Kapitel 12  
Die beantwortete deutsche Frage

Zwei Visionen: 1949 – 1973

»Ich liebe Deutschland so sehr, dass ich froh bin, dass es zwei davon gibt.« Diese Worte des französischen Schriftstellers François Mauriac waren eine clevere Variation auf die verbreitete Auffassung, dass die »deutsche Frage« gelöst werden müsse. In Jalta und Potsdam waren die Alliierten in Bezug auf diese Lösung in zunehmendem Maß uneins gewesen. Danach folgte mit der Teilung Deutschlands eine ungeplante, provisorische Lösung, die vierzig Jahre Bestand haben sollte. In dieser Zeit befand sich Deutschland als Brennpunkt der internationalen Beziehungen gelegentlich im Zentrum der weltweiten Aufmerksamkeit, am offensichtlichsten während der Berlinkrise von 1958 bis 1961. Aber die deutsche Frage in ihrer vorherigen Form verschwand nie ganz. Während Kriege und Bürgerkriege anderswo Millionen von Opfern forderten, lebten die Bewohner der beiden deutschen Staaten unter den Bedingungen eines unsicheren Friedens. Die einzigen deutschen Opfer, die den 3,5 Millionen Toten und Verletzten des Koreakrieges von 1950 bis 1953 entsprachen, waren die imaginären Opfer von Kriegsspielen, wie der NATO-Übung »Carte Blanche« von 1955, bei der 335 auf Deutschland abgeworfene hypothetische Atombomben geschätzte 1,7 Millionen Tote forderten.[1] Übungen wie diese erinnerten daran, dass der Frieden unsicher war und die beiden deutschen Staaten an der Frontlinie des Kalten Krieges lagen. Die mit einem vereinigten, neutralen Deutschland verbundenen Hoffnungen – und Ängste – verwirklichten sich nicht: Die Trennlinie in Europa verlief durch Deutschland, nicht außen herum. Nach 1949 bedeutete Deutschland in der Welt ein geteiltes Deutschland in einer geteilten Welt.

In Christa Wolfs Roman Der geteilte Himmel von 1963 über ein ostdeutsches Liebespaar sagt einer der beiden, ein Chemiker: »Heutzutage wird in Deutschland ja alles doppelt betrieben, auch die Chemie.«[2] In den Jahren nach 1949 wurde eine Art kontrolliertes Experiment darüber durchgeführt, wie man alles zweimal organisiert.[3] Manches davon war groß und augenfällig – Wirtschaft, Religion, Familie, die Stellung der Frau, Umweltschutz, der Umgang mit der NS-Vergangenheit. Anderes fiel weniger ins Auge: Wie reagierte der einzelne Deutsche auf die Rückkehr von Kriegsgefangenen, das Gedenken an die Luftangriffe des Zweiten Weltkriegs oder das Problem von Herzkrankheiten? Zu all dem haben Historiker sich zu Wort gemeldet.[4] Die Ost- und Westdeutschen selbst verglichen sich ständig, zumeist mit einem Seitenblick auf die Welt und ihr Urteil. Es gehörte zur Herausbildung einer getrennten Identität, dass das eine Deutschland sich dem anderen gegenüberstellte.

Die grobe Simplizität des Wir-gegen-sie war nie wieder so deutlich wie in den 1950er- und frühen 1960er-Jahren. Perfekt verkörpert wurde die Gegenüberstellung von den beiden Führungsfiguren, Ulbricht und Adenauer. Sie waren wie Tag und Nacht. Adenauer, geboren 1876 – als die Lebenserwartung für Männer unter vierzig Jahren lag –, war 73 Jahre alt, als er Kanzler der Bundesrepublik Deutschland wurde. Ulbricht, 1894 geboren, war eine Generation jünger. Der aus dem rheinischen katholischen Bürgertum stammende Adenauer studierte Rechtswissenschaft, war viele Jahre Oberbürgermeister von Köln und hielt sich im Dritten Reich zumeist zurück. Ulbricht, Sohn eines armen Schneiders in Leipzig und abtrünniger Protestant, war in den letzten Jahren der Weimarer Republik ein junger kommunistischer Organisator, verbrachte die NS-Zeit in Moskau und überlebte im Gegensatz zu vielen anderen deutschen Kommunisten Stalins Säuberungen.

Adenauer und Ulbricht repräsentierten die kompromisslosen Elemente ihrer Seiten. Die Unionsparteien, Adenauers Christlich Demokratische Union (CDU) und deren bayerische Schwesterpartei, die Christlich-Soziale Union (CSU), die die Politik der frühen Bundesrepublik dominierten, verfolgten einen streng antikommunistischen Kurs, was bei den Vereinigten Staaten und bei Emigranten und Vertriebenen gut ankam. Adenauer selbst hatte wenig übrig für die »Ostler«, umwarb aber aus politischen Gründen ihre Organisationen. Der Antikommunismus war außerdem ein Mittel, mit dem die SPD als marxistische Partei wie jene »da drüben« in der von Konservativen so genannten »Zone« diskreditiert werden konnte. Ulbricht andererseits erging sich, ganz Kalter Krieger, in Schimpfkanonaden auf kriegstreiberische Amerikaner und revanchistische Westdeutsche und strich die antifaschistische Grundhaltung der DDR heraus. Er selbst und die ostdeutsche Presse hatten in Figuren wie Adenauers engem Vertrauten Hans Globke, der 1953 zum Staatssekretär und Chef des Bundeskanzleramts aufstieg, einfache Propagandaziele gefunden: Globke hatte als Mitverfasser und Kommentator wesentlichen Anteil an den Nürnberger Rassengesetzen gehabt. Während Adenauer und seine CDU-Kollegen die Bedrohung durch den Kommunismus benutzten, um die SPD zu diskreditieren, benutzten Ulbricht und die mit ihm verbündeten Hardliner der SED die Bedrohung aus dem Westen, um die innerparteiliche Opposition zu stigmatisieren.

Die Gegner des Kalten Krieges stützten sich gegenseitig wie zwei Weizengarben; sie waren »verfeindete Brüder«.[5] Die beiden Deutschlands wurden zuverlässige Mitglieder ihrer Militärbündnisse, der NATO beziehungsweise des Warschauer Pakts, denen beide 1955 beitraten, nachdem sie formal souveräne Staaten geworden waren. Anders als Charles de Gaulles Frankreich oder Nicolae Ceauceşcus Rumänien warfen sie sich nicht mit einer unabhängigen Außenpolitik in Pose. Nur bei einer einzigen Gelegenheit verfolgte die DDR so etwas wie einen unabhängigen Kurs, als sie 1961 ihre Verwundbarkeit als Argument benutzte, um Moskau die Zustimmung zum Bau der Mauer abzuringen – »die Sowjets die Mauer hinaufzutreiben«, wie eine Historikerin es beschrieben hat.[6] Die größere und mächtigere Bundesrepublik war in ihrem Block ein ebenso loyaler Verbündeter. Nach de Gaulles Willen sollte der französisch-bundesdeutsche Élysée-Vertrag von 1963 das Fundament einer gegen die Vereinigten Staaten gerichteten diplomatischen Achse in Europa bilden, aber die deutschen Christdemokraten fügten dem Vertrag, auf leichten Druck aus Washington, eine Präambel hinzu, die Bonns übergeordnete Bindung an die NATO und die westlichen Bündnispartner unterstrich. De Gaulle war frustriert.

Eine länger bestehende Sorge Washingtons war, dass die Bundesrepublik einen Handel mit der Sowjetunion eingehen könnte, um die deutsche Wiedervereinigung zu erreichen. Präsident Nixons Nationaler Sicherheitsberater Henry Kissinger befürchtete, die deutsche Neue Ostpolitik – die von Willy Brandts Berater Egon Bahr ersonnene und von Brandt als Bundeskanzler praktizierte Politik der Wiederannäherung an den Osten – würde die Bundesrepublik in einen unsicheren, zwischen West und Ost lavierenden Kantonisten verwandeln, der die atlantische Einheit untergrub und den Sowjets in die Hände spielte. Andere in Washington fanden, dass Brandt dem Kommunismus gegenüber zu weich war. »Wenn wir zu dem Schluss kommen«, sagte Außenminister William Rogers Ende 1970 zu Kissinger, »dass sie sich in eine Richtung bewegen, die uns nicht gefällt, oder auf falsche Art vorgehen, können wir wahrscheinlich durch eigenes Handeln dafür sorgen, dass die Regierung gestürzt wird.« Womit er meinte: durch Einwirken auf skeptische Abgeordnete des deutschen Bundestags.[7] Aber Brandt war sich der amerikanischen Sorgen bewusst und betrieb seine Ostpolitik im Einklang mit der von Washington verfolgten Entspannungspolitik. Tatsächlich diente sie als Katalysator für die Entspannung zwischen den Supermächten.[8] Brandts Öffnung gegenüber Moskau verschaffte den Vereinigten Staaten schließlich eine Gelegenheit, die Sowjetunion zu Zugeständnissen zu drängen, die sie in Form des Viermächteabkommens über Berlin von 1971, das den Zugang zu der Stadt garantierte, schließlich erreichten. »Von da an«, schrieb Kissinger später, »verschwand Berlin aus dem Kreis der internationalen Krisenherde«.[9]

Das umstrittenste Thema, das aus der Mitgliedschaft der beiden deutschen Staaten in Militärbündnissen folgte, war die Wiederbewaffnung. In der Bundesrepublik wurde eine neu verfasste Truppe namens Bundeswehr gegründet, wenig später in der DDR die Nationale Volksarmee. Deutschland wurde zum Standort zweier hochgerüsteter Heerlager. 1963 gehörten die Bundesrepublik an erster und die DDR an sechster Stelle zu den größten Waffenimporteuren der Welt; zusammengenommen verbuchten sie ein Fünftel der weltweiten Waffenimporte. 1972 war es immer noch ein Zehntel, obwohl Westdeutschland von Süd- und Nordvietnam auf den dritten Platz verdrängt worden war.[10] Manche der Waffen machten Schlagzeilen, wie das bald als »Witwenmacher« verschriene Jagdflugzeug F-104 Starfighter, das Lockheed der Bundesrepublik verkauft hatte. Im Juni 1962 stürzten vier Starfighter bei Übungsflügen ab, bevor sie überhaupt in Dienst gestellt waren. Bis Mitte 1966 stürzten weitere 61 Maschinen ab. Insgesamt verlor die Bundeswehr 292 der 916 erworbenen Abfangjäger und 115 Piloten.[11] Daher der Witz: Wie erwirbt man einen Starfighter? Man kauft ein Stück Land und wartet. Der Kalte Krieg machte sich in beiden deutschen Staaten allerdings eher dadurch bemerkbar, dass Land für Flugplätze, Schießplätze, Manövergelände und Kasernen benötigt wurde. Aber nicht nur Wohnhäuser wurden gebraucht, sondern auch Hotels und Restaurants. Allein 1951 übernahm die britische Rheinarmee in Nordrhein-Westfalen 1200 Hotels und 600 Restaurants.[12]

Requirierungen waren nur eine potenzielle Ursache von Spannungen zwischen Deutschen und Angehörigen der vier Besatzungsarmeen. Im Osten war die Situation besonders problematisch, jedenfalls am Anfang infolge der Nachkriegserfahrung von Massenvergewaltigungen durch Rotarmisten und der tiefen Verbitterung, die sie auslösten, und der 150 000 bis 200 000 »Russenkinder«, die sie hinterließen.[13] Dann, am 17. Juni 1953, kam es zur größten Herausforderung für die Autorität des neuen Staats, einem Arbeiteraufstand, der von sowjetischen Soldaten und Panzern niedergeschlagen wurde. Für gewöhnlich lebte die halbe Million sowjetischer Besatzungssoldaten abgesondert von der deutschen Bevölkerung in selbstgenügsamen »Klein-Moskaus«. In der Bundesrepublik kam es dagegen häufiger zu Begegnungen von Besatzungssoldaten mit Einheimischen. Wie in anderen US-Außenposten gab es auch hier »GI-Bräute«.[14] Auch Angehörige der britischen und französischen Besatzungstruppen heirateten Deutsche. 1950/51 heirateten über 1100 britische Soldaten eine Deutsche.[15] Manche deutschen Frauen heirateten einen Besatzungssoldaten aus einer französischen Kolonie und gingen mit ihrem Ehemann nach Algerien oder Vietnam. Aber nicht alle Kontakte waren positiver Art. Die Besatzungssoldaten waren junge Männer, weit weg von zu Hause, häufig gelangweilt und mit Zugang zu billigem Alkohol. Laut einem britischen Wehrpflichtigen, der in Braunschweig stationiert war, bekämpften seine Kameraden ihre Langeweile mit Vorliebe damit, zum örtlichen Bahnhof zu gehen und einen Streit mit Deutschen vom Zaun zu brechen. »Goodwill-Besuche« nannten sie dieses Freizeitvergnügen. Manchmal waren Hunderte an den Schlägereien beteiligt.[16] Die zur britischen Armee gehörenden kanadischen Einheiten führten sich noch schlimmer auf, allerdings lange nicht so schlecht wie die Amerikaner. Allein zwischen Juli 1956 und September 1957 begingen amerikanische Soldaten in Bayern 714 Straftaten, darunter acht Morde, 207 Vergewaltigungen und 319 schwere Körperverletzungen.[17]

Auslöser für die Gewalttätigkeit amerikanischer Soldaten auf deutschem Boden waren häufig ethnische Unterschiede. Weiße GIs fingen häufig Kneipenschlägereien mit in Deutschland studierenden Afrikanern an. In einem Fall aus dem Jahr 1965 drohten amerikanische Soldaten ghanaischen Studentenvertretern schriftlich damit, sie zu lynchen, worauf der US-Botschafter sich zu einer Entschuldigung genötigt sah.[18] Viele weiße GIs reagierten auch feindselig darauf, wenn sie Afroamerikaner mit deutschen Frauen sahen. Militärpolizisten versuchten, schwarze GIs vom Besuch deutscher Bars abzuhalten, was viele Barbesitzer guthießen. Auf diese Weise führten amerikanische Besatzungssoldaten der deutschen Öffentlichkeit unwillentlich vor Augen, dass die demokratischen Werte der freien Welt mit rassistischer Diskriminierung vereinbar waren. Die ethnische Zugehörigkeit kam auch auf andere Weise ins Bild. Ein kleiner Teil der Kinder, die aus Beziehungen zwischen Besatzungssoldaten und deutschen Frauen hervorgingen, waren sogenannte »farbige Mischlinge« mit afroamerikanischem Vater und deutscher Mutter. Da es für schwarze GIs praktisch unmöglich war, die Erlaubnis für die Heirat mit einer weißen Deutschen zu erhalten, selbst wenn sie es wollten, galt die große Mehrheit dieser Kinder als unehelich. Sie wuchsen als deutsche Staatsbürger auf, während ihre Mütter von der Umwelt missachtet wurden und sie selbst Gegenstand intensiven, lüsternen Interesses waren, das in völligem Missverhältnis zu ihrer geringen Zahl stand. Manche wurden zur Adoption durch schwarze Familien in den Vereinigten Staaten freigegeben, aber angesichts der Nachteile, die sie in einem Land mit Rassentrennung erwarteten, änderte man Ende der 1950er-Jahre den Kurs, und eine wachsende Zahl von ihnen wurde von dänischen Eltern adoptiert. Anfang der 1960er-Jahre wurden mehr deutsche »Mischlingskinder« in Dänemark adoptiert als in den Vereinigten Staaten.[19] Zu diesem Zeitpunkt wuchsen Kinder deutscher Mütter und westlicher Besatzungssoldaten in Deutschland sowie den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Kanada, Frankreich, Nordafrika, Indochina und Dänemark auf.

Im Zuge der Festigung der beiden deutschen Staaten und der beiden Militärbündnisse entstanden auch andere Organisationen im Doppelpack, etwa zwei Nachrichtendienst- und Spionagesysteme. Berlin ist die unbestrittene Hauptstadt der fiktionalen Spionagewelt des Kalten Krieges; man denke nur an Len Deightons Finale in Berlin (1964) und John le Carrés Romane, allen voran Der Spion, der aus der Kälte kam (1963). Tatsächlich wirkte vieles von dem, was wirklich in der geteilten Stadt geschah, wie erfunden, etwa die Verteilung von Flugblättern in Ostberlin mit Ballons, der Bau eines Tunnels, um sowjetische Kommunikationsverbindungen anzuzapfen (der gleich am Anfang von dem britischen Sowjetspion George Blake verraten wurde), und die vermeintliche sowjetische Überläuferin, die den Spitznamen »Bananenkönigin« erhielt, weil sie in Schlüsselmomenten ihrer Vernehmungen stets eine Banane schälte und aß. Es gab zweifelhafte Fälle wie den von Otto John, dem damaligen Chef des westdeutschen Inlandsnachrichtendiensts, der im Juli 1954 – halb als Überläufer, halb als Entführter, wie man es wohl am besten beschreibt – verschwand und in Ostberlin wieder auftauchte und im folgenden Jahr in die Bundesrepublik zurückkehrte.[20] Der Vorgang, der am meisten einem Roman von le Carré ähnelte, war die vom westdeutschen Auslandsnachrichtendienst BND unternommene Operation Panoptikum, in deren Verlauf derjenige, der nach »Maulwürfen« im BND suchen sollte, Heinz Felfe, selbst als »Maulwurf« entlarvt wurde.[21]

Der Fall verweist auf die Effektivität des von Markus Wolf geleiteten ostdeutschen Spionageapparats. Wolf hatte Ende der 1950er-Jahre nicht weniger als 3000 Agenten in Westdeutschland – im Bundeskanzleramt, in allen Ministerien, in den Nachrichtendiensten und Parteien. Der spektakulärste Erfolg war der Einsatz von Günter Guillaume, der in der SPD zum Sekretär Willy Brandts aufstieg und, als er 1974 als Agent enttarnt wurde, dessen Rücktritt als Bundeskanzler bewirkte. Guillaume und seine Frau Christel waren 1956, wie viele andere Agenten vor dem Bau der Berliner Mauer, als angebliche Flüchtlinge in die Bundesrepublik übergesiedelt. Auch in den Hauptquartieren der in Deutschland stationierten US-Streitkräfte in Stuttgart und Heidelberg hatte Wolf Agenten, desgleichen im NATO-Hauptquartier und in anderen NATO-Staaten. Eine seiner Lieblingsstrategien war der Einsatz von »Romeospionen« oder »roten Casanovas«, die Sekretärinnen mit Zugang zu Geheimmaterial verführten. Aber in dieser Welt der Spiegel betrieben beide Seiten Spionage. Das einzige Land, das ähnlich stark von Agenten infiltriert war wie Westdeutschland, war Ostdeutschland. Sowohl der BND als auch Briten, Amerikaner und Franzosen führten dort Spione.[22]

Diese besondere Form des Doppelbildes, auf dem alles Deutsche zweimal erschien, betraf alle Lebensbereiche. Westdeutsche Jugendorganisationen waren mit der von Amerika unterstützten World Alliance of Youth verbunden, während ihre ostdeutschen Pendants zum von der Sowjetunion unterstützten Weltbund der Demokratischen Jugend gehörten. Die Bundesrepublik trat der 1950 in Großbritannien gegründeten Europäischen Rundfunkunion bei, die DDR der im selben Jahr in der Tschechoslowakei gegründeten Internationalen Rundfunk- und Fernsehorganisation. Deshalb beteiligte sich Westdeutschland alljährlich am Grand Prix Eurovision de la Chanson, dessen glamouröse Laufbahn 1956 begann, während Ostdeutschland mit Ostblockveranstaltungen wie dem Intervision-Liederwettbewerb vorliebnehmen musste, die den nicht zu übertreffenden Kitsch des Westens nachzuahmen versuchten.[23] Auch auf den Weltraum schauten die beiden deutschen Staaten auf unterschiedliche Weise; sie hatten sogar verschiedene Begriffe für diejenigen, die in ihn vordrangen. Im Westen hießen sie mit dem amerikanischen Begriff Astronauten, im Osten waren es nach sowjetischem Vorbild Kosmonauten. Dementsprechend unterschiedlich kam auch die Science-Fiction daher. Der westdeutsche Weltraumheld Perry Rhodan, der 1961 sein erstes Abenteuer bestand, war ebenso Amerikaner wie Major Cliff Allister McLane, der kühne Raumschiffkommandant in der westdeutschen Fernsehserie Raumpatrouille, deren erste Folge 1966 ausgestrahlt wurde. Beide fanden später neben Model Claudia Schiffer und Tennisstar Steffi Graf Eingang in ein Buch mit dem Titel Deutsche Helden!. Ostdeutschen erklärte die Parteizeitung Neues Deutschland derweil, Science-Fiction trage dazu bei, »die Menschen auf Leninsche Art träumen zu lehren«.[24]

Beide deutschen Staaten entwickelten ein eigenes Netzwerk politischen und beruflichen Austauschs. Die Angehörigen der politischen Elite, die die DDR aufbaute, hatten die NS-Jahre zumeist in Moskau verbracht, sprachen Russisch und unterhielten Beziehungen in die Sowjetunion. Aufstrebende Politiker, Akademiker und Technokraten hatten Zugang zu Netzwerken, die sie mit ihren Kollegen in der UdSSR und im gesamten Ostblock verbanden. Die Netzwerke, welche die Bundesrepublik mit den Vereinigten Staaten und Westeuropa verbanden, waren jedoch weit größer. Organisationen wie die Ford Foundation und der American Council on Germany stärkten sie mit Programmen wie der alljährlichen Young Leaders Conference. Anfang der 1960er-Jahre hatte fast ein Drittel der Bundestagsabgeordneten die Vereinigten Staaten besucht. Ebenso wichtig war der für die Nachkriegsjahre so typische akademische Austausch. Manche Austauschmöglichkeiten wurden von Institutionen angeboten, die von deutschen Emigranten aus dem Dritten Reich geprägt waren, wie dem Institute for Advanced Study in Princeton. Andere Angebote waren ein Nebenprodukt des beginnenden Kalten Krieges, wie die Freie Universität in Westberlin und das St. Anthony’s College in Oxford. Das Fulbright-Programm und ähnliche Organisationen, wie der Deutsche Akademische Austauschdienst, spielten eine wesentliche Rolle. Bis in die 1980er-Jahre hatten fast 10 000 amerikanische und deutsche Stipendiaten das Fulbright-Programm in Anspruch genommen. Westdeutsche waren auf vielerlei Weise mit anderen westlichen Gesellschaften verbunden. Ein Mittel zur Stärkung des Austauschs waren Städtepartnerschaften. Allein zwischen westdeutschen und französischen Städten wurden Tausende solcher Partnerschaften geschlossen. Auf ostdeutscher Seite gab es nichts von vergleichbarem Ausmaß.[25]

Im Hinblick auf Deutsche, die ständig Grenzen überquerten, bestand dieselbe Asymmetrie. Schon vor Gründung der beiden deutschen Staaten zog es die meisten der Millionen Flüchtlinge oder Vertriebenen aus dem Osten in die Westzonen, und die Ost-West-Wanderung hörte 1949 nicht auf, sondern wurde einfach zu einer Bewegung von einem Deutschland ins andere. Zwischen 1949 und 1952 flohen 675 000 registrierte Ostdeutsche in den Westen; im Jahr 1953, dem Jahr des Arbeiteraufstands, war es eine Drittelmillion. Zwischen 1949 und 1961 gingen monatlich nicht weniger als 7000 Menschen von Ost nach West. Im Juni 1961 waren es 20 000, im Juli sogar 30 000. Dies war der Grund für den Bau der Berliner Mauer im August 1961. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die DDR 3,5 Millionen Menschen verloren, über ein Sechstel ihrer Bevölkerung.

Auch Westdeutsche wanderten aus, aber zumeist nicht nach Ostdeutschland. Bis zum Mauerbau gingen rund eine halbe Million Menschen von West nach Ost, manche aus ideologischer Überzeugung, mehr aber aus familiären Gründen. Doch die meisten Auswanderer aus der Bundesrepublik hatten andere Ziele. Von 1945 bis in die frühen 1950er-Jahre ließen sich mindestens 180 000 Westdeutsche in Nachbarländern nieder, überwiegend in Großbritannien und Frankreich. Bis zum Beginn der 1960er-Jahre zog ein größerer Auswandererstrom nach Übersee: eine halbe Million in die Vereinigten Staaten, eine Viertelmillion nach Kanada, 80 000 nach Australien und kleinere Kontingente nach Lateinamerika. Angesichts des beträchtlichen Geschlechterungleichgewichts versuchten westdeutsche Arbeitsämter vergeblich, Männer im arbeitsfähigen Alter von der Auswanderung abzuhalten, während sie Frauen zu ihr ermunterten. Daten aus Australien deuten darauf hin, dass die deutschen Auswanderer der 1950er-Jahre typisch kleinbürgerliche, konservative und materialistische Werte vertraten, die sich kaum von denen ihrer daheimgebliebenen Landsleute der »Wirtschaftswunderära« unterschieden, abgesehen davon, dass sie ihre deutschtümelnde Vereins- und Kneipenkultur mit Biertrinken, Kegeln und Blasmusik nicht in München, sondern in den Vororten von Melbourne pflegten.[26]

In den 1950er-Jahren gelangte ein ständiger Zustrom aus dem Osten auf den westdeutschen Arbeitsmarkt. Dennoch schloss die Bundesrepublik, schon bevor er 1961 abrupt unterbrochen wurde, Abkommen, durch die Arbeiter aus ärmeren Ländern als sogenannte Gastarbeiter vermeintlich kurzfristig ins Land geholt wurden. Das erste, 1955 mit Italien geschlossene Abkommen bildete das Vorbild für Vereinbarungen mit Spanien, Griechenland, der Türkei, Marokko, Portugal, Südkorea, Tunesien und Jugoslawien. Die »Gastarbeiter« arbeiteten auf dem Bau, im Bergbau, in der Schwerindustrie und am Fließband. Als Erste kamen überwiegend in den Zwanzigern und Dreißigern stehende Männer; später wurden für die Textil-, Lebensmittel- und Elektroindustrie sowie, im Fall der Südkoreanerinnen, als Krankenschwestern auch junge Frauen angeworben. Westdeutsche Arbeitgeber waren sich der Vorteile vollauf bewusst. In der Zeitung ihres Verbandes hieß es: »Der bei uns arbeitende Ausländer stellt in der Regel die Arbeitskraft seiner besten Jahre zur Verfügung […].«[27] Darüber hinaus mussten alte, ungeeignete Arbeiter nicht mehr weiterbeschäftigt werden. Die konservativen Regierungen dieser Zeit begrüßten den Zustrom dringend benötigter Arbeitskräfte und das mit ihm einhergehende Lohndumping. Die Gewerkschaften hofften, dass die von den ausländischen Arbeitern geleisteten Überstunden eine kürzere Arbeitswoche für ihre Mitglieder ermöglichen würden.

Italienische »Gastarbeiter« treffen in Westdeutschland ein, 1962.

