese Gefühl in mir hoch. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, hätte am liebsten sofort geantwortet, brütete lange über einem leeren Briefbogen und brachte doch kein Wort zu Papier. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Ich klaubte mein Handy hervor und war schon im Begriff, sie anzurufen, da erst fiel mir ein, dass heutzutage niemand mehr ein Handy benutzte. China Mobile hatte schon vor langer Zeit den Betrieb eingestellt, und das Gerät in meiner Hand, das mein Vater mir zu meinem zehnten Geburtstag geschenkt hatte, war mittlerweile eine echte Antiquität .
Mir blieb nur das Münztelefon unten am Eingang, und ich musste die Pförtnerin in Qiqis Wohnheim anrufen, da alle Gebäude nur noch über einen Anschluss verfügten. Es war bereits Abend, und die alte Frau am anderen Ende der Leitung diskutierte lange mit mir herum, bevor sie sich endlich in Bewegung setzte, um Bescheid zu sagen. Wieder verging eine halbe Ewigkeit, dann hatte ich schließlich eine von Qiqis Mitbewohnerinnen am Apparat. Qiqi sei ausgegangen, erklärte sie mir. »Mit ihrem Freund.«
Ich warf den Hörer hin, rannte zum Bahnhof und kaufte ein Ticket für den Nachtzug nach Nanjing. Am nächsten Vormittag stand ich vor Qiqis Wohnheim.
Als ich sie sah, trug sie einen strahlend weißen Faltenrock und hatte ihr langes Haar zu einem Zopf geflochten. Leichtfüßig wie ein Vögelchen kam sie die Treppe herabgehüpft, von Kopf bis Fuß in goldenes Sonnenlicht getaucht.
Wir hatten einander zwar die ganze Zeit Briefe geschrieben und hin und wieder auch Fotos mitgeschickt, doch seit jenem Sommer im zweiten Mittelschuljahr waren wir uns nicht mehr von Angesicht zu Angesicht begegnet. Qiqi war inzwischen zu einer schlanken, anmutigen und vor jugendlicher Energie geradezu übersprudelnden jungen Frau geworden. Als sie mich sah, zeigte sie sich kaum überrascht, senkte bloß den Blick und schmunzelte unentwegt, während sie auf mich zulief, fast so, als hätte sie geahnt, dass ich auftauchen würde.
Am Nachmittag nahm Qiqi mich mit zum Mochou-See, wo wir ein kleines Boot mieteten und zur Mitte des wie ein großes Stück grüner Jade glatt und schimmernd daliegenden Gewässers ruderten .
Sie fragte mich, ob ich Tokyo Love Story gesehen hätte, eine japanische Fernsehserie, von der gerade alle schwärmten.
Ich wusste zwar, dass diese Serie extrem beliebt war, aber bei uns im Wohnheim gab es keinen Fernseher, und ich hatte lediglich zu Hause hier und da ein paar kurze Ausschnitte mitbekommen. Ansonsten wusste ich nur, was darüber in der Fernsehzeitung stand, doch ich konnte mir natürlich keine Blöße geben, also antwortete ich: »Teilweise, ja.«
»Aha! Und wen magst du am liebsten?«.
»Ach so, ähm … Ich mag natürlich Satomi«, versuchte ich mich durchzumogeln, obwohl ich mich kaum an einzelne Figuren erinnerte.
»Satomi?«, rief Qiqi erstaunt und schürzte abschätzig die Lippen: »Satomi kann ich nicht ausstehen! Was findest du denn an der?«
In meinem Kopf ratterte es. »Also, ähm … Satomi ist doch die Hauptrolle, richtig? Die immer so süß lächelt?«
»Quatsch! Die ist doch nicht die Hauptrolle! Die Hauptrolle heißt Rika Akana!«
»Aber … in der Zusammenfassung stand, dass Satomi die Sandkastenliebe der männlichen Hauptfigur ist und er sich deswegen zu ihr hingezogen fühlt … Das macht sie doch zur Hauptrolle, oder nicht?«
»Du bist echt lustig! Wie kommst du denn auf so was?«, kicherte Qiqi. Wenn sie lachte, bildeten sich auf ihrem Nasenrücken kleine Falten. Sie sah bezaubernd aus.
»Na ja, ich finde eben … wenn zwei Leute sich von Kindheit an kennen und mögen, dann gehören sie halt zusammen. So wie …« Ich stockte .
»Wie wer?«, fragte Qiqi mit schelmischem Grinsen.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich endlich den entscheidenden Satz hervorbrachte: »So wie … wie du und ich.«
Qiqi legte den Kopf schief und sah mich lange an. Dann schnaubte sie: »Ach, du spinnst doch!«, und gab mir eine Ohrfeige.
Es war eine sehr leichte Ohrfeige. Genau genommen war es weniger eine Ohrfeige als vielmehr ein sanftes Streicheln. Ihre zarten, weichen Finger glitten sacht über meine Wange, begleitet von einem merkwürdigen Kribbeln, so als stünden sie unter Strom. Mein Herz raste. Ich weiß nicht, wo ich den Mut hernahm, doch ich ergriff ihre Hand und hielt sie fest. Sie versuchte kurz, sie zurückzuziehen, doch dann ließ sie es geschehen. Ich stand auf und wollte sie umarmen, hatte jedoch völlig vergessen, dass wir uns in einem Boot befanden …
Qiqi stieß einen lauten Schrei aus, als das Boot kenterte und wir beide im See landeten.
Wir hatten noch immer ein dümmliches Grinsen auf den Gesichtern, als es uns wenig später gelang, wieder an Bord zu klettern. Von da an waren wir ein Paar.
Qiqi hatte, ohne zu zögern, eingewilligt. Später erzählte sie mir, dass der Klassensprecher ihr zwar tatsächlich Avancen gemacht, sie sich aber nie ernsthaft für ihn interessiert hatte. Sie hatte seinen Namen absichtlich in ihrem Brief erwähnt, um mich zu ärgern und dazu zu bringen, endlich Farbe zu bekennen. Womit sie nicht gerechnet hatte, war, dass ich auf der Stelle nach Nanjing aufbrechen würde. Als sie das sagte, spürte man neben ihrem Glück auch noch so etwas wie ein klein wenig Genugtuung .
Die nächsten Tage verbrachten wir damit, Hand in Hand zusammen all die Sehenswürdigkeiten Nanjings abzuklappern – den Xuanwu-See, den Qinhuai-Fluss, den Konfuzius-Tempel, das Sun-Yat-Sen-Mausoleum und viele mehr. Es war, als sei ich in einen Honigtopf gefallen, so zuckersüß fühlte sich alles mit ihr an. Ich schien gleichzeitig zu wachen und zu träumen.
In den folgenden Jahren sahen wir uns zwar sehr selten, und wenn, dann nur ganz kurz während der Semesterferien, aber uns verband ein nie abreißender Strom aus Briefen, und ungeachtet der Entfernung waren wir glücklich im Wissen um die Liebe des anderen.
Als meine Eltern von unserer Beziehung erfuhren, hatten sie erwartungsgemäß keine Bedenken, schließlich waren unsere Familien schon lange eng befreundet. Meine Mutter sah in Qiqi schon seit jeher ihre zukünftige Schwiegertochter. Nichts bereitete ihr größere Freude, als mir zu erzählen, wie sie und Qiqis Mutter uns einander schon während der Schwangerschaft scherzhaft »versprochen« hatten.
Wir machten Pläne für die Zeit nach dem Studium. Zunächst wollten wir uns in derselben Stadt Arbeit besorgen, dann würden wir heiraten.
5
Die gemeinsame Zukunft schien zum Greifen nah. Doch kaum einen Herzschlag später wurde all unser Glück in tausend Scherben zerschmettert.
Die internationale Großwetterlage war in den letzten Jahren immer angespannter und unvorhersehbarer geworden. Ein regelrechter Sturm hatte sich zusammengebraut. In Russland, der Ukraine und mehreren weiteren Staaten war die Wirtschaft komplett kollabiert, die Menschen dort lebten regelrecht von der Hand in den Mund. Der Unmut darüber brach sich schließlich Bahn, und unter Führung eines Mannes namens Gorbatschow schloss sich ein Block aus gut einem Dutzend Länder zu einem Bündnis mit der eher umständlichen Bezeichnung Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken zusammen, kurz »Sowjetunion« genannt, und proklamierte die Einführung eines sozialistischen Gesellschaftssystems. Das Bündnis gewann rasch an Stärke und stand bald in direkter Konkurrenz mit den USA, sodass sich die ohnehin schon angespannte Weltlage dramatisch zuspitzte. Die Sowjets zettelten eine Reihe von Revolutionen in Osteuropa an. Der Ostteil Deutschlands spaltete sich aufgrund eines übergroßen Wirtschaftsgefälles vom Westen ab und schloss sich der Sowjetunion an.
In China waren die planwirtschaftlichen Reformen unterdessen gescheitert. Mit der Konjunktur ging es stetig bergab, und mehr und mehr Menschen waren unzufrieden mit der Regierung. Die grassierende Korruption, ausufernde Bürokratie und autokratische Machtkonzentration in den Staatsorganen entging keinem von uns. Der Gedanke daran, wie sehr das prosperierende Land unserer Kindheit verkommen war, erfüllte jeden Studenten mit ohnmächtiger Wut. Unzählige Geschichten über die korrupte Führungselite, die sich schamlos selbst bereicherte, die Staatskassen leer räumte und, wo es nur ging, Vetternwirtschaft betrieb, machten die Runde. Auch wenn kaum jemand sagen konnte, wie viel davon tatsächlich zutraf, so waren sich bei den Debatten auf dem Campus in einem Punkt alle einig: Das Land befand sich in einer gefährlichen Schieflage. Was wir brauchen, sind politische Reformen! Wir brauchen echte Demokratie! Weg mit den Unfähigen an der Spitze! Es war zu dieser Zeit, dass ein zwanzig Jahre zuvor verfasstes politisches Manifest, das alle bloß »die Charta « nannten, in Studentenkreisen heimlich zu zirkulieren begann.
Kurz vor Abschluss meines Studiums eskalierten die Machtkämpfe innerhalb der Partei. Als Zhao Ziyang, der Anführer der Reformfraktion, all seiner Ämter enthoben und unter Hausarrest gestellt wurde, verbreitete sich diese Nachricht wie ein Lauffeuer. Die lange angestaute Wut des Volks brach sich endlich Bahn und schickte sich an, den Staat in seinen Grundfesten zu erschüttern.
In Peking gingen Studenten aller Hochschulen spontan auf die Straße und demonstrierten. Nach mehreren großen Protestzügen, bei denen sie lautstark ihrem Unmut Luft gemacht und ihren Forderungen Ausdruck verliehen hatten, besetzten sie schließlich, mit breiter Unterstützung aus der Bevölkerung, den größten Platz der Stadt und zogen so die Augen der gesamten Weltöffentlichkeit auf sich. In unzähligen provisorischen Zelten kampierten sie dort, und irgendjemand schaffte eine große aus Styropor gefertigte Freiheitsstatue herbei, die direkt gegenüber vom Tian’an-Men , dem Tor des Himmlischen Friedens, aufgestellt wurde.
Liu Xiaobo, einer der ursprünglichen Verfasser der »Charta« und inzwischen als Dozent an der Pädagogischen Hochschule tätig, brach wegen der Proteste seinen Forschungsaufenthalt in Übersee ab und kehrte nach China zurück. Als er auf dem Platz eine Erklärung verlas und in Hungerstreik trat, ging ein Beben durchs Land. Junge Menschen aus allen Provinzen Chinas strömten nach Peking, um sich der Bewegung anzuschließen, die von Tag zu Tag mehr Momentum zu bekommen schien. Weite Teile der Stadtbevölkerung schlossen sich den Protesten an oder solidarisierten sich anderweitig mit den Studenten. Blackie fuhr regelmäßig mit einem Lastenfahrrad zum Platz und brachte umsonst Nahrungsmittel und Wasser aus dem Kaufhaus, in dem er arbeitete. Um es mit seinen Worten zu sagen: »Esst euch satt, ruht euch aus, und macht die korrupten Wichser da oben fertig!«
Meine alte Klassenkameradin Shen Qian hatte schon vor Beginn der Proteste mit ihren radikalen literarischen Veröffentlichungen für Aufsehen gesorgt und war eine der glühendsten Anhängerinnen Liu Xiaobos. Aufgrund ihrer Bekanntheit wurde sie nach Beginn der Bewegung schnell zu einer ihrer Hauptstützen. Um die Studenten unserer Fakultät für die Sache zu gewinnen, organisierte sie eigens ein Treffen mit mir. Ich war sofort Feuer und Flamme und bereit, meinen Beitrag zu leisten, zum Wohle unseres Landes. Ich nahm allen Mut zusammen, stellte mich mitten ins »Dreieck«, dem zentralen Versammlungsort auf dem Campus, und hielt eine Brandrede gegen Filz und Amtsschimmel im offiziellen Studentenverband, in der ich alle Kommilitonen aufrief, sich von der politischen Einflussnahme durch die Regierung zu befreien und für eine demokratische, autonome Form studentischer Selbstverwaltung einzutreten. Die Rede kam erstaunlich gut an und erntete sogar den Applaus einiger umstehender Dozenten. Wenige Tage darauf wurde der Autonome Studentenverband gegründet. Shen Qian wurde in den ständigen Ausschuss gewählt, und da sie mich für ausreichend talentiert befand, holte sie mich dazu und steckte mich in die Kommunikationsabteilung.
Quasi über Nacht gehörte ich plötzlich zum Kern der Bewegung. Es war ein durch und durch berauschendes Gefühl.
Wir richteten auf dem Platz eine »Kommandozentrale« ein. Als hätten wir wirklich etwas zu melden, empfingen wir jeden Tag Vertreter von Studentendelegationen aus dem ganzen Land, gaben Deklarationen, Programme und offene Briefe heraus, veranstalteten hitzige Diskussionen und Debatten – es war, als läge die Zukunft der gesamten Nation in unseren Händen. Als sich die Nachricht rumsprach, dass auch die Brüder und Schwestern in Hongkong und Taiwan sich mit uns solidarisierten und eifrig Spenden sammelten, wurde unser Protest noch leidenschaftlicher. Wir lachten, weinten, brüllten, sangen und träumten. Und in unseren Träumen waren Jugend und Enthusiasmus genug, um dem Land eine komplett neue Zukunft zu geben.
Es war an einem schwül-heißen Tag Anfang Juni – ich war gerade dabei, in meinem behelfsmäßig aufgeschlagenen Zelt hinter der Kommandozentrale ein neues »Aktionsprogramm« zu verfassen –, da hörte ich draußen plötzlich Shen Qians Stimme: »Bao-shu, du hast Besuch! Sieh mal, wer gekommen ist!«
Als ich den Kopf aus dem Zelt steckte, stand in einem himmelblauen Sommerkleid Qiqi vor mir. Ein kleiner Rucksack hing über ihre Schulter, und sie sah aus, als hätte sie eine lange Reise hinter sich. Vor Überraschung und Freude verschlug es mir im ersten Moment die Sprache, was Shen Qian dazu nutzte, uns ein wenig aufzuziehen. Sie war Qiqi vorher noch nie begegnet. Shen Qian musterte sie von allen Seiten, schnalzte dann anerkennend mit der Zunge und feixte, was für eine große Ehre es sei, endlich Xie Bao-shus mysteriöse Freundin kennenzulernen. Qiqi lief vor Verlegenheit ganz rot an.
Als wir Shen Qian endlich losgeworden waren, zog ich Qiqi beiseite und überschüttete sie mit Fragen: »Seit wann bist du hier? Bist du mit der Delegation aus Nanjing gekommen? Das ist so toll, dass ihr auch mit dabei seid! Bei euch an der N.U. soll die Bewegung ja auch ziemlich abgehen! Wer ist denn euer Sprecher? Ich sitze gerade an einem neuen Aktionsprogramm, da wäre euer Input echt hilfreich …«
»Da komm ich durchs halbe Land gefahren, und das ist das Erste, was du mich fragst?« Qiqi tat beleidigt.
»Nein, natürlich nicht! Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie ich dich vermisst habe!«, rief ich fröhlich und zog sie an mich. Doch bald schon wurde ich wieder ernst: »Die Bewegung hat allerdings in letzter Zeit tatsächlich etwas an Schwung verloren. Es gibt bereits erste Risse zwischen den verschiedenen Fraktionen. Hungerstreik ist keine Langzeitstrategie. Wir versuchen deshalb, mit Liu Xiaobo das weitere Vorgehen zu besprechen … Komm, ich zeig dir das Programm, an dem ich gerade arbeite …«
»Bao-shu, ich war bei deinen Eltern«, unterbrach mich Qiqi. »Deine Mutter macht sich große Sorgen. Sie hat mich angefleht, dich nach Hause zu bringen …«
Ich starrte sie perplex an. Von einem Augenblick auf den nächsten riss es mich von meinem Höhenflug zurück auf die Erde. »Ach so«, murmelte ich.
»Du bist fast mit dem Studium fertig«, fuhr Qiqi mit sanfter Stimme fort, »bald werden die Arbeitsstellen zugeteilt. Du setzt deine gesamte Zukunft aufs Spiel, wenn du weiter bei diesen Leuten bleibst. Du weißt, dass ich recht habe. Komm mit mir nach Hause. Bitte.«
»Wie kannst du so was sagen, Qiqi?«, rief ich ebenso wütend wie enttäuscht. »Was soll das heißen, diese Leute ? Sieh dich doch um! Hier sind zigtausend Studenten! Millionen von Menschen unterstützen uns! In der ganzen Stadt, ach was sag ich: Im ganzen Land brodelt es! Es geht um die Zukunft unserer Nation! Wie sollen wir da zu Hause rumsitzen und in aller Seelenruhe für irgendwelche Prüfungen büffeln?«
»Aber was glaubt ihr denn, was ihr so erreicht? Gegen die Regierung könnt ihr doch nichts ausrichten! Die haben die Armee auf ihrer Seite! Außerdem ist der allergrößte Teil eurer Forderungen viel zu radikal – sie werden unmöglich darauf einge…«
»Was heißt hier ›unmöglich‹?«, rief ich wütend, »die Armee gehört dem Volk! Sie wird ihre Waffen niemals gegen die eigenen Leute richten! Wir hatten schon erste Unterredungen mit denen, mach dir keine Sorgen. Wir haben Informationen, nach denen die Parteibonzen es hinter den Kulissen langsam mit der Angst zu tun bekommen! Nicht mehr lange, und sie werden sich auf uns zubewegen, du wirst sehen …«
Qiqi seufzte frustriert, ließ sich auf den Boden plumpsen und sah mich betrübt an.
Wir diskutierten noch lange hin und her, ohne einer Lösung näher zu kommen. Am Ende blieb ich auf dem Platz und Qiqi bei mir. Am Abend teilten wir uns ein Zelt. Wir redeten bis tief in die Nacht: über die Zustände im Land und anderswo auf der Welt, die Zukunft der Bewegung und vieles mehr, doch unsere Meinungen lagen oft weit auseinander, und um noch mehr Streit zu vermeiden, lenkten wir das Gespräch schließlich auf andere Themen. Wir flüsterten uns, dicht aneinandergeschmiegt, zärtliche Worte zu und flüchteten uns in Erinnerungen an die Zeit, als wir beide noch Kinder gewesen waren.
Irgendwann konnte ich mein Verlangen nicht länger zurückhalten und küsste sie. Erst ihr Gesicht, dann ihre Lippen … Wir waren zwar schon seit mehreren Jahren ein Paar, und doch war es unser erster richtiger Kuss. Ihre Lippen waren weich, hatten in der trockenen Luft des Nordens jedoch kleine Risse bekommen. Ich konnte nicht anders, musste mehr von ihren armen Lippen kosten, sie immer weiter küssen, immer inniger, verlor jedes Gefühl für Zeit und Raum …
Später, tief in der Nacht, ist es dann passiert, ganz von allein.
Auf dem Platz lebten so viele junge Frauen und Männer auf engstem Raum zusammen, allesamt sprühend vor Energie und Tatendrang, da gehörten diese Dinge dazu, das war ein offenes Geheimnis. Ich hatte derartiges Verhalten zuvor stets verachtet, es als Sakrileg gegen die Bewegung empfunden. Doch als es mir selbst geschah, war ich der Versuchung hoffnungslos ausgeliefert. Es schien mit einem Mal ein ganz selbstverständlicher Bestandteil der Bewegung zu sein. Gut möglich, dass auch verdeckte Furcht mit im Spiel war. Wir hatten Angst, vor dem, was die Zukunft bereithielt, und ließen uns gehen, solange noch Zeit dazu blieb.
Unsere Bewegungen waren unbeholfen und schüchtern und noch ungelenker als sonst. Doch die unbändige Leidenschaft unserer Jugend nahm diesen an sich belächelnswerten Vorgang und formte daraus eine Erfahrung größter Intimität und Schönheit.
6
Am nächsten Tag erreichte uns die Nachricht, dass vor den Toren der Stadt Truppen aufmarschiert seien, um Peking unter Kriegsrecht zu stellen. Erste Verbände rückten bereits in die Stadt ein. Die Räumung des Platzes stand bevor.
In der Kommandozentrale wurde lange diskutiert, ob wir uns zurückziehen sollten, jedoch ohne eindeutiges Ergebnis. Liu Xiaobo sprach sich für den Rückzug aus, um sinnloses Blutvergießen zu vermeiden. Durch Qiqi hatte ich auch meine Haltung dazu verändert und unterstützte Lius Vorstoß, doch Chai Ling, der das »Oberkommando« oblag, schloss einen Rückzug kategorisch aus. Sie beschimpfte uns als »Schwächlinge« und forderte Widerstand bis aufs Blut. Ihre Entrüstung und ihr Zorn waren ansteckend, und Rückzugsbefürworter schafften es nicht, sich durchzusetzen. Am Ende blieb die Mehrheit der Demonstranten auf dem Platz.
Die darauffolgenden Nacht war ungewöhnlich heiß. Qiqi und ich konnten im Zelt nicht einschlafen, daher lagen wir miteinander tuschelnd draußen im Freien, wo wenigstens hin und wieder ein laues Lüftchen ging.
»Du hast recht«, sagte ich leise. »Chai Ling ist zu verbissen. Wenn sie so weitermacht, nimmt das kein gutes Ende. Ich spreche morgen noch mal mit Liu Xiaobo und sage ihm, dass wir nach Hause gehen.«
»Gut«, sagte Qiqi nur und legte den Kopf auf meine Schulter. Wenig später war sie eingeschlafen, und auch ich spürte, wie die Müdigkeit allmählich Besitz von mir ergriff .
Ich weiß nicht, wie viel Zeit verstrich, bis mich lautes Stimmengewirr ringsum aufschrecken ließ. Als ich die Augen aufschlug, blickte ich in den wolkenklaren sommerlichen Nachthimmel über uns. Mir war, als leuchteten die Myriaden von Sternen sehr intensiv. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass sämtliche Straßenlaternen auf dem Platz erloschen waren. Ringsum war es so finster, dass man die Hand nicht mehr vor Augen sah – deshalb wirkten die Sterne so ungewöhnlich hell. Gleichzeitig drangen aus allen Richtungen Schreie und Lautsprecherstimmen in mein Ohr. Irgendwas war passiert.
»Bao-shu! Hier seid ihr!« Ich sah noch verwirrt um mich, als jemand mit einer Taschenlampe auf mich zugerannt kam. Vom schwankenden Lichtkegel geblendet, kniff ich die Augen zusammen. Ein Schatten packte mich am Arm. Erst jetzt erkannte ich Shen Qian. Sie weinte. »Ihr müsst weg, schnell! Die Armee räumt den Platz!«
»Wie kann das sein? Wo ist Chai Ling? Sie hat doch das Kommando!«
»Die Schlampe ist als Erste abgehauen! Los, macht, dass ihr wegkommt! Ich muss noch Liu Xiaobo finden!«
Erst im Nachhinein erfuhr ich, dass in diesem Moment ein Großaufgebot der Militärpolizei mit Stahlknüppeln bewaffnet auf den Platz strömte und auf alles einprügelte, was ihnen begegnete, Menschen und Zelte niedertrampelte. Doch in der Dunkelheit konnten wir nichts davon sehen. Es herrschte einfach nur totales Chaos.
Mir fiel auch nichts Besseres ein, als Qiqi an der Hand zu packen und mit ihr in dieselbe Richtung zu rennen wie die Menschenmassen um uns herum, auf den Rand des Platzes zu. Doch da kamen plötzlich quer von der Seite ein paar völlig orientierungslose Studenten von außerhalb angesprintet. »Sie fahren mit Panzern über Menschen!«, hörte ich sie brüllen, bevor sie Qiqi und mich mit voller Wucht auseinanderstießen. Ich hörte Qiqi meinen Namen rufen und rief zurück, wollte zu ihr laufen, stolperte in der Hektik jedoch über die Reste eines zusammengefallenen Zelts. Ich stürzte, versuchte mich aufzurappeln, doch immer wieder traten Leute auf mich, und es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis ich mich wieder hochgekämpft hatte. Qiqi war nirgends mehr zu sehen. Hilflos rannte ich in die Richtung, aus der ich sie zum letzten Mal hatte rufen hören. Überall waren fliehende Menschen, aber keine Qiqi. Ich brüllte ihren Namen, so laut ich konnte, doch irgendjemand hatte begonnen, die »Internationale« anzustimmen, und mehr und mehr Studenten fielen ein. Ihr von Wut und Trauer getriebener Gesang übertönte meine Rufe. Das heillose Chaos der Menge zog mich mit sich fort.
Man hatte uns zwar gewaltsam vom Platz vertrieben, aber immerhin wurden bei der Räumung selbst keine Schusswaffen eingesetzt. An vielen anderen Orten in der Stadt kam es jedoch zu weitaus blutigeren Konfrontationen. Immer wieder waren Schüsse zu hören. Von einer vagen Hoffnung getrieben, rannte ich nach Hause, doch Qiqi war nicht dort aufgetaucht. Meine Eltern versuchten mich aufzuhalten, doch halb wahnsinnig vor Sorge riss ich mich los und rannte zurück ins Zentrum der Stadt.
Inzwischen hatte die Dämmerung eingesetzt. Unterwegs stieß ich vereinzelt auf Panzer und Soldatentrupps, doch was mich wirklich entsetzte, waren die vielen blutverschmierten Leichen, die die Straßen säumten, viele davon offensichtlich junge Studentinnen und Studenten. Es war, als liefe man über ein Schlachtfeld. Ich hatte ungeheure Angst, doch meine Angst, dass Qiqi etwas zugestoßen sein könnte, war noch um ein Vielfaches stärker. Ich suchte wie ein Verrückter nach ihr, ohne jeden Erfolg.
Gegen Mittag stieß ich schließlich auf einen Kommilitonen aus der Kommandozentrale, der mich zu einem geheimen Sammelpunkt brachte, wo ich die Gruppe um Shen Qian und Liu Xiaobo wiedertraf. Es gab zahlreiche Verwundete. Shen Qian war kreidebleich und zitterte unkontrolliert in Lius Armen.
Meine erste Frage galt Qiqi, alles andere konnte warten. Shen Qian gab ein lautes Wimmern von sich und brach schluchzend zusammen. Mir gefror das Herz.
Unter Tränen berichtete Shen Qian, was geschehen war: Qiqi sei während des Rückzugs zufällig zu ihnen gestoßen und hätte mit ihnen zusammen den Platz verlassen. An einer Kreuzung unweit des Platzes sei plötzlich ein bewaffneter Armeetrupp aufgetaucht. Ihnen war da noch nicht bewusst, wozu das Militär fähig war, deshalb ließen sie ihrer Wut freien Lauf und beschimpften die Soldaten wegen ihres brutalen Vorgehens. Da eröffneten diese plötzlich ohne jede Vorwarnung das Feuer. Viele Studenten gingen noch an Ort und Stelle zu Boden, bevor die anderen sich umdrehten und begannen, um ihr Leben zu rennen. Sie hatten sich bereits ein gutes Stück entfernt, da fiel Shen Qian auf einmal auf, dass Qiqi fehlte. Als sie sich umdrehte, sah sie Qiqi reglos in einer Blutlache liegen. Sie wollten ihr helfen, doch die Soldaten verfolgten sie, und es war einfach zu gefährlich. »Wir konnten nichts anderes tun, als weiterzurennen …« Gegen Ende versagte Shen Qian vor Tränen die Stimme .
Wie von Sinnen bedrängte ich sie, mir die Stelle zu nennen, wo es passiert war. Sie versuchten vergeblich, mich aufzuhalten. Ich rannte los wie ein Besessener.
An der besagten Kreuzung stand ein ausgebranntes Panzerfahrzeug am Straßenrand. Es qualmte noch, und in seinem Inneren konnte ich von Weitem die Umrisse eines bis zur Unkenntlichkeit verkohlten Soldaten erkennen. Auf der Straße ausgestreckt, lag rund ein halbes Dutzend Studenten im eigenen Blut. Ihr Anblick war kaum zu ertragen, doch Qiqi war nicht darunter. Einen Anflug von Übelkeit bekämpfend, suchte ich verzweifelt weiter, hoffte jedoch gleichzeitig, sie nicht zu finden.
Doch schließlich entdeckte ich hinter einem der Räder des Panzerwagens ihr himmelblaues Sommerkleid. Es war so mit Blut getränkt, dass es beinahe violett wirkte. Zwei nahezu unversehrte, weiße Beine lugten unter dem Saum des Kleids hervor, doch sie gingen über in ein loses Durcheinander aus Blut und Fleisch …
Zitternd machte ich ein paar Schritte darauf zu. Dicker, süßlicher Blutgeruch drang mir in die Nase. Ich schwankte. Alles ringsum begann zu verblassen, bis nur noch uferloses Schwarz mich umfing und die jämmerlichen Reste meines Bewusstseins unter sich begrub.
Als ich wieder zu mir kam, war es bereits dunkel geworden. In der Ferne erschallten noch immer hier und da vereinzelte Schüsse. Ein Trupp Soldaten lief keine zwei Meter weit entfernt an mir vorbei. Aller Wahrscheinlichkeit nach hielten sie mich für tot, denn sie beachteten mich nicht und liefen einfach weiter.
Wie betäubt blieb ich liegen. Einen kurzen Moment lang konnte ich mich nicht entsinnen, was geschehen war, doch dann brach die grausame Erinnerung mit voller Wucht über mich herein, und mit ihr ein Gefühl von Verzweiflung, das mich schier erdrückte.
Ich schaffte es nicht, Chai Ling die Schuld zu geben. Auch nicht den Studenten, die uns auseinandergerissen hatten. Nicht einmal den Soldaten. Denn ich wusste, in Wirklichkeit war ich allein für Qiqis Tod verantwortlich. Ich hatte nicht auf sie gehört.
Den Rest der Nacht erlebte ich in einer Art Trance, ohne wirklich zu reflektieren, was ich tat.
Ich wagte es nicht, Qiqi noch einmal anzusehen, und wandelte stattdessen wie ein Zombie ziellos durch die Stadt, wich weder den wahllos mordenden Soldaten aus noch den Horden von Plünderern. Mehr als einmal sah ich, wie vor meinen Augen Menschen von Kugeln getroffen zu Boden gingen oder anderweitig massakriert wurden, doch wie durch ein Wunder blieb ich unversehrt.
Die Welt hatte sich in einen einzigen gewaltigen Albtraum verwandelt, aus dem es kein Erwachen gab.
Als ich am nächsten Tag eine Panzerkolonne passierte, die gerade die Chang-An-Jie entlangfuhr, die Straße des Langen Friedens, machte ich plötzlich, ohne nachzudenken, einen großen Schritt und stellte mich vor aller Augen dem vordersten Panzer in den Weg. Sollte er mich ruhig totfahren, mir war in diesem Moment alles gleichgültig …
Doch der Panzer überfuhr mich nicht. Stattdessen kamen ein paar Polizisten in Zivil und schleppten mich fort. Ich wurde in eine winzige dunkle Kammer geschmissen und tagelang verhört. Als ich endlich wieder einigermaßen zur Besinnung kam, schilderte ich die Ereignisse, die zu meiner Verhaftung geführt hatten. Ich ging fest davon aus, dass mir, wenn nicht die Todesstrafe, dann doch mindestens eine jahrzehntelange Gefängnisstrafe drohte. Aber es machte sowieso keinen Unterschied mehr. An der Stelle, wo sich einmal mein Herz befunden hatte, war nur noch ein kleines Häufchen Asche übrig.
Doch wider Erwarten wurde ich nach ein paar Monaten Haft ohne Gerichtsverfahren freigelassen. Zur Strafe entzog man mir lediglich die Studienerlaubnis.
7
Als man mich entließ, hatte sich die Situation im Großen und Ganzen bereits wieder beruhigt. Die Regierung hatte die Bewegung zwar brutal unterdrückt, sich abgesehen davon jedoch erstaunlich tolerant gezeigt.
Jiang Zeming war abgesetzt worden, und wenngleich Deng Xiaoping auch weiterhin die Fäden in der Hand behielt, wurde ein Mann namens Zhao Ziyang zum neuen Parteisekretär ernannt. Neben ihm gelangte der prominente Reformer Hu Yaobang ebenfalls mit an die Regierung und setzte sich dafür ein, den Demonstranten gegenüber weitestgehend Milde walten und die Geschehnisse auf sich beruhen zu lassen. Selbst Anführer der Bewegung wie Liu Xiaobo kamen glimpflich davon. Man zog lediglich seinen Reisepass ein und ließ ihn sogar weiter an der Uni unterrichten.
Die Regierung erklärte, die Forderungen der Studenten seien berechtigt gewesen, allerdings hätten uns die international agierenden reaktionären Kräfte für ihre Zwecke missbraucht.
Dieselben reaktionären Kräfte, so hieß es, steckten auch hinter zahlreichen anderen Versuchen, das sozialistische Lager zu spalten, nicht bloß hier in China. In Osteuropa fachten sie weitere Unruhen an, mit dem Ziel, die Sowjetunion einzukreisen. Doch dieses Unterfangen des westlichen Lagers entpuppte sich als kolossaler Misserfolg. Nicht nur ging es der Sowjetunion prächtig – sie installierte in Tschechien, Polen und mehr als einem halben Dutzend weiter Staaten neue sozialistische Regime, die zu ihren Satellitenstaaten wurden. Gemeinsam gründeten sie den »Warschauer Pakt« und boten so dem bestehenden »Nordatlantikpakt« des Westens die Stirn. Zwischen den USA und der UdSSR herrschte fortan eine Art »kalter Krieg«.
Als ich aus dem Gefängnis nach Hause kam, wartete dort Qiqis Mutter auf mich. Sie schüttelte mich und wollte wissen, wo Qiqi sei. Sie wartete seit Monaten auf ein Lebenszeichen von ihr und war fast außer sich vor Sorge. Erst in Peking hatte sie erfahren, dass ich unter den Festgenommenen und somit unerreichbar war.
Ich fiel vor ihr auf die Knie. Weinend berichtete ich, dass Qiqi meinetwegen zu Tode gekommen war. Sie wollte mir zuerst nicht glauben, doch als sie begriff, dass ich die Wahrheit sagte, prügelte sie mit Händen und Füßen hysterisch auf mich ein, bis meine Eltern sie schließlich von mir wegzogen und sie unter lautem Wehklagen zusammensackte.
Qiqis Mutter hat mir nie vergeben. Auch den Kontakt zu meiner Familie brach sie ab, und obwohl ich später mehrmals nach Shanghai fuhr, weigerte sie sich, mich zu sehen. Selbst als ich hörte, dass sie in wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckte, und versuchte, ihr Geld zukommen zu lassen, kamen meine Briefe ungeöffnet wieder zurück.
Am Tag von Qiqis Tod hatte ich einen psychischen und emotionalen Zusammenbruch erlitten und völlig vergessen, mich um ihren Leichnam zu kümmern. Nach meiner Entlassung versuchte ich, ihre sterblichen Überreste ausfindig zu machen, um ihr ein anständiges Begräbnis zu ermöglichen, doch es war längst zu spät. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte man sie zusammen mit den anderen unbekannten Toten verbrannt.
Eine lebenslustige junge Frau, eben erst in der Welt angekommen, war von einem Tag auf den anderen wieder verschwunden. Einfach so, ohne jede Spur. Als hätte sie nie existiert.
Nein, einige wenige Spuren gab es doch. Oder vielmehr Narben. In einer Hosentasche fand ich eine violette Haarspange von ihr. Qiqi hatte sie in jener Nacht im Zelt abgenommen und aus irgendeinem Grund in meiner Tasche verstaut. Es war mein letztes, bluttriefendes Andenken an uns.
Ich suchte alles zusammen, was mit Qiqi in Verbindung stand: die Haarspange, ihre Briefe und die vielen kleinen Geschenke, die wir ausgetauscht hatten, die wenigen gemeinsamen Fotos von uns, die es gab, sowie ihr Exemplar von Blütezeit, Regenzeit aus der Mittelschule … Ich breitete diese Gegenstände auf meinem Schreibtisch aus und verbrachte jeden Tag viele Stunden damit, sie zu betrachten und mein Gedächtnis nach Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit Qiqi zu durchforsten, so als würde sie dadurch wieder lebendig.
Mehr als ein halbes Jahr brachte ich so zu, gefangen in einer Mischung aus Gedankenverlorenheit und Selbstverleugnung. Heute weiß ich, dass ich in dieser Zeit nicht ganz zurechnungsfähig war.
Am letzten Tag des chinesischen Mondkalenders im darauffolgenden Jahr, als wir zum traditionellen Neujahrsessen beisammensaßen, brach meine Mutter in Tränen aus. Sie könne es nicht länger ertragen zuzusehen, wie ich zu nichts anderem fähig sei, als mich in meinen Erinnerungen zu verlieren. Sie flehte mich an, das Vergangene ruhen zu lassen und mich um mein Leben im Hier und Jetzt zu kümmern.
An jenem Abend saß ich lange reglos vor meinem Tisch. Dann fasste ich einen Entschluss. Ich sammelte behutsam all die Gegenstände ein und verstaute sie sorgfältig ganz unten in einer Kiste. Ich hütete diese Kiste fortan mit größter Sorgfalt, öffnete sie jedoch nur sehr selten. Das Leben musste weitergehen. Ich mochte den alles zerreißenden Schmerz und die lähmenden Schuldgefühle, die darin schlummerten, nicht noch einmal durchleiden.
Die Universität hatte mich zwar ausgeschlossen, doch angesichts der versöhnlichen Politik des neuen Parteisekretärs war man dort nicht sehr nachtragend. Nicht wenige Dozenten meiner Fakultät empfanden Mitleid für mich, und sobald die internen Auflagen wieder gelockert wurden, bekam ich dank eines administrativen Schlupflochs immerhin nachträglich mein Diplom.
Meine Aussichten, eine Anstellung zu finden, waren natürlich dennoch gleich null. In meiner Jugend hatte es noch solche Dinge wie Berufsbörsen für Hochschulabsolventen und dergleichen gegeben, aber im Zuge der Reformen teilte seit einigen Jahren der Staat alle Arbeitsstellen zu. Mit einer unsauberen Vergangenheit wie der meinen fiel man automatisch durchs System. Auf diesem Weg an Arbeit zu kommen war aussichtslos.
Blackie hatte wegen seiner Beteiligung an den Protesten ebenfalls seinen Job im staatseigenen Kaufhaus verloren. Mal wieder vom Schicksal zusammengeschweißt, kamen wir überein, gemeinsam »abzutauchen«, wie man damals sagte, und als fliegende Händler unser Glück zu versuchen. Zhao Ziyang hatte damals gerade begonnen, schrittweise ein System staatlich gesteuerter Warenpreise einzuführen, was eine massive Inflation und landesweite Hamsterkäufe zur Folge hatte. Leidtragende waren die einfachen Leute, denn viele Gebrauchsartikel waren seither chronisch knapp. Selbst Lebensmittel und Kleidung wurden rationiert und waren nur noch mit speziellen Konsummarken erhältlich. Wenn man es schaffte, zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Waren zu organisieren, ließ sich damit ohne Frage ordentlich Gewinn machen.
Ich beschloss, gemeinsam mit Blackie nach Guangdong zu gehen. Meinen Eltern war nicht sehr wohl bei dem Gedanken, aber es war immer noch besser, als mich weiter untätig rumsitzen zu sehen. Sie klaubten ihre über Jahre hinweg mühevoll angesparten Rücklagen zusammen und gaben sie mir als Startkapital mit auf den Weg.
Die Zeit war reich an Gelegenheiten, und wir kamen bald darauf mit einer Ladung T-Shirts nach Peking zurück. Sie fanden reißenden Absatz. Wir holten nicht nur unsere Kosten wieder rein, sondern machten einige Zehntausend Yuan Gewinn.
Eh wir’s uns versahen, waren wir zu »Privat-Profitlern« geworden .
Zusammen kamen Blackie und ich viel im Land herum. Es gab Zeiten, in denen wir uns eine goldene Nase verdienten, und solche, in denen wir von der Hand in den Mund lebten. Aber wir schlugen uns durch.
Diese Jahre als fliegender Händler veränderten meinen Blick auf die Gesellschaft. Ich begriff jetzt, wie naiv wir als Studenten gewesen waren. China war ein unvorstellbar schwerer Güterzug, beladen mit viel zu viel Geschichte und viel zu großen Altlasten. Ein Haufen Parolen skandierender Studenten brachte das geballte Gewicht der Verhältnisse so schnell nicht ins Rollen. Eine Antwort auf die Frage, was sonst dieses Land verändern sollte, hatte ich jedoch nicht. Ich spürte lediglich, dass sich die Situation nur oberflächlich wieder beruhigt hatte. Die Leute gingen ihrem normalen Alltag nach, aßen und tranken, lebten und liebten, als wäre nichts gewesen, doch darunter, im Dunklen, brodelte es. Verschiedenste gesellschaftliche Kräfte rangen miteinander um Macht und Einfluss. Im Verborgenen bildete sich ein gewaltiger Mahlstrom, der China mitzureißen drohte. Gut möglich, dass er uns auf einen Abgrund zuzog, den niemand sich gewünscht hatte, aber kein Mensch und keine Fraktion allein bestimmten diesen Prozess. Die Geschichte lässt sich nicht steuern. Wir sind alle gefangen in ihrem Strudel, ob wir wollen oder nicht.
Zweieinhalb Jahre vergingen. Ich war gerade in Guangzhou, um einzukaufen, da begegnete mir auf der Straße aus heiterem Himmel Shen Qian. Nach Ende der Bewegung hatte ich Abstand von den Künstlerkreisen genommen und auch sie nur noch ein paar Mal gesehen. Ich hatte gehört, dass sie sich später auf eine Affäre mit Liu Xiaobo eingelassen hatte. Liu war bereits verheiratet, aber in ihrer Verliebtheit hatte Shen Qian bereitwillig die Rolle der Mätresse in Kauf genommen. Soweit ich informiert war, kam es zu einigen äußerst unschönen Szenen, aber mein letzter Stand war, dass Liu Xiaobo sich schließlich scheiden ließ, und ich war davon ausgegangen, dass die Hochzeit mit Shen Qian ausgemachte Sache war. Aber was wollte sie dann hier unten, ganz im Süden des Landes?
Es kommt nicht alle Tage vor, dass man in der Ferne zufällig alte Bekannte trifft. Ihr Anblick weckte Erinnerungen an Qiqi, und einen Moment lang wurde mir die Kehle ganz eng. Shen Qian erzählte, dass sie eben erst in Guangzhou angekommen war. Eigentlich hatte eine alte Studienfreundin sie bei sich aufnehmen wollen, aber jetzt war diese mit einem Mal unauffindbar und Shen Qian dementsprechend ratlos. Ich versprach, ihr bei der Suche nach einer Unterkunft behilflich zu sein. Aber zuerst lud ich sie zum Essen ein, um sie gebührend willkommen zu heißen.
Wir redeten über alte Zeiten, mieden jedoch beide die Geschehnisse damals auf dem Platz. Nach dem dritten Glas Schnaps begann Shen Qian sichtlich angetrunken, mir ihr Leid zu klagen. Liu Xiaobo habe es nie ernst gemeint mit ihr. Das Schwein habe sie bloß ins Bett kriegen wollen, ihr die Scheidung versprochen und dass er danach zu ihr kommen würde, bloß um dann gleich dem nächsten jungen Ding an die Wäsche zu gehen. Es habe gewaltig gekracht deswegen, aber jetzt sei sie ein für alle Mal fertig mit ihm – während Shen Qian erzählte, nahm sie einen Schluck nach dem nächsten, direkt aus der Flasche. Sie war nicht mehr zu stoppen. Als sie lauthals zu singen anfing und die anderen Gäste uns missfallende Blicke zuwarfen, ließ ich schnell die Rechnung kommen und brachte sie nach draußen .