Im Oktober 1964 traf der millionste »Gastarbeiter« ein, der Portugiese Armando Rodrigues, der aus diesem Anlass ein Mokick geschenkt bekam.[28] Nach einem Wirtschaftsabschwung in den Jahren 1966/67 verringerte sich die Zahl der Neuankömmlinge, doch danach nahm die Anwerbung wieder deutlich zu. Zwischen 1968 und 1973 kamen 1,5 Millionen ausländische Arbeiter in die Bundesrepublik, überwiegend Türken, die zur größten ethnischen Gastarbeitergruppe wurden. 1973 gab es in Westdeutschland 2,6 Millionen Gastarbeiter, die ein Achtel der arbeitenden Bevölkerung ausmachten. Die meisten der in den vorangegangenen 18 Jahren Zugezogenen waren, wie ursprünglich vorgesehen, in ihre Heimat zurückgekehrt, aber nicht alle. Die Arbeitgeber lockerten nach und nach die Befristungsregeln; immerhin investierten sie Zeit und Geld in die Ausbildung ihre ausländischen Beschäftigten. Die Gastarbeiter begannen die kasernenähnlichen Unterkünfte, in die sie in den ersten Jahren einquartiert worden waren, zu verlassen. Sie holten ihre Familien nach und zogen in privat gemietete Wohnungen um. Als die Bundesrepublik auf die durch den ersten Ölpreisschock von 1973 ausgelöste Wirtschaftskrise damit reagierte, dass sie die Anwerbung neuer Arbeiter einstellte, hatte das Gastarbeiterprogramm bereits ein ungewolltes Ergebnis hervorgebracht: erwachsene Ausländer als Langzeiteinwohner, die bleiben wollten und zusammen mit Kindern, die in Deutschland aufgewachsen und immer häufiger auch geboren waren, eine bedeutende Minderheit darstellten, die nur langsam und widerwillig als solche anerkannt wurde.[29]

Nicht nur die Bundesrepublik warb in diesen Jahren billige ausländische Arbeitskräfte aus ärmeren peripheren Regionen an, sondern alle Kernländer Westeuropas. In manchen war der Anteil der Minderheitsbevölkerung sogar größer als in Westdeutschland; in der Schweiz war er doppelt so groß, in Belgien ein Drittel größer.[30] Aber Westdeutschland repräsentierte das Muster in seiner klassischen Form, sowohl was das Konzept des vorübergehend anwesenden »Gastarbeiters« als auch was die sich hinter dem Rücken der Planer herausbildende Realität betraf. Beabsichtigte und unbeabsichtigte Folgen standen in scharfem Kontrast zum anderen Deutschland, in dem es praktisch keine ausländischen Arbeiter gab. Nach in den 1960er-Jahren geschlossenen Abkommen mit Polen und Ungarn kamen zwar einige wenige »Vertragsarbeiter« aus diesen Ländern in die DDR, aber keine aus dem globalen Süden, woher in späteren Jahrzehnten der Großteil von ihnen kommen sollte. Die beiden deutschen Staaten versuchten ihren Arbeitskräftemangel auf grundlegend unterschiedliche Weise zu lösen – mit weitreichenden inneren Auswirkungen. Während das eine Deutschland ausländische Arbeiter anwarb, um zu verhindern, dass Frauen ihre »natürliche« Hausfrauenrolle aufgaben, um einer bezahlten Arbeit nachzugehen, bemühte sich das andere nach Kräften, den Anteil von Frauen am Arbeitskräftereservoir zu vergrößern. In den 1970er-Jahren gingen in der DDR fast drei Viertel der arbeitsfähigen Frauen einer bezahlten Arbeit nach. Spiegelbildlich dazu gab es im Westen 2,6 Millionen ausländische Arbeiter, während es im Osten bloß 15 000 waren.

Die beiden deutschen Staaten gehörten nicht nur, was den Arbeitsmarkt betraf, sehr unterschiedlichen Wirtschaftssystemen an. Die Bundesrepublik trat dem von den Vereinigten Staaten gestützten Bretton-Woods-System bei, das mit seinen ausführenden Institutionen, wie dem Internationalen Währungsfonds, bis 1973 die Geldpolitik der wichtigsten kapitalistischen Länder regulierte, deren Währungen konvertibel und an den Dollar gebunden waren, der seinerseits ans Gold gebunden war. Die Bundesrepublik folgte demselben Kurs wie andere westeuropäische Länder, einschließlich ihrer Partner in dem Vereinigungsprozess, der 1951 mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl begann und durch die Römischen Verträge von 1957 zur Schaffung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) führte. Die DDR trat dem 1949 gegründeten und von der Sowjetunion dominierten Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW; im Westen zumeist Comecon genannt) bei. Ihre Währung war nicht konvertibel, und die Mitgliedschaft im RGW brachte ihr erhebliche Nachteile. Das ebenfalls 1949 beschlossene »Sofia-Prinzip« schwächte zugunsten der sozialistischen Solidarität geistige Eigentumsrechte und Patente, was besonders für die DDR und die Tschechoslowakei nachteilig war. Die Handelsbedingungen im Ostblock stellten das Gesetz des komparativen Kostenvorteils auf den Kopf, denn sie zwangen die DDR, ihre unterbewerteten Industrieprodukte gegen überbewertete Nahrungsmittel und Rohstoffe einzutauschen.[31]

Vor Ort waren die Gegensätze ebenso deutlich. Das eine Deutschland liberalisierte seine Wirtschaft, das andere überführte Unternehmen in staatliches Eigentum und kollektivierte die Landwirtschaft. Dies wird oft comichaft überzeichnet als Konfrontation von »amerikanisierter« und »sowjetisierter« Wirtschaft dargestellt. Auf der einen Seite erlebte Westdeutschland ein »Wirtschaftswunder«, das die Verbraucherausgaben in die Höhe schnellen ließ, indem es Wohlstand und Freizeit um den Preis einer »Coca-Kolonisierung« erkaufte. Auf der anderen Seite verkündete Ostdeutschland 1952, seine Wirtschaftspolitik sei der »Aufbau des Sozialismus«, und setzte diesen Kurs nach sowjetischem Vorbild um, indem es neue Schwerindustriekomplexe wie in der ebenfalls neu gegründeten Stalinstadt, die später in Eisenhüttenstadt umbenannt wurde, errichtete.

Das viel gerühmte »Wirtschaftswunder« im Westen war real. Wachstumsraten von 8 Prozent im Jahr machten die Bundesrepublik zum Motor des europäischen Wirtschaftswachstums der Nachkriegszeit. Der Boom folgte einem liberal-kapitalistischen Bruch mit der NS-Ära, auf den Verfechter des freien Markts nach Kriegsende gedrängt hatten. Nach Friedrich Hayeks Ansicht sollten die Alliierten Deutschland zu einem »Freihandelsgebiet« machen, das »so eng wie möglich mit der umgebenden Welt verbunden« sein sollte.[32] Ganz ähnlich unterstrich Wilhelm Röpke in seinem 1945 erschienenen Buch Die deutsche Frage den Vorrang von freiem Handel und Export. Durch sie würde Deutschland »ein größeres Belgien vorstellen […], das schon durch seine stärkste Abhängigkeit vom Außenhandel zu internationalem Wohlverhalten erzogen und gezwungen würde«.[33] Das ist eine recht genaue Beschreibung der Entwicklung der westdeutschen Wirtschaft in den 1950er- und 1960er-Jahren, obwohl es weiterhin einige Mythen über diese Zeit gibt, die ausgeräumt werden müssen.

Der liberale Ökonom Ludwig Erhard, der als Wirtschaftsminister den »goldenen Jahren« seinen Stempel aufdrückte, musste eine ältere, protektionistische Einstellung führender Wirtschaftsvertreter, unter denen viele vom Dritten Reich profitiert hatten, überwinden. Dies gelang nicht über Nacht,[34] und auch nachdem er sich durchgesetzt hatte, beruhte das Wirtschaftswunder nicht auf dem kruden Wirtschaftsliberalismus, der in den 1990er-Jahren – häufig unter Berufung auf Hayek – von Konservativen verfochten wurde, sondern auf einer Form des liberalen Kapitalismus, die Markt und Sozialstaat miteinander verband, der von Erhard angestrebten sozialen Marktwirtschaft. Wie einige westeuropäische Nachbarn schuf Westdeutschland ein Modell der Kooperation von Kapital, Arbeit und Staat, das – zumindest für eine Generation – Wachstum zu garantieren schien. Dass es noch ein anderes Deutschland gab, mag eine Rolle gespielt haben – die Christdemokraten wollten sich in puncto Sozialfürsorge nicht vom kommunistischen Osten ausstechen lassen. Aber das Rentensystem und die Familienfürsorge der Bundesrepublik entsprachen der westeuropäischen Norm, wie unamerikanisch diese Sozialleistungen auch waren.

Hayek und Röpke waren mit ihrer Betonung von Handel und Export mehr im Recht, als sie ahnten, denn diese – und nicht der Massenkonsum – waren es, die das Wirtschaftswunder antrieben. In den 1950er-Jahren vergrößerte sich der Anteil der Exporte am Bruttonationalprodukt auf mehr als das Doppelte (von 9 auf 19 Prozent). Dazu passt es als Symbol ganz gut, dass ein »Meilenstein in der Geschichte der europäischen Rechtsordnung«, ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs, die deutschen Exporte betraf. In diesem Urteil bekräftigte das Gericht, dass die Mitgliedsstaaten der EWG an die europäischen Gesetze gebunden seien, und gab der Klage eines niederländischen Transportunternehmens statt, das gegen Einfuhrzölle auf deutsche Chemikalien durch die Niederlande Einspruch erhoben hatte.[35] Hauptträger des Exportbooms waren, neben der Chemieindustrie, die Pharma-, Elektro- und optische Industrie sowie die Feinmechanik, deren Aufstieg im späten 19. Jahrhundert begonnen hatte. Der große Neuling beim Nachkriegsexport war die Autoindustrie. In dieser Zeit erwarben BMW, Mercedes und Audi ihr Ansehen. Vor allem aber machte Volkswagen sich einen Namen. Der Käfer wurde zu einer globalen Marke. »Dulles fährt schon den zweiten Volkswagen«, verkündete 1957 eine Augsburger Zeitung in einer Schlagzeile – gemeint war US-Präsident Eisenhowers Außenminister John Foster Dulles.[36]

Produktion, nicht Konsum war der Schlüssel zum westdeutschen Wirtschaftswunder der 1950er-Jahre. Es war das Werk eines zuerst durch Vertriebene und Emigranten und dann durch Flüchtlinge aus Ostdeutschland vergrößerten Arbeitskräftereservoirs. Die Menschen arbeiteten immer noch hart, fünfzig Stunden in der Woche, den Sonnabend eingeschlossen. Man darf den Konsum- und Freizeitboom nicht rückverlegen. Als Erhard 1957 in seinem Buch Wohlstand für alle die »freie Konsumwahl« als »unantastbare Freiheit« und »demokratisches Grundrecht« bezeichnete, war es mehr Vorausschau als Beschreibung der Wirklichkeit. In der waren die »goldenen Fünfziger« wesentlich karger, als spätere Erinnerungen an eine Ära des Überflusses es wahrhaben wollten. Bilder des Überflusses gab es allerdings reichlich – in der Werbung ebenso wie in Schlagern, in denen Liebe mit Urlaub auf Capri und Chianti-Strohflaschen verbunden wurde. Dafür standen etwa die Hits von René Carol (eigentlich Gerhard Tschierschnitz) wie »In der Taverne von San Remo«, »Komm mit nach Palermo«, »Sonne über der Adria«, »Serenata di Napoli« oder »Andalusischer Wein«. All dies blieb ein Traum von künftigen Vergnügungen. Auch in den späten 1950er-Jahren war Freizeit noch hart erarbeitet. Es existierten immer noch mehr Radios als Fernseher und mehr Fahrräder und Mopeds als Autos.[37] 1950 gab es in neun europäischen Ländern mehr Autos pro Kopf als in Westdeutschland; 1960 waren es noch fünf, 1970 nur noch zwei, Frankreich und Schweden.[38] Der Konsumboom setzte erst in den späten 1950er-Jahren ein; richtig in Gang kam er aber erst in den 1960er-Jahren.[39] Ein westdeutscher Wirtschaftswissenschaftler sprach 1959 zum ersten Mal von »unserer Konsumgesellschaft«.[40]

Bedeutete diese Veränderung, dass die Bundesrepublik sich amerikanisierte? In Bezug auf Marketing und Einzelhandel lautet die Antwort Ja, allerdings mit Einschränkungen. Den ersten Supermarkt in Europa eröffnete der Unternehmer Herbert Eklöh 1957 in Köln. Schon unmittelbar vor dem Krieg hatte er in Osnabrück mit der Selbstbedienung experimentiert, aber das 2000 Quadratmeter große Geschäft in Köln war etwas Neues. In einem Artikel mit der Überschrift »Supermarkt« erklärte die Wochenzeitung Die Zeit ihren Lesern, ein Supermarkt sei ein »Großladen mit völliger Selbstbedienung nach amerikanischem Vorbild«. Eklöh selbst war sich nicht sicher, ob »die Hausfrau« sich mit seinem Konzept anfreunden würde, und die Zeit erwähnte die verbreitete Skepsis und sogar Ablehnung traditioneller Einzelhändler gegen »diese amerikanische ›Importware‹«.[41] Einige Jahre später überquerte eine andere amerikanische Einzelhandelspraxis den Atlantik. Während er als Großhändler für Elektrowaren durch die Vereinigten Staaten reiste, fiel Otto Beisheim auf, dass dort Waren direkt aus Lagerhäusern verkauft wurden. Nach Deutschland zurückgekehrt, gründete er zusammen mit anderen die Metro AG, die ihre ersten Großmärkte 1963 in Essen und 1964 in Mülheim an der Ruhr eröffnete und schließlich zum größten Einzelhändler Europas aufstieg.[42] Eine andere Einzelhandelskette, die später die Welt eroberte, war Aldi. Die Kette wurde 1946 in Essen gegründet, erhielt aber erst 1962 ihren heute bekannten Namen. Ihren Aufstieg verdankte sie einer konsequenten Kostenreduzierung, unter anderem dadurch, dass sie keine Reklame machte. Die Wirtschaftswunderjahre der Bundesrepublik waren voller Werbekampagnen auf der Grundlage von Marktanalysen, die mithilfe von Fokusgruppen die Konsumentenwünsche erforschten. Man hält dies für eine Verkaufsmethode nach amerikanischer Art und denkt dabei an die Methode der »geheimen Verführer«, wie Vance Packard sie 1957 in seinem gleichnamigen Buch genannt hat. Die historische Ironie dabei ist, dass diese Verkaufsmethode in Deutschland ein »Reimport« von Ideen war, die Deutsche in die Vereinigten Staaten gebracht hatten.[43] Es war gewissermaßen eine profane Reklameversion dessen, was mit den Gedanken des Soziologen Max Weber geschah, als sie, nachdem amerikanische Wissenschaftler wie Talcott Parsons und Edward Shils sie aufgegriffen hatten, in veränderter Form ins Nachkriegsdeutschland reimportiert wurden.[44]

Während der Wohlstand zunahm, wurden gewisse Formen der »amerikanischen« Art des Konsums übernommen, aber stets nur selektiv. Die Westdeutschen entdeckten ihre Liebe zum Auto, gaben aber nie ihre Eisenbahn auf. Genauso wenig führte der enorme Bauboom der Nachkriegszeit zu einer Suburbanisierung amerikanischer Art. In der Bundesrepublik gab es keine Planstädte wie Levittown. In dieser Hinsicht folgte Westdeutschland, ebenso wie in der Sozialfürsorge und der sozialen Marktwirtschaft, einem europäischen Muster. In vielen Alltagsdingen bedeutete der sich in Konsum und Lebensstil herausbildende Geschmack eher eine Europäisierung als eine Amerikanisierung, was im Lauf der Jahre immer deutlicher wurde. Ablesen kann man dies an der Einrichtung westdeutscher Wohnungen. Die Küchengeräte waren kleiner, effizienter und modischer als ihre übergroßen amerikanischen Pendants – und seltener auf Kredit gekauft. Als die Deutschen schließlich das Geld hatten, um eine Waschmaschine zu kaufen, war es in der Regel eine Bosch oder eine Zanussi, und keine klobige Whirlpool.[45] Der Wirtschaftswissenschaftler Uwe Kitzinger, der 1963 für Reader’s Digest die sogenannten »neuen Europäer« untersuchte, fand heraus, dass man in holländischen Häusern »viele derselben langlebigen Gebrauchsgüter wie in Häusern im Nordwesten Italiens« fand und die Deutschen »in ihren Wohnungen weitgehend dieselben Annehmlichkeiten wie die Holländer« hatten.[46] Selbst die Kritiker der neuen Welt materieller Güter stellten Deutschland in einen europäischen Zusammenhang. Der christdemokratische Familienminister Franz-Josef Wuermeling warnte 1959 in einer Rede zum Muttertag vor den potenziell schädlichen Auswirkungen von Fernsehgeräten, Autos und Musiktruhen. Ein »Europa starker Herzen opferbereiter Mütter«, erklärte er, sei einem »bloßen Europa der Motoren und Maschinen« vorzuziehen. In seinen Augen gehörte die traditionelle Familie zur »gemeinsamen Europäischen Zukunft«. Siebenmal erwähnte Wuermeling in seiner kurzen Ansprache Europa und die Europäer.[47] Enthielt diese Beschwörung europäischer Werte eine unausgesprochene Kritik an der Amerikanisierung? Vielleicht.

Am offensichtlichsten war der amerikanische Einfluss in populärer Kultur und Freizeit. Fast die Hälfte der zwischen 1949 und 1963 in deutschen Kinos gezeigten Spielfilme kam aus Hollywood, überwiegend Western, Kriminalfilme und Melodramen. Eine Zeit lang war die heimische Filmindustrie mit sentimentalen Heimatfilmen erfolgreich, aber die amerikanischen Importe zogen in den späten 1950er-Jahren ein deutlich größeres Publikum an, auch wenn sich manche kritisch darüber äußerten.[48] Amerikanische Popmusik wurde durch das Hören von Radiosendern wie American Forces Network (AFN), Voice of America, dem Westberliner Radio im amerikanischen Sektor (RIAS) und Radio Luxemburg beliebt. Verstärkt wurde dieser Trend auch durch diejenigen, die eine Zeit lang auf der anderen Seite des Atlantiks gelebt hatten, insbesondere die jungen Teilnehmer von Austauschprogrammen wie dem Netzwerk Youth for Understanding (YFO) – das die ersten deutschen Teenager im Juli 1951 nach Michigan brachte – und dem American Field Service. Sänger wie Bill Haley tourten durch Deutschland und riefen dabei dieselben gespaltenen Reaktionen hervor, die der Rock ’n’ Roll überall in Europa auslöste. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel berichtete über jugendliche Besucher eines Konzerts von Elvis Presley mit süffisanten – und rassistisch aufgeladenen – Worten, sie würden »allein für sich wie besessene Medizinmänner eines Urwaldstammes« tanzen, »beherrscht von einer Musik […, dem] ›Rock ’n’ Roll‹«.[49]

Die Rezeption der amerikanischen Popkultur war keineswegs einheitlich. Hollywood-Western beispielsweise sprachen ein Publikum mittleren Alters an, weil der Sheriff, der eine gesetzlose Stadt zähmt, ein positives Rollenmodell war, eine strenge, aber gerechte Autoritätsfigur, mit der es sich identifizieren konnte. Junge Leute andererseits identifizierten sich mit Rebellen wie Marlon Brando und James Dean, genauso wie sie den Rock ’n’ Roll als Mittel ergriffen, um indirekt einen Generationenkampf auszufechten.[50] »Er hat uns gegen unsere Eltern […] etwas Eigenes gegeben«, erklärte der deutsche Rockstar Udo Lindenberg in Erinnerung an seine Reaktion, als er mit elf Jahren im Radio zum ersten Mal Elvis Presley hörte.[51] Der Rock ’n’ Roll war in Westdeutschland anfangs ein subkultureller Ausdruck der Arbeiterklasse, zog aber, wie später die britische »Beatmusik«, bald auch Jugendliche aus der Mittelschicht an.[52] Andere neigten eher zum Jazz, der in der Nachkriegszeit zu neuer Beliebtheit gelangte. 1953 wurde in Frankfurt am Main ein Jazzfestival gegründet, und bis 1960 hatten in allen Großstädten Jazzklubs ihre Pforten geöffnet.[53] In der Bundesrepublik wandelte sich der Jazz, wie in Amerika, in den 1950er- und 1960er-Jahren von der Tanzmusik der Swing-Ära zu einer Musik, der man als »respektabler« Kunstgattung in Klubs oder von Schallplatten aufmerksam lauschte.[54] Eine jugendliche Untergruppe – die coolen jungen Leute aus der städtischen Universitäts- und Kunstschulszene – lehnte die »Grobheit« der amerikanischen Kultur ab, identifizierte sich aber mit dem Cool Jazz, den sie mit der modischen französischen existenzialistischen Kultur assoziierte.[55] Immerhin wusste man von Miles Davis, dem archetypischen Repräsentanten des Jazz der späten 1950er- und 1960er-Jahre, dass er der Liebhaber von Juliette Gréco war und die Musik für Louis Malles düsteren Thriller Fahrstuhl zum Schafott geschrieben hatte. Ältere Deutsche bewunderten eher amerikanische Popmusik, die sich kaum vom deutschen Schlager unterschied, denn nicht alle amerikanische Musik war Rock ’n’ Roll oder Jazz. Es überrascht nicht, dass man unter den deutschen Beiträgen zum Grand Prix Eurovision de la Chanson neben banalen Liedern auch »Europäismen« wie »Bonne nuit, ma chérie« und »Amerikanismen« wie »Sing, sang, song« und »Johnny Blue« findet.

Deutsche übernahmen von Amerika, was ihnen gefiel; sie wählten es aus und eigneten es sich an, indem sie es sich anpassten.[56] Das Ergebnis war häufig eine Mischform. In einem der bekanntesten Heimatfilme, Schwarzwaldmädel von 1950, verkörpert die Heldin, Bärbele, ländliche Tugenden, ist aber auch für die Versprechungen der Moderne empfänglich. Sie gewinnt in einer Tombola ein rotes Ford Cabrio und posiert in ihrem Dirndl neben dem Auto, bevor sie mit ihm davonfährt.[57] Nirgends ist diese Hybridität deutlicher zu sehen als in der Aufnahme von Coca-Cola, die bei den Westdeutschen sehr beliebt war. Man ist versucht, darin ein Zeichen dafür zu sehen, dass das amerikanische Vergnügungsprinzip ältere deutsche Traditionen verdrängt hatte, allerdings nur, bis man sich die hinter diesem Erfolg stehende Werbekampagne anschaut. Sie verknüpfte den Genuss von Coca-Cola mit dem Wirtschaftswunder und der harten Arbeit der Deutschen, die es zustande brachten. Der Reklamespruch traf den Nagel auf den Kopf: »Mach mal Pause.« Er stammte aus dem Arbeitermilieu des Ruhrgebiets und implizierte, dass die Arbeit weitergehen würde, auch wenn der Griff zu dem kühlen Erfrischungsgetränk eine wohlverdiente Unterbrechung darstellte.[58]

In der Bundesrepublik wurden harte Arbeit, die starke D-Mark und die Stellung als »Exportweltmeister« zu akzeptablen Gründen für Nationalstolz. Der Lebensstil, der sich in den frühen 1970er-Jahren herausbildete – eine Mischung aus europäischen, amerikanischen und deutschen Elementen, mit dem Schwergewicht auf Konsum, Komfort und Freizeit –, schuf in mancher Hinsicht eine westdeutsche Identität, die ältere, durch Arbeit, Pflicht und Nation geprägte Identitäten ersetzte. Zudem waren die materiellen Freuden mit einer kulturell konservativen Betonung von Heimat, Familie und Religion vereinbar, insbesondere in der Anfangszeit des Wirtschaftswunders zwischen 1949 und 1963.

Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands war spiegelbildlich ebenfalls mehr als nur eine einfache Sowjetisierung. Natürlich wurden viele Aspekte des Sowjetsystems übernommen, angefangen mit der raschen Verstaatlichung der Industrie und der Kollektivierung der Landwirtschaft. Die Fixierung auf Kohle, Eisen und Stahl blieb eine Art Fetisch. Der Produktion lag nach sowjetischem Muster eine zentrale Planung mit festen Quoten zugrunde, ebenso wie der Fokus auf ihren schieren Umfang, auf Quantität vor Qualität, sowjetischen Ursprungs war. Der deutsche Begriff »Tonnenideologie« gibt dies recht plastisch wieder. Ostdeutsche Planer waren in vielen Bereichen der sowjetischen Gigantomanie verfallen. Der in den Jahren 1951 – 1953 ausgearbeitete »Plan für die Durchführung der Umgestaltung der Natur in Deutschland« folgte einem sowjetischen Plan mit fast identischem Titel, der ehrgeizige Flussregulierungen und Maßnahmen zur Veränderung von lokalen Klimaverhältnissen vorsah. Die Kollektivierung sollte beweisen, dass groß schön war, dass von sowjetischen Traktoren beackerte riesige Felder, die aus der Luft mit Insektiziden besprüht wurden, ertragreicher waren.[59] Zwar verschwanden kleine bäuerliche Familienbetriebe in den 1950er- und 1960er-Jahren auch in Westdeutschland, aber weder durch derart brutalen Zwang noch mit solch kontraproduktiven Ergebnissen. Und die Politiker vergaßen nie, den bäuerlichen Familienbetrieb zu loben, selbst als er nach und nach verschwand. In den Fabriken führte das ostdeutsche Regime das sowjetische System der Akkordarbeit ein und ermunterte die Arbeitsbrigaden, im Wettstreit miteinander heldenhafte Produktionsleistungen zu erzielen. Die Akkordarbeit war allerdings stets unbeliebt, und eine abrupte Normerhöhung war denn auch der Auslöser des Arbeiteraufstands von 1953.