Shen Qian war sternhagelvoll und konnte kaum noch geradeaus laufen, sodass ich sie stützen musste. Da sie keine Bleibe hatte, wusste ich keinen anderen Rat, als sie mit zu mir zu nehmen, wo ich sie in mein Bett legte und selbst mit dem Boden vorliebnahm. In jener Nacht ist nichts zwischen uns passiert.
Am nächsten Tag musste ich früh los, um Waren zu sichten. Ich hatte keine Zeit zu warten, bis Shen Qian ausgeschlafen hatte, und rechnete nicht damit, dass sie noch da sein würde, wenn ich wiederkam. Doch als ich abends mein schäbiges kleines Apartment betrat, fand ich es mit einem Mal sauber und aufgeräumt vor. Meine Sachen waren ordentlich zusammengelegt, den Tisch zierte eine neue Tischdecke, und Shen Qian kam soeben mit einem dampfenden Teller Tomaten-Rührei in den Händen aus der winzigen Küche. Als sie mich sah, schlug sie die Augen nieder und lächelte verschämt …
In diesem Moment wusste ich, dass mir ein neues Kapitel im Leben bevorstand.
8
Shen Qian hatte keinen anderen Ort, an den sie hinkonnte, also nahm ich sie ganz selbstverständlich bei mir auf. Ihre Anwesenheit verlieh meinem kühlen, winzigen Ein-Zimmer-Apartment ein Gefühl von Zuhause, wie ich es schon lange nicht mehr gespürt hatte. Die Vergangenheit hatte uns beide schwer gezeichnet, und die Gesellschaft des anderen spendete zumindest ein klein wenig Wärme.
Blackie hatte vor Kurzem geheiratet, und als er hörte, dass Shen Qian bei mir eingezogen war, freute er sich ungemein für mich. Shen Qian bekam den Spitznamen »Frau Xie in spe« verliehen, und da sie keine Arbeit fand, half sie eben, wo sie konnte, bei unseren Geschäften mit. Sie hatte sich ohnehin ziemlich verändert sei ihrer Jugend. Nach all den herben Enttäuschungen, die sie hinter sich hatte, wollte sie von Kunst, Revolution und Träumerei nichts mehr wissen. Stattdessen zeigte sie sich von einer sanften, weiblichen Seite, mit einem ausgeprägtem Familiensinn. Das entsprach wahrscheinlich ohnehin eher ihrer wahren Natur, denke ich.
Zwei Jahre vergingen, dann kam meine Mutter mich in Guangzhou besuchen und traf dabei unweigerlich auch auf Shen Qian. Zwar hatten wir nicht geplant, ihr unser Verhältnis zu offenbaren, aber weiter verheimlichen ließ es sich auch nicht wirklich. Meine Mutter hatte anfangs einige Bedenken, was Shen Qian betraf, aber nachdem die beiden sich besser kennengelernt hatten, akzeptierte sie auch diese Schwiegertochter. Allerdings drängte sie auf eine baldige Hochzeit. Das gesellschaftliche Klima wurde seit einiger Zeit spürbar konservativer, und außerdem waren wir altersmäßig ohnehin spät dran.
Also fuhren wir eben nach Peking, ließen uns beurkunden und veranstalteten eine kleine Hochzeitsfeier. Es kamen auch einige unserer alten Schulkameraden, und da sie nur einen kleinen Teil unserer Geschichte kannten, scherzten sie ausgiebig über ihre vermeintlich prophetischen Fähigkeiten: Sie hätten ja immer schon gewusst, dass aus uns mal ein Paar werden würde.
Im Jahr darauf brachte Shen Qian einen Sohn zur Welt, den wir liebevoll Xiao-bao nannten, kleiner Schatz . Die Wunden der Vergangenheit heilten nach und nach, und auch wenn unser Leben vielleicht nicht als Musterbeispiel für häusliches Glück durchging, so gab es durchaus Anflüge von Wärme und Geborgenheit.
Allerdings trieb die Regierung in Peking die Reform des Wirtschaftssystems unbeirrt weiter voran, und wir näherten uns schrittweise der Planwirtschaft. Ein sogenannter »zweigleisiger Preisbildungsmechanismus« wurde eingeführt, was letztlich bedeutete, dass es zwar staatlich festgesetzte Preise gab, die Marktpreise davon aber zuweilen stark abwichen. Wer über gute Beziehungen ins System verfügte, konnte über offizielle Kanäle extrem günstig einkaufen und sich an der Differenz dumm und dämlich verdienen. Private Kleinstunternehmer wie Blackie und ich hatten dabei das Nachsehen. Die Geschäfte liefen immer schlechter, und als wir nach langer Anbahnung endlich eine Ladung Farbfernseher ergatterten, waren uns die »Offizen« längst zuvorgekommen. Wir konnten die Geräte nur noch billig verscherbeln, bekamen nicht einmal unsere Kosten wieder rein und blieben dazu noch auf einem Haufen Schulden sitzen. Uns blieb keine andere Wahl, als den Laden dichtzumachen und uns nach Peking zu verdrücken.
Blackies Onkel war Schichtführer in einer Fabrik und besorgte ihm beim werkseigenen Fuhrpark einen Job als Fahrer. Mit kleinen Lieferjobs konnte er sich unter der Hand noch etwas dazuverdienen, und sein Einkommen war gar nicht so übel.
Ich hingegen stand überall vor verschlossenen Türen.
Die Jahre als fliegender Händler hatten mich ausgelaugt. Auch deswegen kam ich auf die Idee, mich für ein weiterführendes Studium zu bewerben und eine akademische Laufbahn einzuschlagen .
Als Absolvent der Peking-Universität machte ich mir anfangs wegen der Auswahlprüfungen keine großen Sorgen, musste allerdings bald feststellen, dass meine letzte Klausur schon verdammt lange her war und ich große Mühe hatte, an meine früheren Leistungen anzuknüpfen.
Ich fiel zwei Jahre in Folge durch.
Das Kind wurde immer größer, und das bisschen Geld, das wir beiseitegelegt hatten, neigte sich dem Ende zu. Wir mussten an allen Ecken sparen und kamen nur mithilfe meiner Eltern gerade so über die Runden. Shen Qian fand Arbeit in einem Zeitungsverlag und bekam immerhin ein bescheidenes Festgehalt, doch meine vermeintliche Untätigkeit war ihr ein Dorn im Auge, und ganz allgemein ließ sie kaum noch ein gutes Haar an mir: Einen aufstrebenden Unternehmer habe sie damals in mir gesehen, dabei sei ich im Grunde doch nie mehr gewesen als ein bettelarmer Student – bloß einer, der nicht mal seine Aufnahmeprüfungen schaffte. »Unsere Volleyballerinnen sind drei Mal in Folge Weltmeister geworden! Und du? Du gibst wohl nicht auf, bevor du nicht auch die dritte Prüfung vergeigt hast!«
Wenn ich diese gestandene Hausfrau so vor mir aufgebaut sah und ihren endlosen Schimpftiraden lauschte, fragte ich mich oft, was wohl aus der glühenden Lyrikerin geworden war, die mit ihren hochfliegenden Gedichten einst die ganze Beida in ihren Bann gezogen hatte …
Ich wusste, sie konnte nichts dafür. Es war das Leben mit seinen allgegenwärtigen Reibungskräften, das uns zu dem gemacht hatte, was wir waren. Die Welt war nun mal kein Märchen und das Leben kein Abenteuerroman. Und wenn doch, dann spielten wir darin definitiv nicht die Hauptrolle. Egal, wie groß unsere Träume und Ambitionen einmal gewesen sein mochten, am Ende hatten wir nicht viel mehr erreicht, als zu überleben.
Diese Jahre nahmen mich ziemlich mit, und um auf andere Gedanken zu kommen, flüchtete ich mich in Bücher.
Anfangs zog es mich zum Wuxia-Genre mit seinen legendären Helden, großen Gefühlen und exotischen Kampfkünsten. Im Fernsehen lief damals gerade eine Hongkonger Neuverfilmung von Die Legende der Adlerkrieger an und schlug ein wie eine Bombe. Sie gefiel mir sogar noch besser als die alte Version von Zhang Jizhong aus meiner Kindheit, obwohl sie eindeutig mit einem kleineren Budget arbeiten musste. In der Stadtbibliothek lieh ich mir alles von Jin Yong, Gu Long und Liang Yusheng, was ich kriegen konnte. Ich hätte auch gern noch die Bücher von Huang Yi mitgenommen, aber leider ließ sich nichts von ihm auftreiben. Unser Sohn war inzwischen schon etwas älter, und Shen Qian fand es überhaupt nicht gut, wenn er den ganzen Tag mit mir vor dem Fernseher hockte und im Duett mit den Titelhelden die »Achtzehnfache Drachentöterfaust« einstudierte. Sie wollte nicht, dass ich das Kind so schlechten Einflüssen aussetzte, also wechselte ich gezwungenermaßen das Genre.
Science-Fiction war damals gerade groß im Kommen. Ye Yonglies Kleverchens Reise in die Zukunft hatte sich bereits millionenfach verkauft, und Im Sternbild des Schützen von Zheng Wenguang ging ebenfalls weg wie warme Dampfbrötchen. Langsam, aber sicher zog diese Lektüre mich in ihren Bann. Sie ließ mich der Schwere des Alltags entkommen und spendete mir ein bescheidenes, von allem Weltlichen losgelöstes Vergnügen. Leider gab es kaum chinesische Science-Fiction, und die Zahl der Übersetzungen hielt sich ebenfalls in Grenzen, sodass ich innerhalb kürzester Zeit mit allem durch war.
Das Lesen allein befriedigte mich da aber ohnehin schon nicht mehr, und in einem Anfall unbändiger Inspiration schrieb ich selbst eine Geschichte: Kleverchens Reise durch den Kosmos , eine Fortsetzung seiner Reise in die Zukunft, die zunächst nur unter Freunden und Bekannten herumgereicht wurde, bevor sie einem überaus begeisterungsfähigen Studenten mit Namen Yao Haijun in die Hände fiel, der mich mit dem Autor selbst in Verbindung setzte, um dessen Erlaubnis einzuholen. Wider Erwarten erteilte er nicht nur seinen Segen, sondern empfahl mein Werk sogar einem Verlag, der es auch tatsächlich veröffentlichte.
In den einschlägigen Kreisen genoss ich fortan ein wenig bescheidenen Ruhm. Jemand bezeichnete mich gar als »das neue Sci-Fi-Wunderkind«. Derart angespornt, erblickte kurz darauf mein nächstes Werk das Licht der Öffentlichkeit: Kleverchens Reise durch den Körper. Ich wollte damit bloß ein wenig Wissen über die menschliche Biologie vermitteln, doch stattdessen rief es einen Sturm der Entrüstung hervor. Ich könne nichts als abschreiben, meinten die einen. Mein Werk verherrliche Sex und Gewalt und besudele das Ansehen der chinesischen Science-Fiction, meinten andere. Und wieder andere bezichtigten mich, eine liberale, kapitalistische Gesinnung zu vertreten und mit meinen Romanen gegen die Partei zu arbeiten …
In der Gesellschaft rumorte es damals. Allenthalben flammten ideologische Grabenkämpfe auf, und es gab vereinzelt sogar wieder Studentenbewegungen. Die Zentralregierung nutzte die Atmosphäre für eine ihrer Säuberungsaktionen und startete eine Kampagne »gegen geistige Verunreinigung« – in deren Schusslinie ich geriet. Es galt, ein Exempel zu statuieren, und so wurde mein Werk zur Zielscheibe schärfster Kritik. Glücklicherweise fuhr die Regierung die Kampagne wenig später schon wieder herunter, da sie aus dem Ruder zu laufen drohte, und ich kam ohne formelle Bestrafung davon. An weitere Veröffentlichungen war jedoch nicht mehr zu denken, und so begrub ich meine Ambitionen und konzentrierte mich wieder ganz auf die nächste Aufnahmeprüfung.
Erst später erfuhr ich, was für ein gewaltiges Glück ich gehabt hatte. Zeitgleich mit den geistigen Säuberungen hatte auch eine »Kampagne der harten Hand« begonnen, die sich durch alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zog und immer größere Exzesse hervorbrachte. Schon beim kleinsten Taschendiebstahl konnte man an die Wand gestellt werden, und selbst harmlose Tanzabende galten auf einmal als sittenwidrig. Liu Xiaobo wurden seine Frauengeschichten zum Verhängnis. Er wurde als »asoziales Element« an die Wand gestellt und erschossen, was Shen Qian über Wochen sehr schwer mitnahm.
Als die Kampagne auslief, war das gesellschaftliche Klima mit einem Ruck erzkonservativ geworden. Dinge, die früher niemanden interessiert hätten, waren mit einem Mal unter Strafe gestellt: Zusammenleben vor der Ehe, Küssen in der Öffentlichkeit, freizügige Kleidung, um nur ein paar zu nennen. Angesichts dieses Kulturwandels ließ ich die Finger von allem, was im Entferntesten als sensibel angesehen werden könnte, und hängte meine Autorenkarriere an den Nagel.
9
Glück und Unglück gesellen sich gern. An diesem Spruch ist tatsächlich etwas dran. Meine Schreibversuche hatten einem renommierten Literaturprofessor an der Uni sehr zugesagt. Nachdem ich, im dritten Anlauf, endlich die Zulassungsprüfung bestand, nahm er mich zu sich, und ich kehrte zurück ins Akademikerdasein.
Auf seine Anregung hin begann ich, mich mit der existenzialistischen Philosophie Jean-Paul Sartres zu befassen, die damals sehr populär war. Zwar war ich damit beileibe nicht der Einzige, doch der Großteil der Arbeiten über ihn zeugten von mangelndem Verständnis seiner Ideen.
Nach Jahren nutzlosen Rumsitzens stürzte ich mich voller Begeisterung ins Lernen. Um mich dem Thema besser zu nähern, lernte ich Französisch, las viele der Quellen im Original und veröffentlichte eine Reihe von Fachaufsätzen, die durchweg sehr gut aufgenommen wurden.
Mein Fleiß wurde belohnt: Auf Empfehlung meines Mentors wurde mir eine äußerst seltene Ehre zuteil: ein staatlich finanzierter Forschungsaufenthalt an einer amerikanischen Eliteuniversität.
Zum ersten und letzten Mal in meinem Leben verließ ich China und begab mich in jenes Land jenseits des Pazifik, das ich zugleich hasste und bewunderte. Die Universität befand sich in New York City, der pulsierendsten Metropole der Welt. Als Kind hatte ich einen Haufen Filme gesehen, die dort spielten: Ein Pekinger in New York , Godzilla und, und, und. Ich hatte schon immer davon geträumt, einmal dorthin zu fahren. Als ich mich der Stadt näherte, kam ich aus dem Staunen kaum noch heraus: all die Autobahnen, Hochstraßen, Wolkenkratzer, das beeindruckende U-Bahnnetz! Ich konnte mich noch daran erinnern, dass das Peking meiner Kindheit ebenfalls modern und prosperierend gewesen war, fast so wie hier. Aber aus irgendeinem Grund war es über die letzten zwei Jahrzehnte zunehmend verkommen, während New York sich weiter an der Spitze hielt.
Auch bekam man hier noch viele Produkte, die in China längst aus den Regalen verschwunden waren: Coca Cola, KFC, Nestlé Kaffee … Beim Anblick all dieser vertrauten Marken wurde mir warm ums Herz. Kindheitserinnerungen kamen hoch. Langsam verstand ich, warum so viele meiner Landsleute sich auf Auslandsreisen absetzten und nicht nach China zurückkehrten.
Es war allerdings unübersehbar, dass Amerika insgesamt sich ebenfalls auf dem absteigenden Ast befand. Damals herrschte überall das Star Wars -Fieber. In den Kinos war der neueste Teil der Reihe zu sehen: Episode IV – Eine neue Hoffnung . Als ich klein war, hatte ich Episode I-III geschaut und mich immer schon gefragt, wie die Geschichte wohl weiterging. Getrieben von Neugier und Nostalgie, kaufte ich mir für teures Geld eine Kinokarte, musste jedoch enttäuscht feststellen, dass der Film bei Weitem nicht an seine Vorgänger herankam – die Special Effects wirkten im Vergleich geradezu primitiv. Ganz offensichtlich hatte das Wettrüsten im Zuge des Kalten Kriegs die amerikanische Wirtschaft stark in Mitleidenschaft gezogen.
Es hatte sich viel verändert seit früher. Der Austausch zwischen den USA und China flaute immer weiter ab. Auf eigene Kosten ins Ausland zu gehen war nahezu unmöglich geworden, und staatlich finanzierte Aufenthalte waren sehr rar, daher fand sich an der ganzen Uni bloß eine Handvoll Chinesen. Als sie von meinem Kommen erfuhren, organisierte der Chinesische Studentenverband einen kleinen Willkommensabend für mich, bei dem alle zusammensaßen, Kartoffelchips futterten und mich über die jüngsten Neuigkeiten aus der Heimat ausfragten.
In Übersee war man damals fast gänzlich isoliert von der Lage in China. Briefe brauchten mehr als einen Monat, bevor sie eintrafen, und Telefonieren war extrem umständlich. In der englischsprachigen Presse ließen sich hier und da ein paar Nachrichtenfragmente aufschnappen, aber man bekam dadurch lediglich ein sehr verschwommenes Bild, wie bei einer Wanderung im Nebel. Als wir darauf zu sprechen kamen, wie einfach es in unserer Kindheit gewesen war, sich per Internet mit Leuten am anderen Ende der Welt zu unterhalten, war es wie Erinnerungen an ein früheres Leben und rief ringsum resigniertes Kopfschütteln hervor.
Als ich gerade vom schrittweisen Übergang der Macht von Deng Xiaoping auf den politischen Außenseiter Hua Guofeng berichtete, klingelte unvermittelt jemand an der Tür. Eine Studentin murmelte, das sei bestimmt Soundso und sprang auf, um zu öffnen. Ich bekam den Namen nicht richtig mit. Kurz darauf humpelte eine Frau mit einem Gehstock ins Zimmer.
Neugierig wandte ich mich um. Im Augenblick, als ich ihr Gesicht erblickte, traf es mich wie ein Blitzschlag. Sie starrte mich ebenfalls nur sprachlos an.
Das musste ein Traum sein.
Vor mir stand Qiqi. Meine Qiqi .
Der Raum, in dem wir uns befanden, nein, das gesamte Universum, hörte für einen Moment auf zu existieren. Übrig waren nur Qiqi und ich. Wir starrten einander versunken an. Nach mehr als zehn langen Jahren voller Tränen, Trauer und Neuanfänge wollte es eine merkwürdige Laune des Schicksals, dass wir uns zur unwahrscheinlichsten Zeit und am unwahrscheinlichsten aller Orte wiedertrafen.
Zitternd gingen wir aufeinander zu und fielen uns in die Arme, von unsäglichen Heulkrämpfen geschüttelt. Die anderen Anwesenden begriffen schnell, dass es eine besondere Vorgeschichte zwischen uns geben musste, und einer nach dem anderen zogen sie sich zurück, damit wir allein sein konnten.
Qiqi begann zu erzählen. Wie sie an jenem Tag von einer Kugel getroffen ohnmächtig wurde, wie durch ein Wunder nicht starb, sondern wieder zu sich kam, ein sich näherndes Auto sah und mit letzter Kraft um Hilfe rief. Bevor sie erneut in Ohnmacht fiel, sah sie verschwommen ein paar Ausländer auf sich zukommen …
Es handelte um das Filmteam einer amerikanischen Nachrichtenagentur. Sie hatten vor Ort Aufnahmen machen wollen, doch es hatte sich als zu gefährlich entpuppt, und sie waren gerade im Begriff zurückzufahren, als sie Qiqi entdeckten. Sie luden sie in ihr Auto und brachten sie in die Amerikanische Botschaft, wo sich der Botschaftsarzt ihrer Verletzungen annahm.
Später traf Qiqi in der Botschaft auch auf Chai Ling und andere, die dort Zuflucht gesucht hatten. Es hieß, ich sei bereits tot. Chai Ling und die anderen wurden per Haftbefehl gesucht. Noch bevor ihre Wunde richtig verheilt war, teilte man ihr mit, dass die USA bereit seien, ihnen allen Asyl zu gewähren. Unter dem Schutz der Botschaft verließ sie Peking, die Stadt des Kummers, und gelangte schließlich nach New York.
Anfangs war es schwierig, etwas über die Situation in China in Erfahrung zu bringen. Sie traute sich auch lange nicht, Kontakt aufzunehmen. Nach ein paar Jahren flog sie dann aber sogar einmal selbst zurück nach Shanghai, um ihre Mutter zu besuchen. Von dieser erfuhr sie, dass ich nach Guangzhou gezogen war und geheiratet hatte. Qiqi fuhr wieder in die USA zurück, nahm ihrer Mutter jedoch vorher noch das Versprechen ab, mir unter keinen Umständen zu verraten, dass sie noch lebte.
Die Kugel hatte sie für den Rest ihres Lebens gezeichnet. Abgesehen vom kaputten Bein konnte sie auch keine Kinder mehr bekommen. Hilflos gestrandet in der Fremde, ließ sie sich auf eine Ehe mit einem deutlich älteren Mann ein, aber es ging nicht lange gut, und er misshandelte sie sogar. Immerhin hatte sie es am Ende geschafft, sich von ihm scheiden zu lassen, und dank eines Stipendiums ging sie nun wieder zur Universität und studierte.
Die ganze Nacht hindurch berichteten wir einander stockend von unseren Erlebnissen und hielten uns weinend im Arm, bis unsere Stimmen versagten.
Die besten zehn Jahre unseres Lebens, zehn Jahre, die allein uns beiden hätten gehören sollen, waren im Mahlstrom der Zeit einfach so davongeschwemmt worden und hatten Qiqi darüber hinaus für immer versehrt.
Ich sagte ihr tausendfach, wie leid es mir tat. Doch was nützte das schon? Ich konnte mir nur im Stillen schwören, die verbleibende Hälfte meines Lebens darauf zu verwenden, meinen Fehler wiedergutzumachen und Qiqi das Glück zu bieten, das ihr von Anfang an zugestanden hätte .