Pläne, Quoten, Arbeitsnormen – all dies betraf die Produktion. Doch das Problem blieb wie im gesamten Ostblock der Konsum. In Kaufhäusern stapelten sich unbeliebte, unverkäufliche Waren, während nachgefragte Artikel nicht verfügbar waren. Dennoch ist das übliche Bild von einem eintönig grauen, tristen Land, dessen Führer die Konsumwünsche der Bevölkerung einfach ignorierten, irreführend. Obwohl die Phase der Nachkriegserholung länger dauerte als im Westen – die Rationierung wurde erst 1958 beendet –, bemühte sich das Regime, durch den 1953 beschlossenen »Neuen Kurs« auf die Konsumentenbedürfnisse einzugehen.[60] Die Produktion von Kleidung und Haushaltsgeräten wurde gesteigert. Durch das 1963 eingeführte »Neue Ökonomische System der Planung und Leitung« (NÖS) erhielten dann Fabrikdirektoren einen größeren Handlungsspielraum, und die Banken wurden angewiesen, Kredite nur noch an zahlungsfähige Kunden zu vergeben und sie anderen zu verweigern. Am wichtigsten war jedoch, dass man versuchte, eine sozialistische Art des Konsums zu schaffen, die auf Bedürfnissen und dem Gemeinwohl beruhen sollte, und nicht auf dem von Marx so bezeichneten Warenfetischismus. Doch dies war leichter gesagt als getan. Die ostdeutsche Wirtschaft war nicht mit Blick auf die Konsumentenbedürfnisse aufgebaut worden. Vorurteile gegen vermeintlich dekadente US-Konsumpraktiken mussten überwunden und sozialistische Formen gefunden werden, von der Werbung über die Verpackung bis zu Supermärkten. Ab 1961 förderte die staatliche Werbeagentur DEWAG einen »sozialistischen Lebensstil«, zu dem auch der Konsum gehörte. Ihren nüchternen, sachlichen Produktreklamen fehlte allerdings der Schwung der Werbespots, die Ostdeutsche im westdeutschen Fernsehen bewundern konnten.[61]

Das Regime legte besonderen Wert auf Inneneinrichtung, Möbel und Alltagsgegenstände wie Eierbecher und Spielzeug und setzte auf Plastik als Allzweckmaterial für ein breites Spektrum von Haushaltsartikeln, die alles andere als eintönig waren: Mit ihren hellen Grundfarben bleiben diese Plastikgegenstände vielmehr heute noch als DDR-Produkte erkennbar. Anscheinend fanden viele Konsumenten sie schick und modern und zogen sie deshalb den »altmodischen« Varianten aus Holz oder Metall vor, aber sie hielten sie nicht für besonders sozialistisch. Außerdem gab es, wie bei vielem anderen, das Problem, dass sie nicht immer verfügbar waren.[62] Dies traf in besonderem Maß auf ein anderes Plastikprodukt zu, den Trabant mit seinem Zweitaktmotor und der Duroplastkarosserie. Der »Trabi« wurde nicht ohne Grund zum Symbol des Scheiterns der ostdeutschen Wirtschaft, aber die leichte Plastekarosserie verkörperte, wie unvollkommen auch immer, eine bestimmte, mit der Sputnik-Ära assoziierte Vorstellung von Modernität, die sich bereits im Namen ausdrückte, für dessen Verwendung die DDR wertvolle Devisen an den Schweizer Rechteinhaber zahlte.[63]

Der Trabant war nur ein Zeichen dafür, wie sehr die DDR-Führer der späten 1950er- und 1960er-Jahre von Naturwissenschaft, Modernität und Technologie als Schlüssel zur sozialistischen Zukunft fasziniert waren. Dies war zum Teil ein weiteres Beispiel dafür, dass sie nach der Pfeife Moskaus tanzten. In Frankfurt/Oder, Zwickau und anderswo wurden neue oder wiederaufgebaute Stadtteile »Kosmonautenviertel« genannt, und ihre Straßen erhielten die Namen sowjetischer Weltraumfahrer wie Juri Gagarin und Wladimir Komarow. Die »Gruppentechnologie« des sowjetischen Ingenieurs Sergei Mitrofanow stieß in der DDR auf reges Interesse. Ulbricht war persönlich nahezu besessen von den Möglichkeiten von Kybernetik und Systemtheorie. In diesem gleichsam messianischen Eifer spiegelte sich die verzweifelte Suche nach einer Technik wider, die der DDR im Wettstreit mit Westdeutschland einen Vorteil verschaffen würde.[64] Außerdem zeigte sich in ihm eine ungewollte Konvergenz mit der Entwicklung in Westeuropa, wo Naturwissenschaft, Technologie und Planung schier magische Kräfte zugeschrieben wurden, von Frankreichs Förderung der Nukleartechnologie bis zu der Aussage des Vorsitzenden der britischen Labour Party, Harold Wilson, man erlebe die »Weißglut technologischen Wandels«.[65]

Die Technikbegeisterung schloss eine deutliche Ausweitung der Konsumgüterversorgung und der Freizeitangebote nicht aus. Zwischen 1960 und 1975 verfünffachte sich die Zahl der Autos pro Kopf der Bevölkerung, womit die DDR die Tschechoslowakei als Land mit der höchsten Autodichte im Sowjetblock überholte.[66] Ein ähnlicher Anstieg war beim Besitz von Fernsehgeräten und Kühlschränken zu verzeichnen. Besondere Aufmerksamkeit widmete das Regime der Jugend, weil es in den 1960er-Jahren besorgt war, sie könnte zu sehr nach Westen schauen. Motorräder und Mopeds, Transistorradios und Campingausrüstung wurden in größerer Stückzahl hergestellt, und Ende der 1960er-Jahre kamen Jeans, Schallplatten und andere Gegenstände der »Jugendmode« in die Geschäfte.[67]

Aber es waren nie genug. Die Jeans und Schallplatten waren keine westlichen. Die Anstrengungen, eine ostdeutsche Modeindustrie zu schaffen, ein sozialistisches Gegenstück zur Haute Couture des Westens, hatten ebenso wenig Erfolg, und am Ende der 1960er-Jahre waren die Modeschauen, auf denen die eigenen Kreationen präsentiert wurden, zum großen Teil wieder eingestellt worden.[68] Die 1958 auf dem V. Parteitag der SED stolz verkündete Proklamation, das sozialistische Deutschland werde das kapitalistische überholen, war 1970 endgültig als hohl entlarvt. In diesem Jahr wurde das NÖS beerdigt, überwiegend aus politischen Gründen, wegen des harten Durchgreifens nach der Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968. Aber die Probleme reichten tiefer, und es ist nicht klar, ob man sie mithilfe des NÖS hätte lösen können. Die Planwirtschaft war zu unflexibel, und die Quantität triumphierte zu oft über die Qualität. Was war gewonnen, beklagte sich die Frauenabteilung des Zentralkomitees der SED, wenn mehr Haushalte eine Waschmaschine der DDR-Marke Combi besaßen, diese aber nicht dem internationalen Standard entsprach und beispielsweise einem auf der Leipziger Messe gezeigten französischen Pendant weit unterlegen war?[69] Die Ostdeutschen wurden weiterhin gebeten, ihre Gratifikationswünsche bis zur Ära von Kybernetik und Systemtheorie aufzuschieben. Aber sie wollten Orangen und Bananen, und Fischstäbchen sollten kein Luxusgut sein. Sie wollten keine regelmäßig wiederkehrende Knappheit von Alltagsgegenständen wie Zahnbürsten, und sie wollten nicht acht Jahre auf ein Auto warten. Den Mangel zu verwalten wurde zu einem Teil des Lebens in der DDR, und diese Aufgabe wurde in unverhältnismäßigem Ausmaß von Frauen bewältigt, die – wie ihre Geschlechtsgenossinnen anderswo im Ostblock – einen Großteil ihrer Zeit Schlange standen.

Ostdeutschland schnitt bei der Güterversorgung weit besser ab als Polen oder Ungarn, aber dies war nicht der Vergleich, den die Ostdeutschen zogen. Westdeutschland setzte den Maßstab, an dem sie sich orientierten. Auch das ostdeutsche Regime stand in erster Linie im Wettstreit mit dem anderen Deutschland. Dieser Wettstreit trat auch im Gegeneinander zweier großer Wirtschaftsmessen zutage, der historischen Leipziger Messe im Osten und der neuen Hannover-Messe (bis 1962 Deutsche Industrie-Messe) im Westen. Die Leipziger Messe blieb während des gesamten Kalten Krieges ein bedeutender internationaler Treffpunkt zwischen Ost und West. Aber was den wirtschaftlichen Wettstreit betraf, hatte Ostdeutschland Ende der 1960er-Jahre gleichsam das Handtuch geworfen.[70]

Die beiden Industriemessen fanden einmal im Jahr statt. Eine andere deutsche Stadt bot ganzjährig eine Bühne für den Systemwettstreit zwischen Ost und West: Berlin. Es begann mit der Blockade, die den Westteil zu einem Außenposten der Freiheit machte. Der nach dem Krieg aus Amerika nach Deutschland zurückgekehrte Emigrant Hans Hirschfeld unternahm 1953, inzwischen Pressesprecher des Berliner Senats, eine Vorlesungsreise durch die Vereinigten Staaten, auf der er seiner Stadt attestierte, sie gedeihe »100 Meilen hinter dem Eisernen Vorhang«, und die Hoffnung ausdrückte, dass seine Zuhörer neugierig genug seien, um einen Ort zu besuchen, der sich aus einer Trümmerwüste zu einem »kosmopolitischen Zentrum von Kunst, Mode, Industrie und Bildung« entwickelt habe.[71] Die amerikanische Identifikation mit Berlin war besonders intensiv. Westberlin wurde zu einem beinah mythischen Ort, zur »Stadt auf dem Berg des Kalten Krieges«.[72] Nach dem Bau der Berliner Mauer nutzten westliche Politiker verständlicherweise dieses mächtige Symbol für ihre Zwecke. Sie bildete den Hintergrund von John F. Kennedys berühmter »Ich bin ein Berliner«-Rede von 1963.[73] Von der Aussichtsplattform am Checkpoint Charlie in den Osten zu schauen, wurde zu einem Ritual. Es gab andere Orte, an denen westliche »Grenztouristen« aus aller Herren Länder aus sicherer Entfernung den vom Anblick bewaffneter ostdeutscher Grenzwachen ausgelösten Schauer erleben konnten. Aber Berlin bot die spektakulärste politische Bühne dafür.[74] In Ostberlin wurde unterdessen in den 1960er-Jahren nahe dem Alexanderplatz ein riesiger Fernsehturm gebaut. Als Symbol sozialistischer Wissenschaft und Technologie gedacht, war er stilistisch ein Hybrid: Während die Grundstruktur derjenigen des Stuttgarter Fernsehturms entsprach, ähnelte die Kugel an der Spitze einem sowjetischen Sputnik.

Auch andere Formen des Wettstreits wurden in Berlin ausgetragen, so im frühen Kalten Krieg die »Leuchtschriftschlacht« auf dem Potsdamer Platz. 1950 wurde auf der Westseite des Platzes eine nach Osten ausgerichtete riesige Leuchtschriftanlage mit 2000 Glühbirnen errichtet, auf der unter der festen Überschrift »Die freie Berliner Presse meldet« Nachrichten für den anderen Teil der Stadt zu lesen waren. Ostberlin reagierte mit einer eigenen Leuchtschrift, die Westberliner aufforderte, bei der HO einzukaufen, der ostdeutschen staatlichen (Einzel-)Handelsorganisation.[75] Der Wettstreit breitete sich auch auf den Wohnungsbau aus; hier wurden die Vorzüge eines mit Marshallplanmitteln errichteten achtstöckigen Wohnhauses am Innsbrucker Platz in Westberlin mit denjenigen des als sozialistischer Modellbau gepriesenen Hochhauses an der Weberwiese in Ostberlin verglichen. Der Osten versuchte die Oberhand zu gewinnen, indem er die im Westen neu gebauten Wohnhäuser als bloße »Kästen mit Löchern« schmähte, die in Ulbrichts Augen »monotone, kulturlose Bauten […] von formalistischer Stillosigkeit« darstellten.[76] In dieser Zeit war in der DDR eine heftige Debatte über Architekturstile im Gange, in der, kaum überraschend, die sowjetischen »16 Grundsätze des Städtebaus« den Sieg über den westlichen internationalen Stil davontrugen. Dieses Ergebnis war ein Geschenk an die antisowjetische Propaganda des Westens. Afroamerikanische Jazzstars wie Ella Fitzgerald und Louis Armstrong traten im Rahmen der amerikanischen »Kulturdiplomatie« des Kalten Krieges in Westberlin auf, während Ostberlin den schwarzen Schauspieler, Sänger und Bürgerrechtsaktivisten Paul Robeson willkommen hieß, der in Amerika auf der Schwarzen Liste der McCarthy-Ära stand, während er in der DDR eine Ehrendoktorwürde erhielt und vor Tausenden von Menschen sang.

Die Welt achtete auf die Ereignisse in Berlin – wie später auf diejenigen in Belfast und Beirut –, weil es eine geteilte Stadt war. Deshalb hatten die Leuchtschrift- und Hochhauswettstreite solche Bedeutung. Aber die beiden deutschen Staaten konkurrierten auf vielerlei Weise vor den Augen der Welt miteinander. Es war ein besonderer Wettkampf, da beide Seiten für sich beanspruchten, das »wirkliche« oder »bessere« Deutschland zu sein. Die Bundesrepublik strich ihre Leistung als »Demokratiewunder« heraus, als der Teil Deutschlands, in dem die Demokratie endlich deutsch spreche.[77] Diesen Anspruch stellte die andere Seite infrage, indem sie ständig auf frühere Nationalsozialisten in führenden Positionen hinwies. Jede neue Enthüllung war ein Propagandacoup des Ostens, und Ereignisse wie die sogenannte Spiegel-Affäre spielten ihm in die Hände. Nachdem das Nachrichtenmagazin im Oktober 1962 einen kritischen Artikel über die westdeutsche Verteidigungsfähigkeit veröffentlicht hatte, wurden elf seiner Mitarbeiter verhaftet und ihre Büros nach geheimen Dokumenten durchsucht. Der wichtigste Aspekt der Affäre war indes der öffentliche Aufschrei der Empörung nach den Verhaftungen, also die Tatsache, dass sie zu einem Skandal wurde. Doch die Bundesrepublik bestand diesen politischen Stresstest am Ende. Dagegen kam der Bau der Berliner Mauer ein Jahr zuvor dem höchstmöglichen Verdammungsurteil über die politische Legitimität des DDR-Regimes gleich. Asymmetrie gehörte zum Wesen der deutsch-deutschen Politik. Ihr internationaler Ausdruck war die Hallstein-Doktrin, nach der die Bundesrepublik die diplomatische Anerkennung der DDR als »unfreundlichen Akt« betrachtete. Gemäß dieser Doktrin brach sie die diplomatischen Beziehungen zu Jugoslawien (1957) und Kuba (1963) ab und fror 1964 die Beziehungen zu Ceylon, dem heutigen Sri Lanka, vorübergehend ein, nachdem Premierministerin Sirimavo Bandaranaike die Einrichtung eines Konsulats der DDR in Colombo genehmigt hatte.

Die DDR sehnte sich nach Anerkennung und bemühte sich in den 1950er- und 1960er-Jahren über alle möglichen nichtdiplomatischen Kanäle darum. Die Beziehungen zu Großbritannien sind ein gutes Beispiel dafür, was dies in der Praxis bedeutete. 1959 wurde der DDR gestattet, eine Außenhandelskammer in London einzurichten, die Verträge mit der Federation of British Industry, der wichtigsten britischen Unternehmerorganisation, schloss. Die Leipziger Messe war ein Treffpunkt auch für Briten, von Geschäftsleuten bis zu Labour-Politikern. In Großbritannien ansässige Unternehmen wie Berolina Travel ermunterten zu Reisen in die DDR. Ostberlin pflegte Beziehungen zu Gewerkschaften, Kirchen, Friedensbewegungen, Lehrern und Stadträten. 1956 gingen Dresden und Coventry, Symbole der Schrecken der Flächenbombardements während des Zweiten Weltkriegs, eine Städtepartnerschaft ein. 1971 gründete ein pensionierter britischer Diplomat das Britische Komitee zur Anerkennung der DDR.[78]

Jedes Mal geriet die DDR in Wettstreit mit dem Westen. Sport, Kulturdiplomatie und die Beziehungen zur Dritten Welt waren nur drei von vielen Gebieten, auf denen die Systeme miteinander zusammenstießen. Der Sport war in den 1930er-Jahren zu einem Feld internationalen Wettbewerbs geworden. Das nationalsozialistische Deutschland und das faschistische Italien benutzten ihn, um ihr Ansehen zu verbessern; auch die Sowjetunion hatte unter Stalin den sportlichen Wettkampf entdeckt.[79] Es war vorhersehbar, dass die DDR denselben Kurs einschlagen würde, teils wegen der historischen Verbindung zwischen Sport und Diktatur und des sowjetischen Vorbilds, vor allem aber, weil Sport ein Mittel war, die internationale Anerkennung zu erlangen, nach der das Regime sich sehnte, die ihm aber bis in die 1970er-Jahre verweigert wurde. In den 1950er-Jahren kam der Erfolg zumeist auf zwei Rädern: Ab 1952 nahm die DDR an der 1947 ins Leben gerufenen Internationalen Friedensfahrt teil, einem zweiwöchigen Etappenradrennen, das alljährlich die Hauptstädte der teilnehmenden Staaten – Polen, Tschechoslowakei und jetzt auch die DDR – miteinander verband. 1953 gewann ein Ostdeutscher das Rennen, und die DDR hatte ihren ersten Sporthelden, Gustav-Adolf »Täve« Schur, der 1955 und 1959 erneut gewann. Im Ausland lebende Deutsche schrieben »Täve« Fanbriefe. Aus London etwa schickte ihm eine Ingrid ein provozierendes Foto von sich im Badeanzug.[80]

Die DDR sah in Sportlern »Diplomaten im Trainingsanzug«, und die meisten Menschen assoziieren die sportlichen Erfolge des Landes mit den Olympischen Spielen. Dahinter stand jedoch eine komplizierte internationale Geschichte. An den Olympischen Spielen von 1948 in London nahm keine deutsche Mannschaft teil; Deutsche waren noch unerwünscht. 1952 war eine »deutsche« Mannschaft zugelassen, ebenso wie ein eigenes Team des Saarlands, das noch nicht mit der Bundesrepublik wiedervereint war. Aber die DDR lehnte die Teilnahme in einer gemeinsamen deutsch-deutschen Mannschaft ab. An den folgenden drei Olympischen Spielen nahm eine solche aus Sportlern beider deutschen Staaten bestehende Mannschaft teil. Sie trat im Namen »Deutschlands« mit der deutschen Fahne mit den olympischen Ringen darauf und der Ode an die Freude aus Beethovens neunter Symphonie als Hymne auf; in den olympischen Annalen wurde sie als »Vereinte Mannschaft von Deutschland« bezeichnet. Erst 1968 nahmen die beiden deutschen Staaten mit getrennten Mannschaften teil – als »Deutschland« und »Deutsche Demokratische Republik« –, aber auf Druck des IOC mit derselben Fahne und Hymne wie vier Jahre zuvor.[81] Erst danach traten die beiden deutschen Staaten in vollem Umfang in den »Kalten Krieg auf der Aschenbahn« ein, wobei die ostdeutsche Mannschaft regelmäßig den zweiten oder dritten Platz auf dem Medaillenspiegel einnahm. Die Erfolge von DDR-Sportlern in der Leichtathletik und im olympischen Schwimmbecken beruhten zum Teil darauf, dass Ostdeutschland dem sowjetischen Vorbild folgte und Sportler schon in jungen Jahren förderte. Außerdem setzten die Trainer in riesigem Ausmaß leistungssteigernde Mittel ein. Die bemerkenswerte Medaillenausbeute und das durch sie gewonnene internationale Ansehen wurden um den Preis der langfristigen Gesundheit der Sportler erkauft. Aber es gab noch einen anderen, weniger offensichtlichen Preis: die in den 1970er- und 1980er-Jahren vorgenommene erhebliche Kürzung der Förderung anderer Sportarten.[82]

Ironischerweise war das selbst ernannte sozialistische Deutschland in Mannschaftssportarten weniger erfolgreich, wofür die Fußballweltmeisterschaften das deutlichste Beispiel sind. Andere Ostblockländer erzielten wenigstens gelegentlich Erfolge. Die DDR qualifizierte sich in den vierzig Jahren ihres Bestehens nur einmal für die Teilnahme, 1974, während Westdeutschland regelmäßig Erfolge feierte. Der erste und dramatischste war derjenige von 1954, das sogenannte Wunder von Bern, als die westdeutsche Mannschaft in der Schweiz im Endspiel den Favoriten Ungarn besiegte. Am Ende von Rainer Werner Fassbinders Spielfilm Die Ehe der Maria Braun (1979) sind die letzten Minuten der Radioübertragung zu hören, und während das Haus der Heldin durch eine Gasexplosion zerstört wird, ertönt der begeisterte Ausruf des Reporters: »Deutschland ist Weltmeister!« Diese melodramatische Symbolik ist Fassbinders später Kommentar zum selbstzerstörerischen Wesen des Wirtschaftswunders. Die westdeutschen Zeitgenossen sahen in dem Sieg – wie in der D-Mark – dagegen ein weiteres Zeichen dafür, dass »Deutschland« wieder etwas galt in der Welt.

Die Kultur war ein Hauptgebiet, auf dem die beiden deutschen Staaten miteinander um den Vorrang kämpften. Der Osten warf dem Westen vor, vor der groben amerikanischen »Unkultur« zu kapitulieren, worauf dieser erwiderte, die Ostdeutschen hätten sich der »Unkultur« des russischen Kommunismus unterworfen. Tatsächlich gab es einige offensichtliche Gemeinsamkeiten. Beide deutsche Staaten bemühten sich, aus dem Schatten des Nationalsozialismus herauszutreten, der die »deutsche Kultur« nicht nur als Begriff suspekt gemacht hatte. Beide beanspruchten dabei, das bessere Deutschland zu sein, wobei sie als Maßstab hauptsächlich die Hochkultur anführten. Beide unterstützten Theater und Orchester in einem Ausmaß mit Subventionen, das in den Vereinigten Staaten oder Großbritannien unbekannt war. Ulbricht brüstete sich mit Aufführungsstätten und klassischen Musikprogrammen. In Westdeutschland gab es in einem 40-Kilometer-Radius um Frankfurt am Main vier Opernhäuser – in Frankfurt selbst sowie in Darmstadt, Mainz und Wiesbaden –, von denen zwei im Krieg bei Luftangriffen zerstört und die anderen beiden stark beschädigt worden waren, die aber alle in den 1950er-Jahren wiederaufgebaut und wiedereröffnet wurden.

In Berlin konkurrierten die Hochkulturangebote von Ost und West direkt miteinander. Westberlin hatte den charismatischen Österreicher Herbert von Karajan als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, dessen Schallplatteneinspielungen mit dem Orchester weltweit 200 Millionen Mal verkauft wurden. Karajan war mit seinem guten Aussehen und seinem Playboy-Lebensstil ein internationaler Star. Ostberlin hatte auf dem Gebiet der klassischen Musik niemanden, der ihm das Wasser reichen konnte. Das wäre anders gewesen, wenn die Bemühungen, Erich Kleiber an die Staatsoper zu binden, erfolgreich gewesen wären. Kleiber, wie Karajan Österreicher, aber eine Generation älter, hatte (anders als Karajan) Deutschland verlassen, als Hitler an die Macht kam, und war nach Argentinien gegangen, bevor er sich nach dem Krieg in London einen Namen machte. Er nahm den Ruf an die Staatsoper zunächst an, überlegte es sich dann aber anders, nachdem Persönlichkeiten aus dem Westen ihn darauf hingewiesen hatten, dass sein Engagement als Unterstützung des Kommunismus ausgelegt werden konnte, während er darin einen Brückenbau sah.[83]

Eine Figur des Kulturlebens, deren weltweite Berühmtheit derjenigen Karajans nicht nachstand, hatte Ostberlin allerdings: den Dichter und Dramatiker Bertolt Brecht, wie Kleiber ein ehemaliger Emigrant. In seinem Theater, dem Berliner Ensemble, setzte er seine Aufführungsprinzipien unter internationalem Beifall praktisch um. Fortschrittliche Regisseure und Schauspieler pilgerten in Scharen zum Theater am Schiffbauerdamm; Brecht war umgekehrt in London, Paris und Brüssel gefragt. Picassos Friedenstaube zierte den Vorhang des Berliner Ensembles. Das war orthodox genug. Doch Brecht geriet wegen seiner Stücke regelmäßig mit Parteifunktionären in Streit. Während er außerhalb der DDR »als weltweit anerkannter Theaterdichter den Status inne[hatte], den er immer geglaubt hatte, erreichen zu können«, wurde er in ihr von ständigen Auseinandersetzungen zermürbt.[84] Andererseits hätte das Regime einer weniger bedeutenden Figur, die nicht so wertvoll für es war, keine derartigen Freiheiten erlaubt, wie er sie genoss. Brecht starb im August 1956 an einem chronischen Herzleiden. Nicht lange vor seinem Tod hatte er einem Bekannten erklärt, wie er sich den Nachruf auf sich vorstellte: »Schreiben Sie nicht, dass Sie mich bewundern. Schreiben Sie, dass ich unbequem war und es auch nach meinem Tode zu bleiben gedenke.«[85] Das Berliner Ensemble genoss im Westen weiterhin hohes Ansehen, aber es gab in Ostberlin keinen offensichtlichen Nachfolger Brechts in der Rolle des Rebellen, der aufgrund seiner Berühmtheit außerhalb des Landes damit davongekommen wäre, außer vielleicht den jungen Sänger-Poeten Wolf Biermann, einen überzeugten Kommunisten, dessen geistige Unabhängigkeit jedoch dazu führte, dass er 1965 als »Klassenverräter« abgestempelt und ihm jegliche Veröffentlichung und Auftrittsmöglichkeit in der DDR genommen wurde.

In Brechts Todesjahr fand ein Architekturwettbewerb für den Neubau der Berliner Philharmonie statt. Das von Hans Scharoun entworfene neue Gebäude wurde 1963 eingeweiht. Der Standort befand sich auf der Westseite des Tiergartens, nahe der Grenze zu Ostberlin, und gehörte zu einem am Potsdamer Platz geplanten Kulturforum mit einer ganzen Reihe weiterer kultureller Institutionen. Bei ihrer Fertigstellung stand die Philharmonie nicht nur unweit der zwei Jahre zuvor errichteten Berliner Mauer, sondern auch an dem Platz, den Hitlers Architekt Albert Speer für eine riesige Soldatenhalle zum Gedenken an die Toten des Ersten Weltkriegs vorgesehen hatte. Sowohl der Standort als auch der Stil der Philharmonie machten sie zu einem Statement. Das kurvige, zeltartige Äußere hätte sich kaum stärker von der von Speer bevorzugten Monumentalität oder der einfallslosen, blockartigen Bauweise in Ostberlin unterscheiden können. Auch im Innern hatte Scharoun mit der Tradition gebrochen, indem er die Bühne in die Mitte verlegte, um die herum sich in Form asymmetrischer Terrassen die Zuschauerplätze gruppierten. Er selbst verglich seinen Entwurf mit einem Weinberg. Er wurde, insbesondere was die Lage der Bühne betraf, zum Vorbild für andere berühmte Konzerthallen, wie das Opernhaus von Sydney (1973), die Suntory Hall in Tokio (1986) und die Walt Disney Hall in Los Angeles (2003). Im Kalten Krieg der frühen 1960er-Jahre war das Haus, in dem Karajan und sein Orchester auftraten, ein wirkmächtiges Zeichen der Selbstvergewisserung des Modernismus.

Die Bundesrepublik wurde von der Welle des kulturellen Modernismus, die den Westen in den 1950er- und 1960er-Jahren insbesondere in Kunst und Architektur erfasste, mitgerissen. In der Architektur bedeutete dies einen weiteren Reimport einer Erscheinung, die Deutschland einst verlassen hatte – in diesem Fall der Ideen des Bauhauses. Lucius D. Clay, der Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone, machte dessen Gründer, Walter Gropius, zu seinem Architekturberater. Die 1953 eröffnete Ulmer Hochschule für Gestaltung war eine Reinkarnation des Bauhauses. Der internationale Stil, wie er damals genannt wurde, entwickelte sich in der Bundesrepublik zu einer Art amerikanisch-deutschem »Joint-Venture des Kalten Krieges«.[86] Der westdeutsche Pavillon auf der Weltausstellung von 1958 in Brüssel – der ersten nach dem Krieg – mit seinen gläsernen Teilgebäuden wurde weithin als der stilvollste, brillanteste Entwurf der Ausstellung gewürdigt.[87] Wie Scharouns Konzerthalle war er ein Statement.

Für den Bruch mit der NS-Vergangenheit und die Hinwendung zur zeitgenössischen Kunst stand insbesondere eine Institution: die anfangs alle vier, ab 1972 alle fünf Jahre in Kassel veranstaltete hunderttägige Kunstschau Documenta. Auf der ersten wurde die Kunst gezeigt, die im Dritten Reich als »entartet« galt. Später präsentierte die Documenta die zeitgenössische Kunst in ihren mannigfaltigen Ausprägungen. Sie hatte Platz für Installationen und für die politischen Provokationen von Enfants terribles wie Joseph Beuys. Die gezeigten Werke waren häufig eigenwillig und manchmal maßlos. Sie machten die Documenta zu einem internationalen Ereignis, das 1964 200 000 Besucher anzog.[88] Es ist auffällig, wie oft Deutsche im Mittelpunkt europäischer und sogar globaler Kunstbewegungen standen, die die Konventionen sprengten. Der Unternehmer Hans Neuendorf, der später die Artnet AG gründete, entwickelte eine völlig neue Art des Kunsthandels, als er 1967 auf der von ihm mitbegründeten weltweit ersten Kunstmesse, der Art Cologne, Werke amerikanischer Popartkünstler anbot. Beuys gehörte zu den prägenden Figuren von Fluxus, einer Performance-Kunstrichtung, deren bekannteste Vertreter die japanisch-amerikanische Künstlerin Yoko Ono und der amerikanische Komponist John Cage waren. Auch die Artists Placement Group, die 1965 in Großbritannien entstand, hatte zahlreiche Verbindungen nach Westdeutschland. Beispielsweise war der eng mit der Gruppe verbundene Komponist Hugh Davies in Köln Assistent von Karlheinz Stockhausen gewesen.

Stockhausen steht an erster Stelle für die Bedeutung von Westdeutschen in der musikalischen Avantgarde der Zeit. Neben der Darmstädter Schule gehörte er zu den Hauptvertretern von serieller und elektronischer Musik. Seine Werke beeinflussten Komponisten in ganz Europa, West wie Ost. Auf der Weltausstellung von 1970 in Osaka wurden an jedem Tag über fünf Stunden Werke von ihm aufgeführt. Als die Ausstellung endete, hatten schätzungsweise eine Million Menschen seine Musik gehört. Die Liste derjenigen, die sich als von ihm beeinflusst erklärten, reicht von Jazzmusikern bis zu experimentellen Musikgruppen der 1960er-Jahre wie Frank Zappas Mothers of Invention und Pink Floyd. Stockhausen gehört zu den auf dem Cover des Beatles-Albums Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band Abgebildeten.

In Ostdeutschland gab es fast nichts Vergleichbares. Die beiden offensichtlichen Ausnahmen, Filmkunst und Stadtplanung, waren Ausnahmen, die die Regel bestätigten. Das ostdeutsche Filmstudio DEFA produzierte einige außergewöhnliche Filme. Konrad Wolfs Der geteilte Himmel (1964) nach Christa Wolfs gleichnamigem Roman dürfte der beste Film der europäischen »neuen Welle« aus beiden Teilen Deutschlands sein. Heute bewundert man, wie vollkommen seine modernistische Bildsprache zur erzählten Geschichte passt. Aber der Film wurde, wie andere herausragende DEFA-Filme auch, regelmäßig aus dem Verkehr gezogen. Filme wie Kurt Maetzigs Das Kaninchen bin ich (1965) und Frank Beyers Spur der Steine (1966) fielen der neuerlichen politischen Repression zum Opfer, die auf das kulturelle Tauwetter der frühen 1960er-Jahre folgte.[89]

Auch moderne Stadtplaner mussten vorsichtig vorgehen. Vorschläge für neue Stadtteile in Schwedt und Hoyerswerda hatten eine utopische Dimension, die auf der Bauhaustradition und den Ideen moderner amerikanischer Stadtplaner beruhte. Aber die Politik bereitete Schwierigkeiten. Der in Bosnien geborene frühere Bauhausstudent und aktive Antifaschist Selman Selmanagić wurde wegen seines »Individualismus« als Planungschef für die Schwedter Neustadt abgelöst.[90] Wie in der bildenden Kunst geriet man auch in der Architektur leicht in Konflikt mit der Parteiorthodoxie. Funktionäre und Kulturvermittler der SED verachteten Modernismus und Avantgarde als »Formalismus« oder »Kosmopolitismus«. Mit letzterem Begriff verwendete ein erklärtermaßen »antifaschistisches« Regime einen Vorwurf, den schon die Nationalsozialisten gegen ihnen nicht genehme Kunst vorgebracht hatten. In der DDR waren zwei Arten von bildender Kunst, Architektur und Musik akzeptabel, zum einen aus der Vergangenheit überlieferte Werke, das heißt die »Aneignung des Erbes der Vergangenheit«, wie es im Parteijargon genannt wurde; damit unterschied man sich kaum vom Westen. Die andere anerkannte Kunst war jene des sozialistischen Realismus, die in den 1950er-Jahren auch nach Stalins Tod mit stalinistischem Eifer gefördert wurde. Nach SED-Vorstellung mussten die »Kulturschaffenden das Leben richtig, d. h. in seiner Vorwärtsentwicklung, darstellen«.[91] Für Zweifel oder gar »Dekadenz« war in dieser Vorstellungswelt kein Platz.

Die Einschränkungen des sozialistischen Realismus brachten führende Künstler dazu, in den Westen zu gehen, unter ihnen drei in den 1930er-Jahren geborene Persönlichkeiten, die später internationales Ansehen errangen: Gerhard Richter, Georg Baselitz und A. R. Penck (eigentlich Ralf Winkler). Auch gegen die musikalische Moderne schottete sich die DDR ab. Selbst politisch zuverlässige Komponisten wurden gemaßregelt, wenn sie Anzeichen für den Einfluss westlicher Modernisten zeigten oder zu »pessimistische«, von den Massen abgehobene Stücke komponierten. Zwei von Brechts musikalischen Mitarbeitern mussten dies erleben. Hanns Eisler war seit den späten 1920er-Jahren ein politisch engagierter, linksgerichteter Komponist; von ihm stammte die Melodie der ostdeutschen Nationalhymne. Aber seine Liebe zum Werk seines Mentors Arnold Schönberg sorgte bis zu seinem Tod im Jahr 1962 für Spannungen mit der SED. Auch Paul Dessau musste sich politische Kritik gefallen lassen, weil seine Musik »ihre Hörer mit Misstönen und intellektualistischen Klügeleien überschüttet« – und dabei war der Stein des Anstoßes Musik für ein Brecht-Stück.[92] Im benachbarten Polen war der Druck, dem Komponisten von klassischer Musik ausgesetzt waren, wesentlich geringer als in der DDR, wo er zudem länger ausgeübt wurde. Polnische Komponisten durften nach 1956 weitgehend komponieren, was sie wollten, eine Freiheit, die es Krzysztof Penderecki und Henryk Górecki ermöglichte, internationale Anerkennung zu gewinnen.[93]

Wie wichtig war dies? Immerhin hörten sich auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs nur wenige Pendereckis Werke an, genauso wie nur wenige Stockhausens Musik lauschten. In den ersten zwanzig Jahren nach Gründung der beiden deutschen Staaten entfernte sich die modernistische Hochkultur sogar noch weiter vom Massengeschmack, als es vorher schon der Fall gewesen war, während die traditionelle Hochkultur an Bedeutung verlor. Doch meinungsprägenden Eliten sowohl auf der Linken als auch auf der Rechten bedeuteten diese Formen der Kultur etwas, und das nicht nur in Deutschland. Deshalb spielte es eine Rolle, dass Ostdeutschland, um ein anderes musikalisches Beispiel anzuführen, den Public-Relations-Kampf um den Jazz eindeutig verlor. Ostdeutsche Jazzliebhaber wie Reginald Rudorf kämpften gegen erheblichen Gegenwind für einen »authentischen« Jazz. Liebhabern wie Kritikern konnte nicht entgangen sein, dass Ulbricht von der »›Affenkultur‹ des dekadenten Jazz« gesprochen hatte.[94] Rudorf wurde von der ostdeutschen Staatssicherheit überwacht, bis er 1957 verhaftet wurde und für zwei Jahre ins Gefängnis kam. Danach ging er, wie einige der besten Jazzmusiker auch, in den Westen. In den 1960er-Jahren wurde der Jazz von einem populären Musikgenre zu einem Teil der Hochkultur und einer Domäne der Gebildeten. Aber die grobe Art, wie in der DDR mit der Musik umgegangen wurde, war wie die Reaktion auf den Rock ’n’ Roll ein Vorbote der Schwierigkeiten, mit denen neue Formen der populären Musik in Zukunft zu kämpfen haben sollten.

Die Auftritte von Louis Armstrong in Westberlin und Paul Robeson in Ostberlin waren einmalige Propagandamomente des Kalten Krieges. Aber beide deutsche Staaten verfolgten eine langfristige Kulturdiplomatie. Zwischen 1950 und 1969 schloss die DDR mit 22 Ländern innerhalb und außerhalb des Sowjetblocks Kulturabkommen, wobei vor allem die Verbindungen über die sozialistischen Länder hinaus wichtig waren. Bei einem Moskaubesuch im Jahr 1964 wurde Manfred Feist, der Vorsitzende der Liga für Völkerfreundschaft, der Dachorganisation der internationalen Freundschaftsgesellschaften der DDR, von seinen Gesprächspartnern in seiner Tätigkeit bestärkt. Die Sowjetunion, wurde ihm bestätigt, pflege mittels Freundschaftsgesellschaften kulturelle Kontakte zu vielen Ländern, zu denen sie keine diplomatischen Beziehungen unterhalte. Umso wichtiger war Kulturdiplomatie für einen Staat, den nur wenige Länder diplomatisch anerkannt hatten.[95]

Westdeutschland verfügte über ein breiter gefächertes Netzwerk von Institutionen. Kulturdiplomaten sprachen später für die 1950er-Jahre von »Wildwuchs«. Es war eine Zeit der Neu- oder Wiedergründungen, vom DAAD über die Goethe-Institute und die Humboldt-Stiftung bis zur Deutschen Welle. Man war sicherlich bestrebt, im Rahmen des Kalten Krieges eine »Kulturoffensive« zu unternehmen, um eine interne Denkschrift der Kulturabteilung des Auswärtigen Amts zu zitieren.[96] Aber Adenauer war nicht sonderlich an Soft Power interessiert. Die Kulturabteilung blieb das Aschenbrödelressort des Auswärtigen Amts, bis sich dies, wie so vieles, in den 1960er-Jahren änderte, als die Kultur, neben Politik und Wirtschaft, zum »dritten Pfeiler« der Außenpolitik der Bundesrepublik avancierte. Die Goethe-Institute, die bis dahin vor allem Sprachunterricht anboten, wurden zu wichtigen Kulturvermittlern, die der Welt ein breiteres, weniger nationalistisches Bild der deutschen Kultur nach Bonner Zuschnitt nahebrachten. Sie wurden später im postfranquistischen Spanien zum Vorbild der Cervantes-Institute.

Auch auf diesem Gebiet war Deutschland zweifach vertreten. Die jeweilige Bevölkerung hatte die Wahl. In Stockholm etwa sahen es die neutralen Schweden entspannt; in ihren Augen boten die beiden Kulturinstitutionen offenbar interessante Ansichten derselben Sache.[97] In Italien betrachtete man die konkurrierenden Angebote dagegen stärker im Zusammenhang des Kalten Krieges. Die Christdemokraten in Bonn standen ihren italienischen Pendants nahe und teilten dieselben Werte mit ihnen. Die Bundesrepublik eröffnete selbstverständlich Kulturinstitutionen in Rom, aber auch die DDR gründete dort ein bedeutendes Kulturzentrum, das Centro Thomas Mann. Dies war zum Teil der Stärke der Kommunistischen Partei Italiens (KPI) und den engen Beziehungen, die sie – trotz doktrinärer Differenzen – zur SED unterhielt, zu verdanken.[98] Es war kein Zufall, dass Leipzig in den ersten Jahrzehnten des Kalten Krieges nur eine westliche Partnerstadt hatte, das von der KPI regierte »rote Bologna«, mit dem die Stadt 1962 ein entsprechendes Abkommen unterzeichnet hatte.

Wie der Kalte Krieg, dessen Miniaturversion er war, wurde der Wettstreit der beiden deutschen Staaten global geführt. Sie konkurrierten um Einfluss in Afrika sowie im Nahen und Fernen Osten, wobei sie einerseits die vom jeweils eigenen politischen Lager auferlegten Beschränkungen und andererseits die Spannungen beachten mussten, die stets auftraten, wenn Europäer, gleich welcher politischen Ausrichtung, nichteuropäischen Völkern sagen wollten, was gut für sie sei. Der dunkelste Aspekt dieses Wettstreits war der Waffenverkauf, aber das Spektrum möglicher Einflussnahmen war breit und umfasste Bildungsprogramme ebenso wie Wirtschaftshilfe, medizinische Unterstützung und technische, landwirtschaftliche und andere fachliche Expertise. Die Leistungen lassen sich grob in zwei Bereiche einteilen: »Entwicklung« und »humanitäre Hilfe« – beides zeitgenössische Schlagworte, die von den zwei deutschen Staaten mit jeweils eigenem Zungenschlag benutzt wurden.[99]

Ostdeutschland betrieb in den 1950er- und 1960er-Jahren eine streng antiimperialistische Außenpolitik. Dies war die Zeit, in der die letzten verzweifelten Versuche der Kolonialmächte und weißen Siedlergesellschaften, ihre Stellung gegenüber wachsenden Befreiungsbewegungen zu behaupten, ein ums andere Mal Verhaltensweisen hervorbrachten, die dem Selbstbild der sogenannten freien Welt Hohn sprachen: durch britische Brutalität in Kenia, belgische Gewalt im Kongo, französische Folter in Algerien, das Massaker von Sharpeville in Südafrika. Neben ihrer internationalen Isolation, derer die DDR sich stets schmerzlich bewusst war, hatte sie noch einen anderen Grund, die neu unabhängig gewordenen Länder zu umwerben und von Algerien und Angola bis Mosambik Befreiungsbewegungen zu unterstützen. Sie war besonders in Afrika aktiv, stellte aber auch Kuba Hilfe in Medizin und Bildung sowie beim Nachrichtendienst zur Verfügung. Spionagechef Markus Wolf schrieb in freundlicher, gleichwohl herablassender Weise über sein Pendant in Havanna, Manuel Piñeiro, er habe eine »jungenhafte« Vorliebe für Instrumente à la James Bond, wie Gift verspritzende Federhalter. »Seine Enttäuschung über mich als Handelsvertreter von Spionageausrüstung wurde immer offensichtlicher«, erinnert sich Wolf an ihre ersten Begegnungen.[100] Doch der kubanische Nachrichtendienst wurde rasch professioneller und Wolfs Beziehung zu Piñeiro enger, und die Ressourcen, mit denen die DDR das Land unterstützte, brachten ihr als wertvollen Lohn die diplomatische Anerkennung ein.

Um diese zu verhindern, verfolgten Vertreter der Bundesrepublik ihre ostdeutschen Kollegen rund um die Welt. »Von Bogota bis Bagdad, von Addis Abeba bis Phnom Penh«, schreibt ein Historiker, »intervenierten westdeutsche Diplomaten und protestierten gegen jede noch so kleine freundliche Geste« gegenüber dem anderen deutschen Staat.[101] Die Folge davon war, dass die Bundesrepublik sich in Teilen der Welt engagierte, denen sie andernfalls vielleicht nicht viel Beachtung geschenkt hätte. Außerdem war sie in Bezug auf die Unterstützung blockfreier Staaten zu Bietergefechten mit Ostdeutschland gezwungen. Zwischen den beiden Deutschlands entbrannte ein neuer Wettlauf um Afrika, der diesmal nicht mit Bibel und Maschinengewehr, sondern mit Hilfsversprechen ausgetragen wurde. Zwischen 1960 und 1964 eröffnete Westdeutschland 26 neue Botschaften in Subsahara-Afrika.[102] Bonn wusste nur zu gut um die ostdeutsche Herausforderung in einer einflussreichen Hauptstadt wie Kairo, wo jede Industrieausstellung und jedes Kulturprogramm, bis hin zu Feuerwerken, zu einem Wettstreit führte.[103]

Die globale Dimension des deutsch-deutschen Wettstreits stellte die Bonner Entscheidungsträger vor eine Reihe schwieriger Probleme. Eines von ihnen brachte sie in den 1960er-Jahren in Gegensatz zu ihrem wichtigsten Verbündeten. US-Außenminister Dean Rusk hatte es für notwendig erachtet, »ein paar Deutsche aufs Feld zu bekommen«. Doch Ludwig Erhard, Adenauers Nachfolger als Bundeskanzler, lehnte es auf eine entsprechende Anfrage Präsident Lyndon B. Johnsons entschieden ab, Truppen nach Vietnam zu entsenden.[104] Wie sich herausstellte, war dies jedoch kein großes Problem. Immerhin wies auch Großbritannien dieses Ansinnen zurück, und die Haltung beider Länder untergrub die öffentliche Stellung der Vereinigten Staaten in keiner Weise. Großbritannien, Frankreich, Belgien, die Niederlande und Portugal waren in einer Ära der Entkolonialisierung allesamt bedrängte Kolonialmächte. Die Bundesrepublik war offensichtlich keine Kolonialmacht und zudem bemüht, mit ihrer Entwicklungs- und Hilfspolitik in der Dritten Welt einen politischen Mehrwert zu gewinnen, insbesondere die Nichtanerkennung des anderen deutschen Staats. Dennoch stand sie loyal zu ihren europäischen Verbündeten, wenn diese mit mehr oder weniger Gewalt auf Befreiungsbewegungen reagierten. Als US-Außenminister John Foster Dulles 1956 den französischen Ministerpräsidenten Guy Mollet anrief, um ihm zu sagen, dass die anglo-französische Suez-Invasion beendet werden müsse, war Mollet zufälligerweise gerade mit Adenauer zusammen, der ihm versicherte, die Europäer müssten gegen die Amerikaner zusammenhalten, und ihn mit der häufig zitierten Bemerkung tröstete: »Europa wird eure Rache sein.«[105]

Bonn betrachtete den französischen Rückzugskampf in Algerien als Ablenkung von der Verteidigung Europas, unterstützte ihn aber trotzdem, um das gute Verhältnis zu Frankreich zu bewahren, selbst als der Foltervorwurf gegen die Kolonialmacht kaum noch zu bestreiten war. Die Bundesrepublik ging sogar so weit, auf ihrem Territorium lebende Aktivisten der algerischen Nationalen Befreiungsfront (FLN) zu überwachen, und protestierte auch nicht, als Agenten der französischen Gegenspionage auf deutschem Boden gegen FLN-Mitglieder und deutsche Waffenhändler, die ihnen Waffen lieferten, vorgingen.[106] Auch Belgien wurde von Westdeutschland unterstützt. 1964 empfing Bonn Moise Tschombé, den ehemaligen Chef des von Belgien zum Schutz seiner Rohstoffinteressen gestützten Pseudostaats Katanga und jetzigen Ministerpräsidenten des Kongo, der für den Tod des kongolesischen Ministerpräsidenten Patrice Lumumba verantwortlich war, nachdem dieser durch einen von der CIA angezettelten Putsch gestürzt und nach Katanga ausgeliefert worden war. In der Bundesrepublik wurde Tschombé zu einem formellen Staatsbesuch als Verbündeter im Kampf gegen den Kommunismus begrüßt und dabei fotografiert, wie er nachdenklich über die Berliner Mauer in den Osten schaute.[107] Außerdem war die Bundesrepublik der größte Waffenlieferant Portugals, während es verzweifelt an seinen afrikanischen Kolonien festhielt. Eine Endnutzerklausel in den Verträgen erhielt die freundliche Fiktion aufrecht, dass die Waffen nicht gegen die für die Unabhängigkeit Mosambiks kämpfende Guerillabewegung Frelimo eingesetzt werden würden.[108]

Ein besonderes Problem stellte Südafrika dar. Der erste westdeutsche Botschafter in Pretoria, Rudolf Holzhausen, war ein scharfer Kritiker der Apartheid. Andere Außenamtsmitarbeiter standen Südafrika, ebenso wie einige führende Christdemokraten, nachsichtiger gegenüber. Aber die Welt veränderte sich, und die Bundesrepublik bemühte sich, die von der DDR umworbenen afrikanischen Staaten nicht gegen sich aufzubringen. Ihre Lösung war die Trennung von Handel und Politik. Deshalb war es umso überraschender, dass 1968 Gustav Adolf Sonnenhol zum Botschafter ernannt wurde, wahrscheinlich aufgrund seiner engen Freundschaft mit Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger. Der frühere SS-Mann Sonnenhol hielt die Kritiker Südafrikas für naiv, verteidigte die Apartheid und dachte sogar laut über eine militärische Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik und dem südafrikanischen Regime nach, womit er seine Kompetenzen deutlich überschritt. Damit legte er Differenzen innerhalb des Auswärtigen Amts bloß. Der westdeutsche Botschafter in Mali, Michael Jovy, der insofern unter den Bonner Diplomaten ein Sonderfall war, als er im Dritten Reich als oppositioneller Jugendführer im Gefängnis gesessen hatte, stellte sich Sonnenhol entgegen. Die Bundesrepublik, erklärte er, stehe vor der Wahl, »auf der Seite der Emanzipierung der Afrikaner zu stehen, oder uns abhängig von einer Politik der rassischen Unterdrückung und Ausbeutung zu machen, die unser Ansehen und unseren Einfluß in Afrika zerstören und der Wahrnehmung unserer eigenen Interessen zuwiderlaufen wird«. Der Streit wurde der linken Zeitschrift konkret zugespielt und von Ostberlin mit Freuden ausgeschlachtet.[109]

Die globale Entwicklung der 1960er-Jahre ließ in der Bundesrepublik politische und Generationenkonflikte in den Vordergrund treten. Nicht alle hießen den Wandel willkommen. Manche widersetzten sich ihm gewaltsam. Rolf Steiner diente als französischer Fremdenlegionär in Vietnam und Algerien, dann als Söldner in Subsahara-Afrika; Siegfried Müller, genannt »Kongo-Müller«, wurde von Tschombé angeheuert, um den Aufstand der Simba, Anhänger des ermordeten Präsidenten Lumumba, niederzuschlagen.[110] Wie oben gesehen, hatten in der Vergangenheit viele Deutsche anderen Reichen als Soldaten gedient. Aber Steiner und Müller waren Söldner einer neuen und zugleich bereits aussterbenden Art: postkoloniale Deutsche, die eine noch koloniale Welt bewahren wollten, die absehbar bald ebenfalls postkolonial sein würde. In der älteren Generation war die nostalgische Erinnerung an das deutsche Kolonialreich noch verbreitet, insbesondere bei Menschen mit Verwandten im früheren Deutsch-Südwestafrika, das von Südafrika verwaltet wurde, bis es 1990 unter dem Namen Namibia unabhängig wurde. Die Deutsch-Südafrikanische Gesellschaft warb für enge Beziehungen zum Apartheidregime. Zudem gab es von konservativer Seite viel Kritik an der Entwicklungshilfe, die als »Verschwendung« des Geldes der Steuerzahler angesehen wurde, wobei häufig rassistische Klischees über afrikanische Korruption und Inkompetenz mitschwangen.[111]

Allerdings löste die westdeutsche Aufmerksamkeit für die Dritte Welt auch großzügigere Reaktionen aus. Die Kirchen sammelten Hilfsgelder und bildeten Entwicklungshelfer aus. Hilfsvereine und staatlich finanzierte Organisationen wurden gegründet, die Entwicklungs- und humanitäre Hilfe in die Dritte Welt vermittelten. Zu ihnen gehörten die Deutsche Stiftung für Entwicklungsländer (1959; heute Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit, GIZ), die Deutsche Gesellschaft für wirtschaftliche Zusammenarbeit (1962; heute Deutsche Investitions- und Entwicklungsgesellschaft) und der Deutsche Entwicklungsdienst (1963; heute Teil der GIZ). Diese Organisationen boten natürlich Angriffsflächen für den Vorwurf, europäischem Paternalismus Vorschub zu leisten oder gar als Agenten eines ausbeuterischen Entwicklungsregimes zu dienen.[112] Genau diese Vorwürfe kamen aus den eigenen Reihen, von Kirchen, Wissenschaftlern und Entwicklungshelfern. Ihre Befürchtungen überlappten sich mit den lautstark vorgebrachten Anklagen vonseiten der Neuen Linken der 1960er-Jahre, die Entwicklungshilfe als Instrument eines westlichen Neokolonialismus ansahen, der die Strukturen der auf Gewalt beruhenden kolonialen Abhängigkeit der Dritten Welt perpetuierte. Ihren Höhepunkt erreichte diese Kritik in der Bewegung der 68er, wie sie kurz genannt wird, obwohl ihre Elemente sich bereits seit Jahren herausgebildet hatten. Eines ihrer Kennzeichen war die Verbindung von Globalem und Lokalem.

In der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre radikalisierte sich die Neue Linke in Westdeutschland und Westberlin. Vieles von dem, was diese Entwicklung vorantrieb, war spezifisch westdeutsch. Die 1966 gebildete Große Koalition der beiden Volksparteien, der Christdemokraten und der Sozialdemokraten, und das praktische Verschwinden einer parlamentarischen Opposition gaben der selbst ernannten Außerparlamentarischen Opposition (APO) der Linken ihren Namen und ihre Raison d’être. Dass der neue Bundeskanzler, Kiesinger, ein ehemaliger aktiver Nationalsozialist war, stand für einen anderen spezifisch deutschen Aspekt der 68er-Bewegung, die angebliche Amnesie der älteren Generation in Bezug auf das Dritte Reich und dessen Verbrechen. Zudem ging sie Hand in Hand mit der allgegenwärtigen antiautoritären Bewegung, die im Aufbegehren gegen die bürgerlichen Werte der Bundesrepublik und ihr hierarchisches Bildungssystem wurzelte. Dies war ein Hauptthema des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS). Darüber hinaus besaß die Kritik der Neuen Linken am erstickenden Konsumkapitalismus auch eine generationelle Dimension. Als weiteren mächtigen lokalen Feind machte sie den Pressezaren Axel Springer aus, der für die deutschen Radikalen der 1960er-Jahre das war, was Rupert Murdoch für spätere Generationen sein sollte. Die populistische Springer-Presse fachte die Feindseligkeit gegen alle Protestler und Demonstranten an, unabhängig davon, ob sie friedlich auftraten oder nicht. Die ständigen Attacken verleiteten den Antikommunisten Josef Bachmann dazu, im April 1968 ein Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke zu verüben.