Ganz selbstverständlich und ohne uns um das Getuschel hinter unserem Rücken zu kümmern, zogen wir zusammen. Von da an waren wir nahezu unzertrennlich, saßen den ganzen Tag eng umschlungen beieinander wie zwei Turteltauben, im Versuch, ein Stück unserer verlorenen Jugend zurückzugewinnen
Qiqi war im Besitz einer Green Card. Solange wir zusammenlebten, konnte ich problemlos in den USA bleiben. Wie man hörte, war die politische Lage in der Heimat sehr angespannt, und China begann soeben auch noch einen Krieg mit Vietnam. Qiqi wollte nicht, dass ich dorthin zurückging. Doch ich konnte Shen Qian und meinen Sohn nicht einfach vergessen, mich nicht einfach von der im Lauf der Jahre gewachsenen Vertrautheit abnabeln. Vor allem, da Shen Qian sich, ohne zu murren, ganz allein um das Kind kümmerte, seit ich wieder studierte, in der Hoffnung, dass doch noch etwas aus mir werden würde. Ohne jede Rücksicht auf sie einfach fortzubleiben, brachte ich nicht übers Herz.
Während Qiqi und ich unsere wiedergefundene Liebe auslebten, verging gleichzeitig nicht ein Tag, an dem nicht insgeheim auch große Schuldgefühle an mir nagten. Doch ich war nun mal ein Schwächling. Ich hatte nur das Glück im Hier und Jetzt vor Augen. An das Morgen, mit all den unweigerlich bevorstehenden Entscheidungen, konnte und wollte ich noch nicht denken.
10
In meiner mehr als ein Jahr dauernden Zeit in New York war ich jedoch nicht nur mit Liebesdingen beschäftigt. Nachdem sich unser Leben einigermaßen eingependelt hatte, widmete ich mich eifrig dem Studium, las theoretische Abhandlungen über Literatur, Politik und Philosophie und machte in akademischer Hinsicht große Fortschritte. Oft schob ich Qiqi im Rollstuhl in den Battery Park an der Südspitze Manhattans, von wo aus man übers Wasser hinweg in der Ferne die Freiheitsstatue aufragen sehen konnte, und diskutierte mit ihr energisch über das Schicksal Chinas und die Zukunft der Welt.
Meine wissenschaftlichen Aufsätze sagten meinem amerikanischen Professor derart zu, dass er mich ermutigte, mich auf eine der Assistentenstellen in der geisteswissenschaftlichen Fakultät zu bewerben. Meine Chancen stünden ausgezeichnet. Eine Stelle wie diese würde es mir ermöglichen, zu bleiben und meine Promotion in Angriff zu nehmen. Ich war hellauf begeistert über die Aussicht, mir damit meinen eigenen Lebensunterhalt zu sichern, und reichte auf der Stelle meine Bewerbung ein.
Ich hatte die Unterlagen kaum abgeliefert, da erhielt ich Post von Shen Qian.
Keine Wand der Welt bleibt ohne Riss. Auch wenn ein ganzer Ozean uns trennte, so hatte die Nachricht von mir und Qiqi über ein paar Bekannte dennoch den Weg in die Heimat und in Shen Qians Ohren gefunden. Zwar beschränkte sie sich auf ein paar vage Andeutungen, doch war unmissverständlich, dass sie eine Stellungnahme von mir erwartete.
Die Sache konnte so nicht weitergehen. Ich fasste schließlich den Beschluss, noch einmal nach China zurückzufahren und Shen Qian alles zu erklären. Qiqi wollte mitkommen, aber ich riet davon ab, um Shen Qian nicht noch zusätzlich zu provozieren. Es war besser, wenn ich erst mal allein mit ihr redete .
Qiqi gab nach. Sie brachte mich zum Flughafen. Auf ihren Gehstock gestützt, blieb sie an der Absperrung stehen und sah mir nach, als ich die Grenzkontrolle passierte. Sie trug einen blassgrünen Parka. Dieses letzte Bild von ihr brannte sich in mein Herz ein wie ein glühender Stempel und ließ mich noch Jahre später vor Schmerz zusammenzucken, wenn ich daran dachte.
Nach meiner Ankunft in Peking war Shen Qian allerbester Laune und erwähnte die Sache aus ihrem Brief mit keinem Wort. Eine Schürze umgebunden, lief sie geschäftig zwischen Küche und Esstisch hin und her und tischte eine Spezialität nach der anderen auf: Schweinegeschnetzeltes in Pekingsoße, Bratfleisch mit Bambussprossen, Pilzragout an geschmortem Hühnchen … Alles Lieblingsspeisen von mir, die im Ausland garantiert nicht zu bekommen waren. Auch während des Essens fragte sie nicht nach, wie es mir in den USA erging, sondern erzählte in einem fort von den jüngsten Entwicklungen im Land: Man bekam die meisten Waren jetzt nur noch mit Bezugsschein; zuvor größtenteils privat bewirtschaftetes Agrarland war nun in Volkskommunen zusammengefasst; vor Kurzem war auch die harmlose Schlagermusik von Teresa Teng auf dem Index gelandet; ihre Zeitung führte gerade eine Grundsatzdebatte über die Unanfechtbarkeit der Kommunistischen Lehre … Unser Sohn Xiao-bao hüpfte währenddessen begeistert um mich herum und wollte den Spielzeugroboter, den ich ihm mitgebracht hatte, gar nicht mehr aus den Händen legen. Angesichts seiner unbedarften Freude und der Charmeoffensive seiner Mutter brachte ich das Wort »Scheidung« einfach nicht über die Lippen .
Abends im Bett schmiegte Shen Qian sich zärtlich an mich und küsste mich sanft, doch ich konnte spüren, wie ihr Körper bebte. Alle Willenskraft zusammennehmend, schob ich sie sachte von mir. »Qian … Ich muss dir etwas sagen.«
»Ist das wirklich so dringend?«, hauchte sie und umschlang aufs Neue meinen Hals. »Wir haben doch noch die ganze Nacht vor uns. Warum machen wir nicht erst mal …«
»Ich will mich scheiden lassen!«, presste ich hervor, bevor ich wieder schwach werden konnte.
Shen Qians Körper versteifte sich. »Das … das ist nicht dein Ernst, oder?«
»Du weißt, dass es mein Ernst ist. Qiqi … Sie lebt. In Amerika … Wir …«, war alles, was ich noch hervorbrachte. Doch Shen Qian hatte längst verstanden.
»Du hast dich also entschieden?«, fragte sie und setzte sich auf.
»Ja«, antwortete ich, so bestimmt wie möglich.
»Ich verstehe.« Shen Qians Gesicht war bleich wie ein Blatt Papier, doch selbst im fahlen Mondlicht sah ich das wütende Funkeln in ihren Augen. »Ich weiß, dass du wieder mit deiner Qiqi zusammen bist. Ich weiß, dass ihr früher ein Paar wart, das wusste ich auch vor zehn Jahren schon! Aber was ist mit mir? Was ist mit all den Jahren, die wir zusammen waren? Wenn ich nicht die emsige Hausfrau gespielt und euch beide durchgefüttert hätte, wärst du niemals an dein Auslandsstipendium gekommen! Ohne mich hättest du deine Liebste nie wiedergesehen! Und jetzt? Kaum, dass es ein wenig aufwärts geht mit dir, lässt du mich einfach fallen?«
»Nein, so ist es nicht … So beruhige dich doch … Ich will dich ja für alles entschädigen …« All die beschönigenden Worte, die ich mir zurechtgelegt hatte, waren mir plötzlich entfallen. Stattdessen gab ich diese kruden, unverhohlenen Ausflüchte von mir. Mein Verhalten erschien mir schrecklich scheinheilig und plump.
Shen Qian lachte kühl, stand vom Bett auf und ging, ohne ihre Hausschuhe überzustreifen, nach draußen.
»Wo willst du denn jetzt hin, mitten in der Nacht?« Ich fürchtete, sie würde womöglich einfach davonlaufen.
Doch Shen Qian verließ nicht etwa das Haus, sondern schloss sich auf dem Balkon ein. Sie hielt ihre Hände hinter dem Rücken verborgen. Ihr weißes, langes Nachthemd hob und senkte sich im Takt ihres Atems. Im Dunkeln wirkte sie wie ein eisiges Gespenst. Ich bekam mit einem Mal panische Angst, dass sie springen könnte. Ich flehte sie an: »Mach jetzt bitte keine Dummheiten … Wir können doch über alles reden!«
»Warum auf einmal die Panik?«, schnaubte Shen Qian verächtlich, »mit meinem Tod würde ich dir und Zhao Qi doch bloß die Bahn frei machen! Keine Sorge, so bequem mache ich es euch nicht!«
Sie streckte ihre Hand aus, und während ich noch versuchte zu begreifen, was vor sich ging, sah ich eine Wolke aus Papierschnipseln vom Balkon herabrieseln, wie Schneeflocken im Wind.
Perplex starrte ich ihnen einen Moment lang hinterher. Dann erst begriff ich, dass es sich um meinen Reisepass handelte. Vermutlich waren auch noch andere Dokumente dabei.
Von unserem Streit aufgeschreckt, fing hinter mir das Kind an zu heulen .
Ich konnte toben, so viel ich wollte, Shen Qians Tat ließ sich dadurch nicht mehr ungeschehen machen. Sie ging mit Xiao-bao zu ihren Eltern. Tags darauf tauchte ihre gesamte Familie – mein Schwiegervater, meine Schwiegermutter und mein Schwager – wutentbrannt vor meiner Tür auf, um mir ins Gewissen zu reden. Ich tat, als sei ich nicht zu Hause, doch das fachte den Streit bloß weiter an. Es dauerte nicht lange, bis sich die Sache nicht länger geheim halten ließ und sich wie ein Lauffeuer verbreitete. Bei uns im Viertel und an der Uni wussten innerhalb kürzester Zeit alle Bescheid, bloß dass die Fakten so lange verdreht wurden, bis sie kaum noch etwas mit der Realität gemein hatten. Es hieß, ich hätte mir in den USA eine reiche, einflussreiche Dame an Land gezogen und vorgehabt, Frau und Kind einfach sich selbst zu überlassen, wie einer der klassischen Bösewichte aus der Pekingoper. Das soziale Stigma, das auf mir lastet, ließ mir kaum noch Luft zum Atmen. Sobald ich das Haus verließ, flüsterten die Leute hinter meinem Rücken und zeigten mit dem Finger auf mich. Selbst mein Professor, dem ich so viel verdankte, stauchte mich heftig zusammen, ohne dass ich etwas zu meiner Verteidigung vorbringen durfte. Am Ende wurde mein Vater sogar krank deswegen.
Das Leben reichte mir die Quittung. Wer versucht, gegen seinen Strom zu schwimmen, muss bei jedem Zug mit enormen Widerständen rechnen. Jetzt bereute ich meine Entscheidung zurückzukommen. Warum hatte ich meine moralischen Bedenken nicht über Bord werfen können? Wäre ich in den USA geblieben, hätte ich mir das alles erspart. Stattdessen saß ich in China fest. Ein neuer Pass erforderte eine Unmenge an Formalitäten, und so wie mein Ruf gelitten hatte, brauchte selbst ein einfaches Bestätigungsschreiben der Fakultät eine halbe Ewigkeit. Es war wie das Waten durch tiefen Schlamm. Zum Kämpfen fehlte mir die Kraft, zum Aufgeben jedoch die Einsicht.
Die Sache zog sich über ein halbes Jahr hin, bevor sich endlich jemand rührte. Shen Qian war zwar nachtragend, aber nicht grausam. Sie wusste, dass ein mit Gewalt vom Ast gerissener Apfel niemals süß ist. Sie stimmte unserer Scheidung zu, solange sie das Sorgerecht bekam. Ich willigte ein und versprach ihr außerdem eine finanzielle Entschädigung.
Mir fiel ein gewaltiger Stein vom Herzen. Endlich schien eine Lösung in Sicht, und als ich Qiqi per Ferngespräch die freudige Nachricht mitteilte, war sie überglücklich. Da ich noch immer nicht ausreisen konnte, schlug sie vor, im darauffolgenden Monat nach China zu fliegen, damit wir vor Ort heiraten und anschließend gemeinsam die Rückreise antreten konnten.
Ich fieberte ihrer Ankunft entgegen, doch ihre Maschine sollte China nie erreichen. Denn einen Monat später begann die Ära von Mao Zedong.
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Seit einigen Jahren schon verfolgte die Regierung eine Politik des »Kaufen statt Bauen« und hatte damit einen künstlichen Konjunkturaufschwung bewirkt. Doch gleichzeitig verrotteten die Industrieanlagen, und die Schere zwischen Arm und Reich ging immer weiter auseinander. Das Volk begann aufzubegehren, und sowohl in als auch außerhalb der Partei fiel immer öfter dieser eine Name, schien wie ein Gespenst in China umzugehen. Er würde dem Land neue Hoffnung bringen, glaubten die Leute.
Sein Name war Mao Zedong, Neffe von Mao Xinyu, eines der berühmtesten Generäle in der Geschichte der Volksbefreiungsarmee. Als Parteisekretär von Chongqing hatte er zuletzt dank zweier groß angelegter Kampagnen für Furore gesorgt: eine galt der Bekämpfung der organisierten Kriminalität, die andere der Förderung kommunistischen Liedguts. Die Massen liebten ihn, und insbesondere in den ländlichen Regionen genoss er breiten Rückhalt. Hua Guofeng stand seit seinem Amtseintritt stark unter Maos Einfluss und rief jetzt auf seinen Rat hin eine »Große Proletarische Kulturrevolution« aus, um mit Hilfe der mobilisierten Massen dem kapitalistischen Lager innerhalb der Partei die Macht zu entreißen. Von einem Moment auf den nächsten brach eine gewaltige Massenbewegung los. Im gesamten politischen Machtgefüge des Landes wurden die Karten auf einen Schlag neu gemischt. Die Clique um Deng Xiaoping, Ye Jianying und Hu Yaobang kam zu Fall, und Mao Zedong wurde mit landesweiter Unterstützung zum Parteivorsitzenden gewählt.
Nach seiner Machtübernahme setzte Mao die Kulturrevolution fort und stellte Deng Xiaoping sowie alle sogenannten »Rechtsabweichler« ins Zentrum der Kritik. Besonders streng verurteilt wurde Dengs »Philosophie der Selbstversklavung gegenüber dem Westen«. Seine Öffnungspolitik wurde abgeschafft, und China begann, sich nach außen hin abzuschotten. Wenig später wurden alle offiziellen diplomatischen Beziehungen zu den USA abgebrochen. Ich kam nicht mehr aus China hinaus und Qiqi nicht mehr hinein .
Zum zweiten Mal hatte uns der unvorhersehbare Lauf der Geschichte auseinandergerissen.
Die Kulturrevolution war von Beginn an mit einem ausufernden Personenkult um Mao verknüpft, doch abgesehen davon trieb die Bewegung noch keine allzu extremen Blüten. Dank einer wohlwollenden Empfehlung meines Mentors stellte mich die Universität nach bestandener Abschlussprüfung als Dozent ein. Zwar war die Lehrtätigkeit damals bereits weitestgehend zum Erliegen gekommen, denn es wurden kaum noch neue Studenten zugelassen, und die Stellung der Intellektuellen sank unaufhörlich, doch mit theoretischen Abhandlungen über den Marxismus-Leninismus oder Kritiken der legalistisch-konfuzianischen Denktradition konnte ich mich einigermaßen über Wasser halten.
Nach Ausbruch der Kulturrevolution verlief auch Shen Qians und meine Scheidungsangelegenheit im Sande, und so rauften wir uns schließlich zusammen und arrangierten uns, so gut es ging, miteinander.
Ein Jahr verging, dann noch eines. Jeden Tag nach der Arbeit gab es politische Weiterbildung. Die Früchte der Revolution wurden in den schönsten Farben beschrieben, doch im Alltag herrschte nichts als Monotonie. Selbst zu bunte Kleidung war inzwischen verboten, Kultur und Unterhaltung kläglich verkümmert. Im Theater waren nur noch acht Musterstücke erlaubt, alles andere wurde entweder als feudalistisch, kapitalistisch oder revisionistisch verdammt. Einmal fand ich in einer öffentlichen Toilette ein völlig verschmutztes und abgegriffenes Exemplar der Legende von Wukong . Vor lauter Rührung trieb es mir Tränen in die Augen. Heimlich nahm ich es mit nach Hause und las es mehrmals durch, doch aus Angst, jemand könnte mich damit erwischen, verbrannte ich es am Ende.
Manchmal, beim Studium der neuesten Parteierlasse, schweiften meine Gedanken ab, und ich grübelte darüber nach, was bloß aus den Zeiten geworden war, an die ich mich erinnerte – meine Studentenzeit, in der alle Schlaghosen getragen und Teresa Teng gehört hatten – meine Jugend mit all den Fernsehserien und Straßenfegern aus Hongkong und Taiwan – meine Kindheit, die noch Internet, Computerspiele, Olympiafieber und 3-D-Filme gekannt hatte – hatten diese Epochen wirklich einmal existiert auf dieser Welt? Wo waren sie hergekommen, und wo waren sie abgeblieben? Oder hatte ich sie mir etwa bloß erträumt?
Vielleicht ist alles nur ein Spiel der Zeit.
Was ist Zeit überhaupt?
Was existiert außer dem Nichts?
Vor uns war das Nichts.
Und auf uns folgt – das Nichts.
Manchmal wachte ich mitten in der Nacht auf und spürte der Frau meiner Träume jenseits des Pazifik nach, bis das Ziehen in meinem Herzen kaum noch auszuhalten war. Die Zeit des rasenden Verliebtseins, der in der Fremde frei treibenden Gedanken – es fühlte sich so real und greifbar an und zugleich wie ein flüchtiges Traumgespinst. Was, wenn ich damals nicht zurückgeflogen wäre? Wenn ich auf Qiqi gehört hätte und dort geblieben wäre, was dann? Wäre ich jetzt glücklicher? Oder wäre die Desillusionierung noch größer?
Zumindest könnte ich bei der Frau sein, die ich liebe.
Doch allem Anschein nach war Amerika auch kein Paradies auf Erden. In der Volkszeitung war zu lesen, die USA seien militaristisch, aggressiv, nach außen verstrickt in einen blutigen Konflikt in Vietnam und nach innen von immer heftiger werdenden Rassenunruhen geplagt.
Ein Krieg im Mittleren Osten hatte eine weltweite Ölkrise ausgelöst. Der Kapitalismus verlor an Glanz, und linke Bewegungen befanden sich überall im Aufwind. Unterdessen erstarkte die Sowjet-Gruppe von Tag zu Tag und dehnte den Kalten Krieg mit den USA auf den gesamten Globus aus. Auf fast allen Kontinenten kam es zu Stellvertreterkriegen zwischen den beiden Supermächten, und eine Armada aus Atom-U-Booten kreuzte in den Weltmeeren. Eine einzige der nuklear bestückten Raketen an Bord reichte aus, um eine ganze Großstadt auszulöschen, während in unzähligen Raketensilos an Land ein noch viel immenseres Arsenal lauerte und auf den Abschussbefehl wartete. Jeden Moment konnte ein Rauschen über unseren Köpfen ihr Kommen ankündigen …
Der Gott des Todes zog seine Kreise über unserem Planeten, in Erwartung darauf, dass bald die gesamte Menschheit mit ihm zur Hölle fuhr. Egal, ob Chinese oder Amerikaner – spätestens dort waren wir alle gleich.
Manchmal fragte ich mich, ob vielleicht etwas dran gewesen war an dem Gerede vom Jüngsten Tag damals. Bloß dass das Ende nicht plötzlich eingetreten war, sondern die Welt über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte ganz allmählich überkam. Vielleicht war die Welt auch schon vor meiner Geburt ausgelöscht worden, und alles, was noch existierte, war lediglich ein Phantom, das gerade im Begriff war, sich vollends aufzulösen. Wer weiß ?
Die Kulturrevolution ging ins vierte Jahr, als ich völlig unerwartet Post aus den USA erhielt. Beim Anblick der amerikanischen Briefmarke bekam ich vor Schreck fast einen Herzinfarkt. Doch der Brief selbst war ziemlich belanglos. Die Verfasserin erkundigte sich lediglich nach meinem Befinden und gab ansonsten bloß ein wirres Durcheinander revolutionärer Phrasen und Schlagworte von sich:
Genosse Xie Bao-shu:
Möge der Roten Sonne unserer Roten Herzen, dem Großen Vorsitzenden Mao, ein langes Leben und ewige Gesundheit beschieden sein! Wie es in einem seiner unvergleichlichen Gedichte heißt: »Die Wogen der Meere schlagen hoch vor Zorn, die Kontinente erzittern im sich hebenden Sturm!« Auch hier in Amerika sind, geleitet von den Ideen des Maoismus, sowohl die Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen als auch die Linken Revolutionäre auf dem Vormarsch! Die Kapitalisten der Wall Street zittern im Angesicht von Volkes Erwachen! Es ist, wie unser Großer Anführer Mao gesagt hat: Die Revolution begnügt sich nicht mit dem Kleinen Guten, denn sie will das Große Gute! In diesem Sinne: Geht es dir gut? …
Natürlich stammte der Brief von Qiqi, von wem sonst? Doch da er an die Fakultät adressiert war, landete er dort sofort in den Händen des neu installierten Propagandadirektors. Mit kritischem Gesichtsausdruck las der ihn mehrmals, dann blickte er mir scharf ins Gesicht, schlug mit der Hand auf den Tisch und bellte: »Genosse Xie Bao-shu! Die Augen des Volks sehen alles! Raus mit der Sprache: Was sind das für verdächtige Kontakte ins Ausland, die du da unterhältst? Und was für ein unsägliches Geheimnis verbindet dich mit der Verfasserin dieses Briefs?«
»Komm, lass stecken«, winkte ich lachend ab. »Als ob du nicht schon bestens informiert wärst! Los, her jetzt mit dem Wisch!«
Wie der Zufall es eben wollte, war der neue Propagandadirektor niemand anderes als mein alter Freund Blackie. Die stürmischen Umwälzungen der Kulturrevolution hatten ihn vom einfachen Arbeiter zunächst in die Propagandaabteilung der Fabrik und dann, auf Geheiß von ganz oben, an die Universität geweht. Obwohl selbst ohne Hochschulbildung, wog sein Wort dort jetzt schwerer als das der meisten Professoren. Zum Glück. Dieser Brief hätte mich sonst garantiert in ernste Schwierigkeiten gebracht.
Blackie reichte mir das Schreiben und ermahnte mich, es unbedingt unter Verschluss zu halten oder noch besser zu verbrennen, um keine unnötigen Probleme zu riskieren. Ich las Qiqis Brief so lange durch, bis ich entschlüsselt hatte, was sie mir zwischen den Zeilen zu verstehen gab: Erstens, dass sie mit dem Studium fertig war und an einer amerikanischen Universität chinesische Literatur unterrichtete, und zweitens, dass sie noch immer unverheiratet war und sich wünschte, sie könnte mich in China besuchen.