Der radikale Protest in Westdeutschland war zugleich sehr deutsch und sehr global. Er war die deutsche Version einer antiautoritären Bewegung, die von Berkeley über Paris und Mexiko bis nach Wuhan reichte.[113] Sie besaß gemeinsame Texte, Slogans und Methoden. Wie Neue Linke anderswo lasen die westdeutschen Frantz Fanon, Herbert Marcuse und Che Guevara, diskutierten über die »Kulturrevolution« und übernahmen rasch Aktionsformen, die sich anderswo als erfolgreich erwiesen hatten, wie Straßentheater, Happenings und Sit-ins. Deutsche Demonstranten lernten von der Free Speech Movement in Berkeley, während französische Situationisten Ideen dafür lieferten, wie man das kapitalistische »Spektakel« untergraben konnte. Ideen wanderten aber nicht nur in eine Richtung. »Wir haben in [West-]Berlin gelernt, wie man auf den Straßen demonstriert«, erklärte ein französischer Aktivist.[114] Die Halbstadt wurde zu einem Magneten für französische, britische und amerikanische Radikale. Westdeutschland und Westberlin waren Orte einer transnationalen politischen Gegenkultur. Das SDS-Mitglied Arnhelm Neusüss betonte 1968, es sei eine Binsenweisheit, dass politische Formen nicht einfach von einem Land auf ein anderes übertragen werden könnten; dennoch gebe es einen »Internationalismus des Protests«.[115]

Radikale Demonstranten griffen auch globale Themen auf, die eines verband, nämlich die Solidarität mit der Dritten Welt. Es war die deutsche Ausprägung der Dritte-Welt-Ideologie, die in ganz Europa florierte. In den frühen 1960er-Jahren engagierten sich Intellektuelle der Neuen Linken für Algerien. »Algerien ist überall«, erklärte der Dichter, Essayist und Herausgeber des linken Kursbuchs Hans Magnus Enzensberger.[116] Es gab in diesen Jahren auch andere Brennpunkte und Themen, vor allem in Afrika, wie die Apartheid und die Ermordung Patrice Lumumbas. Dazu kamen China und Kuba, deren Revolutionen – dank massiver Selbsttäuschung – als attraktive Alternativen zum bürokratischen Sozialismus des Sowjetblocks begrüßt wurden. Die amerikanische Reaktion auf die kubanische Revolution, insbesondere die Landung in der Schweinebucht, rückte den US-Imperialismus in den Fokus, ebenso wie andere Beispiele amerikanischen Fehlverhaltens aus jüngster Zeit, wie der Putsch, durch den 1954 der guatemaltekische Präsident Jacobo Árbenz Guzmán gestürzt worden war. Auch den Bürgerrechtskampf in den Vereinigten Staaten – Martin Luther King besuchte 1964 sowohl West- als auch Ostberlin – und den Aufstieg der Black Panther verfolgten Westdeutsche und Westberliner aufmerksam. Die neue Satellitentechnik der frühen 1960er-Jahre brachte amerikanische Fernsehbilder zeitgleich in deutsche Haushalte. Das Bündnis zwischen den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik spiegelte sich jetzt in einem Bündnis völlig anderer Art zwischen Protestbewegungen beiderseits des Atlantiks.[117] Vor allem der Vietnamkrieg rückte in den Mittelpunkt der radikalen Proteste. Deutschland, erklärte Rudi Dutschke, sei die »zweite Front« gegen den imperialistischen Krieg in Vietnam.[118]

Äußerungen wie diese deuten auf den Stellvertreteraspekt des Radikalismus der 1960er-Jahre hin, die Projektion deutscher revolutionärer Hoffnungen und Frustrationen in die Dritte Welt. In ihrer schlimmsten Form war die Bewegung sowohl herablassend gegenüber dem Leid der Opfer als auch naiv hinsichtlich der Politik derjenigen, mit denen sie sich identifizierte. Enzensberger, der sich von niemandem zum Narren halten ließ, verfasste noch vor dem Ende der 1960er-Jahre eine höchst unromantische Darstellung der kubanischen Revolution und warf anschließend einen scharfen Blick auf »Revolutionstouristen«. Später nahm er sich die heuchlerischen Elemente der westlichen Dritte-Welt-Ideologie vor.[119] Deshalb ist es umso wichtiger, die Rolle ausländischer Emigranten und Studenten in der westdeutschen Protestbewegung hervorzuheben. So wie Berlin in den 1920er-Jahren Zuflucht radikaler asiatischer Studenten und Intellektueller war, zogen Westdeutschland und Westberlin in den 1960er-Jahren eine wachsende Zahl politischer Aktivisten aus Afrika, Asien und Lateinamerika an. Sie kamen, um an deutschen Universitäten zu studieren oder als von Kirchen, Parteien, Stiftungen und NGOs unterstützte dissidente Intellektuelle.[120] In Deutschland engagierten sie sich im Afrikanischen oder Latein-Amerikanischen Studentenbund. Nachdem er ausländische Studenten gegen Tschombé protestieren gesehen hatte, notierte Dutschke in sein Tagebuch: »Unsere Freunde aus der dritten Welt sprangen sofort ein, die Deutschen hatten zu folgen.«[121]

Manche dieser »Freunde« kamen aus dem Nahen und Mittleren Osten, insbesondere dem Iran. Ein Besuch des Schahs von Persien am 2. Juni 1967 in Westberlin führte zu einem der herausragenden Ereignisse der Ära. 1953, nach dem von Großbritannien und den Vereinigten Staaten organisierten Sturz des demokratisch gewählten Ministerpräsidenten Mohammad Mossadegh, erneut an die Macht gekommen, war er durch sein politisch repressives »Entwicklungs«-Regime zum gleichsam natürlichen Ziel von Protesten geworden. Bevor er am 2. Juni 1967 zu einem mittäglichen Treffen mit dem Westberliner Regierenden Bürgermeister eintraf, hatten sich zwei- bis dreitausend Demonstranten zusammengefunden, unter ihnen viele Exil-Iraner. Dann brachte ein Bus Angehörige des iranischen Geheimdiensts Savak heran, die mit Holzstöcken und Totschlägern auf die unbewaffneten Demonstranten einzuschlagen begannen. Die Polizei griff erst spät ein, nachdem sie zuvor Demonstranten mit Gewalt vertrieben hatte. Am Abend demonstrierten rund 6000 Menschen gegen den Schah-Besuch, unter ihnen der Literaturstudent Benno Ohnesorg. Laut einem chilenischen Freund hatte Ohnesorg beschlossen, an der Demonstration teilzunehmen, nachdem er von den Lebensbedingungen im Iran gelesen hatte. Während der chaotischen Szenen bei der Auflösung der Demonstration durch die Polizei schoss ihm Karl-Heinz Kurras, ein Polizist in Zivil, in den Hinterkopf. (2009 wurde bekannt, dass Kurras ein ostdeutscher Stasi-Mitarbeiter war; einen Beweis dafür, dass er an diesem Tag im Auftrag der Stasi handelte, fand man indes nicht.) Ohnesorgs Tod wurde zu einem Sammlungsruf der Linken und radikalisierte viele in der Studentenbewegung.[122]

Gab es in Ostdeutschland eine Ausprägung der globalen Sechziger? Offensichtlich war die Ähnlichkeit der in Ostberlin vertretenen Ideologie mit den Überzeugungen, die von radikalen Demonstranten in Westberlin ausgedrückt wurden. Die DDR verstand sich als sozialistischer Staat, der die Opfer des westlichen Imperialismus unterstützte und seine Bürger aufrief, sich als Teil eines weltweiten Kampfs zu sehen. Dabei spielte die Unterstützung von Minoritäten in den Vereinigten Staaten eine wichtige Rolle. Theaterstücke afroamerikanischer Schriftsteller wie Lorraine Hansberrys Ein Fleck in der Sonne (1959) und James Baldwins Blues für Mr. Charlie (1964) wurden aufgeführt, um das Bild eines rassistischen Amerika zu vermitteln. Baldwins Stück entsprach aus Sicht des SED-Regimes eher den marxistischen Grundsätzen als seine früheren Romane Giovannis Zimmer (1956) und Eine andere Welt (1962) mit ihren Darstellungen homosexueller Liebe.[123] In Westdeutschland stationierte schwarze GIs, die in der DDR um Asyl ersuchten, wurden zum Symbol für den Antirassismus des Regimes. Gleiches galt für die afroamerikanische Radikale Angela Davis, die an der Ostberliner Humboldt-Universität promovierte. Als sie später in den Vereinigten Staaten in Haft kam, organisierte die DDR eine Kampagne für sie und bereitete ihr nach ihrer Freilassung einen stürmischen Empfang.[124] Anführer des American Indian Movement waren ebenso gern gesehene Gäste.[125]

Kuba diente der DDR als Symbol für den Widerstand gegen den US-Imperialismus. In den frühen 1960er-Jahren war die Verletzlichkeit des sozialistischen Experiments auf Kuba zudem als Beispiel nützlich, das den Ostdeutschen die eigene Verletzlichkeit ohne die Berliner Mauer vor Augen führte. In … und deine Liebe auch von 1962, dem ersten sogenannten Mauerfilm der DDR, wird von einem Liebesdreieck zwischen einer jungen, politisch unreifen Frau und zwei Brüdern erzählt, dem arroganten, westlich orientierten Klaus und dem guten Ostdeutschen Ulli. Am Ende siegt die sozialistische Tugend über die kapitalistische Sünde. Eine bedeutsame Nebengeschichte ist eine Begegnung Ullis mit seinem kubanischen Freund Alfredo, einem Funkamateur wie er selbst. Während eines beruflichen Aufenthalts in Ostberlin im August 1961, kurz nach Beginn des Mauerbaus, überrascht Alfredo seinen Freund mit einem Besuch, und obwohl Ulli gerade an der Grenze zu Westberlin seine Pflicht bei der Verteidigung der DDR erfüllt, findet er die Zeit, mit seinem Freund sozialistische Lieder zu singen. Noch offensichtlicher ist die Botschaft über die imperialistische Bedrohung in Preludio 11 (1963), in dem die US-Landung in der Schweinebucht nachgestellt wird. Keiner der beiden Spielfilme kam beim ostdeutschen Publikum besonders gut an.[126] Mehr Widerhall fand die Geschichte von Tamara Bunke, die bei ihrer Arbeit als ostdeutsche Dolmetscherin in Südamerika Che Guevara kennenlernte und 1967 in Bolivien wenige Wochen vor ihm ums Leben kam. Ihre sorgfältig aufbereitete Geschichte bot sich als Propagandamaterial geradezu an. Schulen, Brigaden und Jugendgruppen wurden nach ihr benannt. Laut Markus Wolf war sie für viele ostdeutsche Jugendliche ein Idol.[127]

Ostdeutsche wurden ständig aufgefordert, sich mit Kämpfen an fernen, »exotischen« sozialistischen Orten zu identifizieren. Manchmal wurde der globale Kontext nebenbei in Werken angedeutet, in denen er nicht das Hauptthema war. In dem Spielfilm Kennen Sie Urban? von 1971 geht es um die Beziehung zwischen Urban und dem jungen Hoffi, der vom Weg abgekommen war und wegen Körperverletzung im Gefängnis gesessen hat. Urban dagegen ist ein sozialistischer Modellbürger, der Hoffi zeigt, wie er sich bessern kann. Man erfährt, dass Urban als Vermessungsingenieur in Algerien gearbeitet hat, wo ein kleiner Spiegel mit dem Aufdruck »Made in East Germany« der FLN bewies, dass er kein westlicher Agent war. Außerdem hat er auch schon in Kuba und Vietnam gearbeitet.

Vietnam war das Thema, das die DDR am erfolgreichsten für seine Propaganda nutzte. Wie die radikalen Studenten im Westen verurteilte sie den Vietnamkrieg, wobei sie die Gelegenheit ergriff, um Westdeutschland als US-Verbündeten anzuklagen und Verbindungen zur internationalen Antikriegsbewegung zu knüpfen. Im Gegensatz zum Mauerbau oder zur Unterstützung des Einmarschs von Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei im August 1968 stieß die offizielle Kampagne gegen den Vietnamkrieg in der Bevölkerung weithin auf Zustimmung. Dies räumte auch ein geheimer Bericht der United States Information Agency von 1966 über die öffentliche Meinung in der DDR ein: »Das Propagandatrommelfeuer des ostdeutschen Regimes und seine ›Solidaritäts‹-Versammlungen für Vietnam haben zweifellos eine gewisse Wirkung und stärken die Auffassung, dass die US eine kolonialistische, imperialistische Macht seien, die darauf aus sei, eine legitime nationale Befreiungsbewegung zu zerschlagen.« Weiter heißt es in dem Bericht: »Während die Ostdeutschen der Propaganda des Regimes bei allen Themen grundsätzlich skeptisch gegenüberstehen, dürfte die offizielle Linie in Bezug auf Vietnam mehr Glaubwürdigkeit besitzen als bei allen anderen Themen.«[128]

So provinziell Ostdeutschland in mancher Hinsicht gewesen sein mag, es war keine insulare Gesellschaft, sondern spielte seine Rolle in den »sozialistischen Sechzigern«, insofern manche seiner Angehörigen wie diejenigen anderer Staaten des Sowjetblocks im Namen der Solidarität Grenzen überquerten.[129] Aber diese Praxis der gegenseitigen Unterstützung unter Genossen hatte ihre Tücken, die sich schon in den 1950er-Jahren angekündigt hatten, als eine Gruppe ostdeutscher Ingenieure und Architekten nach dem Koreakrieg mitgeholfen hatte, Nordkoreas zweitgrößte Stadt, Hamhung, wiederaufzubauen. Neben ihnen arbeiteten dort auch Russen, Polen und Tschechen. Die DDR steckte eine erhebliche Geldsumme in das Projekt, und es gab Beispiele echter kulturübergreifender Solidarität und Freundschaft zwischen Deutschen und Koreanern. Die Ostdeutschen nannten sich selbst »Tokils« – tokil ist das koreanische Wort für Deutschland – und »Hamhunger«. Aber es gab Alkoholprobleme und sexuelle Übergriffe auf koreanische Frauen von Deutschen, die nach Hause geschickt werden mussten. Außerdem wurden die Deutschen weithin als »arrogant« wahrgenommen, was ihnen von manchen Koreanern den Vorwurf einbrachte, sie seien »Hitlerfaschisten«; sogar mit den einstigen japanischen Besatzern wurden sie verglichen. 1962 kamen beide Seiten schließlich überein, die Zusammenarbeit bei dem Projekt zu beenden, beteuerten aber, die »gegenseitige Freundschaft und Zusammenarbeit« im Sinne des »proletarischen Internationalismus« fortführen zu wollen.[130]

Die Ostdeutschen in Hamhung mochten chinesisches Bier und besuchten auf ihrer Rückreise in die Heimat Peking. Dass die sozialistische Solidarität mit Nordkorea fadenscheinig wurde, war ein Nebenprodukt des sowjetisch-chinesischen Zerwürfnisses, das 1961 offensichtlich war. Der nordkoreanische Führer Kim Il-sung wandte sich immer mehr von den sowjetischen Methoden, wie Ostdeutschland sie repräsentierte, ab und dem chinesischen Modell des »großen Sprungs vorwärts« zu. Diese Spaltung in der sozialistischen »Zweiten Welt« war überall im Sowjetblock zu spüren.[131] Aber es gab auch das übergreifende Problem, dass die Ostdeutschen in Asien und Afrika häufig wie Westdeutsche wirkten. Sie stellten nur eine Variation der europäischen Modernität dar, einschließlich der eigenen Gewissheit, dass sie alles am besten wussten. Aber auch in größerer Nähe war zu bemerken, dass die sozialistische Solidarität Grenzen hatte. Afrikanische Studenten, die an ostdeutschen Universitäten studierten – wenn auch in kleinerer Zahl als an westdeutschen –, hatten mit alltäglichem Rassismus zu kämpfen und wurden weithin als sexuelle Bedrohung angesehen.[132] In anderen Fällen stand die Propaganda des Regimes im Einklang mit rassistischen Anschauungen, selbst wenn sie vordergründig ihren Antirassismus herausstellte. Ein Beispiel dafür sind die Sexualisierung und Exotisierung, die das Bild von Angela Davis mit ihrem sogenannten »Afro-Look« erfuhr.[133]

Einige dieser Widersprüche gab es natürlich auch im Westen. Dennoch unterschieden sich die Entwicklungen der globalen Sechziger in den beiden Deutschlands tiefgreifend. Auf der einen Seite stand die aufmüpfige, oppositionelle Identifikation westdeutscher Studenten und Neuer Linker mit den Vietnamesen, Che Guevara und der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, auf der anderen die programmatische Orthodoxie derjenigen, die sich in Ostberlin auf sie bezogen. Die ostdeutschen Solidaritätsbekundungen wirkten inszeniert. Mit Figuren wie Che Guevara musste man vorsichtig sein, da sie potenziell gefährlich waren, und Kuba besaß zumindest ansatzweise die Kraft, die Hoffnung auf eine bessere, weniger bürokratische Art des Sozialismus zu nähren. Deshalb wurden Bücher über die Kubanische Revolution aufmerksam geprüft und in manchen Fällen verboten.

Es gab in der DDR politische Dissidenten, die die Ereignisse im Westen aufmerksam verfolgten, Rudi Dutschke bewunderten und den Glauben an eine bessere sozialistische Gesellschaft teilten. Ihr »1968« fand stellvertretend statt: in Prag. Sie identifizierten sich mit dem Prager Frühling und dem von dem kommunistischen Reformer Alexander Dubček beschworenen »Sozialismus mit menschlichem Gesicht«. Der vom SED-Regime unterstützte Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen im August 1968 war ein schwerer Schlag für sie. Zu ihnen gehörten prominente Dissidenten wie Frank und Florian Havemann, die Söhne des Chemikers Robert Havemann, und andere Kinder von Parteifunktionären und Intellektuellen aus ihrem Kreis. Florian Havemann hängte eine tschechoslowakische Fahne aus dem Fenster. Aus den Stasi-Akten geht indes hervor, dass der Protest sich nicht auf Studenten und Intellektuelle beschränkte. Überall in der DDR wurden Proteste aktenkundig, insgesamt fast 2000 – überwiegend Flugblätter und auf Wände geschriebene Losungen wie »Lang lebe Dubček« und – pointierter – »Hände weg von Prag« und »Ho-Chi-Minh-Dubček«. Aber auch auf andere Art wurde protestiert: durch die Weigerung, Resolutionen zur Unterstützung der Invasion zu unterschreiben, den Aufruf zu Schweigeminuten oder Sympathiestreiks, anonyme Drohanrufe bei Parteifunktionären sowie Sabotage und Brandstiftung. Die Flugblattverteiler und Losungsschreiber wurden rasch aufgespürt und verhaftet. Zwischen August und Dezember kam es zu über 300 Verhaftungen im Zusammenhang mit der Invasion in der Tschechoslowakei. Die ostdeutschen 68er teilten häufig den Stil ihrer westlichen Pendants und engagierten sich vielfach für dieselben Themen, aber die politische Repression verhinderte jegliche öffentliche Debatte.[134]

Fünf Jahre später, im Sommer 1973, fand die größte Demonstration globaler sozialistischer Solidarität in der ostdeutschen Geschichte statt: die Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Ostberlin, von westlichen Beobachtern »Rotes Woodstock« genannt. Zu diesem Zeitpunkt waren mehrere führende Dissidenten von 1968 in den Westen gegangen, unter ihnen Florian Havemann. Die Festspiele waren sorgfältig geplant und überwacht. Wer einreisen wollte, um an ihnen teilzunehmen, wurde ebenso sorgfältig durchleuchtet, um »rechte und linke Extremisten« – westdeutsche Konservative beziehungsweise westdeutsche Trotzkisten und Maoisten – auszuschließen. Offizielle Berichte zeigen scheinbar endlose Paraden wohlgeordneter Jugendlicher, die auf politische Zuverlässigkeit überprüft und monatelang gedrillt worden waren. Dennoch waren die Organisatoren nervös, und sie wurden von Episoden auf Trab gehalten, die zeigten, wie gefährlich – aus ihrer Sicht – nicht völlig unterdrückte radikale Einstellungen sein konnten. So sang Wolf Biermann ohne vorherige Absprache ein Lied über Che Guevara, dessen Text unüberhörbar auf die Möglichkeit einer anderen Art des Sozialismus hindeutete, oder verteilte der australische Aktivist Peter Tatchell, der mit einer Delegation des britischen Studentenverbandes gekommen war, Flugblätter mit der Forderung nach Schwulenrechten. Die linke westdeutsche Politrockband Floh de Cologne spielte einen satirischen Song über den Kapitalismus, in dem Dinge angesprochen wurden – wie Rentenerhöhung und Arbeitslosigkeit –, die in der DDR »verboten« waren. Allein schon, dass über solche Dinge gesungen wurde, war ein potenziell subversives Signal, das DDR-Jugendliche sicherlich nicht überhörten. Selbst bei derart durchorganisierten Ereignissen fanden andere Welten Breschen, durch die sie eindringen konnten.[135]

Globale Schocks und globale Kräfte, 1973 – 1989

Unter den 25 000 ausländischen Besuchern der Weltjugendfestspiele in Ostberlin befand sich auch eine Delegation aus Chile. Es gibt ein Foto einer Gruppe dieser Chilenen: junge Männer und Frauen, die vor einem »CHILE«-Transparent in die Hände klatschen oder winken; zwei strecken einen Arm zum Faustgruß in die Höhe.[136] Die Festspiele endeten am 5. August. Gut einen Monat später wurde der chilenische Präsident Salvador Allende durch einen Militärputsch gestürzt, der eine brutale Junta an die Macht brachte. Der Putsch vom 11. September war der erste blutige »9/11«. Erich Honecker, der zwei Jahre zuvor Ulbrichts Nachfolge als SED-Chef angetreten hatte, und seine Frau Margot, die Bildungsministerin der DDR, betraf er ganz persönlich, denn ihre Tochter Sonja lebte damals in Chile Aber sie und ihr künftiger Ehemann, der Ingenieur Leonardo Yáñez Betancourt, kamen sicher aus Chile heraus und ließen sich in Ostberlin nieder.

In Ostdeutschland kam eine große Solidaritätskampagne in Gang, die über 4000 Chilenen eine Zuflucht verschaffte. Auch in der Bundesrepublik und anderen westeuropäischen Staaten entstand eine Solidaritätsbewegung. Bis 1979 nahm Westdeutschland 2700 chilenische Flüchtlinge auf; die Junta hatte einen Teil ihrer Häftlinge vor die Wahl zwischen weiterer Haft und Exil gestellt.[137] Die Kampagnen in beiden deutschen Staaten warfen die Frage auf, wofür man sich einsetzte: War die »Solidarität« mit den chilenischen Opfern eine Form des Antifaschismus oder des Kampfs für Menschenrechte?[138] Dies war ein Vorbote künftiger Zusammenstöße zwischen Deutschen aus Ost und West rund um die Welt in einer Ära, in welcher der Antifaschismus als mobilisierende Idee an Wirkkraft verlieren und den Menschenrechten als politischer Währung in einer sich globalisierenden Welt Platz machen sollte.[139]

Auch andere Ereignisse von 1973 wiesen in die Zukunft. Aus globaler Sicht war dieses Jahr tatsächlich ein Schlüsseljahr der deutschen Nachkriegsgeschichte. Eine Woche nach dem chilenischen Putsch wurden beide deutsche Staaten in die Vereinten Nationen aufgenommen. Dies bildete den Endpunkt der westdeutschen Neuen Ostpolitik, zugleich aber den Beginn einer Entwicklung, die das ostdeutsche Regime schließlich unterminierte. Vorangetrieben wurde sie vor allem von ökonomischen Ereignissen. Der Jom-Kippur-Krieg im Oktober 1973 und die anschließend zur Vergeltung vorgenommene Preiserhöhung der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) lösten in den entwickelten Ländern den ersten Ölpreisschock aus. Er hatte eine Reihe von tiefgreifenden Entwicklungen mit sehr unterschiedlichen Auswirkungen in Ost und West zur Folge, welche die unterschiedlichen Reaktionen auf die Herausforderungen der postindustriellen Gesellschaft verstärkten. Indirekt führte der Ölpreisschock von 1973 auch zu einem grundlegenden Unterschied der Selbstbilder der beiden deutschen Staaten. In beiden erlangten Fragen zur Geschichte und Identität in den 1970er- und 1980er-Jahren neues Gewicht, aber nur im Westen musste man sich angesichts »ausländischer« Kulturen und ihrer Assimilation die Frage stellen: »Was bedeutet es, deutsch zu sein?« Diese westdeutsche Debatte beruhte häufig auf böswilligen und manchmal rassistischen Annahmen, aber sie fand statt.

Andere scheinbar isolierte Ereignisse des Jahres 1973 kann man im Rückblick als Zeichen für eine Vertiefung der Kluft zwischen den beiden deutschen Staaten sehen. Im Sommer beschloss der Landtag von Baden-Württemberg, bei der Kleinstadt Wyhl ein Atomkraftwerk zu errichten. Danach wurde das zuvor weithin unbekannte Wyhl zum Schauplatz der ersten von vielen Großdemonstrationen gegen die Atomkraft. Außerdem wurden 1973 in Westberlin und Frankfurt am Main die ersten westdeutschen Frauenzentren eröffnet. Dies waren Gräser im Wind, Zeichen einer neuen sozialen Bewegung, die ein herausragendes Merkmal der globalen Siebziger und Achtziger werden sollte, aber in Ostdeutschland keine Entsprechung hatte. Dort gab es natürlich auch Umweltschützer und Feministen, ebenso wie Schwule und Pazifisten, aber sie hatten keine Chance, unabhängige Bewegungen ins Leben zu rufen und ihre Identitäten öffentlich auszudrücken. Kritik und Debatte mussten indirekt geschehen, durch Kunst und Literatur. Ein Beispiel dafür ist der Spielfilm Die Legende von Paul und Paula von Heiner Carow, der im März 1973 in die Kinos kam. Er feiert die weibliche Selbstbestimmung, einschließlich der Befriedigung des sexuellen Verlangens, stellt das private Vergnügen über die öffentliche Pflicht und macht sich über bürokratische, zugeknöpfte Parteifunktionäre lustig. Hinzu kam ein »Chor« in Gestalt der Puhdys – einer Rockband, ausgerechnet. Westliche Feministinnen kritisierten den Film, weil Paula am Ende stirbt wie die Heldinnen in so vielen Opern, aber insgesamt stachen die gewagten, unangepassten Momente heraus.[140] Der beim Publikum enorm erfolgreiche Film war ein Produkt des bald wieder beendeten kulturellen Tauwetters in den frühen Honecker-Jahren.

Auch in Westdeutschland markierte das Jahr 1973 den Anfang einer überschäumenden Neubelebung auf einem Gebiet nach dem anderen, vorangetrieben von der Generation der Kriegskinder, also der zwischen 1939 und 1945 Geborenen: Pina Bausch begann ihre bahnbrechende Arbeit am Wuppertaler Tanztheater, wie es auf ihren Wunsch hin genannt wurde; das vier Jahre zuvor von Manfred Eicher gegründete innovative Schallplattenlabel ECM veröffentlichte ein halbes Dutzend neuer klassischer Jazzplatten; Anselm Kiefer schuf im Odenwald dramatische neoexpressionistische Gemälde; und die ersten Filme von Wim Wenders und Rainer Werner Fassbinder signalisierten den Aufbruch des Neuen Deutschen Films – 15 Jahre nach den französischen und italienischen Neuen Wellen, aber das Warten hatte sich gelohnt. Alle hier Genannten erreichten ein weltweites Publikum.

Weil die 1970er-Jahre nicht nur die besten, sondern auch die schlimmsten waren, sollte bald auch ein anderes Phänomen weltweite Aufmerksamkeit finden: der deutsche Terrorismus. Im September 1972 wurde Deutschland für eine Milliarde Fernsehzuschauer auf der ganzen Welt zum Terrorschauplatz, als die palästinensische Gruppe Schwarzer September einen Anschlag auf die Olympischen Spiele in München verübte, Mitglieder der israelischen Mannschaft als Geiseln nahm und die Freilassung von Gefangenen in Israel forderte. Der Vorfall endete mit dem Tod von zehn Israelis, einem deutschen Polizisten und fünf Terroristen des Schwarzen Septembers. Eine Reaktion darauf kam von Ulrike Meinhof, einer früheren Journalistin, die damals wegen ihrer Beteiligung an der ersten Gewaltwelle der Roten Armee Fraktion (RAF), von Polizei und Öffentlichkeit Baader-Meinhof-Bande genannt, in Köln im Gefängnis saß. Sie verfasste ein Manifest mit dem Titel »Die Aktion des ›Schwarzen September‹ in München. Zur Strategie des antiimperialistischen Kampfes«. Meinhof und andere RAF-Mitglieder waren zwei Jahre zuvor in Jordanien in einem von Hassan Salameh, dem Kopf hinter dem Terrorangriff von München, geleiteten Palästinenserlager ausgebildet worden. Außerdem hatte Meinhof vorgehabt, ihre Zwillingstöchter in ein Lager für palästinensische Waisen zu schicken, doch der Plan zerschlug sich.

1973 wartete sie noch darauf, in den neuen, noch im Bau befindlichen Hochsicherheitsflügel der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim verlegt zu werden. Im Dezember brach sie den Kontakt zu ihren elfjährigen Töchtern ab und schickte ihre Briefe zurück.[141] Im vorangegangenen Monat hatte sich eine neue militante Gruppe, die sich Revolutionäre Zellen nannte, mit Angriffen auf Gebäude des amerikanischen Konzerns ITT in Nürnberg und Westberlin zu Wort gemeldet. Der Konzern stand zu Recht im Verdacht, am Putsch in Chile beteiligt gewesen zu sein; die amerikanischen Weathermen hatten bereits einen Bombenanschlag auf eines seiner Gebäude in New York verübt. In der Folgezeit bekannten sich die Revolutionären Zellen zu fast 200 Terrorangriffen, einschließlich der Entführung eines französischen Flugzeugs in Uganda im Jahr 1976. Aber 1973 lag die größte Welle des deutschen Terrorismus noch in der Zukunft – ein großer Teil sollte der »Befreiung« inhaftierter Gesinnungsgenossen dienen.

In den frühen 1970er-Jahren kam eine verwirrende Vielzahl von Entwicklungen zusammen. Viele von ihnen waren miteinander verbunden, und alle bestimmten wesentlich mit, welchen Platz die beiden deutschen Staaten in einer sich globalisierenden Welt einnahmen. Wo beginnen? Vielleicht am besten mit der diplomatischen Revolution dieser Jahre, aus der so viel anderes folgte. Bisher gibt es über Willy Brandt in Warschau keine Oper wie John Adams’ Nixon in China, aber Westdeutschlands zentrale Rolle bei der tiefgreifenden geopolitischen Transformation in den frühen 1970er-Jahren steht außer Zweifel. Der Beitritt beider Deutschlands zu den Vereinten Nationen im Jahr 1973 bildete den Höhepunkt von Brandts Politik, die vom Moskauer Vertrag mit der Sowjetunion (August 1970) und dem Warschauer Vertrag mit Polen (Dezember 1970) über das Viermächteabkommen über Berlin (September 1971) und den Grundlagenvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten (Dezember 1972) bis zum Prager Vertrag mit der Tschechoslowakei (Dezember 1973) reichte.

Die Neue Ostpolitik »germanisiert die deutsche Frage völlig«, schrieb der in Deutschland geborene amerikanische Diplomat Helmut Sonnenfeldt im November 1972 an seinen Boss, Henry Kissinger.[142] Aber diese Politik war nicht nur – was Nixon und Kissinger vorgezogen hätten – ein Bündel regionaler Antworten auf regionale Fragen. Vielmehr brachte sie einen »neuen Ton« in den Kalten Krieg und bildete ein Gegengewicht zur begrenzteren Entspannung der Supermächte.[143] Brandt selbst befürchtete als global denkender Sozialdemokrat, die Ostausrichtung seiner Außenpolitik könnte das breitere weltweite Engagement seiner Regierung überschatten. Aber der Welleneffekt dieser Politik war in der Tat weitreichend. Die Vertragsschlüsse und die Stimmung, in der sie stattfanden, stellten nicht nur die Beziehungen der Bundesrepublik mit der Sowjetunion, Polen und der Tschechoslowakei auf eine neue Grundlage, sondern trugen ihr auch das Lob blockfreier Länder wie Indien und Jugoslawien ein, die sich ihr jetzt annäherten. Der deutsch-deutsche Aspekt der Neuen Ostpolitik wiederum wirkte sich auf ein anderes geteiltes Land aus, allerdings mit vorerst anderem Ergebnis. Der südkoreanische Präsident Park Chung-hee unternahm 1970 in einer Rede aus Anlass des 25-jährigen Jahrestages des Endes der japanischen Kolonialherrschaft einen ersten Schritt der Annäherung an Nordkorea, indem er erklärte, beide Staaten könnten friedlich koexistieren. Seinen förmlichen Ausdruck fand dieser Schritt im gemeinsamen Nord-Süd-Kommuniqué von Juli 1972. Aber die gegenseitige Verbitterung aufgrund des Koreakriegs und ideologische Differenzen verhinderten eine weitere Annäherung: Die während des kurzzeitigen Durchbruchs in den 1970er-Jahren antizipierte »Sonnenschein«-Politik musste weitere dreißig Jahre auf ihre Verwirklichung warten.[144]

Die deutsch-deutschen Beziehungen änderten sich grundlegend. Im Grundlagenvertrag bestätigten beide deutsche Staaten die bestehenden Grenzen und stimmten darin überein, dass sie jeweils die Bevölkerung innerhalb dieser Grenzen repräsentierten. Die Bundesrepublik ging nicht so weit, die DDR voll anzuerkennen und Botschafter mit ihr auszutauschen, willigte aber in die Einrichtung »ständiger Vertretungen« in Ostberlin und Bonn ein. Außerdem wurden Beschränkungen des Reiseverkehrs und der Telefonverbindungen aufgehoben. Zumindest oberflächlich bekam die DDR, was sie gewollt hatte, vor allem die formale Anerkennung, die sie so lange angestrebt hatte. Im September 1974 erkannten die Vereinigten Staaten als 110. Staat und letzte der vier Besatzungsmächte Deutschlands die DDR diplomatisch an. Damit konnte das kleinere Deutschland sich endlich vom größeren »abkoppeln« und eine eigene Identität entwickeln. Die DDR fuhr fort, sich in der Welt zu engagieren, insbesondere im Nahen Osten sowie in Ostafrika und am Horn von Afrika. Sie hatte jetzt Zugang zu westlichen Krediten, die wie die Neue Ostpolitik auch nach Brandts Rücktritt als Bundeskanzler unter seinem Nachfolger Helmut Schmidt und dann ab 1982 unter der christdemokratisch-liberalen Regierung Helmut Kohl fortgesetzt wurden. Und der Preis für all dies? Zeitgenössische Kritiker bemängelten – wie später auch manche Historiker –, die Architekten der Neuen Ostpolitik hätten, indem sie die Sicherheit über die Menschenrechte stellten, letztlich ein Regime gefestigt, das seine eigene Bevölkerung weiterhin unterdrücke, und es im Rahmen des deutsch-deutschen Vertragsschlusses nicht gezwungen, sein Verhalten zu ändern.[145] Tatsächlich wucherten die Stasi und ihr Informantennetz in den Jahren nach 1972 unentwegt weiter.

Aber wenn wir einen Schritt zurücktreten und den Blickwinkel erweitern, wirkt der ostdeutsche Erfolg weniger beeindruckend. Die DDR war – anders als 1961 – gezwungen, ihre Unterordnung unter Moskau zu akzeptieren. Ein Ergebnis war eine deutliche Verschlechterung der Beziehung zu Peking, was anzeigte, dass Ostberlin nur einen begrenzten Handlungsspielraum besaß. Es musste sich gefallen lassen, von China als »sowjetischer Vasall« geschmäht zu werden.[146] Unterdessen näherten sich die blockfreien Staaten Bonn an. Gleichzeitig nahm das internationale Ansehen der Bundesrepublik zu, da sie weiterhin ein ausgeprägtes Talent an den Tag legte, politische Freundschaften einzugehen, und jede Gelegenheit ergriff, einer multilateralen Vereinbarung beizutreten. Außerdem ließ sie den historischen Verträgen mit Moskau und Osteuropa kulturelle Angebote folgen, wie die Einrichtung von sechs Goethe-Instituten in der Region, und es wurden weitere Städtepartnerschaften geschlossen.[147] Aber Bonn bewies in der Ära der Iranischen Revolution und des Kalten Krieges nach 1979 auch seine Zuverlässigkeit gegenüber Washington. Zugleich vertiefte Westdeutschland seine Beziehungen zu Frankreich weiter und übernahm eine führende Rolle im Europaprojekt. Auf Initiative Helmut Schmidts und des französischen Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing fanden alljährlich Gipfeltreffen der sieben größten westlichen Wirtschaftsnationen, der sogenannten G7, statt. 1979 trat das Europäische Währungssystem (EWS) in Kraft, 1986 folgte die Einheitliche Europäische Akte, eine Revision der Römischen Verträge, die ebenfalls viel der deutsch-französischen Zusammenarbeit verdankte. Wie der im März 1985 ins Amt gekommene neue sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow später schrieb, war die sowjetische Führung überzeugt, dass Westdeutschland »ein wichtiger Faktor im internationalen Kräfteverhältnis war und seine Bedeutung in den internationalen Angelegenheiten unaufhaltsam wachsen würde«.[148]

Auch in der weiteren Welt änderte sich das relative Gewicht der beiden deutschen Staaten. Dies lag teilweise an etwas Ungreifbarem: der Tatsache, dass die Bürger des einen überall zu sein schienen, während die Bürger des anderen fast nirgendwo waren. Die Westdeutschen waren nicht nur dreimal Fußballweltmeister, sondern auch Reiseweltmeister. Mit der Zunahme von Wohlstand und Freizeit nutzten sie die Freiheit, überallhin zu reisen, wohin ihr Geld sie bringen konnte. In den 1980er-Jahren waren sie nicht nur in Österreich und der Schweiz, sondern auch in Italien, Frankreich, den Niederlanden, der Türkei und Jugoslawien die größte ausländische Touristengruppe.[149] Von Adria und Schwarzem Meer bis Belize und Kenias Diani Beach waren sie überall anzutreffen – und erregten häufig Unmut. Diese informelle westdeutsche Präsenz vervielfachte sich in einem zusammenwachsenden Europa und einer kleiner werdenden Welt mit günstigeren Verbindungen durch den Zustrom anderer Kategorien von Reisenden – von Geschäftsreisenden, Wissenschaftlern und Austauschstudenten, Au-pairs und Kindermädchen. Die beschränkten Reisemöglichkeiten von Ostdeutschen hatten zur Folge, dass die DDR global weit weniger präsent war.

Auch die formelle Präsenz der beiden deutschen Staaten war asymmetrisch verteilt. Beide betrieben Hilfs- und Entwicklungsprogramme und unterhielten Kulturinstitutionen, aber die Bundesrepublik jagte der DDR nicht mehr weltweit hinterher, um die Hallstein-Doktrin durchzusetzen. Stattdessen legte sie ein neues Selbstvertrauen an den Tag, nachdem der Ballast des Kalten Krieges abgeworfen war. Insbesondere in Hildegard Hamm-Brüchers Amtszeit als Staatsministerin im Auswärtigen Amt (1977 – 1982) signalisierte die Betonung einer auf »Gegenseitigkeit, Austausch, Partnerschaft« ausgerichteten Kulturpolitik eine neue internationale Offenheit der Bundesrepublik.[150] Die Hilfszahlungen in alle Welt blieben sowohl unter der sozialliberalen als auch unter der christdemokratisch-liberalen Koalition hoch.

Dagegen führte in der DDR der Kurswechsel unter Erich Honecker zur stärkeren Betonung einer separaten ostdeutschen Identität und zur praktischen Lösung von sozialen Fragen wie dem chronischen Wohnungsmangel. Gleichzeitig wurden die globalen Ambitionen heruntergeschraubt. Die DDR hatte noch nie viel Soft Power durch kulturelle Angebote ausgeübt, und jetzt wurden auch einige ihrer ökonomischen, medizinischen und militärischen Hilfsprogramme reduziert. Die verzweifelte Bemühung um Anerkennung war als Antrieb weggefallen. Auch das Vertrauen darin, zu einer globalen sozialistischen Zukunft beizutragen, nahm ab. »Es gab eine Zeit in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren«, erinnerte sich Spionagechef Markus Wolf, »in der unsere Bündnisse mit der Dritten Welt uns das Gefühl gaben, als würden wir den Kalten Krieg gewinnen.«[151] Dieses Gefühl war jetzt, in den 1980er-Jahren, geschwunden. Wolf beschreibt die Illusionen und Enttäuschungen aus erster Hand. Lokale Führer erwiesen sich als weniger lenkbar, als Ostberlin erwartet hatte, und Ostdeutsche wurden in Bürgerkriegen wie dem in Mosambik zu Zielen. China verstärkte seinen Einfluss in Tansania, und überall stiegen die Kosten: Die Hilfe für Frelimo und das unabhängige Mosambik belief sich auf fast 150 Millionen DDR-Mark. Laut Wolf, der es wissen musste, wurde das Engagement in Ostafrika stark reduziert.[152]

Er dürfte das Bild zu schwarz gemalt haben. Die Verpflichtungen gegenüber sozialistischen Verbündeten blieben natürlich bestehen. Auf direkte Bitte des mosambikanischen Präsidenten Samora Machel baute Ostdeutschland 1981 eine »Freundschaftsschule« für die Ausbildung junger Mosambikaner; allerdings war die Zahl der Schüler nur halb so groß wie angefordert, und auch die Ausbildungsdauer war kürzer. Trotzdem sorgte das Projekt für Unstimmigkeiten, da Ostberlin die Richtung, in die sich der mosambikanische Sozialismus entwickelte, missfiel.[153] Die brüderliche Zusammenarbeit mit der Demokratischen Republik Vietnam wurde nach ihrem Sieg über Südvietnam im Jahr 1975 mit der vereinigten, jetzt Sozialistischen Republik Vietnam fortgesetzt. Neben Hilfe auf nachrichtendienstlichem Gebiet übernahm die DDR die Herstellung vietnamesischer Banknoten und Münzen, die zuvor in China produziert worden waren. Hergestellt wurden sie in Ostberlin und Leipzig und von dort im Geheimen – wie in einer schwarzen Komödie als Waffenlieferungen getarnt – nach Vietnam transportiert. Rund 120 vietnamesische Fachleute arbeiteten in Ostberlin unter den wachsamen Augen von Stasi und vietnamesischer Geheimpolizei in diesem heiklen Geschäft. Als es 1975 aufgenommen wurde, gab es in Ostdeutschland praktisch keine anderen Vietnamesen. Bis in die späten 1980er-Jahre kamen dann jedoch – als größte Ausländergruppe in der DDR – 58 000 sogenannte vietnamesische Vertragsarbeiter ins Land. Wie Arbeiter aus Mosambik, Angola und Kuba war ihr Beitrag zur ostdeutschen Wirtschaft als Quidproquo für ostdeutsche Hilfsleistungen gedacht. Darin spiegelte sich eine veränderte Haltung der DDR-Führung wider, weg vom sozialistischen Idealismus der 1960er-Jahre hin zu dem Gedanken, dass Hilfe sich auf irgendeine Weise bezahlt machen sollte. Während Hanoi weiterhin auf die Verpflichtungen seiner reichen sozialistischen Verbündeten pochte, suchte Ostberlin nach Wegen, wenigstens einen Teil seiner Außenstände wieder hereinzuholen. Eine Idee, die Ende der 1980er-Jahre noch nicht ganz verwirklicht war, waren Investitionen in vietnamesische Kaffeeplantagen, die die Ostdeutschen mit Kaffee versorgen und so vietnamesische Schulden begleichen sollten.[154]

Erich Honecker und Fidel Castro auf dem Flughafen von Havanna während des Besuchs des SED-Chefs im Februar 1974.

Vietnam und die Vietnamesen nahmen auch in der westdeutschen Vorstellungswelt der späten 1970er-Jahre einen bedeutenden Platz ein, bei ihnen allerdings wegen der Boatpeople. Nach dem Ende des Vietnamkriegs flohen rund 800 000 Vietnamesen aus dem Land, viele von ihnen in Booten, was ihnen den Namen gab. Den Höhepunkt erreichte der Exodus 1978/79. Fernsehbilder wie diejenigen, die im November 1978 von der Hai Hong um die Welt gingen, einem kaum seetüchtigen Wasserfahrzeug mit 2000 Flüchtlingen an Bord, die Hälfte von ihnen Kinder, trugen dazu bei, die Vorstellung von einer aktuell stattfindenden humanitären Katastrophe zu vermitteln. Während Vietnams Nachbarländer sich außerstande erklärten, derart viele Menschen aufzunehmen, wurde in den entwickelten Ländern die Öffentlichkeit mobilisiert, um ihnen Hilfe zu leisten. In der Bundesrepublik gab der Ministerpräsident von Niedersachsen, Ernst Albrecht, bekannt, dass sein Land 800 Vietnamesen aufnehmen werde. Die Hälfte von ihnen war auf Bitten des westdeutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher von einem deutschen Frachter gerettet worden. Ihre Ankunft in Hannover fand unter enormer Medienaufmerksamkeit statt. Der Kölner Rundfunkredakteur Rupert Neudeck übernahm die Idee einer französischen Kampagne – »un bateau pour le Vietnam« – und begann Geld für ein Rettungsschiff zu sammeln. Rund 35 000 Spender ermöglichten es, den Frachter Cap Anamur zu chartern und zum Hospitalschiff umzubauen. Auch das Deutsche Rote Kreuz wurde aktiv, wobei es manchmal mit privaten Hilfsinitiativen wie derjenigen Neudecks aneinandergeriet. Insgesamt fanden 45 000 vietnamesische Flüchtlinge in der Bundesrepublik Zuflucht.

Die Kampagne besaß erhebliche Unterstützung von rechts, unter anderem von deutschen Vertriebenenorganisationen, denn es fiel ihnen nicht schwer, zwischen ihrem Schicksal und demjenigen der Boatpeople als Opfer des Kommunismus eine Parallele zu ziehen. Während in Frankreich prominente Linke wie Jean-Paul Sartre die Bewegung zur Rettung der Boatpeople unterstützten, verunglimpften manche westdeutsche Linke sie als Schwarzmarkthändler und Zuhälter. Der linke Schriftsteller Heinrich Böll entgegnete darauf, er würde einen ertrinkenden Zuhälter retten, und fügte hinzu, er würde auch einen ertrinkenden Adolf Eichmann aus dem Wasser ziehen.[155]

Die NS-Zeit hatten viele im Kopf, die sich der Kampagne zur Rettung der Boatpeople anschlossen. Die Parallelen zwischen den vietnamesischen Flüchtlingen der 1970er-Jahre und den deutschen Juden vierzig Jahre zuvor waren unübersehbar. Die Krise fiel zufällig mit der Ausstrahlung der amerikanischen Fernsehserie Holocaust im westdeutschen Fernsehen im Januar 1979 zusammen. Sie erreichte, was gelehrten Büchern, Dokumentationen und ernsten Rednern in vielen Jahren nicht gelungen war: Sie weckte das Mitgefühl des breiten Publikums mit dem Schicksal der Juden. Die späten 1970er-Jahre markierten den Beginn eines beispiellosen neuen Interesses am Holocaust – in Westdeutschland und darüber hinaus. Auch wenn die Ermordung der Juden endgültig zur Weltbürgerlektion wurde, reagierten die Deutschen auf zeitgenössische Ereignisse durch das Prisma ihrer eigenen Geschichte. Die Empathie mit den Opfern der Ereignisse in Vietnam oder des ab 1975 in Kambodscha verübten Völkermords war eine Form verspäteten Mitgefühls mit den früheren jüdischen Opfern, eine mehr oder weniger bewusste Sühneleistung. Aber es konnte auch ein Weg sein, deutsche Verbrechen zu relativieren.[156] Beide Haltungen, die selbstkritische und die selbstentlastende, waren in den großen Debatten vertreten, die in den 1980er-Jahren anlässlich der musealen Aufarbeitung und – im oben bereits erwähnten Historikerstreit – zur Frage der Einzigartigkeit des Holocausts über Geschichte und Identität geführt wurden. Aber diese schwierige Konfrontation mit der NS-Vergangenheit fand nur in einem Deutschland statt. Die DDR verblieb, wie es der niederländische Schriftsteller Ian Buruma ausgedrückt hat, in einem »Sonderstatus der Unschuld«.[157]

Die Episode der vietnamesischen Boatpeople offenbarte auch zwei andere Gebiete, auf denen Ostdeutschland angesichts von Bewegungen und Kräften, welche die Welt neu gestalteten, eine Art von »Unschuld« bewahrte. Das eine war dasjenige der humanitären und Menschenrechte, das in den 1970er-Jahren ein explosives Wachstum neuer Bewegungen verzeichnete. Wie die verwandten neuen sozialen Bewegungen – Feminismus, Ökologie, Pazifismus – machten sie sich in der Bundesrepublik lautstark bemerkbar, während in der DDR nur ein gedämpftes, verspätetes Echo zu hören war. Das andere Gebiet war die Herausforderung, die von der Anwesenheit von Nichtdeutschen ausging, seien es nun Flüchtlinge oder frühere Gastarbeiter, die in Westdeutschland erbitterten Streit, in Ostdeutschland aber keinerlei öffentliche Debatte auslöste.

In den 1970er-Jahren nahm das Interesse an individuellen Menschenrechten rasant zu. Dies lag zum Teil an der Enttäuschung über den Sozialismus. Zudem waren westliche Politiker nach der Entkolonialisierung weniger zögerlich, das Thema der Menschenrechte und der Einführung von Bürgerrechten nach amerikanischem Vorbild zu diskutieren, und neue Technologien und Kommunikationsmöglichkeiten schickten Nachrichten und Bilder in Windeseile um den Globus. Der in der entwickelten Welt zunehmende Aktivismus wurzelte im Engagement für »fernes Leid«.[158] Manche der Organisationen, die aus dieser neuen Sorge um die Menschenrechte entstanden, sind heute allgemein bekannt, wie Ärzte ohne Grenzen, und eine seit Langem bestehende Organisation wie Amnesty International (gegründet 1961) hatte unterdessen eine internationale Kampagne gegen die Folter gestartet, die 1975 zur Verabschiedung der UN-Antifolterkonvention führte. Daneben gab es zahllose Einzelkampagnen für Flüchtlinge oder Opfer von Hunger oder Menschenrechtsverletzungen. Obwohl die bekanntesten Organisationen anderswo gegründet wurden – in Großbritannien, Frankreich oder der Schweiz –, waren Westdeutsche in deren lokalen Ablegern aktiv oder gründeten kleinere eigene. Kirchengestützte Gruppen spielten ebenfalls eine Rolle beim Aufschwung der Menschenrechtsbewegungen der 1970er-Jahre. Auch die internationale humanitäre Jurisprudenz fasste durch Personen wie den Rechtswissenschaftler Otto Kimminich in der Bundesrepublik Fuß. Kimminich wurde durch seinen lebenslangen Einsatz für die Vertriebenenorganisationen seiner sudetendeutschen Landsleute zu einem einflussreichen Verfechter der Menschenrechte von Flüchtlingen und Asylsuchenden.[159] Die Menschenrechte fanden quer über das politische Spektrum Unterstützer, und obwohl die Bundesrepublik aktiv auf internationale Abkommen drängte, waren es Organisationen der Zivilgesellschaft, die einen neuen Ton ins humanitäre Engagement der 1970er-Jahre einbrachten.

Dies alles stand in krassem Gegensatz zu den staatlich gesteuerten Programmen der DDR. Selbst wenn sich, häufig unter dem Schutzschirm der evangelischen Kirche, Solidaritätsgruppen bildeten, war ihr Handlungsspielraum stark eingeschränkt. Das Nicaragua der 1980er-Jahre erlaubt eine aussagekräftige Fallstudie, weil eine mündliche Geschichte aus jüngster Zeit vorhanden ist, der zufolge Bürger beider deutschen Staaten dorthin reisten, um das neue, sandinistische Regime nach dem Sturz der Somoza-Diktatur bei seinen humanitären Anstrengungen zu unterstützen. Ostdeutsche gingen als Vertreter ihres Staats dorthin, der Nicaragua, wie vorher Kuba, große symbolische Bedeutung beimaß. Mit den Ressourcen ihres Staats konnten sie eine große Rolle bei der Errichtung des Hospital Carlos Marx und anderen Infrastrukturprojekten spielen, während die Westdeutschen Geld sammeln mussten, um ihr Engagement bezahlen zu können. Aber wie die Ostdeutschen bemerkten, konnten die Westdeutschen, zumeist Radikale, denen die US-freundliche, antisandinistische Politik ihrer Regierung missfiel, ihre Projekte freier auswählen, schneller auf lokale Ereignisse reagieren und sich freier unter die örtliche Bevölkerung mischen. Zu Hause in Ostdeutschland entstanden kirchengestützte Solidaritätsgruppen für Nicaragua, aber ihre Aktivitäten wurden streng überwacht, und ihre Mitglieder durften nicht nach Mittelamerika reisen und noch nicht einmal Hilfsmaterial dorthin schicken.[160]

Es muss kaum betont werden, dass diese Restriktionen für die Einschränkungen der Menschenrechte in der DDR typisch waren. Ostberlin hatte eine Antwort darauf parat: Die Menschenrechte, wie sie im Westen definiert würden, seien rein formal, ihnen fehle die sozialistische Substanz, die ihnen erst Bedeutung verleihe. Kritikern, die riefen: »Kein Sozialismus ohne Menschenrechte«, hielt man entgegen: »Keine Menschenrechte ohne Sozialismus«.[161] Dies war sicherlich diskussionswürdig. Der Haken war nur, dass Alexander Dubček der letzten Aussage zugestimmt hätte, Ostdeutsche, die sich zu ihm und seinen Idealen bekannten, aber ins Gefängnis gesperrt wurden.

Nach der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die zwischen 1973 und 1975 im Zuge der Neuen Ostpolitik als Teil eines breiteren Entspannungsprozesses in Helsinki stattfand, wurden die Menschenrechte im Sowjetblock zu einem Thema. Die Sowjetunion, die auf die Abhaltung der Konferenz gedrängt hatte, um die Vereinigten Staaten in der europäischen Arena an den Rand zu drängen, und manche im Westen betrachteten die Garantie der bestehenden Grenzen in der Schlussakte von Helsinki als Geschenk an sie. Aber die Abschnitte der Schlussakte über Bildung, Kultur und Information eröffneten neue Perspektiven. Die Unterzeichnerstaaten sagten zu, »die Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit [… zu] achten«. Darin enthalten war ausdrücklich die freie Bewegung von Ideen und Menschen.[162] Der damalige US-Außenminister Henry Kissinger, der nicht viel davon hielt, Diplomatie mit Menschenrechten zu vermischen, bemerkte abschätzig, man hätte dies auch in Suaheli schreiben können. Tatsächlich ließ dieser Teil der Schlussakte den Unterzeichnern Raum, ihn in ihrem Sinn zu interpretieren. Aber der britische Diplomat George Walden sah zu Recht eine Chance, die »Ansteckung mit der Freiheit« zu verbreiten, und der damalige KGB-Chef Juri Andropow war besorgt über die Gefahren, die von zunehmenden Kontakten ausgehen würden.[163] Alle Unterzeichnerstaaten waren verpflichtet, die Schlussakte in ihrer Presse zu veröffentlichen. In Ostdeutschland war das SED-Parteiorgan Neues Deutschland an diesem Tag um 11 Uhr vormittags ausverkauft. Der Abschnitt über die freie Bewegung stieß auf lebhaftes Interesse. Der österreichische Diplomat Franz Ceska hörte, wie die Menschen zueinander sagten: »Honecker hat unterschrieben. Wir wollen nach Westdeutschland.« Zehntausende von Ausreiseanträgen wurden gestellt. Karl-Heinz Nitschke, der als Arzt in einer sächsischen Kleinstadt lebte, verfasste eine Petition mit der Forderung, die Auswanderungsfreiheit zu achten. Sie wurde von 1000 Menschen unterzeichnet.[164]

Der Abschnitt der Schlussakte von Helsinki über die Bewegungsfreiheit bekräftigte zwar nur, was schon Artikel 13 der UN-Menschenrechtserklärung von 1948 bestimmte: »Jedermann hat das Recht, jedes Land einschließlich seines eigenen zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.« Aber die Bekräftigung dieses Grundsatzes war wichtig, zumal für die Ostdeutschen, denn es gab nebenan ein Land, dessen Bewohner dieselbe Sprache sprachen und dessen Staatsbürgerschaft ihnen stets offenstand. Die Frage der Auswanderung war zweischneidig. Zum einen sparte das Regime Rentenzahlungen, wenn es ältere Menschen ausreisen ließ, und durch den »Verkauf« politischer Häftlinge an den Westen nahm es Devisen ein und entledigte sich störender Dissidenten: ein doppelter Gewinn. Zum anderen wuchs bei denjenigen, denen die Ausreise verwehrt wurde – und die waren die Mehrheit –, die Unzufriedenheit, während diejenigen, die weggegangen waren, neue Kommunikationsnetze zwischen West und Ost schufen, die ihrerseits zur Unzufriedenheit der Ostdeutschen beitrugen. Als das DDR-Regime dem Dissidenten Wolf Biermann 1976 nach dem ersten Konzert einer Tournee durch Westdeutschland die Staatsbürgerschaft aberkannte und die Wiedereinreise verweigerte, führte diese krude Ausbürgerung zu einem seltenen öffentlichen Protest in Form eines im Westen veröffentlichten offenen Briefes führender ostdeutscher Schriftsteller wie Christa Wolf und Heiner Müller.[165] Biermann wollte das sozialistische Deutschland nicht verlassen, sondern es zu einem besseren sozialistischen Land machen. Letztlich jedoch ermutigte Helsinki diejenigen, die Ostdeutschland verlassen wollten, und trieb dadurch einen Keil zwischen sie und diejenigen, die das System reformieren wollten. In der DDR gab es nichts, was Post-Helsinki-Oppositionsbewegungen wie der Charta 77 in der Tschechoslowakei oder dem Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (Komitet Obrony Robotników, KOR) und später der Solidarność in Polen gleichgekommen wäre. Erst in den späten 1980er-Jahren bildeten sich organisierte unabhängige Gruppen von Feministinnen, Umweltschützern und Friedensbewegten.