Unwillkürlich stieß ich einen langen Seufzer aus und wischte mir die feucht gewordenen Augen. Bald fünf Jahre lag unser Abschied jetzt zurück, doch hatte sie mich nicht vergessen. Aber was konnte ich tun? Die politische Situation hatte sich so sehr verschlechtert, dass wir uns – selbst wenn sie zurückkäme – höchstens heimlich ein paar schmachtende Blicke zuwerfen könnten, wie die unglücklich Liebenden im Untergrund- Roman Der zweite Handschlag , dessen Abschrift ich vor Kurzem in die Finger bekommen hatte. Mal ganz abgesehen davon, dass ich es niemals zugelassen hätte.
Natürlich machte es keinen Unterschied, was ich dachte, denn es gab keinerlei Möglichkeit, ihr eine Antwort zukommen zu lassen.
Zwischen ein paar Akten geklemmt, trug ich Qiqis Brief nach Hause. Ich wagte es nicht, ihn Shen Qian zu zeigen, aber ihn zu verbrennen, brachte ich ebenfalls nicht übers Herz. Daher steckte ich ihn zwischen die Seiten von Qiqis Blütezeit, Regenzeit, das inzwischen auch längst verboten war, ich jedoch unter keinen Umständen hergeben würde. Zusammen wickelte ich beides sorgsam in einen alten Mantel und verstaute es ganz unten in einer Kleiderkiste, wo ich es vor unbefugten Augen geschützt wähnte.
12
Auch wenn mein Verstand ihre Rückkehr ablehnte – tief in meinem Herzen gab es einen Teil von mir, der sich ganz egoistisch nach einem Wiedersehen mit Qiqi sehnte. Als der amerikanische Präsident, Richard Nixon, auf Staatsbesuch kam, um China als Partner für die antisowjetische Allianz zu gewinnen, sah es für eine Weile so aus, als würden sich die sino-amerikanischen Beziehungen ein wenig entspannen. Ich wollte gerade beginnen, wieder etwas Hoffnungen zu schöpfen, doch dann hieß es plötzlich, Mao und Nixon hätten keine Einigung erzielt. Brüskiert und wütend machten die Amerikaner bei den Vereinten Nationen ihren Einfluss geltend und sorgten dafür, dass dort fortan Taiwan den Platz als »legitime« Vertretung Chinas einnahm. Damit waren auch die letzten dünnen Verbindungsfäden zwischen unseren beiden Ländern zertrennt.
Qiqis Heimkehr wurde zum Ding der Unmöglichkeit, und mich erreichte auch keine weitere Nachricht von ihr.
Im sechsten Jahr der Kulturrevolution starb mein Vater. Wenige Tage vor seinem Tod schoss China den Satelliten Der Osten ist Rot ins All, begleitet von einer groß angelegten Propagandakampagne. Auf dem Totenbett griff mein Vater meine Hand und murmelte: »Als ich jung war, hatten wir so viele Satelliten da oben, dass man mit dem Zählen kaum nachkam. Wir hatten Raumschiffe, ja, sogar eine Raumstation! Und heute sind die Leute wegen eines Satelliten derart aus dem Häuschen? Was ist bloß los mit der Welt …?«
Ich hatte keine Antwort. Ich dachte an die Welt meiner Kindheit und daran, dass sie einmal real existiert hatte. Heute schien sie mir weiter entfernt als jeder Science-Fiction-Roman. Mein Vater tat einen letzten langen Atemzug, dann schloss er für immer die Augen.
Doch es gab keinesfalls nur technologische Rückschritte. Im Jahr darauf landete die US-Raumfähre Apollo auf dem Mond, wo ihre Crew eine amerikanische Fahne hisste. Bilder der Mission gingen um die ganze Welt, China hatte davon allerdings herzlich wenig. Der Große Vorsitzende hatte Führungsanspruch unter den Drittweltstaaten angemeldet und zur Weltrevolution aufgerufen, womit sich nach den USA nunmehr auch die Beziehungen zur Sowjetunion in einer Sackgasse befanden. Als auch noch ein Territorialkonflikt um eine Insel an der russisch- chinesischen Grenze hinzukam, war China international vollends isoliert. Selbst von der Mondlandung erfuhr ich nur, weil ich mit dem Radio verbotenerweise »Feindsender« hörte.
Zwei weitere Jahre vergingen, in denen mein Sohn – wie all seine Altersgenossen – zu einem überzeugten Jungrevolutionär heranwuchs. Im Gegensatz zu uns war der Einfluss der Reform- und Öffnungspolitik von Deng Xiaoping schon in ihrer frühen Kindheit verblasst, und sie waren von klein auf unter der Fahne des Maoismus erzogen worden. Alles Westliche war ihnen fremd, doch von der klassischen chinesischen Kultur verstanden sie ebenso wenig. Stattdessen verehrten sie Mao Zedong wie einen Gott und sahen die Verteidigung seines Revolutionären Wegs, wenn nötig mit dem eigenen Leben, als ihren gottgegebenen Auftrag. In ihrer revolutionären Hingabe schworen sie, nicht eher zu ruhen, als bis das Weiße Haus eingerissen, der Kreml eingeebnet und die Menschheit befreit sei.
Meinem Sohn war sein Name nicht revolutionär genug, und er benannte sich um in Weidong, was so viel wie »Hüter des Ostens« bedeutete, und trat den Roten Garden bei. Noch bevor er die Oberschule abgeschlossen hatte, teilte er uns mit, dass er zusammen mit seinen Kameraden eine revolutionäre Reise durchs ganze Land machen würde, um sich mit anderen Ortsverbänden auszutauschen und gemeinsam die Revolution voranzutreiben. Natürlich machten Shen Qian und ich uns Sorgen, doch die Idee stammte aus dem innersten Führungszirkel der Partei, und kaum, dass wir ein paar vorsichtige Zweifel daran äußerten, zückte »Weidong« seine Mao-Bibel und geißelte uns so heftig, als säßen zwei leibhaftige Klassenfeinde vor ihm. Er war nicht davon abzubringen, also ließen wir ihn ziehen .
Wir ahnten nicht, dass bald ein noch weitaus brutalerer Sturm über uns hereinbrechen sollte.
Das Aufbegehren der Roten Garden gegen alle althergebrachten Autoritäten richtete sich schon nach kurzer Zeit auch gegen die »reaktionäre akademische Elite« an den Hochschulen. Aufgrund seiner Prominenz und weil er im Ausland studiert hatte, traf meinen Freund und Mentor die volle Wucht ihrer Raserei. Auf einer »Kritikveranstaltung« wurde er öffentlich geschlagen und gedemütigt, während ich als Sekundärziel der Kritik neben ihm zu stehen hatte. Sie rasierten uns zur Hälfte das Haar von den Köpfen und setzten uns hohe spitze Eselshüte auf. Dann zwangen sie uns in die »Fliegerposition« – Oberkörper vorgebeugt, Arme nach hinten und nach oben gestreckt –, bis der Schmerz in den Gelenken kaum noch auszuhalten war. Wir wurden so lange beschimpft und geschlagen, bis mein Lehrer ohnmächtig zusammenbrach. Erst da erklärten die Rotgardisten die Versammlung hastig für geschlossen und ließen ihn blutüberströmt und mit bis zur Unkenntlichkeit verschwollenem Gesicht liegen. Ich versuchte, ihn hochzuziehen, doch er kam nicht wieder zu sich. Mit Blackies Hilfe schaffte ich den Professor schließlich ins Krankenhaus, doch er war nicht mehr zu retten. Er erlag wenige Tage später seinen Verletzungen.
Mit dem Foltermord an meinem Lehrer gaben sich die Rotgardisten jedoch nicht zufrieden. Sie holten mich erneut ab, sperrten mich ein und nahmen nun meine Vergangenheit auseinander. Vor allem konzentrierten sie sich auf den »konterrevolutionären Aufstand«, an dem ich vor zwanzig Jahren beteiligt gewesen war. Ich parierte ihre Anschuldigung, indem ich darauf verwies, dass sich unsere Proteste damals gegen Deng Xiaopings finsteren politischen Irrweg gerichtet hatten: »Wir erhoben unsere Stimmen und unsere Federn im revolutionären Streben nach wahrer Volksherrschaft – genau wie es die Ideen des Vorsitzenden Mao heute von uns verlangen –, und das alles mit der breiten Unterstützung der Bürger Pekings. Was daran soll bitte schön ›konterrevolutionär‹ sein?« Die argumentativ ungeschulten Rotgardisten wussten nichts darauf zu entgegnen.
Was meine Auslandskontakte anging, so hatte ich längst alles verbrannt und vernichtet, was mich mit Amerika in Verbindung brachte, und meine Beziehung zu Qiqi ließ sich nicht mehr rekonstruieren. Da auch Blackie sich für mich einsetzte, kam ich letztendlich mit dem Leben davon.
Als ich wieder nach Hause kam, stellte ich jedoch fest, dass Shen Qian von der »Rebellenfraktion« ihres Verlags verschleppt worden war.
Jemand hatte auch in ihrer Vergangenheit gewühlt und ihr Verhältnis mit Liu Xiaobo per Wandzeitung angeprangert. Liu war erwiesenermaßen ein rechter Konterrevolutionär der übelsten Sorte, hatte er doch einmal gesagt, nur dreihundert Jahre als Kolonie des Westens könnten China noch retten. Zudem war er einer der Hauptverfasser der kapitalistisch-legalistischen Charta und darüber hinaus auch noch für seine laxe Sexualmoral bekannt. Er mochte bereits tot sein – seine Nachwirkungen auf China waren es nicht. Aufgrund ihrer mehrjährigen Beziehung musste Shen Qian über viele seiner intimsten Geheimnisse Bescheid wissen. Das und der skandalöse sexuelle Part gaben den angesichts dieser Entdeckung geradezu ekstatischen »Rebellen« mehr als genug Anlass, um sie in ein improvisiertes Gefängnis innerhalb des Verlags zu pferchen, das sie den »Kuhstall« nannten, wo sie sie dazu zwangen, ein ausführliches »Geständnis« zu verfassen.
Sie blieb eine ganze Woche lang eingesperrt. Ich sprach mehrmals dort vor, doch man ließ mich nicht zu ihr. Als sie endlich nach Hause kam, war sie völlig ausgemergelt. Man hatte ihr den Kopf kahl geschoren, und die Spuren zahlloser Schläge und Misshandlungen standen ihr im Gesicht. Ihr Blick war leer, so als ob sie mich nicht mehr wiedererkannte. Eine halbe Ewigkeit verging, bis sie endlich zu sich kam und in meinen Armen unkontrolliert zu weinen begann.
Sie hat mir nie erzählt, was ihr während der Gefangenschaft alles widerfuhr, und ich fragte auch nicht nach. Doch es dauerte nicht lange, bis weitere Personen aus Liu Xiaobos ehemaligem Umfeld abgeholt und »verhandelt« wurden. Shen Qians Geständnis diente dabei angeblich als unumstößlicher Beweis. Ich machte ihr dafür keinen Vorwurf. In diesen Zeiten war sich jeder selbst der Nächste, es ging allein ums Überleben. Ein Gewissen zu haben war ein Luxus, den sich nur wenige leisten konnten.
Shen Qian und ich galten von nun an als Konterrevolutionäre. Als unser Sohn von seiner Rotgardistenreise zurückkam und erfuhr, dass seine Eltern auf ewig als unverbesserliche Klassenfeinde gebrandmarkt waren, drehte er durch. Es bedeutete, dass er ebenfalls als unrein galt. Er rannte in die Universität und denunzierte Shen Qian und mich in einer großen, handgeschriebenen Wandzeitung, in der er all unsere »Verbrechen« auflistete, von denen er wusste. Vor aller Augen versetzte er mir zwei schallende Ohrfeigen und schrie, dass er sich für immer von mir lossage und ab jetzt nicht mehr mein Sohn sei. Dann wandte er sich um und marschierte davon, getragen von revolutionärem Stolz. Ich wurde beinahe ohnmächtig vor Wut.
Mehrere Tage lang standen wir unter Schock und trugen ihm nach, dass er uns verlassen hatte. Schließlich gewann die Sorge um ihn die Oberhand, und wir flehten all unsere Bekannten an, herumzufragen und herauszufinden, wie es ihm ging. Doch alle Nachforschungen blieben erfolglos. Bis zweieinhalb Monate später Blackies Sohn Junior zu uns kam. Er druckste herum und wollte nicht wirklich mit der Sprache herausrücken.
»Onkel Xie … Es ist was passiert … Du setzt dich jetzt besser hin.«
Ich wusste, dass Blackies und mein Sohn eng befreundet waren, und eine böse Vorahnung überkam mich. Ich atmete tief durch: »Sag’s mir.«
»Weidong … Er ist … ihm ist was zugestoßen …«
Mein Herz gefror. Die Welt um mich herum schien zu wanken und einzustürzen. Doch ich ließ ihn weiterreden.
Mein Sohn und er waren gemeinsam einer Fraktion der Roten Garden beigetreten, die sich die »Brigade des 14. April« nannte, erzählte er. Xiao-bao hatte es schon bis zum Gruppenführer geschafft, doch die Sache mit mir und Shen Qian führte dazu, dass er degradiert und beinahe ausgeschlossen wurde. Als sich wenig später zwei verfeindete Fraktionen der Roten Garden zu bekriegen begannen, kämpfte er stets an vorderster Front, um zu beweisen, dass er mit seinen konterrevolutionären Wurzeln gebrochen hatte und allein der revolutionären Linie Mao Zedongs verpflichtet war. Vor zwei Tagen war es erneut zu einem Scharmützel zwischen den beiden Fraktionen gekommen. Xiao-bao war, mit einer Eisenstange bewaffnet, ganz nach vorn gestürmt, doch die Truppen der anderen Seite waren irgendwie an ein Gewehr gelangt.
»Ein Schuss fiel. Weidong ging zu Boden. In seiner Brust klaffte ein riesiges Loch …«
Bevor Junior ausreden konnte, wurde mir schwarz vor Augen, und ich verlor das Bewusstsein.
13
Mit dem Tod unseres Sohns verloren wir den einzigen Lichtblick in unserem Leben. Shen Qian und ich ergrauten beinahe über Nacht. Meine Mutter ertrug die Erschütterung nicht und starb kurze Zeit später. Wir waren noch keine fünfzig Jahre alt und doch schon vom Alter gezeichnet. Wir saßen uns jeden Tag bloß stumm gegenüber, und ich vermag nicht mehr zu sagen, wie wir diese finsteren Zeiten überstanden. Es fällt mir schwer, auf diese Jahre zurückzublicken, die schrecklichsten meines Lebens, in denen es kaum noch einen Unterschied zu machen schien, ob man lebte oder schon tot war.
Wir lebten von einem Tag auf den anderen. Alles, was uns geblieben war, waren wir selbst. Shen Qian und ich waren einander der einzige, bescheidene Trost. Wir waren wie zwei aus dem Wasser gezogene Fische, die einander mit dem letzten Rest Speichel, der ihnen verbleibt, ein klein wenig länger vor dem unvermeidlichen Austrocknungstod bewahrten.
Doch wir starben nicht. Im Gegenteil, nach Jahren des Unheils nahm unser Los eine Wendung zum Guten, denn knapp anderthalb Jahre später endete die Kulturrevolution .
Mao zog fürs Erste in die zweite Reihe zurück und überließ Liu Shaoqi die Staatsführung, der zusammen mit Zhou Enlai als Ministerpräsident der wirtschaftlichen Erholung Vorrang gab und im Agrarbereich ein System mit einigen vorsichtigen marktwirtschaftlichen Komponenten einführte. Dank seiner Reformen ging es allmählich wieder etwas aufwärts, und das Land erholte sich ein wenig. Die Universitäten nahmen den Lehrbetrieb wieder auf, und die Ächtung der Intellektuellen ließ nach. Nach ein paar Jahren waren Shen Qian und ich vom Stigma befreit, »Rechte Elemente« zu sein.
Die Kulturrevolution hatte zehn Jahre lang gewütet. Jetzt gab es viel zu tun. In der Fakultät herrschte ein großer Mangel an qualifizierten Lehrkräften, und da ich fachlich einen guten Ruf genoss, wurde ich mit Lehrtätigkeiten geradezu überhäuft. Da ich jedoch kein Parteimitglied war und außerdem eine politisch nicht einwandfreie Vergangenheit hatte, wurde mir eine Beförderung beharrlich verweigert. Trotzig schrieb ich deswegen einen Brief an die oberste Bildungsbehörde, in dem ich den Staat zu einem respektvolleren Umgang mit den Intellektuellen aufforderte, doch mein Appell verhallte ungehört wie Hilferufe auf hoher See.
Etwa ein Jahr später, als ich die Hoffnung längst aufgegeben hatte, fielen die Hindernisse dann über Nacht plötzlich weg. Ich bekam eine Professur, durfte dank einer Ausnahmeregelung der Partei beitreten und wurde sogar mit großer Mehrheit zum Dekan der Fakultät gewählt.
Mein Aufstieg in die Fakultätsleitung brachte mich nach und nach in Kontakt mit den gehobenen kulturellen Schichten. Bei einer Konferenz traf ich Guo Moruo, den Präsidenten der Akademie der Wissenschaften. Er nahm mich beiseite und ließ durchblicken, dass Ministerpräsident Zhou Enlai meinen Brief gelesen und höchstpersönlich für meine wundersame Beförderung gesorgt habe. Er ermahnte mich, mich anzustrengen und den Ministerpräsidenten nicht zu enttäuschen.
Als Zhou Enlai unserer Universität wenig Zeit später einen Besuch abstattete, fragte er gezielt nach mir und wollte mich treffen. Mein Herz pochte, als ich ihm etwas unsicher meine Dankbarkeit ausdrückte, doch er erwiderte nur lachend: »Genosse Bao-shu, ich erkenne Talent, wenn ich es sehe. Nach all der Unruhe braucht das Land Wissenschaft und Technologie jetzt mehr denn je. Sie haben doch früher mal Science-Fiction geschrieben. Warum knüpfen Sie nicht wieder daran an?«
Dank dieser Worte des Ministerpräsidenten und mit etwas Hilfe von Guo Moruo bekam ich grünes Licht für eine Neuauflage meiner alten Romane. Das Publikum hatte schon lange nichts derart Unverbrauchtes mehr zu lesen gehabt und überhäufte mich mit Lob. Meine gesellschaftliche Stellung war derart verbessert, dass ich sogar Anfragen von Literaturzeitschriften für weitere Texte bekam. Meine Lust am Schreiben kehrte zurück, und ich verfasste ein paar weitere Geschichten, die später auch als Sammelbände erschienen. Die Leute begannen, mich einen »berühmten Schriftsteller« zu nennen.
Mir war bei alldem stets bewusst, dass ich meine beste Zeit längst hinter mir hatte. Meine neuen Werke mieden politisch sensible Themen, waren bloß belanglos-affektierte, dem Regime dienliche Unterhaltung. Kein Vergleich zu dem, was ich früher hervorgebracht hatte. Doch wir lebten nun mal in einer völlig verkehrten Welt .
Ich wusste, dass ich in meinem Leben nichts Großes mehr zustande bringen würde und bloß noch hoffen konnte, meinen bescheidenen Einfluss zu nutzen, um junge Menschen zu fördern und anzuleiten, und so begann ich, mich aktiv im gesellschaftlichen Bereich zu engagieren.
Doch die guten Zeiten währten nicht lang. Wegen seiner Atomversuche verdarb China es sich endgültig mit dem Westen und der Sowjetunion, und infolge der verhängten Sanktionen wurde das Leben von Tag zu Tag härter. Nahrungsmittel waren knapp und stark rationiert, auf der Straße sah man nur noch abgemagerte Menschen. Es hieß, selbst Mao esse kein Fleisch mehr. Dabei hatten wir in den Städten es noch gut. Blackie erzählte mir, dass der Hunger auf dem Land sogar Tote forderte. Doch wegen der Nachrichtensperre wusste niemand, wie schlimm es wirklich war, und keiner wagte es, offen darüber zu spekulieren. Auch wenn die Kulturrevolution vorbei war, so war das politische Klima doch weiterhin extrem angespannt. Es hieß, Feldmarschall Peng Dehuai sei auf der Parteikonferenz in Lushan wegen ein paar kritischer Bemerkungen aufs Heftigste bestraft worden.
Im Jahr darauf starb Shen Qian. Nicht an Hunger, sondern an Leberkrebs. Unser Status und unsere finanzielle Situation hätten es eigentlich ermöglicht, sie vernünftig behandeln zu lassen und ihr Leben zumindest noch ein wenig zu verlängern, doch seit dem Tod unseres Sohns hatte sie sich nie mehr richtig erholt und lehnte jede Behandlung ab. Die Unterernährung tat ihr Übriges, und sie musste nicht lange leiden. Man kann sagen, dass sie in Frieden ging. Sie freue sich für mich, dass ich es beruflich so weit gebracht habe, sagte sie mir auf dem Totenbett .
»Wir haben zusammengehalten … Wie im Gleichnis von Zhuangzi … Zwei Fische auf dem Trockenen … Das Leben war zu hart zu uns … Schwimm ohne mich weiter … Und sei nicht traurig. Es ist gut so.«
Ich umklammerte ihre Hand. Vor lauter Tränen war ich unfähig zu sprechen. Vor meinem geistigen Auge erschienen Szenen unserer Vergangenheit. Wie wir zusammen Putzdienst hatten, trotz meiner gegenteiligen Beteuerungen zum Paar erklärt wurden und deshalb nicht mehr miteinander redeten, ganz gleich, wie sehr das unsere gemeinsamen Pflichten verkomplizierte. Wie ich beim Fensterwischen einmal ins Schwanken kam und sie mein Bein packte, um mich zu stützen, woraufhin ich völlig aus dem Gleichgewicht geriet und auf sie fiel. Wie wir grimmig zur Schulkrankenschwester hinkten und uns auf dem Weg abwechselnd die Schuld gaben, während wir gleichzeitig größte Mühe hatten, ein Lachen zu unterdrücken … Diese bereits verblassten Erinnerungen schienen mir nun wie eine Vorschau unseres Lebens, in dem wir einander doch bis zuletzt gestützt und behütet hatten.
»Ich möchte dieses Lied hören … Nur noch ein Mal …«, hauchte Shen Qian mit schwacher Stimme. »Ich habe es schon so lange nicht mehr gehört … Kannst du es für mich singen?«
Ich wusste, welches Lied sie meinte. Ihr Lieblingslied, Durch Sturm und Regen vom taiwanesischen Sänger Wakin Chau. In der Mittelschule hatten wir es alle in- und auswendig gekonnt, aber das war schon viele Jahre her, und ich erinnerte mich nur noch bruchstückhaft an den Text. Trotzdem sang ich, mit tränenüberströmtem Gesicht, fing einfach irgendwo mittendrin an, sang von Liebe, Träumen, Schmerz und Hoffnung, auch wenn es in meiner vom Weinen brüchig gewordenen Stimme kaum noch nach Musik klang.
Shen Qian bewegte die Lippen im Takt des Lieds, bereits zu geschwächt, um noch selbst zu singen. Mit geschlossenen Augen lag sie da und ging ganz auf in dieser Melodie längst vergangener Zeiten. Durchs Fenster schien die Abendsonne herein und überzog ihr hageres Gesicht mit einem goldenen Glanz.
Wir sangen noch lange so zusammen.
14
Die Hungerjahre gingen endlich vorüber. Die Beziehungen zur Sowjetunion begannen aufzutauen, und der Außenhandel explodierte geradezu. Mithilfe der Sowjets wurden viele große Bauvorhaben in Angriff genommen, und die Wirtschaft kam allmählich wieder in Fahrt. Doch die Jahre gingen nicht spurlos an mir vorbei. Ehe ich mich’s versah, rückte mein sechzigster Geburtstag heran. Das Alter hatte mich eingeholt, ohne dass ich im Rückblick irgendetwas Bedeutsames mit meinem Leben bewirkt hatte. Ich gab die Leitung der Fakultät ab, um mich, solange ich noch die Kraft dazu besaß, ganz dem Schreiben zu widmen, wurde dann jedoch wider Erwarten für den Posten eines Vizepräsidenten der Uni vorgeschlagen und zudem noch ins ständige Gremium des Schriftstellerverbands gewählt, sodass mir vor lauter weltlichen Pflichten weder Zeit noch Muße blieb, um etwas zu Papier zu bringen.
Nach Shen Qians Tod gab es zahlreiche Versuche, mir eine neue Partnerin vorzustellen. Alle lehnte ich dankend ab. Auf einer großen Kultur-Gala machte mich Vizekulturminister Xia Yan mit Shangguan Yunzhu bekannt, einer bekannten Filmdarstellerin, noch keine vierzig Jahre alt, die während der Kulturrevolution stark gelitten hatte. Sie hatte sich von ihrem Mann scheiden lassen müssen und war mit ihrer Tochter nun ganz auf sich gestellt. Wir verstanden uns auf Anhieb und blieben fortan in regelmäßigem Kontakt, doch den andauernden Verkupplungsversuchen Xia Yans zum Trotz waren wir nie mehr als Freunde, die sich gut verstanden.
Eines Abends, als Shangguan Yunzhu gerade zu Gast bei mir war und wir ungezwungen über Filme plauderten – sie war um einiges jünger als ich und hatte Klassiker wie Titanic nie in voller Pracht im Kino gesehen –, klingelte plötzlich das Telefon. Kulturminister Mao Dun höchstpersönlich war am Apparat. Am Abend finde ein wichtiger diplomatischer Empfang statt und der Ministerpräsident bestehe auf meiner Teilnahme. Auf meine Nachfrage, was denn der Anlass des Empfangs sei, antwortete Mao Dun lediglich, dass es sich um den Besuch einer Delegation avantgardistischer Schriftsteller aus dem Westen handle und dass jemand darunter sei, den ich gut kenne. Genaueres wisse er aber auch nicht.
Ich mochte mir noch so sehr den Kopf zerbrechen – mir fiel beim besten Willen kein avantgardistischer Westautor ein, mit dem ich bekannt gewesen wäre. Selbst auf meine Frage nach Zeit und Ort der Veranstaltung hieß es bloß, ein Wagen würde kommen und mich abholen.
Abends brachte mich eine Limousine zum Grand Hotel Peking, das über eines der besten westlichen Restaurants des Landes verfügte. Der Saal war gefüllt mit einer sehr illustren Gesellschaft, und der Ministerpräsident selbst hielt ein Grußwort. Ich ließ meinen Blick über die Anwesenden wandern, und tatsächlich – ich konnte meinen Augen kaum glauben – inmitten einer Gruppe ausländischer Gäste erspähte ich sofort ein durch und durch vertrautes Gesicht.
Das Programm des Empfangs bestand aus einer langen Reihe offizieller Grußworte und höflicher Erwiderungen seitens der Gäste, gefolgt von einem äußerst vornehmen Staatsbankett. Erst als das Bankett endlich vorüber war und in einen Stehempfang überging, bot sich eine Gelegenheit, mit dem Ehrengast zu sprechen. Aufgeregt ging ich zu ihm hinüber und sagte, in gebrochenem Französisch: »Bonsoir, Monsieur Sartre
Hinter dicken Brillengläsern saß ein Paar stahlgrauer Augen und musterte mich neugierig. Ihr Besitzer schenkte mir ein höfliches Lächeln.
Auf Englisch stellte ich mich vor und erklärte, wie sehr ich sein Werk bewunderte, insbesondere Das Sein und das Nichts , über das ich mehrere wissenschaftliche Arbeiten verfasst hatte. Ich hätte nie zu hoffen gewagt, ihn eines Tages hier in China zu treffen.
»Oh«, Sartre hob die Augenbrauen, »und ich hätte nie gedacht, dass sich in China heutzutage noch jemand für mich interessiert.«
»Vor der Kulturrevolution waren Ihre Werke in China weit verbreitet«, erwiderte ich mit gesenkter Stimme. »Ihr Denken erschütterte und faszinierte unzählige Menschen, auch wenn es sich ihnen – wie mir auch – wohl höchstens ansatzweise erschloss. Für mich waren Ihre Werke eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration, und ich habe stets versucht, sie als Richtschnur meines Weltverständnisses heranzuziehen. «
»Das freut mich sehr zu hören. Meine theoretischen Abhandlungen sind jedoch bei Weitem nicht so mächtig, wie Sie vielleicht meinen. Ihr Nachdenken über die Welt an sich, das ist es, was zählt. Selbst zu denken, das ist das Wichtigste … Ich muss allerdings gestehen: Ich bin verblüfft. Ich dachte, Sie befassten sich hauptsächlich mit sozialistischer Theorie?«
Ich lächelte bitter: »Der Sozialismus ist unser Leben, doch dieses Leben hat schon viele – mich eingeschlossen – zu Existenzialisten gemacht. Vielleicht liegt ebenda der Berührungspunkt zwischen den beiden.«
»Mais oui …« Sartres Interesse war geweckt: »Was denken Sie denn über den Existenzialismus, wenn ich fragen darf?«
»Wie Sie sagen: ›L’existence précède l’essence – Die Existenz geht dem Wesen voraus.‹ Die Welt wurde aus einem wesenlosen Abgrund in die Existenz geworfen. Sie ist durch nichts gebunden außer die Zeit. An und für sich ist sie sinn- und bedeutungslos. Jeglicher Sinn folgt somit im Nachhinein der Welt an sich, weshalb ihr wiederum eine inhärente Absurdität innewohnt. Und dem stimme ich unumwunden zu: Die Existenz der Welt ist zutiefst absurd!« Ich hatte Mut gefasst und sprach aus, was mir seit Jahren keine Ruhe ließ: »Sehen Sie sich die Welt an! Wo kommt sie her? Worauf eilt sie zu? Als ich geboren wurde, verband uns das Internet mit der ganzen Welt, Hochgeschwindigkeitszüge rauschten durchs Land, in den Läden gab es alle nur erdenklichen Produkte zu kaufen. Es gab Literatur, Filme und Fernsehsender in Hülle und Fülle. Die Menschen freuten sich auf die Zukunft, weil sie glaubten, dass alles noch besser werden würde. Und jetzt? Internet und Mobilfunk – verschwunden. Selbst das Fernsehen gibt es nicht mehr. Und nicht ein Produkt, das nicht ständig knapp wäre. Es ist, als lebten wir in einer Welt, die sich immer weiter rückwärts bewegt. Ist das nicht absurd genug? Und steckt am Ende wirklich nichts anderes dahinter als die naturgegebene Wesenlosigkeit unserer Existenz?«
»Monsieur «, erwiderte Sartre amüsiert, »was Sie quält, habe ich – so scheint mir zumindest – verstanden. Was ich nicht verstehe, ist, weshalb Sie es als absurd empfinden.«
»Wenn die Existenz der Welt einen Sinn hätte, dann müsste es doch Fortschritt geben, oder etwa nicht? Wofür sollten all die Mühen und Anstrengungen der vorausgegangenen Generationen sonst gut gewesen sein? Aber ganz offensichtlich bewegt sich die Welt in umgekehrter Richtung! Womöglich ist sie am Ende gar nur ein Zerrbild der echten Welt.«
Sartre wog nachdenklich den Kopf, dann entgegnete er: »Mon ami , China ist doch die Heimat eines der größten Philosophen überhaupt – Zhuangzi, n’est-ce pas
»Ja, der gute Meister Zhuang. Ein wahrhaft großer Geist der Antike.«
Mit einem Leuchten in den Augen sah Sartre mir fest ins Gesicht: »Wie ich hörte, hat Zhuangzi einmal folgendes Gleichnis verfasst: Gib einem Affen morgens vier Nüsse und abends drei, so wird es ihn erfreuen; gibst du ihm aber morgens drei und abends vier, so wirst du es bereuen. Was meinen Sie? Der Affe in diesem Bild ist doch ziemlich dumm, oder?«
»Äh, gewiss … Die Einfältigkeit der Affen. Kenne ich.«
»Verstehen sie jetzt die Krux des Ganzen?«, fragte er mit schelmischen Grinsen. »Wir Menschen sind doch im Grunde genau wie diese Affen. Wie kommen wir dazu zu glauben, es gäbe so etwas wie eine ›korrekte‹ Reihenfolge, was die Geschichte angeht? Als wäre bei einer umgekehrten Abfolge von Leid und Glück plötzlich alles normal! Verschwinden all die Übel der Geschichte etwa, wenn man ihre Reihenfolge ändert?«
Ein Hauch von Erleuchtung durchfloss mich. Mir schien, als hätte ich etwas immens Wichtiges begriffen, war jedoch außerstande, es in Worte zu fassen.
Sartre war noch nicht fertig: »Wissen Sie, Fortschritt ist keineswegs ein ewiges Konzept, sondern lediglich ein kurzer Abschnitt dieses Universums. Ich verstehe nicht viel von Naturwissenschaften, aber ich glaube, Einstein war es, der gesagt hat, dass sich das Universum sowohl unentwegt ausdehnt als auch beständig zusammenzieht. Ganz ähnlich hat euer Laozi vom ewigen ›Sich-Öffnen und Sich-Schließen‹ gesprochen. Die Zeit kann also auch einen anderen Verlauf nehmen – vielleicht sogar mehr als einen. Vielleicht ist das Wesen der Zeit an sich multidimensional! Es gibt eine unendliche Auswahl möglicher Verläufe, und Menschen wie Ereignisse lassen sich beliebig anordnen und zusammenstellen. Ganz wie in Heraklits Aphorismus: ›Die Zeit ist ein spielendes Kind.‹«
Er fuhr fort: »Aber was dann? Mal abgesehen von der Richtung – was ist der Sinn von alldem hier? Die Welt existiert. Ihre Existenz geht ihrem Wesen voraus. Daher ist ihre Existenz an sich tief im Inneren ihres Für sich bereits vom Nichts durchsetzt. Sie ist aus sich heraus der Absurdität anheimgegeben, nicht aufgrund der Sequenz konkreter Ereignisse in ihr. Vielleicht haben Sie recht, und in einer anderen Zeitlinie gibt es ein völlig anders geartetes Universum, in dem die Menschheit aus der Dunkelheit ins Licht geht, sich von der Not hin zum Glück entwickelt – aber das macht es nicht ›besser‹. Denn letztendlich werden auch dort die in glücklichen Zeiten Geborenen glücklich und die in weniger glücklichen Zeiten Geborenen unglücklich sein. Aus Sicht Gottes macht es keinerlei Unterschied. Es gibt Menschen, die meinen, ein Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion käme dem Ende der Welt gleich. Dazu sage ich: Der Jüngste Tag ist längst passé ! Es war derselbe Tag, an dem diese Welt geschaffen wurde, nur haben wir dies ausgeblendet. Der Jüngste Tag bedeutet nicht die Auslöschung der Welt, sondern die Tatsache, dass alles um uns herum geschieht, jedoch nichts davon einen wahren Sinn hat. Es macht die Welt wieder zum urgewaltigen Ozean, auf dem nichts und niemand uns Halt bietet.«
Sartre legte eine Pause ein, scheinbar in Erwartung einer Einlassung meinerseits, doch mir schwirrte noch der Kopf. Nach langem Grübeln fragte ich schlicht: »Worin soll der Mensch Hoffnung schöpfen?«
»Hoffnung gibt es immer«, erklärte Sartre feierlich. »Aber sie liegt nicht in der Zukunft, denn die Zeit hat keine zwingende Richtung. In der Gegenwart, in der Existenz für sich , im Nichts und der Wahrheit des Nichts, darin liegt Freiheit! Der Mensch besitzt immer die Freiheit zu wählen. Einzig daraus bezieht er Würde und Trost.«
»Ich bin sehr vertraut mit Ihrer Theorie. Aber glauben Sie wirklich, dass wir Menschen, so klein und unbedeutend, wie wir sind, echte Wahlfreiheit besitzen?«, entgegnete ich ungewollt scharf. »Vor dreißig Jahren wurde ich von meiner großen Liebe getrennt. Sie blieb auf der anderen Seite des Pazifik zurück, und heute weiß ich nicht einmal, ob sie noch lebt. Habe ich die Wahl, sie suchen zu gehen? Und die zig Millionen Menschen, die vor ein paar Jahren in diesem Land verhungert sind – sie wären sicher alle noch am Leben, wenn es nach ihrer Wahl gegangen wäre. Oder noch extremer ausgedrückt: Viele Menschen mit noblen Idealen mögen sich einst für das kommunistische System entschieden haben, im Bestreben, die Menschheit aus ihrer Not zu befreien. Mit welchem Ergebnis? Haben Sie gesehen, wie es um China bestellt ist? Die Freiheit des Menschen ist eine bloße Illusion, nichts als ein billiger Selbsttrost! Angesichts unseres Zustands bleibt doch nur Verzweiflung.«
Sartre schwieg eine Weile, dann sagte er: »Vielleicht haben Sie recht. Doch frei zu sein heißt lediglich, dass man immer die Wahl hat – ohne Garantie, dass daraus Realität wird. Es mag nur billiger Selbsttrost sein – das Problem ist, dass uns abgesehen davon rein gar nichts bleibt.«
Ich war nicht sicher, ob ich Sartre richtig verstand. Gut möglich, dass er selbst sich nicht richtig zu erklären vermochte. Er blieb noch mehrere Wochen in China, und wir trafen uns oft zu langen Gesprächen. Er versprach, weiter über das nachzudenken, was wir diskutiert hatten, und es vielleicht sogar irgendwann einmal in einem seiner Bücher zu verwenden. Dann reiste er ab, und wir sahen uns nie wieder.
15
In den folgenden Jahren erlebte die Volksrepublik eine letzte kurze Blütezeit. Die Kulturrevolution gehörte der Vergangenheit an, und auch die spätere Verfolgung Rechter Elemente wurde wieder eingestellt. Im kulturellen Bereich war unter der Parole »Lasst hundert Blumen blühen und hundert Denkschulen miteinander wetteifern!« die Kontrolle stark gelockert worden. Die Partei nahm zudem im Zeichen »Neudemokratischer Reformen« eine Reihe von Anpassungen an ihrem sozialistischen Wirtschaftsmodell vor und duldete nun bis zu einem bestimmten Grad das Vorhandensein privatwirtschaftlicher Aktivität. Unterdessen traten die sino-russischen Beziehungen in eine überaus harmonische Phase ein. Mit wirtschaftlicher Hilfe der Sowjets nahm China einen neuen Fünfjahresplan in Angriff, überall im Land wurde mit Volldampf gebaut, geplant und projektiert. Allmählich keimte in den Menschen bereits wieder die Hoffnung auf eine bessere Zukunft auf.
Doch ganz gleich, wie sehr sich der sturmgeplagte Baum nach Ruhe sehnt, der Wind folgt seinen eigenen Gesetzen. Seit der kubanischen Raketenkrise waren die Spannungen zwischen Ost und West so groß wie nie zuvor. Schon wenig später war das Castro-Regime gestürzt worden, und Fulgencio Batista hatte mithilfe der Amerikaner eine Diktatur auf der Karibikinsel errichtet, womit der Kommunismus gänzlich vom amerikanischen Kontinent herunter und zurück in seine Hochburgen in Europa und Asien verdrängt worden war. Nunmehr rückte die Koreanische Halbinsel zwischen die Fronten. Entlang des 38. Breitengrads belauerten sich die beiden Lager schon seit Langem, und irgendwann – keiner weiß mehr, durch wen – fiel der erste Schuss. Der Koreakrieg brach aus. China wurde unweigerlich in den Konflikt hineingezogen und kämpfte mit einer viele Hunderttausend Mann starken »Freiwilligenarmee« an der Seite Nordkoreas .
Es war das erste Mal in meinem Leben, dass China und die USA sich auf dem Schlachtfeld direkt gegenüberstanden. Doch die Amerikaner hatten für den Beginn der Kampfhandlungen ausgerechnet den Moment gewählt, in dem China so schwach und ruhebedürftig war wie selten in seiner Geschichte. Der Krieg kam China alles andere als gelegen. Zwar leisteten die »Freiwilligenverbände« der amerikanischen Offensive tapfer Widerstand und verstrickten den Feind in einen mehrere Jahre währenden Stellungskampf entlang des 38. Breitengrads, doch sie zahlten dafür einen grausamen Preis. In den Gassen sprachen die Menschen hinter vorgehaltener Hand von mehreren Hunderttausend Gefallenen. Manche munkelten sogar, dass es längst über eine Million seien. Ich weiß nicht, wie hoch die Verluste tatsächlich waren. Doch wie unerbittlich und brutal das Kampfgeschehen sein musste, ließ sich schon daran ablesen, dass selbst einer von Maos eigenen Söhnen in Korea sein Leben verlor.
Die chinesische Wirtschaft kollabierte unter der Last des Kriegs. Die Preise schossen in unvorstellbare Höhen, und bittere Not breitete sich aus. Die Unzufriedenheit mit der Regierung nahm von Tag zu Tag zu, und irgendwann hörte man die Leute plötzlich einen Namen in den Mund nehmen, der bisher ein absolutes Tabu gewesen war: Chiang Kai-Shek.
Chiang war ein fanatischer Antikommunist. Die Lage in der Taiwan-Straße war schon seit Langem angespannt, aber die zahlenmäßige Überlegenheit Chinas hatte über Jahrzehnte hinweg dafür gesorgt, dass Taiwans Führung sich mit der Regierung ihrer de facto unabhängigen Inselnation begnügt und gegenüber dem chinesischen Festland eine rein passive Verteidigungsstrategie verfolgt hatte. Doch seit Chiang Kai-Shek zwanzig Jahre zuvor an die Macht gelangt war, hatte er begonnen, lautstark von der »Rückeroberung des Festlands« zu träumen. Jetzt, angestachelt von den Amerikanern, denen die festgefahrene Situation in Korea zu schaffen machte, fing er an, seine Rhetorik der Befreiung Chinas von der kommunistischen Herrschaft zu intensivieren.
Unterstützt von den USA, begannen taiwanische Flugzeuge und Kriegsschiffe entlang der chinesischen Küste aufzukreuzen; über Kanton und Shanghai ließ Chiang sogar Flugblätter abwerfen. Taiwanesische Truppenverbände infiltrierten Birma, und es kam zu kleineren Scharmützeln an der Grenze; wenig später hieß es, die Grenzprovinz Yunnan sei dem Feind in die Hände gefallen. Tibet sagte sich von China los und verkündete seine Autonomie. Chiangs marodierende Truppen, die unter der Flagge der »Chinesischen Nationalarmee« kämpften, durchzogen plündernd und brandschatzend weite Landstriche; in den Städten begannen ihre Agenten konterrevolutionäre Parolen an die Wände zu kleben; die aufgebrachten Säuberungskampagnen der Regierung blieben weitgehend wirkungslos, immer neue Gerüchte kamen in Umlauf und verunsicherten die Menschen noch mehr. Die zentrale Führung wollte so schnell wie möglich raus aus dem Fiasko auf der koreanischen Halbinsel, und die Kriegsparteien einigten sich schließlich auf einen Waffenstillstand. Die Parteiführung wollte mit den zurückbeorderten Truppen für Ruhe im eigenen Land sorgen, doch eben in diesem Moment startete Chiang Kai-Shek eine groß angelegte Offensive.
Die lange Epoche des Friedens, die seit meiner Geburt geherrscht hatte, war zu Ende. China versank im Bürgerkrieg .
Flankiert von der Seventh Fleet der US Navy, landeten die Truppen der Kuomintang in Kanton, kämpften sich von dort aus nach Norden vor und eroberten Nanjing. Die Regierung karrte die aus dem Koreakrieg heimgekehrten Verbände an die Südfront, doch diese waren längst kampfmüde und liefen in großer Zahl zu den Nationalisten über. Kaum ein volles Jahr später befanden sich alle Gebiete südlich des Yangtze-Flusses in Feindeshand, und auch die Lage im Norden wurde immer prekärer.
In diesen Zeiten wachsender Instabilität erreichte mich – auf Umwegen über die Sowjetunion – ein Päckchen mit Sartres neuestem Buch, in dem seine Eindrücke aus China sowie die Gespräche mit mir einen Schwerpunkt bildeten. Dazu hatte Sartre einen langen Brief an mich beigefügt. Er führte darin hauptsächlich ein paar Gedanken aus unseren philosophischen Gesprächen fort, und er war so voll mit umständlichen Satzgebilden und zungenbrecherischer Fachterminologie, dass ich ihm kaum zu folgen vermochte. Doch gegen Ende sprang mir völlig unvermittelt ein Name ins Auge: »Vor einiger Zeit hatte ich Besuch von einer chinesischstämmigen Gelehrten aus den USA, die eigens nach Paris gereist ist, um mich zu treffen. Ihr Name lautet Zhao Qi. Sie war schon seit Jahren nicht mehr in China …«
Qiqi! Meine Qiqi! Ich war wie vom Donner gerührt.