In Westdeutschland waren soziale Bewegungen mit diesen Themen in den 1970er-Jahren entstanden, die gleichzeitig, wie erwähnt, das düstere Jahrzehnt des städtischen Terrorismus waren. Beide Bewegungsformen wurzelten im Radikalismus der 1960er-Jahre. Die eine war seine große, demokratisch belebende Ernte, die andere seine kleine, giftige Frucht. Nach einer Reihe von Bombenanschlägen auf amerikanische Militäreinrichtungen und deutsche Ziele wurden die Kernmitglieder der RAF 1972 festgenommen, 1975 vor Gericht gestellt und 1977 verurteilt. Weiterhin in Freiheit lebende Mitglieder und Gruppen der »zweiten (Terroristen-)Generation« wie die Bewegung 2. Juni versuchten wiederholt, sie durch Geiselnahmen freizupressen. Die gewalttätigsten Versuche unternahmen sie 1975 vor Eröffnung des Gerichtsverfahrens, als sie den christdemokratischen Politiker Peter Lorenz entführten, und 1977 nach der Urteilsverkündung mit einer Terrorwelle, die als »Deutscher Herbst« bekannt wurde. In dessen Verlauf wurden Generalbundesanwalt Siegfried Buback und zwei seiner Leibwächter ermordet, der Dresdner-Bank-Chef Jürgen Ponto bei einer missglückten Entführung getötet und Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer erfolgreich entführt, während sein Fahrer und zwei Leibwächter ihr Leben verloren. Fünf Wochen später entführten Mitglieder der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) ein Flugzeug der Lufthansa nach Mogadischu und forderten die Freilassung von elf RAF-Mitgliedern, was die Regierung Schmidt ablehnte. Stattdessen entsandte sie eine nach dem Terroranschlag auf die Olympischen Spiele in München gegründete Antiterroreinheit, die das Flugzeug stürmte und die Geiseln befreite. Mehrere führende RAF-Mitglieder begingen im Gefängnis Selbstmord, nachdem sie die Neuigkeit erfahren hatten – Ulrike Meinhof hatte es bereits vorher getan –, und kurz darauf wurde die Leiche von Hanns Martin Schleyer gefunden. Dies war das bittere, melancholische Ende des Deutschen Herbsts. Die Schlussszene des teils dokumentarischen, teils szenisch erzählenden Episodenfilms Deutschland im Herbst (1978) zeigt die Beisetzung der Terroristen auf dem Stuttgarter Friedhof Dornhalden, mit einem riesigen Polizeiaufgebot und Trauernden, die »Mörder!« rufen, während über ihren Rufen und dem Lärm von Hubschraubern Joan Baez »The Ballad of Sacco and Vanzetti« singt.

Die 1970er-Jahre waren eine Zeit des globalen Terrorismus, in der palästinensische Gruppen, lateinamerikanische Aufständische, die nordirische Provisorische IRA in Irland und die baskische ETA aktiv waren. Die Roten Brigaden in Italien waren den deutschen Gruppen am ähnlichsten und schrieben damit ein weiteres Kapitel der ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Parallelgeschichte beider Länder. Deutsche Terroristen standen Bewegungen anderswo sowohl intellektuell als auch durch praktische Verbindungen nahe. Strategisch glaubten sie, den Imperialismus mit Guerillazellen bekämpfen zu können, wie es die Tupamaros in Uruguay vormachten und der Brasilianer Carlos Marighella 1969 in seinem Minimanual of the Urban Guerilla beschrieben hatte, in dem er von sicheren Häusern über die Rolle von Tempo und Überraschung und die Auswahl symbolischer Ziele bis zur Beherrschung von Handfeuerwaffen eine umfassende Kampfanleitung gab. RAF-Mitglieder trainierten in Jordanien zusammen mit Palästinensern, irischen Republikanern und Basken, machten sich durch ihr Nacktbaden, ihre Arroganz und ihre Disziplinlosigkeit allerdings bei ihnen unbeliebt. Bis zum Ende überquerte die RAF mühelos Grenzen. Nach dem Deutschen Herbst verbrachten die Reste der RAF mit finanzieller Unterstützung palästinensischer Gruppen einige Zeit im Irak, bevor einige von ihnen nach Ostdeutschland gingen, wo die Stasi sie mit neuen Identitäten versorgte.[166]

Die deutsche Stadtguerilla war sowohl zahlenmäßig kleiner als ihr italienisches Gegenstück als auch weniger mörderisch. Die RAF soll bis 1977 28 Morde begangen haben; 17 ihrer eigenen Leute wurden getötet, und zwei Unbeteiligte wurden von der Polizei versehentlich erschossen, darunter ein schottischer Geschäftsmann in Stuttgart.[167] Die Roten Brigaden töteten viermal so viele Menschen. Es trifft wahrscheinlich zu, dass die Reaktionen auf den Terrorismus gefährlicher waren als dieser selbst. Dies hängt zum großen Teil mit der Berichterstattung der Medien zusammen, insbesondere der Springer-Presse. Während die RAF, wie Terroristen überall, die Medien brauchte – es war eine symbiotische Beziehung –, schürten Zeitungen wie Bild Panik.[168] Wer wie Heinrich Böll vor Überreaktionen warnte, wurde als »Sympathisant« abgestempelt, und es gab hässliche Vorfälle, bei denen Menschen wegen »verdächtiger« Äußerungen bei der Polizei angezeigt wurden. Böll selbst fing die Atmosphäre und den Schaden, den sie anrichten konnte, in seinem Roman Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1974) ein.

In Westdeutschland führte die Terrorismuspanik zu riesigen, demonstrativen Polizeiaktionen, einem steten Ausbau der Sicherheitskräfte und der Verabschiedung des Radikalenerlasses, der für Bewerber für den Öffentlichen Dienst einen politischen Zuverlässigkeitstest vorschrieb.[169] Natürlich wollten Terroristen mit ihrer Gewalt gegen Einzelne Gegengewalt und Repression provozieren und so der »faschistischen« Wirklichkeit »die Maske vom Gesicht reißen«. Aber die Reaktionen waren (meistens) gemäßigt, und die Abscheu gegenüber den Morden der RAF war auf der Linken wie auf der Rechten zu spüren. Joschka Fischer zum Beispiel, der spätere Mitgründer der Partei Die Grünen und noch spätere Außenminister, gehörte in den 1970er-Jahren zur ultralinken Frankfurter »Szene« und war Straßenkämpfer, gab den Glauben an Gewalt aber nach den terroristischen Blutbädern auf.[170] Ein linker Sozialdemokrat, der »rote Jochen« Steffen, äußerte sich mit bitterer Verachtung über die »anarchistische« Theatralik der RAF, die, wie er glaubte, nur die Reaktion stärkte. Steffen trat später aus der SPD aus, aber wegen ihres Rechtsrucks in der Sozial- und Wirtschaftspolitik und nicht wegen Helmut Schmidts Vorgehen gegen den Terrorismus. Letztlich bestand die Bundesrepublik den Terrorismustest ebenso, wie sie den Test der Spiegel-Affäre bestanden hatte, und bewältigte die Jahre der Panik besser, als man angesichts der Art, wie die Springer-Presse sie angefacht hatte, erwartet hätte. Dies war zum Teil der Tatsache zu verdanken, dass die Regierung Schmidt sich nicht zu Repressionsmaßnahmen drängen ließ, wie sie manche Vertreter der Rechten forderten, also, mit anderen Worten, nicht den »starken Staat« anstrebte, sondern die demokratische Verfassungsordnung verteidigte. Zum Teil war es aber auch einer lebendiger gewordenen Zivilgesellschaft zu verdanken, die im Schatten des Terrorismus herangewachsen war.[171]

Institutioneller Ausdruck dieser Lebendigkeit waren die neuen sozialen Bewegungen der 1970er-Jahre, allesamt Teile größerer, globaler Entwicklungen. Der Aufschwung der Frauenbewegung war ein Beispiel dafür. Die westdeutschen Feministinnen ließen sich beim Aufbau einer Bewegung mit eigener Presse, mit Buchhandlungen, Schallplattenfirmen und Gesundheitszentren vom Vorbild anderer Länder leiten. Alice Schwarzers Zeitschrift Emma – der Titel spielt auf das Wort »emanzipiert« an – orientierte sich an der amerikanischen Zeitschrift Ms. Selbsterfahrungsgruppen übernahmen amerikanische Praktiken, verdankten aber auch einiges den intensiven Diskussionen, die in Wohngemeinschaften stattfanden, einem deutschen Eigengewächs, das in den 1960er-Jahren entstanden und im nächsten Jahrzehnt überall anzutreffen war. Niemand, der jemals, und sei es nur kurz, in einer WG gewohnt hat, wird die strenge Aufforderung an der Badezimmertür vergessen: »Männer pissen im Sitzen«, oder die Gemeinschaftssitzungen, in denen die WG-Mitglieder ihre Bedürfnisse austauschten. Manchmal lieferten andere Europäer das Vorbild. Als 374 prominente deutsche Frauen 1971 in der Illustrierten Stern bekannt gaben, dass sie abgetrieben hatten, und eine Gesetzesreform zum Thema Abtreibung forderten, folgten sie dem Beispiel von 343 Französinnen, die im Nouvel Observateur dasselbe Bekenntnis abgelegt hatten. Manche deutschen Aktivistinnen nahmen sich auch die niederländischen Dolle Minas zum Vorbild, radikale Feministinnen, die öffentlichkeitswirksame Ereignisse organisierten, wie die Sperrung von Urinalen mit rosa Bändern, um gegen das Fehlen öffentlicher Frauentoiletten zu protestieren. Auch hier gab es eine eigene deutsche, in die 1960er-Jahre zurückreichende Tradition von politischem Theater – die allerdings in Wirklichkeit eine transplantierte französische Tradition war.

Anregungen kamen nicht nur aus Europa und Amerika. Viele radikale Feministinnen waren von der starken Stellung der Frau begeistert, die sie in Maos China zu sehen vermeinten. In aus dem Französischen und Englischen übersetzten Büchern, wie Claudie Broyelles Die Hälfte des Himmels. Frauenemanzipation und Kindererziehung in China und Jack Beldens China erschüttert die Welt (beide 1973), lasen deutsche Frauen von Frauenbefreiung als Teil des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft. Feministinnen übernahmen einige chinesische Techniken, wie das Aussprechen bitterer Erfahrungen und die kollektive Konfrontation von Missetätern. Andere, wie Alice Schwarzer, waren von Anfang an skeptisch. Ende der 1970er-Jahre, als sich China nach dem Ende der Kulturrevolution für Besucher öffnete, setzte eine breitere Enttäuschung ein, denn das idealisierte Bild der starken Stellung der Frau ließ sich nicht mehr aufrechterhalten.[172]

China war zum Teil deshalb anziehend, weil es alternative Methoden der Kindererziehung anzuwenden schien. Zur »neuen Sensibilität« der 1970er-Jahre gehörte bei manchen westdeutschen Feministinnen eine erneute Zuwendung zur Mutterschaft, häufig in Verbindung mit einer ökofeministischen Haltung, die Technologie, einschließlich neuer Reproduktionstechnologien wie der In-vitro-Fertilisation, ablehnte. Diese Haltung verband sie mit einer breiteren internationalen Bewegung, deren Anliegen amerikanische Ökofeministinnen wie Carolyn Merchant ebenso vertraten wie Aktivistinnen im übrigen Westeuropa. Die Verteidigung des Körpers gegen »unnatürliche« Eingriffe wies in verschiedene Richtungen. Viel später, im vereinigten Deutschland, sollte sich die Bewegung »grüner« Impfgegner auf sie berufen. In den 1970er-Jahren bildete sie die geistige Grundlage für ein ökofeministisches Netzwerk, in dem deutsche Frauen außerordentlich aktiv waren – was vielleicht wenig überrascht, wenn man es vor dem Hintergrund der Geschichte der nationalsozialistischen Eugenik sieht.[173]

Ökologie, Umweltschutz, Rettung der Erde – dies wurde, wie die Menschenrechte, in den 1970er-Jahren ein machtvolles globales Anliegen. Das ergreifende Foto Earthrise, das Apollo-Astronaut Bill Anders 1968 schoss, gab die Stimmung vor, und der Begriff vom »Raumschiff Erde« mit seinem Unterton der Zerbrechlichkeit fand Eingang ins allgemeine Vokabular. Der Europarat erklärte 1970 zum Jahr der Bewahrung der Natur, und in diesem Jahr wurde in den Vereinigten Staaten zum ersten Mal der Earth Day begangen. Der Amerikaner David Brower, der im Jahr zuvor die Organisation Friends of the Earth ins Leben gerufen hatte, gründete 1971 zusammen mit britischen, französischen und schwedischen Umweltschützern Friends of the Earth International. Im folgenden Jahr veröffentlichte der Club of Rome seine berühmte Studie Die Grenzen des Wachstums. Mit anderen Worten, es war nichts spezifisch Deutsches, wenn die neue sozialliberale Koalitionsregierung ein Umweltbundesamt schuf und ein ganzes Bündel von Gesetzen verabschiedete, die alles Mögliche regelten, vom Flugzeuglärm bis zu bleifreiem Benzin. Westdeutschland bewegte sich im selben Rhythmus wie andere westliche Länder, einschließlich einiger, wie der Vereinigten Staaten und Großbritannien, in denen Konservative an der Macht waren. In den 1970er-Jahren wurde überall in der entwickelten Welt, und zwar recht plötzlich, »die Umwelt« zum Thema, und ihre Verschmutzung, Naturschutz und Ressourcenerschöpfung rückten in den Fokus. Am Anfang des Jahrzehnts gehörte Westdeutschland noch nicht zu den globalen Vorreitern auf diesem Gebiet, aber in seinem Verlauf wurden Umweltfragen dort von Politikern, Presse und Öffentlichkeit mit außerordentlicher Intensität diskutiert. Bürgerinitiativen wurden gegründet, um gegen Umweltverschmutzung, landfressende technokratische Projekte wie neue Landebahnen von Flugplätzen und vor allem Kernkraftanlagen zu protestieren. Die ersten Anti-Atomkraft-Proteste richteten sich gegen den Bau von Reaktoren in Wyhl, wie bereits erwähnt, und Brokdorf an der Unterelbe. Auch an anderen für Atomkraftwerke, Atommülllager oder Wiederaufbereitungsanlagen vorgesehenen Orten, deren Namen bald immer wieder in den Schlagzeilen auftauchten, fanden Proteste statt.[174]

Die Demonstrationen in Wyhl im Jahr 1975 wurden zu einer Legende, weil sie groß, fröhlich und friedlich und im Unterschied zu den meisten späteren erfolgreich waren. Außerdem brachten sie Studenten und Aktivisten aus der Universitätsstadt Freiburg mit den örtlichen Winzern zusammen.[175] Auch französische Demonstranten von jenseits der nahe gelegenen Grenze beteiligten sich, denn deutsche Antiatomproteste hatten immer auch französische Teilnehmer, so wie an französischen auch Deutsche teilnahmen. Diese sozialen Bewegungen waren transnational. Sie übersetzten – manchmal auch fehlerhaft – jeweils die Texte der anderen und versuchten in Taktikdebatten, in denen es insbesondere um die Frage von Gewalt und Gewaltlosigkeit ging, voneinander zu lernen. Auch die Energieunternehmen und die Polizeien beider Länder lernten voneinander, und ihre Hauptlektion war, dass sie mit maximaler Gewalt reagierten.[176] Die Folge war eine Reihe von erbitterten Kämpfen zwischen Demonstranten und Polizei. Einer der ersten fand im Juli 1977 im französischen Malville statt. Eine große Zahl von Deutschen war über die Grenze gezogen, um gegen den Bau eines Atomkraftwerks zu protestieren. Sie vereinten sich mit Schweizern und Italienern. Insgesamt versammelten sich 20 000 Demonstranten. Die Koordination mit den örtlichen Organisatoren war schlecht, so dass die Deutschen die »Choreografie« der lokalen Proteste missverstanden; außerdem kannten sie weder die Taktik noch die Ausrüstung der französischen Polizei, wie zum Beispiel die Tatsache, dass französische Tränengasgranaten sowohl explodierten als auch Gas verströmten, so dass man, wenn man sie aufhebt, um sie zurückzuwerfen, Gefahr lief, einen Arm zu verlieren, wie es einem 19-jährigen Bremer passierte. Ein Demonstrant starb in Malville, drei wurden verkrüppelt und über hundert verletzt; fünf Polizisten erlitten schwere Verletzungen. Die Polizei und die französischen Medien gaben einer deutschen »Invasion« oder sogar »zweiten Besetzung« die Schuld an der Gewalt. Andere stellten eine Verbindung zur Roten Armee Fraktion her.[177]

Unter den 300 bis 400 gewalttätigen Demonstranten in Malville,* die mit Eisenstangen zuschlugen und Molotowcocktails warfen, waren auch deutsche Maoisten, desgleichen französische. Sie waren jedoch keineswegs repräsentativ für die westdeutsche Umweltschutzbewegung, die nach den 1970er-Jahren eindeutig der gewaltlosen Linken zuneigte. In den 1950er- und bis in die 1960er-Jahre war Konservation ein weitgehend rechtes Anliegen geblieben. Einige der führenden Vertreter des Naturschutzes, wie Alwin Seifert, waren bereits im Dritten Reich aktiv gewesen, dessen Reichsnaturschutzgesetz von 1935 kulturkonservativ und völkisch geprägt war. Kritiker sprachen vom »Avocado-Syndrom« – außen grün und innen ein brauner Kern.[178] Aber in den 1960er- und 1970er-Jahren änderte sich die Situation. Die grüne Bewegung rückte nach links und begann mehr von Umwelt- als von Naturschutz zu sprechen. Die alte Garde geriet gegenüber den rund 500 000 Mitgliedern der im Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) vereinigten Organisationen in die Minderheit.[179] Die einzelnen Gruppen beschäftigten sich mit einer Vielzahl von Themen zumeist lokaler Art – Kinderspielplätzen, industriellen Umweltverschmutzungen, Fahrradwegen, dem Erhalt von Gebäuden. Politisch vereinte die Bewegung Reste der Studentenbewegung und der Außerparlamentarischen Opposition mit Feministinnen, Anarchisten, Vertretern der »Alternativszene« und konsumkritischen Verfechtern eines einfachen Lebens.[180]

Das alles klingt sehr deutsch, und in vieler Hinsicht ist es das auch. Das Umweltschützermilieu erinnert mit seinem Körperkult und Vegetarismus, seiner »Naturmedizin« und Besorgnis über eine technologische Überforderung an die deutsche Lebensreformbewegung um 1900. Aber genau deshalb schauten deutsche Umweltschützer ständig auf die Ereignisse jenseits der deutschen Grenzen: wegen der Gefahren, die von importierten Lebensmitteln ausgingen, und der lebensbedrohlichen Stoffe, die über Wasserwege ins Land strömten und durch die Luft hereingeweht werden konnten. Egmont Koch und Fritz Vahrenholt veröffentlichten 1978 ein Buch mit dem Titel Seveso ist überall, mit dem sie auf die Explosion in einer norditalienischen Chemiefabrik anspielten, bei der zwei Jahre zuvor eine Dioxinwolke freigesetzt worden war.[181] Es erwies sich als vorausschauend. Nur ein Jahr nach Veröffentlichung des Buchs kam es zu dem Atomunfall auf Three Miles Island in Harrisburg in Pennsylvania, dem eine ganze Reihe beängstigender Vorfälle folgten, manche davon in größerer Nähe zu Deutschland, wie die Nuklearkatastrophe in Tschernobyl im April 1986 und der Großbrand beim Chemiekonzern Sandoz in Basel, samt Giftwelle im Rhein, ein halbes Jahr danach.

Das ständige Gefühl der Unsicherheit, das dem Öko-Aktivismus zugrunde lag, hatte viel mit den Befürchtungen gemein, die die westdeutsche Friedensbewegung umtrieben. Die Furcht vor Atomkraft und die Furcht vor Atomwaffen hingen zusammen. Als der Kalte Krieg erneut hitziger wurde, stationierte die Sowjetunion eine neue Generation von Mittelstreckenraketen in Osteuropa. Auf Betreiben eines als Falke agierenden Helmut Schmidt fasste die NATO 1979 ihren Doppelbeschluss: Sollten die Gespräche über eine Rüstungsbegrenzung scheitern, würde sie ihrerseits in Westeuropa Mittelstreckenwaffen – Pershings und Cruise Missiles – stationieren. Im Dezember marschierten sowjetische Truppen in Afghanistan ein; im folgenden Jahr wurde Ronald Reagan zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. Anfang der 1980er-Jahre war die Spannung zwischen den Blöcken so groß wie seit der Kubakrise nicht mehr, als die globalen Kommunikationsmittel primitiver waren. Die Möglichkeit eines nuklearen Armageddon wurde auf beiden Seiten des Atlantiks zum Thema der Popkultur, in Nenas Song 99 Luftballons ebenso wie in Filmen wie The Day After (beide 1983). Im November 1980 veröffentlichten westdeutsche Friedensgruppen den Krefelder Appell, in dem sie die Bundesregierung aufforderten, ihre Zustimmung zum Doppelbeschluss zurückzuziehen. Bis 1983 unterzeichneten über vier Millionen Menschen den Appell. An Ostermärschen nahmen eine halbe Million Menschen teil.

Eine der Hauptautoren des Krefelder Appells war Petra Kelly, eines der Gründungsmitglieder der im Januar 1980 ins Leben gerufenen Partei Die Grünen. Als Ökofeministin im Zentrum der Kampagne gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen verkörperte sie perfekt die drei sozialen Bewegungen, die bei den Grünen zusammengefunden hatten: Feminismus, Umweltschutz und Pazifismus. Schon der Ökofeminismus verschmolz zwei dieser Bewegungen, und die Sprache der Friedenskampagne strotzte vor feministischen Formulierungen, wenn etwa die Ablehnung der Raketen als Widerstand gegen »Männerwahn« präsentiert wurde.[182] »Grün« und »Frieden« bildeten ein anderes wirkmächtiges Paar. An der nordamerikanischen Westküste hatten Aktivisten bereits Anfang der 1970er-Jahre beide in dem brillanten Organisationsnamen Greenpeace zusammengebracht. Diese Organisation wurde mit einfallsreichen Kampagnen bekannt, insbesondere gegen den Walfang, war aber vom Streit zwischen Utopisten und Pragmatikern sowie von Grabenkämpfen zwischen den Gruppen in Vancouver, Seattle und San Francisco zerrissen. Ende der 1970er-Jahre wechselte die Führung von Greenpeace, jetzt unter dem Namen Greenpeace International, vom Pazifik in die Nordsee. Die neuen Machtzentren der Organisation waren London, Amsterdam und Hamburg.[183]

Petra Kelly verkörperte noch etwas anderes, nämlich den globalen Zuschnitt der grünen Bewegung und der Partei Die Grünen. Sie war als Petra Lehmann in Bayern geboren, aber ihr Vater wanderte aus, und ihre Mutter heiratete den amerikanischen Armeeoffizier John E. Kelly. 1959, als 12-Jährige, ging sie mit Mutter und Stiefvater in die Vereinigten Staaten, wo sie die High School besuchte und an der American University in Washington studierte. Sie bewunderte die Bürgerrechtsbewegung, war aber von der studentischen Linken weniger beeindruckt – zu viel Frisbee und Timothy Leary und zu wenig Ernsthaftigkeit. Ihr eigenes Talent für ernsthafte Organisationstätigkeit bewies sie in den Vorwahlen zur Präsidentschaftswahl von 1968, bei denen sie als Koordinatorin der Kampagne der Students for Kennedy in Washington arbeitete. Nach der Ermordung Robert Kennedys setzte sie ihre Tätigkeit in derselben Funktion für den demokratischen Kandidaten Hubert Humphrey fort. 1970 kehrte sie nach Europa zurück und erwarb an der Universität von Amsterdam einen Master in Politischen Wissenschaften und Europäischer Integration. Danach arbeitete sie ein Jahrzehnt bei der Europäischen Kommission in Brüssel. Während Joschka Fischer in Frankfurt am Main noch mit der Polizei kämpfte, hatte Kelly eine Affäre mit Sicco Mansholt, dem Präsidenten der Kommission und Autor der Gemeinsamen Agrarpolitik der EWG, vernetzte sich mit anderen Vorkämpfern der europäischen Integration und legte eine beeindruckende Kartei von Kontakten in ganz Europa und den Vereinigten Staaten an. Mit diesem Lebenslauf und Profil unterschied sie sich stark von den typischen 68ern und stand für eine andere Art postsozialistischer Politik. Die Großdemonstrationen in Wyhl waren ein Aha-Moment für sie, denn sie führten ihre europäischen Vorstellungen mit ihrem Glauben an eine Art grenzüberschreitender Volkspolitik zusammen. Mit Blick auf die französischen, schweizerischen und deutschen Demonstranten beschwor sie ein neues Europa der Regionen und der Menschen. Im November 1975 bezeichnete sie den Protest aufgeregt als Ausdruck eines »transnationalen Bewusstseins«.[184]

Als die Grünen gegründet wurden, war Petra Kelly ihre Galionsfigur. In den folgenden Jahren nahm ihr Ansehen in der Partei jedoch rapide ab. In einer ironischen Umkehr wurde der frühere Anarchist Joschka Fischer zum Pragmatiker, der die Grünen in eine Regierungskoalition führte, während die frühere Wahlkampfhelferin und aufstrebende Eurokratin zur Repräsentantin des kompromisslosen Flügels der Partei wurde. Schon lange bevor sie sich 1992 zusammen mit ihrem Geliebten Gert Bastian das Leben nahm, hatte sie viel von ihrem Einfluss auf die Grünen verloren. Aber der transnationale Ton, den sie angeschlagen hatte, blieb während der gesamten 1980er-Jahre ein Kennzeichen der Grünen. Gewiss, das überzeugendste Thema, das der Partei 1983 zu ihrem Durchbruch bei Bundestagswahlen verhalf, war zutiefst deutsch: die Warnung vor »saurem Regen«, der angeblich die deutschen Wälder zerstörte. Aber die Grünen betonten zugleich weiterhin die globalen Zusammenhänge der Umweltprobleme, seien es nun Katastrophen wie Tschernobyl oder Gefahren wie der Klimawandel. Die Anhänger der Partei waren »verwurzelte Kosmopoliten«, transnationale Aktivisten, die die Sprache der »Weltbürgerschaft« sprachen, aber in lokalen Netzwerken verwurzelt waren.[185] Im Ausland wurde man auf den Aufstieg der Grünen aufmerksam. Schon vor den deutschen Grünen hatte es anderswo Umweltparteien gegeben, aber ihr Erfolg in den 1980er-Jahren machte sie zu einem Vorbild, was wiederum den »grünen« Ruf der Bundesrepublik festigte.

Die Grünen wirkten dank Fernsehen auch nach Ostdeutschland hinein. Aber die Umweltbewussten im Osten befanden sich in einer schwierigen Lage. Obwohl 1972 ein Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft geschaffen worden war, nahm die Umweltverschmutzung stetig zu. Nur wenige Wissenschaftler äußerten sich warnend. Der Hydrobiologe Dietrich Uhlmann verfasste 1977 einen Aufsatz über den übermäßigen Einsatz von Pestiziden und das Problem des sauren Regens, in dem er warnte: »Bei allen Fortschritten des Wissens […] kennt gegenwärtig noch niemand genau genug die Stabilitätsgrenzen der Biosphäre, die im weltweiten Maßstab zur Sicherung künftiger Nutzungen eingehalten werden müssen.«[186] Dies war dieselbe Sprache, die westliche Wissenschaftler verwendeten. Tatsächlich kannten Uhlmann und andere die Arbeiten ihrer westdeutschen, britischen, skandinavischen und amerikanischen Kollegen. Aber dass Uhlmann sich bemüßigt fühlte, seinen Aufsatz mit einem sorgfältig ausgewählten Engels-Zitat einzuleiten, verweist auf das Problem: In den Augen des DDR-Regimes waren Umweltschäden ein Nebenprodukt des Kapitalismus. Von Wissenschaftlern erwartete es konstruktive Kritik, nicht mehr.