Mit Mühe und Not bekam ich meine Aufregung wieder unter Kontrolle und las weiter: »Sie ist eine ausgezeichnete Akademikerin und wünscht sich nichts sehnlicher, als beim Aufbau ihres Vaterlands einen Beitrag zu leisten. Ich habe mir erlaubt, Sie zu erwähnen, cher ami, und Frau Zhao würde Ihnen bei Gelegenheit liebend gern einmal einen Besuch in Peking abstatten. «
Danach wandte Sartre sich wieder unverwandten Themen zu.
Ich brauchte eine Weile, um meine schwirrenden Gedanken zu beruhigen und die Informationen in Sartres Brief nüchtern zu analysieren. Er war in jenem Jahr mehr als einen Monat in Peking zu Gast gewesen, und wir hatten uns ergiebig ausgetauscht – natürlich hatte ich dabei auch von mir und Qiqi erzählt und ihn gebeten, im Falle einer USA-Reise für mich Ausschau nach ihr zu halten. Dass er sie nur beiläufig erwähnte und so tat, als wisse er nichts von der Verbindung zwischen uns, war offensichtlich mit Bedacht geschehen. Er musste befürchtet haben, dass der Brief in falsche Hände geraten und uns womöglich schaden könnte. Die wichtigste Nachricht war: Qiqi würde versuchen, nach China kommen, und zwar nach Peking. Der Graben zwischen den beiden verfeindeten Lagern, der ihre Rückkehr bis jetzt verhindert hatte, bröckelte bereits. Sobald er wegfiel, stünde einem Wiedersehen zwischen uns nichts mehr im Weg.
Die Bedeutung dieses Teils von Sartres Brief war sonnenklar: Wenn ich Qiqi wiedersehen wollte, musste ich um jeden Preis in Peking bleiben!
16
Ich fieberte dem Tag entgegen, an dem Qiqi und ich wieder vereint sein würden. Doch nur wenige Tage später traf eine weitere erschütternde Nachricht ein: Chiang Kai-Shek hatte die Republik China – und damit sich selbst – zum alleinigen Souverän des Landes ausgerufen und Nanjing erneut zur Hauptstadt erklärt. Als Nächstes nahm er Peking ins Visier, das er wieder bei seinem früheren Namen »Beiping« nannte. Er schwor feierlich, die Kommunisten auch im Norden auszuräuchern und sein Einheitswerk zu vollenden.
Tags darauf erschien Blackie an meiner Tür, ein Blatt Papier in der Hand schwenkend. Er kam direkt zur Sache: »Erklär mir mal bitte, warum du dich noch nicht aus dem Staub gemacht hast!«
»Warum sollte ich?«, fragte ich begriffsstutzig.
»Du hast es wohl wirklich noch nicht mitbekommen, wie?« Er reichte mir den Zettel: »Hier, lies. Ein Flugblatt, das Kuomintang-Maschinen heute Morgen über der Stadt abgeworfen haben.«
Ich überflog das Pamphlet kurz. Darin stand, dass die Nationalarmee unaufhaltsam nach Norden marschiere und den kommunistischen Truppen eine empfindliche Niederlage nach der anderen zufüge; bald schon würde sie Beiping befreien; abgesehen von den Anführern und schlimmsten Kriegsverbrechern habe niemand etwas zu befürchten, noch sei Zeit überzulaufen et cetera et cetera …
Ich fragte leicht irritiert: »Und was soll ich jetzt damit?«
»Sieh auf die Rückseite!«
Ich drehte das Papier um. Auf der Rückseite war eine lange Liste der kommunistischen Hauptkriegsverbrecher abgedruckt. Zeile um Zeile dicht beschrieben mit den Namen von mindestens hundertfünfzig Personen, allen voran Mao Zedong, Zhou Enlai, Liu Shaoqi sowie die restliche Führungsriege der Partei. An vorletzter Stelle war Guo Moruo aufgeführt. Und darunter stand, zuallerletzt, ein Name, der vertrauter nicht hätte sein können: meiner.
»Wie … wieso ich?«, fragte ich perplex.
»Wie nicht?«, rief Blackie. »Bei all den Funktionärsposten, die du in den letzten Jahren bekleidet hast? Universitätspräsident, Generalsekretär der Kulturliga, Mitglied der Konsultativkonferenz, gern gesehener Gast auf Nationalempfängen und Staatsbanketten und neben Guo Moruo der wichtigste Vorkämpfer an der Kulturfront – wenn nicht du, wer dann?«
»Aber das waren doch alles bloß Scheintitel ohne echte Bedeutung! Ich hab keinen Funken Macht innegehabt!«
»Tja, Schein hin oder her – auf die Liste hast du es allem Anschein nach jedenfalls geschafft.« Blackie stieß einen Seufzer aus: »Chiang Kai-Shek überzieht den Süden mit Säuberungskampagnen, so hört man. Den Weißen Terror nennen es die Leute. Sie machen kurzen Prozess mit jedem, der im Verdacht steht, mit den Kommunisten gemeinsame Sache gemacht zu haben. Die Leichen der ›Kollaborateure‹ hängen sie von den Straßenlaternen, als Warnung für die Bevölkerung. Dein Name steht nun mal auf der Liste. Wenn Peking fällt, dann … bist du besser nicht mehr hier.«
Mit einem bitteren Lachen winkte ich ab: »Soll es doch kommen, wie es kommt. Ich lege mein Leben in die Hände des Schicksals. Aber was ist mit dir? Was hast du vor?«
»Junior ist ja beim Militär und seit einiger Zeit der Zentralen Schutzeinheit der Führung zugeteilt. Wir bleiben natürlich bei ihm. Er hat dafür gesorgt, dass wir mit nach Norden evakuiert werden. Übermorgen geht es los. Du triffst lieber auch bald deine Vorkehrungen, mein Alter. «
Wenige Tage später rückte das Kriegsgeschehen in unmittelbare Nähe. Erste Granaten schlugen in der Stadt ein. Mir kam ein Ausschnitt aus einer Nanjinger Zeitung in die Hände, in dem die »Verbrechen der kommunistischen Rädelsführer« aufgelistet waren. Auch mir galt ein Absatz. In einer Kurzvorstellung meiner Person wurde behauptet, ich hätte nach der Teilnahme an der Studentenrevolte von einst in der Haft Liu Xiaobo verraten, während der Kulturrevolution gegen Bezahlung die konfuzianischen Traditionen des Vaterlands kritisiert, Lügen und Irrlehren verbreitet und später als Funktionär auf autoritäre und korrupte Weise meine Macht missbraucht. Zudem hätte ich unzüchtige Science-Fiction-Romane verfasst, in denen ich den Kommunismus verherrlicht und verabscheuenswürdige Sexualpraktiken propagiert hätte, als stets treuer Diener der Diktatoren. Für all diese Verbrechen käme einzig und allein die Todesstrafe in Betracht …
Ich konnte mir ein bitteres Lachen nicht verkneifen. Ich hatte immer geglaubt, im Leben nicht viel bewirkt zu haben. In den Augen anderer waren meine Leistungen offenbar deutlich imposanter.
Am selben Abend pochte eine Gruppe bewaffneter Soldaten an meine Tür. Eine Abordnung der Zentralen Schutzeinheit, angeführt von Blackies Sohn, der ohne Umschweife gleich zur Sache kam: »Onkel Xie, wir kommen mit Befehl der Zentrale, dich aus der Stadt zu eskortieren.«
»Aus der Stadt? Wohin denn?«
»Der Kommandant des äußeren Verteidigungsrings um die Stadt hat uns verraten«, erklärte Blackie Junior. »Der Bastard ist zu den Nationalisten übergelaufen! Die Offensive auf die Stadt ist bereits im Gange. Um die Kulturschätze und Denkmäler der Hauptstadt nicht dem Krieg zu opfern, hat die Zentrale Führung entschieden, sich nach Xibaipo in der Provinz Hebei zurückzuziehen. Los, wir müssen uns beeilen! Es bleibt nicht viel Zeit!«
»Nein. Ich gehe nicht. Ich bin alt und vom Leben ausgezehrt. Die Strapazen überstehe ich nicht mehr. Soll das Schicksal doch mit mir anstellen, was es will.«
»Onkel Xie, du stehst auf der Liste. Hier zu bleiben bedeutet den sicheren Tod!«, versuchte Junior mich zu überreden, doch ich blieb stur.
Schließlich riss einer der anderen Wachen der Geduldsfaden: »Xie Bao-shu! Wenn du dich weigerst mitzukommen, ist das gleichzusetzen mit dem Überlaufen zum Feind sowie Verrat an der Revolution! Wenn nötig, knalle ich dich dafür eigenhändig ab!« Er richtete das finstere Ende seines Gewehrlaufs auf mich.
Junior hielt ihn hastig zurück und erklärte entschuldigend: »Tut mir leid, Onkel Xie, aber so lauten unsere Befehle! Wir haben dich aus der Stadt zu entfernen, so oder so. Wenn du dich weigerst, lässt du uns leider keine andere Wahl, als – unhöflich zu werden.«
Ich wusste, dass es sich nicht bloß um eine leere Drohung handelte. Widerstand war zwecklos. Einen langen Seufzer ausstoßend, erbat ich mir etwas Aufschub, um meine Sachen zu packen.
Eine Stunde später verließ ich, umringt von einer Handvoll Soldaten, mit einem kleinen Koffer in der Hand das Haus und stieg in den wartenden Militärjeep. Wir durchquerten die Stadt in westlicher Richtung. Es war bereits stockdunkel. Wir passierten zahlreiche zerbombte Gebäude. Die Fahrt war holprig, denn die Straße war voller Schutt und Einschlaglöcher. In der gesamten Stadt war der Strom ausgefallen, es gab keine Straßenbeleuchtung mehr, und bis auf einzelne Soldatentrupps sah man so gut wie keine Menschen auf der Straße. Hin und wieder fuhren Panzer vorbei, und in der Ferne konnte man dumpfes Kanonenfeuer hören. In mir weckte das alles unweigerlich Erinnerungen an jene blutige Nacht vor vierzig Jahren.
Wir bogen ein auf die Straße des Langen Friedens, und fuhren am Tian’an-Men und dem Eingang zur Verbotenen Stadt vorbei. Im fahlen Mondlicht blickte ich über die Weite des Platzes hinweg, die damals mit so viel Leben erfüllt gewesen war. Die Große Halle des Volks an seiner Westflanke hatte das heranrückende Kanonenfeuer bereits in Schutt und Asche gelegt, ebenso wie das Denkmal für die Helden des Volks auf dem Platz selbst. In der Mitte des Platzes ragte nach wie vor der kahle Fahnenmast auf, doch die rote Nationalflagge mit den fünf gelben Sternen darauf lag in Fetzen am Boden. Am Tian’an-Men war eine Gruppe von Soldaten dabei, eilig das übergroße Mao-Porträt abzuhängen und auf einen Laster zu verladen.
Obwohl ich dies alles mit eigenen Augen sah, fiel es mir schwer zu glauben, dass ich tatsächlich Zeuge dabei wurde, wie der Staat, in dem ich geboren und aufgewachsen war, noch zu meinen eigenen Lebzeiten unterging.
Eigentlich hatte ich geglaubt, dass mich nach all den Schrecken, die ich durchgemacht hatte, keine noch so großen Umwälzungen mehr erschüttern konnten. Doch ich hatte mich geirrt. Mein Blick verschwamm, und der Tian’an-Men-Platz begann auszufransen wie eine mit Wasserfarben gemalte Skizze aus längst vergangenen Zeiten. Seine Konturen verschmolzen zu einem verwaschenen Einerlei aus Tränen und Erinnerungen: Die Paraden zum Nationalfeiertag, die Studentenproteste, der Aufmarsch der Roten Garden – alles davongespült im Strom der Zeit. Aber wohin? Waren es nur Szenen eines bizarren Traums gewesen?
Mein Traum, noch einmal mit Qiqi vereint zu sein, lag ebenfalls in Trümmern. Über Jahre hatte ich in dieser Stadt ausgeharrt, doch jetzt, als sie davor stand, wieder heimatlichen Boden zu betreten, würde ich wer weiß wo im Land auf der Flucht sein. Womöglich würden wir uns nie mehr lebend wiedersehen …
Niemand verlor ein Wort, während das Auto holpernd aus der vom Krieg heimgesuchten Stadt hinaus und aufs tiefe Schwarz der Westberge zufuhr.
17
Eine Lampe auf dem Berg im Westen
Ein Licht auf dem Berg im Osten
Fluss, Erde, Staub und Stein
Wann nur wirst du bei mir sein …
Vor mir erstreckte sich das zentralchinesische Lössplateau. Wohin das Auge reichte, nur trostlose, braungelbe Erde, eine weite, bis zum Horizont reichende Einöde, die Wind und Regen über die Jahrhunderte mit unzähligen Furchen und Gräben durchzogen hatten, nicht unähnlich meinem von der Zeit mit tiefen Falten durchfurchten Gesicht. An den Berghängen kauerten sich karge Terrassenfelder. Ihre Linien zeichneten getreu nach, wie die Menschen diesem uralten Stück Erde seit jeher unter großen Mühen ihre Existenz abringen mussten. Die »Kostbare Pagode«, das Wahrzeichen der Stadt Yan’an, ragte in der Ferne einsam in den Himmel. Am Fuß des Bergs, auf dem wir uns befanden, wälzte sich der Yan-Fluss entlang. Irgendwo in einem nahe gelegenen Bergtal sang ein Bauer mit klarer, weitreichender Stimme eine alte Volksweise, deren vielfaches Echo lange nachhallte.
»Tja, Liebeslieder gehen halt immer. Selbst an Orten wie diesen«, meinte Blackie neben mir. »Scheiße, weißt du noch, dieser Song damals vom Lössplateau? Als Kind hab ich mir echt gewünscht, es eines Tages mit eigenen Augen zu sehen. Und da sind wir jetzt – zwei alte Säcke in der Einöde.« Er stieß einen wehmütigen Seufzer aus.
In den ersten Jahren des Bürgerkriegs hatte es mich mit der Armee kreuz und quer durchs Land getrieben. Zuerst nach Hebei, später dann in die »Befreiten Gebiete« tief im Inland. Vergangenes Jahr waren wir schließlich hier in Yan’an angelangt, wo ich – sage und schreibe – Blackie wiedertraf. Die Freude war groß, hatten wir doch beide einiges durchgemacht. Blackie war seinem Sohn aus den Nordprovinzen hierher gefolgt, seine Frau jedoch tragischerweise bei der Belagerung von Changchun ums Leben gekommen.
Zwar hatte die Volksbefreiungsarmee zu Beginn viele schwere Niederlagen eingesteckt, doch ab dem dritten oder vierten Kriegsjahr fasste sie unter dem Kommando von Lin Biao, Peng Dehuai, Liu Bocheng und anderen zügig wieder Fuß und begann zurückzuschlagen. Chiang Kai-Shek mochte zwar den Präsidententitel tragen und Nationalversammlungen abhalten, doch seinen Traum von der Einigung Chinas vermochte er sich nicht zu erfüllen. Je energischer er die »Ausmerzung« der Kommunisten forcierte, desto mehr schien seine Macht ins Wanken zu geraten. Kommunisten und Nationalisten lieferten sich zahllose Scharmützel, doch niemandem gelang es, nennenswert Boden gutzumachen. Angesichts der festgefahrenen Situation und der Kriegsmüdigkeit auf beiden Seiten wurde ein Waffenstillstand ausgehandelt, und man traf sich in Chongqing zu Gesprächen über die Bildung einer Koalitionsregierung. Da niemand zu Zugeständnissen bereit war, endete das Treffen jedoch ergebnislos.
Just als es so aussah, als würde der Bürgerkrieg erneut aufflammen, trat ein neuer, mächtiger Feind auf den Plan – in Japan waren die Militaristen an die Macht gelangt und nutzten die innere Spaltung der Nation, um hinterrücks in China einzufallen. Innerhalb kürzester Zeit erzielten sie enorme Landgewinne und zwangen Chiang Kai-Shek dazu, seine Hauptstadt von Nanjing nach Chongqing zu verlegen. Gleichzeitig rückten die Japaner nach Südostasien vor, überrannten die Philippinen und trugen den Krieg auch bis in den Pazifik. Die amerikanischen Truppen traf es völlig unvorbereitet, und sie mussten wie geprügelte Hunde mit eingezogenen Schwänzen das Weite suchen.
In Europa kam unterdessen durch einen Militärputsch ein kriegsbesessener Egomane namens Hitler an die Macht. Unter seiner Führung erklärte Deutschland umgehend der Sowjetunion den Krieg, eroberte die ostdeutschen Gebiete zurück und fiel in Frankreich ein. Plötzlich war überall Chaos auf Erden. Ein wahrer Weltkrieg war im Gange. Der Kalte Krieg von einst war Geschichte. Die USA und die Sowjetunion begruben ihre jahrzehntelangen Feindseligkeiten und schlossen eine Allianz gegen die aufstrebenden Achsenmächte Deutschland, Japan und Italien. Auch in China rückten angesichts dieser Bedrohung alle internen Streitigkeiten in den Hintergrund. Nationalisten und Kommunisten bildeten eine nationale Einheitsfront gegen die japanische Aggression und schlugen damit ein neues, historisches Kapitel auf.
Obwohl ich das Kriegsgeschehen aus nächster Nähe miterlebt hatte, war ich doch weitestgehend von seinen Auswirkungen verschont geblieben. Nach unserer Ankunft hier hatte man mich zunächst zum Präsidenten der Kunstakademie Yan’an ernannt, doch der Krieg verschlug auch viele landesweit bekannte Künstler in die Stadt, und wo die waren, war der Ärger nicht weit. Ich hatte schnell die Nase voll von den Querelen und trat unter dem Vorwand, meinen beruflichen Pflichten altersbedingt nicht mehr nachkommen zu können, von meinen Posten zurück. Als Ehrenpräsident wurde mir das Leben jedoch auch bald wieder zu langweilig, und so zog ich mit ein paar jungen Studenten durch die Täler des Umlands, sammelte Volkslieder und widmete mich mit wachsender Begeisterung dem Erhalt der traditionellen Künste. Auch wenn ich nur in einer simplen Höhlenwohnung lebte und es kaum etwas anderes als grob geschrotetes Korn zu essen gab, so war ich angesichts des Chaos, in dem die Welt versank, doch mehr als zufrieden, so meine Altersjahre zu verbringen.
Während Blackie und ich noch in Kindheitserinnerungen schwelgten, kam ein Student den Bergpfad hinauf auf uns zugerannt .
»Professor Xie! … In der Akademie! … Jemand sucht nach Ihnen!«, rief er, völlig aus der Puste.
»Und wer soll das sein?«, fragte ich genervt.
»Eine ältere Dame, glaube ich. Aus Amerika.«
Wie elektrisiert packte ich den Student bei den Schultern: »Eine ältere Dame? Was für eine ältere Dame? Wie lautet ihr Name? Wie alt ist sie?«
Erschrocken stammelte er: »Also, das … ich weiß nicht … so um die sechzig vielleicht … Ich hab sie nur kurz gesehen, bevor mich der Dekan losgeschickt hat … Er meinte, Sie würden sie kennen.«
Eine Dame … Aus Amerika … Um die sechzig – Es konnte niemand anderes als Qiqi sein! Qiqi! Sie war hier! Sie hatte mich endlich gefunden!
Ich ließ den Studenten stehen und rannte los, den Pfad hinab. Ich kam jedoch nicht sehr weit, bevor mein fortgeschrittenes Alter Einspruch erhob und mir schwindelig wurde. Ich hielt inne, schnappte nach Luft und lief dann in langsamem Tempo weiter. Nach kurzer Zeit schlossen Blackie und die anderen zu mir auf.
Ich musste ruhig bleiben, schärfte ich mir selbst wieder und wieder ein, sonst würde meine Vorfreude womöglich tragisch enden. Ich hatte jahrzehntelang auf diesen Moment gewartet, da kam es auf ein paar Minuten mehr nicht an. So oder so würde Qiqi bald schon leibhaftig vor mir stehen!
»Meinst du, es ist wirklich Zhao Qi?«, fragte Blackie.
»Wer außer ihr könnte es sonst sein? Blackie, bitte gib mir eine Ohrfeige, damit ich weiß, dass ich das hier nicht bloß träume!«
Blackie ließ sich das nicht zweimal sagen und verpasste mir eine heftige Backpfeife, die noch lange nachglühte. Den neugierig herbeieilenden Studenten schnauzte er entgegen: »Ihr Knirpse zieht gefälligst Leine! Das hier geht euch nichts an!«
Als sie sich erschrocken entfernt hatten, mahnte er: »Freu dich besser nicht zu früh. Du hast doch gehört, was der Zwerg eben gesagt hat: eine ältere Dame! Zhao Qi ist gleich alt wie du, wenn ich mich nicht irre. Sie ist schon lange nicht mehr die blutjunge Schönheit, die du in Erinnerung hast. Ihr habt euch seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Die Chancen auf eine Enttäuschung stehen hoch.«
»Weiß ich alles. Wir stehen beide mit einem Fuß im Grab. Ich kann ja kaum an was anderes denken«, seufzte ich. »Ich will sie doch nur noch ein Mal wiedersehen. Danach kann ich in Frieden sterben.«
»Ach weißt du, du bist zwar echt nicht mehr der Jüngste, aber für dein Alter hast du dich gar nicht so schlecht gehalten«, meinte Blackie augenzwinkernd. »Es ist vielleicht noch nicht zu spät für einen zweiten Frühling. Und falls ihr einen Trauzeugen braucht – ich steh bereit.«
Dank Blackies Aufheiterungsversuchen beruhigte ich mich wieder etwas. Plaudernd spazierten wir Schulter an Schulter den Rest des Wegs den Berg hinunter. Doch als das Spitzdach der Kunstakademie in Sichtweite kam, fing mein Herz erneut an, schneller zu schlagen.
18
Ihr Gesicht war mir unbekannt.
Bei der Dame handelte es sich nicht um Qiqi, sondern um eine Westlerin mit zwar leicht angegrautem, aber dennoch sichtbar blondem Haar und tief liegenden, azurblauen Augen, die mir ein wenig gedankenverloren entgegenblickten.
Ich starrte sie verwirrt an, bevor mich abgrundtiefe Enttäuschung überkam.
»Guten Tag«, begrüßte mich die fremde Dame in erstaunlich flüssigem Chinesisch, »Sie sind Herr Xie Bao-shu?«
»Ja, das bin ich … Darf ich fragen, wer Sie sind?«
»Mein Name ist Anna Louise Strong. Ich bin Schriftstellerin.«
Diesen Namen kannte ich. Sie war eine linke Journalistin und Schriftstellerin aus den USA, die sich mit China solidarisiert und viele Jahre in Peking zugebracht hatte. In zahlreichen Büchern und Berichten hatte sie versucht, dem Westen das maoistische China näherzubringen, und war eng mit dem Vorsitzenden und mit Zhou Enlai vertraut. Ich hatte schon viel von ihr gehört, doch wir waren uns nie begegnet. Sie war schon vor Langem zurück nach Amerika gegangen, wie ich gehört hatte. Es muss in etwa zur Zeit von Shen Qians Tod gewesen sein. Dass sie nach Yan’an gekommen war, verwunderte nicht – aber was konnte sie von mir wollen?
»Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte ich höflich.
Anna sah mich mit einem merkwürdigen Ausdruck im Gesicht an. Eine böse Vorahnung überkam mich. Sie zögerte kurz, bevor sie sagte: »Es geht um etwas sehr Wichtiges. Aber es wäre besser, wir unterhielten uns an einem privateren Ort … Nur Sie und ich.«
Ich wohnte unweit der Akademie in einer einfachen Erdhöhle. Ich lebte allein – das Angebot der Partei, einen Studenten zu meiner Betreuung abzustellen, hatte ich dankend abgelehnt. Keine zehn Minuten später standen wir in meinem Wohn- und Schlafzimmer. Anna holte ein sorgsam eingebundenes Päckchen aus ihrer Reisetasche hervor und begann, es langsam Schicht um Schicht auszuwickeln. Mich überkam eine unerklärliche Nervosität. Schließlich zog sie einen grob gearbeiteten braunen Tontopf hervor und stellte ihn vorsichtig auf den Tisch.
Mit ernster Miene sagte sie: »Hier drin befindet sich die Asche von Frau Zhao Qi.«
Verwirrt starrte ich das kleine Behältnis an. Es wollte mir einfach nicht gelingen, dieses schwere, unförmige Etwas mit der Leichtigkeit und Schönheit zu verknüpfen, mit der ich die Qiqi meiner Erinnerung verband. Was hatte dieses … Ding mit meiner Qiqi zu tun?
»Ich verstehe Sie nicht«, antwortete ich, nicht etwa aus Schock über das eben Gehörte, sondern aus echtem Unverständnis.
Anna sah mich mitfühlend an. »Es tut mir sehr leid. Zhao Qi … Sie ist von uns gegangen.«
Diesmal verstand ich. Es gab keinen Zweifel mehr – Qiqi war tot.
Die Luft im Raum schien zu gefrieren. Ich stand wie angewurzelt da, nicht in der Lage, Gedanken zu formen, geschweige denn Worte. »Geht es Ihnen gut?«, fragte Anna besorgt.
Nach einer langen Weile nickte ich bedächtig und antwortete: »Ja, ja, danke. Ach richtig – setzen Sie sich doch bitte. Kann ich Ihnen ein Glas Wasser anbieten?« Ich war selbst erstaunt, dass ich in diesem Moment noch fähig war, mich um solche Nebensächlichkeiten zu kümmern.
Tausendfach hatte ich mir ausgemalt, wie ein Wiedersehen mit Qiqi ablaufen würde. Natürlich hatte ich dabei auch die Möglichkeit bedacht, dass mir jemand die Nachricht von ihrem Tod überbrachte und wie ich darauf reagieren würde. Ich war immer davon ausgegangen, dass ich entweder zusammenbrechen und unkontrolliert weinen oder das Bewusstsein verlieren und womöglich ebenfalls auf der Stelle tot umfallen würde. Doch ich hatte mich getäuscht. Ich war selbst überrascht, mit welch erstaunlicher Gefasstheit ich die Nachricht aufnahm. Vielleicht hatte ich tief in mir längst geahnt, dass meinem Leben kein Happy End vergönnt sein würde.
»Wann ist sie gestorben?«
»Vor drei Tagen. Ganz in der Nähe von hier, in Luochuan.«
Anna Louise Strong begann zu erzählen.
Qiqi hatte trotz der Kriegswirren nie aufgehört, meine Spur zu verfolgen. Dank meines bescheidenen Ruhms und meiner Aufnahme in die Liste der Kriegsverbrecher hatte sie herausgefunden, dass ich Teil des großen Trosses war, der von Peking aus ins Inland gezogen war, immer auf der Flucht und jahrelang ohne feste Basis. Doch seit Nationalisten und Kommunisten gemeinsam gegen die Japaner kämpften, waren auch wir plötzlich Teil der alliierten Kräfte und somit Verbündete der Amerikaner. Mit einem Mal beschleunigte sich der Nachrichtenaustausch, und Qiqi brachte umgehend meinen Aufenthaltsort in Yan’an in Erfahrung. Sie beschloss, zu mir nach China zu reisen. Auf dem Schiff, mit dem sie fuhr, lernte sie Anna kennen, die ebenfalls nach Yan’an wollte. Die beiden freundeten sich an, und während der monatelangen Reise erzählte Qiqi ihr nach und nach unsere Geschichte.
Als sie Hongkong erreichten, war die Stadt bereits zur Enklave geworden, denn die Japaner hatten inzwischen den gesamten Osten Chinas unter ihre Gewalt gebracht. Es blieb nur der Seeweg nach Guangxi und von dort aus ein langer Treck über Land durch Guizhou, Sichuan und Shaanxi hindurch, um nach Yan’an zu gelangen.
»Zhao Qi war schon in fortgeschrittenem Alter. Hinzu kam ihre Behinderung. Die Reise kostete sie sehr viel Kraft. Bei unserer Ankunft in Xi’an war sie bereits stark geschwächt, aber um die anderen nicht aufzuhalten, zwang sie sich weiter voran. Als wir Luochuan erreichten, konnte sie nicht mehr. Sie wurde bettlägerig … Es ging alles so schnell. Schon einen Tag später ist sie … Wegen des Kriegs war es unmöglich, an Medikamente zu kommen. Wir taten alles, was in unserer Macht stand, aber wir konnten sie nicht retten …« Anna versagte die Stimme.
»Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen. Sie haben alles versucht.« Plötzlich war ich es, der sie zu trösten versuchte. Anna sah mich verblüfft an. Meine Gefasstheit schien sie zu überraschen.
»Erzählen Sie mir bitte noch von Qiqis Zeit in Amerika. Wie ist es ihr all die Jahre dort ergangen?«, bat ich.
Nach meiner Abreise hatte Qiqi allein ihr Studium fortgesetzt. Sie wartete darauf, dass ich zurückkam. Als dies nicht geschah, schrieb sie mir viele Briefe, die jedoch alle unbeantwortet blieben. Nach der Promotion fand sie eine Stelle als Dozentin an einer Universität und heiratete ein weiteres Mal, doch die Einzelheiten kannte Anna nicht. Sie wusste lediglich, dass Qiqis Mann vor mehr als zehn Jahren verstorben war und dass sie schon einige Jahre früher vorgehabt hatte, nach China zurückzukehren, doch dann kam der Bürgerkrieg und verhinderte es. Als sie sich endlich entschloss, die weite, beschwerliche Reise auf sich zu nehmen, durchkreuzte der Tod ihren Plan – kaum eine Tagesreise vom Ziel entfernt.
»Wegen der bergigen Route war es unmöglich, ihren Leichnam mitzunehmen. Es blieb nur die Feuerbestattung. Sie konnten ihr zum Abschied noch nicht einmal ins Gesicht sehen. Es tut mir so schrecklich leid …«
»Schon gut. Wir haben uns gesehen«, unterbrach ich sie. Vorsichtig hob ich die Urne hoch. »Wir sind wieder vereint, Qiqi und ich. Jetzt kann uns nichts mehr trennen. Ich danke Ihnen.«
Ohne Annas ungläubigen Gesichtsausdruck zu beachten, drückte ich Qiqis Urne an die Brust und murmelte leise vor mich hin. Tränen strömten über meine Wangen. Es waren Tränen des Glücks.
Epilog
Blutrot lehnte die Abendsonne an der einsamen Pagode und warf ihre letzten matten Lichtstrahlen über Berg und Tal. Ihr Schein kleidete die hügelige Landschaft Nordchinas in ein dünnes, goldenes Gewand. In der Ferne brach sich ihr Licht in den Wellen des Yan-Flusses, in dessen Strom ein paar sorglose junge Rekruten dabei waren, sich unbeschwert eine Wasserschlacht zu liefern.
Ich saß unter einem Baum, Qiqi neben mir. Ihr Kopf ruhte sanft auf meiner Schulter. Fast mein ganzes Leben über hatte ich mich nach ihr gesehnt, die Hoffnung auf ein Wiedersehen schon fast begraben. In den letzten Jahren hatte ich mich kaum noch getraut, auch nur an ihren Namen zu denken, damit der Schmerz darüber nicht unerträglich wurde. Jetzt war das Pendel des Schicksals offenbar wieder an seinen Ausgangspunkt zurückgeschwungen. Nach allen Umwälzungen, die wir mit angesehen, dem unsäglichen Glück und den zahllosen Abgründen, die wir durchlebt hatten, waren wir ein letztes Mal vereint. Die Zeit, die uns entronnen war, war nicht mehr wichtig. Selbst Leben und Tod waren nicht länger von Belang. Denn wir waren ein letztes Mal zusammen.
»Ich weiß nicht, ob du es weißt«, flüsterte ich Qiqi zu, »aber deine Mutter ist während der Kulturrevolution gestorben. Ich habe mich um ihre Beerdigung gekümmert. Die Verwandtschaft mit dir hat sie in ein paar Schwierigkeiten gebracht, aber letztendlich ist sie gegangen, ohne lange zu leiden … Ich war bei ihr. Bevor sie starb, bat sie mich, dir zu sagen, dass sie dir ein glückliches Leben in Amerika wünschte und dass du nie wieder nach China zurückkehren solltest. Aber ich wusste immer, dass du eines Tages wiederkommen würdest …«
»Erinnerst du dich noch an Blackie? Er ist jetzt ebenfalls hier in Yan’an! Ist auch nicht mehr der Jüngste, aber immer noch genauso albern wie früher. Letzten Monat erst meinte er noch zu mir, dass wir zusammen wandern gehen sollten, falls du wiederkommst. So wie damals … Keine Sorge wegen deines Beins, der Pagodenberg ist nicht sehr hoch. Ich kann dich ja huckepack nehmen …«
»Meine Mutter ist vor mehr als zwanzig Jahren gegangen. Sie hat sich gewünscht, dass wir beide die zwei Jade-Armreife tragen, die sie als Familienschmuck geerbt hatte. Später hat Shen Qian einen davon bekommen, aber die Roten Garden haben ihn als reaktionäres Relikt zerstört … Den anderen habe ich die ga nze Zeit über versteckt und für dich aufgehoben … Sieh mal. Gefällt er dir?«
Ich zog den glänzend glatten Armreif hervor, den ich in einem Tuch eingewickelt und im Rucksack verstaut mit hergebracht hatte. Sanft streichelte ich über seine Oberfläche und bewunderte den herrlichen Schimmer, den ihm die Abendsonne verlieh.
»Was ich noch mitgebracht habe, willst du wissen?« Ich musste lächeln. »Viele schöne Dinge, die ich all die Jahre aufbewahrt habe. Es war nicht immer einfach, glaub mir … Sieh her.«
Ich öffnete den Rucksack und holte, eines nach dem anderen, meine kostbarsten Erinnerungsstücke hervor. Sie waren mir nie von der Seite gewichen, egal, wie mühsam es mitunter gewesen war. Viele davon begleiteten mich bereits seit mehr als einem halben Jahrhundert: Ein Stapel englischsprachiger Briefe, die Qiqi mir in der Mittelschule geschrieben hatte; eine Audiokassette von New Concept English , die sie mir geschenkt hatte; Fotos mit Szenen aus Tokyo Love Story , ausgeschnitten aus diversen Zeitschriften während unseres Studiums; eine Haarsträhne, die ich ihr abgeschwatzt hatte, nachdem wir ein Paar geworden waren; ihre violette Haarspange vom Tian’an-Men-Platz; unsere wenigen gemeinsamen Fotos aus New York; ihr im maoistischen Stil verfasster Brief, mit dem sie während der Kulturrevolution zu mir durchgedrungen war …
Eines nach dem anderen betrachtete ich die Gegenstände und gab mich ganz den Erinnerungen hin. Es war wie ein Blick mit dem Teleskop zurück in der Zeit, einer Zeit, die so weit entfernt schien wie die Sterne der Milchstraße. Oder wie ein Tauchgang im Meer der Geschichte, auf der Suche nach vergessenen Schätzen im Bauch eines längst gesunkenen Schiffs. So weit lag alles zurück, tief begraben unter dem Sediment der Jahre und Jahrzehnte, die seither verstrichen waren, nur noch mit Mühe auszumachen, wie verwaschene Fossilien. Aber vielleicht waren es auch Samen, die nach vielen Jahren des Schlafs irgendwann keimen und deren Sprossen aus den Tiefen der Seele erneut an die Oberfläche dringen würden …
Als Letztes zog ich Blütezeit, Regenzeit hervor, das ganz zuunterst im Rucksack lag. Es war noch genau so, wie Qiqi es in der Mittelschule bei uns vergessen hatte, bloß waren die Seiten nach den vielen Jahrzehnten, die seither verstrichen waren, vergilbt und brüchig. Ich hatte es schon seit Jahren nicht mehr aufgeschlagen. Jetzt wog ich es in der Hand, strich mit den Fingern sanft über den Schutzeinband, mit dem Qiqi es versehen hatte, betrachtete ihre Handschrift auf dem Umschlag. Das Kalenderpapier, in das sie es eingeschlagen hatte, war glatt und auf eine so wundersame Weise vertraut, als täte sich vor mir ein Tunnel in die Vergangenheit auf.
Behutsam schlug ich es auf und las ein paar beliebige Seiten. Da spürte ich unter meinen Fingerkuppen plötzlich eine eigenartige Erhebung. Ich tastete den Einband genau ab. Tatsächlich, zwischen Schutzumschlag und Cover war etwas eingeklemmt. Eine Karte, kaum wahrnehmbar, denn sie war vom Format her nur ein winziges Stückchen kleiner als das Buch selbst. Mein Herz begann, wie verrückt zu pochen.
Ich versuchte, den Einschlag vorsichtig abzuschälen, doch ich hatte unterschätzt, wie brüchig das Papier inzwischen geworden war. Ich brauchte nur kurz daran zu ziehen, und schon fiel der Einband samt Schutzumschlag ab. Ein buntes Stück Pappe kam zum Vorschein und tanzte, einem Schmetterling gleich, für einen kurzen Moment im abendlichen Glanz der Sonne durch die Luft, bevor es auf dem Boden vor meinen Füßen zu ruhen kam.
Vorsichtig hob ich es auf. Es handelte sich um ein hochauflösendes Farbfoto, aufgenommen wahrscheinlich noch mit einer Digitalkamera. Ein von einem gewaltigen Feuerwerk erhellter Nachthimmel war zu sehen, darunter im Hintergrund eine strahlende Leinwand, auf der man verschwommen ein prächtiges Stadion erkennen konnte. Plötzlich erinnerte ich mich wieder – das Vogelnest ! Im Vordergrund waren viele Menschen zu sehen, mit Kleidungsstücken in allen nur erdenklichen Farben. In den Händen hielten sie kleine Landesfähnchen, Zuckerwatte oder Popcorn. Sie sahen glücklich aus und liefen beschwingt hin und her …
In der Mitte des Bilds standen zwei Kinder im Alter von drei bis vier Jahren. Ein kleiner Junge mit einer kurzen grauen Jacke und ein kleines Mädchen, das ein rosarotes Röckchen trug. Sie standen dicht zusammen und hielten einander an der Hand. Ihre Wangen leuchteten rot im Schein des Feuerwerks, und auf ihren Gesichtern lag ein reines, unschuldiges Lächeln.
Es dauerte sehr lange, bis es mir gelang, den Blick vom Foto zu lösen und auf die Rückseite zu schauen. Dort stand in schöner, geschwungener Handschrift eine einzige Zeile geschrieben:
Das Knuddelschaf muss nach Hause. Pass auf dich auf, mein Wuselwolf. Dahinter war ein Smiley gemalt.
Ein heimliches Geschenk, das Qiqi mir vor über fünfzig Jahren hinterlassen und das ich nie ausgepackt hatte.
Die letzten Worte, die ich mit Anna Louise Strong gewechselt hatte, kamen zurück :
»Hat sie vor ihrem Tod noch etwas gesagt?«
»Ja, allerdings war sie da schon nicht mehr bei vollem Bewusstsein … Sie sagte, sie würde in Ihre gemeinsame Vergangenheit zurückkehren. Und dass Sie sie an dem Ort wiedertreffen würden, an dem Sie sich zum ersten Mal begegneten … Ich weiß nicht, was sie damit meinte.«
»Dass wir womöglich eines Tages alle wieder dorthin zurück gehen.«
»Wohin?«
»Dorthin, wo die Welt ihren Anfang nahm. Zurück zum Ursprung des Lebens. An den Anbeginn der Zeit. Zu dem Punkt vor allem Entstehen, an dem wir uns womöglich für eine andere Richtung entscheiden und ein völlig anderes Leben uns erwartet.«
»Ich verstehe nicht …«
»Ich auch nicht. Vielleicht liegt der Sinn unseres Lebens eben darin, dieses Rätsel zu ergründen. Vielleicht begreifen wir es erst ganz am Ende unseres Daseins.«
»Es ist Zeit«, flüstere ich Qiqi neben mir zu. »Lass uns zusammen zurückgehen, ja?«
Qiqi gibt wortlos ihr Einverständnis.
Ich schließe die Augen und spüre, wie die Welt um mich herum sich aufzulösen beginnt. Schicht für Schicht schält sich ab, eine Epoche nach der anderen kommt zum Vorschein und gleitet zurück ins Nichts. Die Namen unzähliger Menschen leuchten auf und geben ihren Platz am Himmel der Geschichte wieder frei, als hätten sie nie existiert. Wir sind mit einem Mal wieder dreißig Jahre alt. Zwanzig. Fünfzehn. Fünf … Qiqi und ich sind nicht allein, bei uns sind auch Shen Qian, Blackie und al le anderen. Zusammen kehren wir alle zurück an den Ausgangspunkt unseres Lebens, werden wieder zu Föten, zu Embryos, sind schließlich ganz am Anfang angelangt, in den Urtiefen der Existenz. Es gilt, sich für eine neue Welt zu entscheiden, eine neue Zeitlinie, neue Möglichkeiten …
Im Osten ist die Sonne bereits hinter den Horizont gesunken. Ein langer Tag neigt sich dem Ende zu, doch morgen schon wird sie wieder aufgehen. Auf den Terrassenfeldern entlang der geschwungenen Berghänge wiegt sich millionenfach der Schlafmohn. Im Abendrot glühen seine reifen Knospen in unvergleichlicher Pracht .
Schlussbemerkung des Autors
Es gibt viele lesenswerte Geschichten, in denen die Zeit rückwärtsläuft. Zu nennen wären beispielsweise The Collapse oft the Universe vom Großmeister Cixin Liu, Zurück in der Zeit von J. G. Ballard oder Das Porträt von Kaijō Shinji. Aber der Grundgedanke von »Großes steht bevor« ist dennoch ein anderer. Hier ist es die gesellschaftliche und politische Umgebung, die sich rückwärts entwickelt, während das Leben und der Alterungsprozess der Protagonisten ganz normal weiterläuft.
Diese absurde Idee hat ihre Wurzeln in einer ganz konkreten Gegebenheit: Während einer Podiumsdiskussion, an der ich teilnahm, meinte einer der anderen Gäste, dass es bei der Wahl eines gewissen Politikers aus dem Südwesten Chinas ins Zentralkomitee der KP erneut zu einer Kulturrevolution kommen würde. Ich war zwar keineswegs einverstanden mit dieser Aussage, aber sie machte mich dennoch nachdenklich. Wie wäre es wohl, wenn unsere Generation mit vierzig oder fünfzig Jahren auf einmal mit den Zuständen während der Kulturrevolution konfrontiert wäre? Oder noch weiter gefasst: Was, wenn die gesellschaftliche Uhr plötzlich anfinge rückwärtszulaufen? Als ich erst einmal angefangen hatte, diesen Gedanken nachzugehen, war es wie eine Art Rausch. Ich konnte nicht anders, als ihn zu Ende zu führen.
Natürlich gibt es schon eine ganze Reihe von Werken, die sich mit dem Thema »Rückschritt« befassen, seien es Dystopien oder Endzeitromane. Darin geht es den Menschen in der Zukunft meist schlechter als heute, oft wird die gesamte Menschheit quasi ins Mittelalter zurückgeworfen. Aber genau genommen handelt es sich dabei nicht wirklich um gesellschaftlichen Rückschritt, sondern um das Ergebnis von Rückschlägen oder Katastrophen, die uns in den Abgrund stürzen. Oft sind es gerade diese Hintergrundgeschichten, die uns anziehen: Alien-Invasionen, Umweltzerstörung, Atomkriege, um bloß einen kleinen Teil zu nennen. Dabei handelt es sich jedoch immer um Zukunftsszenarien, die über die Menschheitsgeschichte hinausgehen. Auch deshalb bekam ich Lust, diese Story zu schreiben, die strikt in einer »Nicht-Zukunft« handelt. Die Gesellschaft braucht keinen besonderen Grund, damit es rückwärtsläuft. Sie dreht sich von ganz allein immer weiter ein in ihre eigene Vergangenheit, ohne dass die Menschen etwas daran ändern könnten, tatsächlich fällt es ihnen nicht einmal auf.
Die Umkehr der Zeit bildet hier den Rahmen, aber genau genommen ist es nicht die Zeit, die sich umkehrt, sondern die Laufrichtung der Geschichte. Die historischen Personen, die im Text vorkommen, kann man als Protagonisten einer alternativen Zeitlinie betrachten, die lediglich dieselben Namen tragen wie ihre realen Vorbilder, aber sonst in keinerlei Beziehung zueinander stehen.
Ich habe diese Geschichte bloß zu meinem eigenen Vergnügen geschrieben, und obwohl viele politisch sensible Ereignisse vorkommen, ist damit keine verdeckte Botschaft oder Hoffnung verknüpft. Wenn es sie gäbe, würde sie lauten: Mögen sich all die Tragödien, die uns als Volk widerfahren sind, nie mehr wiederholen.