Wer mit diesem Verständnis brach, wurde isoliert und musste einen Preis zahlen. Drei ostdeutsche Autoren und drei Bücher sind Beispiele dafür. Wolfgang Harich veröffentlichte 1975 als Antwort auf den drei Jahre zuvor erschienenen Bericht des Club of Rome und sozialistische Kritik an Honeckers Festhalten an westlichen »Konsumnormen« die Streitschrift Kommunismus ohne Wachstum?. 1977 forderte Rudolf Bahro in Die Alternative mit ähnlichen Begriffen die »Wiederherstellung der ökologischen Stabilität«. 1980 schließlich konstatierte der Naturwissenschaftler und Dissident Robert Havemann in seinem Buch Morgen. Die Industriegesellschaft am Scheideweg eine »ökologische Krise«, die der Kapitalismus nicht abwenden könne und der »real existierende Sozialismus« nicht abwenden wolle. Alle drei Bücher erschienen im Westen, aber nicht im Osten, und ihre Autoren wurden bestraft. Harich wurde eingesperrt; Havemann war bereits vorher unter Hausarrest gestellt und mit einem fadenscheinigen Strafverfahren überzogen worden; Bahro ging nach gut zweijähriger Haft in den Westen, wo er Die Grünen mitgründete. In vieler Hinsicht waren diese Autoren ihren Pendants in Westdeutschland voraus, wo das »Ergrünen« der Intelligenz erst in den 1980er-Jahren stattfand. Aber ihre Erfahrungen belegen das Fehlen jeder autonomen öffentlichen Meinung in der DDR.[187]

Es gab in der DDR sowohl von der Jugendorganisation der Partei getragene als auch regionale Umweltinitiativen, aber sie waren kaum mehr als Verschönerungsaktionen. Die im Kulturbund organisierten Naturschützer hatten ehrgeizigere Ziele, aber ihnen fehlte es nicht nur an Macht, sondern auch an Informationen. 1982 wurden sämtliche Angaben über Umweltschäden als geheim eingestuft. Sie waren zu eindeutig. Hohe Regierungsvertreter wussten durchaus über die Umweltprobleme Bescheid, aber diskutiert werden konnten sie, wenn überhaupt, nur auf den Seiten wissenschaftlicher Zeitschriften. Unabhängige Bewegungen, die Druck auf das Regime hätten ausüben können, waren offiziell unmöglich, begannen sich aber in den 1970er-Jahren unter dem Schutz der protestantischen Kirche inoffiziell herauszubilden. Die Kirche bot einen sicheren Zufluchtsort, an dem man sich treffen, Vorträge hören oder auf alten Mimeografen Texte vervielfältigen konnte. Solche Geräte machten Veröffentlichungen nach dem Vorbild des Samisdat in der Sowjetunion möglich. Zum Beleg ihrer Aussagen stützten sich die Autoren häufig auf westdeutsche oder amerikanische Quellen.[188]

Einzelne Gruppen verhielten sich wie ihre westdeutschen Pendants: Sie praktizierten biologischen Gartenbau oder schränkten den persönlichen Konsum ein. Diese Anstrengungen erlangten manchmal einen bescheidenen öffentlichen Status, wie die von einer Gruppe neu geschriebenen Zehn Gebote, die sie in ihrem Nachrichtenblatt verbreiteten. Das ergänzte zehnte Gebot lautete: »Wir müssen unsere Einstellung gegenüber den Ressourcen der Erde ändern, dass sie im Einklang steht mit ökologischer Nachhaltigkeit.«[189] Aber diese Gruppen blieben klein und isoliert. Tschernobyl war ein Schock, aber die Implikationen konnten nicht öffentlich diskutiert werden. Erst in den letzten Jahren des Regimes gab es Anzeichen für eine Veränderung, wie die Einrichtung einer Umweltbibliothek im Keller der Zionskirche in Ostberlin im Jahr 1986, dem Jahr von Tschernobyl. Die Bibliothek bot Raum für Gespräche, Konzerte und Vorträge westlicher Gäste, aber die Herausforderung des staatlichen Monopols auf die Diskussion von Umweltfragen zog Schikanen gegen sie und einzelne Aktivisten nach sich, einschließlich einer polizeilichen Durchsuchung im November 1987.[190]

Unabhängige feministische und Friedensgruppen standen vor demselben Problem. Das Regime erklärte sie schlicht für überflüssig. Im ostdeutschen Familiengesetzbuch von 1965 zum Beispiel hieß es, die »gesellschaftliche und rechtliche Herabsetzung der Frau« sei eine Erscheinung der »bürgerlichen Gesellschaft«. Im Sozialismus würden die Familienbeziehungen auf »kameradschaftlichen Beziehungen«, der »gleichberechtigten Stellung der Frau« und »Bildungsmöglichkeiten für alle Bürger« beruhen.[191] Wenn dies zutraf, dann war Feminismus offensichtlich drüben im Westen nötig, aber nicht im Osten. Tatsächlich ist vielfach belegt, dass Frauen in der DDR gegenüber Frauen in der Bundesrepublik in Bezug auf ihre Arbeitsmöglichkeiten besser gestellt waren. Eine praktische Voraussetzung dafür war die weithin bereitgestellte Kinderbetreuung. Dass ein solch hoher Anteil der Frauen einer bezahlten Arbeit nachging, war auch eine Folge des Arbeitskräftemangels vor 1961 und der niedrigen Geburtenrate danach. Es dürfte kaum überraschen, dass durch die größeren Arbeitsmöglichkeiten weder die Geschlechterdiskriminierung am Arbeitsplatz verhindert noch die Doppelbelastung von Frauen, die neben ihrer Berufsarbeit den größten Teil der Hausarbeit erledigten, abgeschafft wurde. In der DDR war auch das Persönliche politisch.[192] Aber das Regime ließ nicht zu, dass Frauen als Frauen eine öffentliche Stimme hatten. Die SED und ihre Organisationen, das Eingabesystem, die Konfliktkommissionen: Dies waren die anerkannten Kanäle, über die Frauen ihre Anliegen vorbringen konnten. Deshalb war aus offizieller Sicht eine Frauenbewegung weder nötig noch zulässig. Diese Haltung entsprach derjenigen, die der SED-Chefideologe Kurt Hager in Bezug auf schwulen Aktivismus geäußert haben soll: Jeder, der Homosexualität unter politischen Aspekten betrachte, sei verrückt.[193]

Vor diesem Problem stand auch eine unabhängige Friedensbewegung: Sie wurde als überflüssig angesehen. Der sozialistische Block hatte sich, nach eigenem Dafürhalten, stets für den Frieden eingesetzt; die DDR veranstalte »Friedensfeste« und baue »Friedensdämme«, hieß es. Demonstrationen für den Frieden waren willkommen – vorausgesetzt, sie richteten sich gegen die »Militaristen« im kapitalistischen Westen. Dies meinte der tschechoslowakische Dissident Václav Havel, als er feststellte, alle politischen Räume seien bereits mit offiziellen sowjetischen Friedenserklärungen gefüllt. Dennoch entstanden in der DDR unabhängige Gruppen, auch wenn die Bewegung schwächer war als ihre Pendants in der Tschechoslowakei und Ungarn.[194] 1972 veranstalteten ehemalige Bausoldaten – die Möglichkeit, den Militärdienst ohne Dienst an der Waffe in Baueinheiten zu absolvieren, war 1964 eingeführt worden – ein erstes »Friedensseminar«. 1979 kamen über hundert Menschen zu dem Seminar, und es zog in größere Kirchenräume um. Als die Friedensbewegung anwuchs, sollten die protestantischen Kirchen eine wichtige Rolle spielen. Das Regime wollte Demonstrationen gegen den NATO-Doppelbeschluss, aber keine grundsätzliche Diskussion über das System bewaffneter Blöcke. Im Herbst 1980 fand eine »Friedensdekade« statt. Ihr Symbol war ein runder Aufnäher, auf dem um ein Bild der Statue, welche die Sowjetunion den Vereinten Nationen geschenkt hatte, der Bibelspruch »Schwerter zu Pflugscharen« (Micha 4,3) zu lesen war. Das Emblem wurde als Zeichen des Protests gegen Militarismus bald überall getragen. Anlässlich eines Friedensforums in Dresden im Februar 1982 wurde es verboten, und die Polizei riss es Teilnehmern von der Kleidung.[195] Drei Wochen vorher hatte der Pfarrer Rainer Eppelmann, dessen »Bluesmessen« in der Ostberliner Samariterkirche Hunderte von Menschen anzogen, die Musik und Gedichte hören und über aktuelle Fragen diskutieren wollten, zusammen mit Robert Havemann den »Berliner Appell« verfasst und mit den Unterschriften von rund achtzig Personen veröffentlicht. Eppelmann wurde verhaftet; Havemann befand sich bereits unter Hausarrest, der bis zu seinem Tod im April nicht aufgehoben wurde.

Die autonome Friedensbewegung blieb indes bestehen. Die Friedensdekade wurde zu einer alljährlichen Veranstaltung. Es gab regelmäßige Friedensgebete und Friedensforen, die ebenfalls unter der Schirmherrschaft der Kirche stattfanden. 1982 wurde die Bewegung »Frauen für Frieden« ins Leben gerufen. Dieser Aktivismus war offensichtlich von der Protestwelt außerhalb der DDR beeinflusst. Beispielsweise folgte der Berliner Appell dem Vorbild des Krefelder Appells. Andere westliche Einflüsse reichten in die 1960er-Jahre zu Flowerpower und Sit-ins zurück, allerdings in den christlich-moralischen Rahmen der Ostdeutschen der 1980er-Jahre übertragen.[196] Außerdem sickerten Nachrichten über die Geschehnisse in Prag und Budapest durch. Vertreter der Kampagne European Nuclear Disarmament (END), die zwar im Westen gegründet worden war, aber gesamteuropäisch sein wollte, nahmen Kontakt zu der Malerin und Friedensaktivistin Bärbel Bohley auf, einer Mitgründerin von Frauen für Frieden. Im Mai 1983 entrollten Petra Kelly, Gert Bastian und drei andere Mitglieder der Grünen auf dem Ostberliner Alexanderplatz ein Transparent mit der Botschaft »Die Grünen – Schwerter zu Pflugscharen«. Sie wurden kurzzeitig festgenommen, konnten sich dann aber mit ostdeutschen Friedensaktivisten treffen. Die Episode hatte ein Nachspiel: Im Oktober wurden die grünen Abgesandten zu einem Treffen mit Erich Honecker eingeladen, der ihre Ablehnung des NATO-Doppelbeschlusses begrüßte, nicht aber ihre Unterstützung der eigenen ostdeutschen Bewegung. Kelly, die einen Pulli mit dem »Schwerter zu Pflugscharen«-Emblem trug, forderte den ostdeutschen Partei- und Staatschef auf, inhaftierte Friedensaktivisten freizulassen.

Bärbel Bohley wurde wie Rainer Eppelmann und andere Friedens- und Umweltaktivisten für einige Zeit ins Gefängnis gesperrt. Auch andere Aktivisten wurden verhaftet, Veranstaltungen mussten abgesagt werden, inoffizielle Veröffentlichungen wurden beschlagnahmt und Aktivgruppen sowohl überwacht als auch unterwandert. Mitte der 1980er-Jahre nahm die Aktivität sozialer Bewegungen zu, was für die Ereignisse von 1989 von Bedeutung sein sollte. Aber die Hindernisse für soziale Bewegungen in der DDR blieben beachtlich. In der Bundesrepublik gab es allein auf dem Umweltsektor fast tausend Initiativen, während es in Ostdeutschland schon ein Fortschritt war, wenn sich einzelne Gruppen miteinander vernetzten und Samisdat-Nachrichtenblätter verbreiteten. Die in der DDR unmöglichen Dinge waren nicht unbedingt »politisch« im offensichtlichen Sinn. In ihrem erzwungenen halbjährigen Exil in Großbritannien im Jahr 1988 lernte Bärbel Bohley eine Frau mit einem schwer behinderten Kind kennen und stellte fest, wie stark sich die in England angebotenen Dienstleistungen von der Behandlung unterschieden, die eine Mutter für ihr als »nicht förderungswürdig« eingestuftes Kind in der DDR erhielt. Gegen eine solche Einstufung gab es keine Berufung – sie erinnerte Bohley an den nationalsozialistischen Begriff des »lebensunwerten Lebens« –, und es war unmöglich, eine Bürgerinitiative zu organisieren, um auf eine Gesetzesänderung zu drängen.[197]

In Bezug auf Umweltschutz, Feminismus, Pazifismus und die Organisation von Eltern behinderter Kinder gab es zwischen den beiden Deutschlands eine enorme Asymmetrie. Dem Philosophen Jürgen Habermas zufolge, einem der führenden westdeutschen Intellektuellen, dessen weltweites Ansehen auf seinen Schriften zu Zivilgesellschaft, Kommunikation und rationalem Debattieren beruht, ist der entscheidende Punkt bei wahrhaft unabhängigen und zugänglichen Organisationen – Verbänden, Wohltätigkeitsvereinen, gemeinnützigen und Nichtregierungsorganisationen –, dass sie die »Lebenswelt« der Menschen mit der öffentlichen Sphäre der Debatte und des Streits verbinden. Dass solche Organisationen in Ostdeutschland fehlten, bedeutete das Fehlen dieser Verbindung und hatte sowohl eine unterentwickelte Zivilgesellschaft zur Folge als auch ein verengtes Meinungsspektrum, das ihre Bürger von außerhalb erreichte.

Menschen und Meinungen überquerten in den 1970er- und 1980er-Jahren die Grenzen beider deutschen Staaten, aber wiederum in einer grundlegenden Asymmetrie. Die DDR schloss in den 1960er-Jahren Abkommen mit Polen, die eine begrenzte Zahl von »Vertragsarbeitern« ins Land brachten. Ähnliche Verträge folgten mit Mosambik (1979) und Vietnam (1980). Auch aus Angola, Kuba, Nicaragua und dem Jemen kamen auf der Grundlage unterschiedlicher Abkommen Arbeiter zur »Ausbildung« nach Ostdeutschland. Die Zahlen waren allerdings bescheiden. 1989 lebten rund 190 000 Ausländer in der DDR. Die Hälfte von ihnen waren Vertragsarbeiter, von denen rund zwei Drittel Vietnamesen waren, überwiegend Frauen; der Rest waren Auszubildende sowie Studenten und Akademiker oder Fachleute auf Besuch. Zusammen machten Nichtdeutsche knapp über 1 Prozent der Bevölkerung aus, und ihre Präsenz war zudem durch ihre Isolation von der Gastgeberbevölkerung nur eingeschränkt wahrnehmbar. Sie führten zumeist Routinearbeiten aus, die Arbeitsdisziplin war streng, und sie waren in Unterkünften untergebracht, die denen der ersten Gastarbeitergeneration in Westdeutschland ähnelten. Sie trugen zur sozialen Sicherheit der DDR bei, bekamen aber weder Renten- noch Arbeitsunfähigkeitsleistungen. Schwangere Frauen wurden umgehend in ihre Heimatländer zurückgeschickt, was jedes Jahr rund 1 Prozent der Vietnamesinnen geschah. Wenn Einheimische mit ausländischen Arbeitern eine dauerhafte Beziehung eingingen, wurde ihnen für gewöhnlich die Heiratserlaubnis verweigert, selbst wenn die Frau schwanger war. Eine Heirat hätte bedeutet, dass entweder der ausländische Partner – zumeist der Mann – in der DDR bleiben durfte oder dem einheimischen Partner – zumeist der Frau – die Ausreise erlaubt wurde, und beides war aus offizieller Sicht nicht wünschenswert. Erzwungene Trennungen waren jedoch schmerzlich und führten sogar zu Selbstmorden.[198]

Während die Behandlung der ausländischen Arbeiter den offiziellen Bekenntnissen zum Internationalismus Hohn sprach, stand die Bevölkerung ihnen überwiegend feindselig oder gleichgültig gegenüber. Kathrin Schmidt gibt in ihrem Roman Die Gunnar-Lennefsen-Expedition (1998) die in Ostdeutschland verbreiteten rassistischen Stereotype wieder: Die Kubaner tranken viel, und dunkelhäutige Männer aus Algerien belästigten blonde Frauen, während kein Einwohner der Stadt jemals die Vietnamesinnen bei ihren täglichen Verrichtungen gesehen hatte und niemand wusste, wo sie wohnten.[199] Mit anderen Worten, die Ausländer waren nur allzu sichtbar, sofern sie nicht völlig unsichtbar waren. Wenn sie sichtbar waren, wurden sie zum Ziel physischer Angriffe. Einer Studie zufolge gab es in den 1970er- und 1980er-Jahren 725 Fälle von rassistisch motivierter Gewalt, bei denen mindestens zehn Menschen ums Leben kamen.[200]

Im Westen war die nichtdeutsche Bevölkerung sowohl in absoluten Zahlen als auch anteilmäßig wesentlich größer. Auch in der Bundesrepublik lebten zwei Arten von Ausländern, allerdings nicht dieselben wie in der DDR. Die eine waren Asylsuchende, von denen es vor den 1970er-Jahren nur wenige gab, hauptsächlich Flüchtlinge aus den Krisen in Ungarn (1956) und der Tschechoslowakei (1968). In den 1970er-Jahren nahm die Zahl der Asylsuchenden aus Lateinamerika, Asien und Afrika zu, wofür die vietnamesischen Boatpeople nur ein Beispiel waren. Bürgerkriege und Gewalt trieben politische Flüchtlinge in großer Zahl aus dem globalen Süden nach Europa, wo die Bundesrepublik eines ihrer Hauptziele war. 1973 beantragten 5595 Personen Asyl; 1980 waren es 108 000. Während der Spitzenjahre 1979 – 1981 ersuchten über 200 000 Menschen um Asyl. Aber auch danach sanken die Zahlen nie wieder auf das Niveau der frühen 1970er-Jahre.[201]

Eine größere Zahl nichtdeutscher Einwohner waren ehemalige Gastarbeiter, die in Deutschland geblieben waren und ihre Familien nachgeholt hatten. Der Stopp neuer Anwerbungen im November 1973 infolge des Ölschocks sollte ihre Rückkehr in ihre Heimatländer einläuten. Wenn, wie man erwartete, jährlich 250 000 zurückgingen, wäre in zehn Jahren die Hälfte von ihnen gegangen. Tatsächlich gingen nur eine halbe Million Menschen, was durch den gleichzeitigen Zuzug von Familienangehörigen mehr als ausgeglichen wurde. 1980 lebten in Westdeutschland eine Million Ausländer mehr als 1972, und der Anteil nicht arbeitender Familienangehöriger war sprunghaft angestiegen. Der »Stopp« von 1973 hatte die unbeabsichtigte Folge, dass Gastarbeiter, die sich bereits in Deutschland befanden, künftige Restriktionen fürchteten und deshalb in kürzerer Zeit mehr Familienangehörige zu sich holten. Dies traf besonders auf Türken zu, die größte ethnische Gruppe unter den Gastarbeitern. Sie hatten einen doppelten Anreiz dafür, zu bleiben und ihre Familien auf deutschem Boden zu vereinen. Zum einen waren sie, im Unterschied zu Italienern und Spaniern, keine Bürger eines EWG-Landes und hatten daher nicht automatisch das Recht, auch ohne Arbeitserlaubnis nach Belieben zu kommen und zu gehen, so dass sie fürchteten, wenn sie ausreisten, würden sie nicht wieder eingelassen werden. Zum anderen machte ein erfolgreicher Militärputsch in der Türkei im September 1981 die Rückkehr weniger attraktiv und stärkte ihren Anspruch darauf, bleiben zu dürfen. 1980 arbeiteten 2,1 Millionen Ausländer in Westdeutschland, bei denen 2,4 Millionen Familienangehörige lebten. Die Zahl der Kinder nahm zu, und die Verbindungen zum ursprünglichen »Heimatland« wurden schwächer. Die Bundesrepublik war praktisch zum Einwanderungsland geworden.[202]

Bis die Politiker diese Tatsache akzeptierten, dauerte es allerdings unverständlich lange. Die Kirchen sahen der Realität eher ins Auge. 1978 schuf Bundeskanzler Helmut Schmidt allerdings den Posten eines Beauftragten zur Förderung der Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen (Ausländerbeauftragter). Heinz Kühn, der erste Amtsträger, Sozialdemokrat und ehemaliger Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, veröffentlichte 1979 ein Memorandum, in dem er die bisherige Vernachlässigung des Themas kritisierte und ein Integrationsprogramm forderte – keine Germanisierung – mit neuen Schullehrplänen und ethnisch gemischten Schulklassen, Angeboten der Erwachsenenbildung, der Ausbildung neuer Lehrer, verbesserter Rechtshilfe und kommunalem Wahlrecht. Das Memorandum wurde zur Grundlage der Politik der sozialliberalen Regierungskoalition, die die Integration zu einem ihrer Hauptziele erklärte. In den folgenden Jahren erlebte die Bundesrepublik erheblichen, von rechtsgerichteten Demagogen entfachten chauvinistischen Gegenwind. Der Höhepunkt der Asylersuchen in den Jahren 1979 – 1981 ging einher mit vermehrter Familienzusammenführung, insbesondere von Türken. Man sprach von einer »Ausländerfrage«, wobei mit »Frage« eigentlich »Problem« gemeint war. Nichtdeutsche wurden physisch angegriffen. Bei einem Brandanschlag auf ein Hamburger Übergangsheim kamen zwei vietnamesische Flüchtlinge ums Leben; bei Stuttgart wurde ein Brandanschlag auf Äthiopier verübt, und in Hannover wurde ein türkisches Geschäft zerstört.[203] Hässliche Metaphern für diese neue »Gefahr« gingen um: Man sprach von einer »Flüchtlingsflut« und bezeichnete diese Menschen als »Parasiten«. Hochgestochener war davon die Rede, dass es »eine Grenze für die Belastung« geben müsse, denn »das Boot [sei] voll«. Die Feindseligkeit gegenüber Asylsuchenden verstärkte zugleich die Ressentiments gegenüber türkischen und anderen Gastarbeitern. 1978 waren 40 Prozent der in einer Meinungsumfrage Befragten der Ansicht, dass sie »in ihr Land zurückkehren« sollten; vier Jahre später waren es 70 Prozent.[204]

Im Zentrum all dessen stand die ethnische Zugehörigkeit. Der Rassismus hatte ein neues Ziel gefunden. 1979 warnte Heinz Kühn auf einer Konferenz in Stuttgart vor einem neuen »rassischen Hochmut« und stellte fest, dass das antitürkische Ressentiment sich bei antisemitischen Stereotypen bediene.[205] Tatsächlich hallte in der auf Asylsuchende angewandten Sprache die frühere Abwehr einer »slawischen Flut« nach. Auf der äußersten Rechten gab es offenen Rassismus, der sich durch eine Parteineugründung, die sogenannten Republikaner, im Jahr 1983 und das Wiedererstarken einer älteren rechtsextremen Partei, der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), Foren schuf. Im November 1981 veröffentlichte eine Gruppe konservativer Professoren ein »Heidelberger Manifest«, in dem sie sich zwar formal vom Rassismus distanzierte, zugleich aber – unter Berufung auf Biologie und Kybernetik – »die Erhaltung des deutschen Volkes und seiner geistigen Identität« anmahnte.[206] Gefährlicher als solche offen rassistischen Äußerungen war allerdings, dass Politiker der demokratischen Rechten wie der langjährige Vorsitzende der Christlich-Sozialen Union und bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß und der Vorsitzende der CDU-Bundestagsfraktion Alfred Dregger das ausländerfeindliche Ressentiment aufgriffen.

Die CDU kehrte 1982 in einer Koalition mit CSU und Freier Demokratischer Partei (FDP) unter Bundeskanzler Helmut Kohl an die Macht zurück. Der Unterstrom des ausländerfeindlichen Ressentiments war nur ein Strang eines ganzen Bündels von Argumenten, die darauf hinausliefen, dass die Deutschen in Bezug auf ihre Nationalität und Identität weniger »zurückhaltend« sein sollten. In Großbritannien hatte ein ähnlicher politischer Klimawandel stattgefunden, indem Margaret Thatcher sich die Sprache der äußersten Rechten aneignete und etwa 1978 über die Einwanderung sagte, die Briten hätten Angst, dass das Land »von Menschen mit einer anderen Kultur überschwemmt« werde.[207] Wie in Großbritannien waren auch in Westdeutschland die vorherrschenden Argumente des neuen Rassismus nicht biologischer, sondern kultureller Art. Angeblich waren Türken und Asylsuchende – von denen die Hälfte Anfang der 1980er-Jahre nach dem Militärputsch ebenfalls Türken waren – nicht assimilierbar und wollten sich der Gastgeberkultur nicht anpassen, wie man es von ihnen erwartete. 1982 beschwor Dregger in einer Bundestagsdebatte die »menschliche Natur« und verwies darauf, dass die Völker Wert darauf legten, »ihre nationale Identität zu bewahren«. Danach wiederholte er bekannte Auffassungen über die vermeintliche Andersartigkeit der Türken, einschließlich des Arguments, dass sie nicht von der christlichen Kultur geprägt seien.[208]

Die westdeutsche Debatte über die »Ausländerfrage« der 1980er-Jahre war von hässlichen Elementen durchsetzt. Dies traf insbesondere auf das Asylthema zu. Der Zustrom von Asylsuchenden erreichte 1986 einen neuen Höhepunkt, wobei die Mehrheit von ihnen jetzt Osteuropäer waren, Polen, Jugoslawien und russische Juden, oder aus dem Iran und dem Libanon kamen. »Das Asylrecht«, hatte einer der Väter des bundesdeutschen Grundgesetzes, der Sozialdemokrat Carlo Schmid, 1949 erklärt, »ist immer eine Frage der Generosität, und wenn man generös sein will, muss man riskieren, sich gegebenenfalls in der Person geirrt zu haben.«[209] Die Regierung Kohl schlug sich nicht auf die Seite der Großzügigkeit, wie es Schmid gefordert hatte oder eine christdemokratische Bundeskanzlerin im nächsten Jahrtausend tun sollte. Das Grundgesetz garantierte das Asylrecht, aber die Bundesregierung interpretierte es so eng wie möglich, um die Asylgewährung einzuschränken, und brachte Asylsuchende schließlich in Flüchtlingslagern unter – oder, wie der Autor dieses Buchs es mit eigenen Augen gesehen hat, auf einem in Mainz am Rheinufer verankerten Schiff –, wo ihre erzwungene Untätigkeit nur das feindselige Bild von Asylanten als »Parasiten« festigte. Und wenn dann eine große Zahl von Asylanträgen abgelehnt wurde, schien es nur zu bestätigen, dass sie keine echten Asylsuchenden waren.

Historisch gesehen, war Deutschland nie ein ethnisch homogenes Land, sondern ein Einwanderungsland. Diese Tatsache rückte wieder in den Vordergrund, als Westdeutsche sich nachdrücklich gegen Fremdenfeindlichkeit zu Wort meldeten. Im »Manifest der 60«, zum Beispiel, wiesen Migrationsexperten, Juristen und öffentliche Intellektuelle mit großem Sachverstand das Heidelberger Manifest zurück.[210] Die oppositionellen Sozialdemokraten und Grünen drängten auf eine weniger strenge Anwendung des Asylgesetzes und die Integration früherer Gastarbeiter und ihrer Familien, ohne sie zu germanisieren. Letztlich folgten die Christdemokraten einem Mittelweg. Helmut Kohl war nicht Margaret Thatcher. Außerdem musste er auf seinen liberalen Koalitionspartner Rücksicht nehmen. Der FDP-Vorsitzende und hoch angesehene Außenminister Hans-Dietrich Genscher drohte mit Rücktritt, als Innenminister Friedrich Zimmermann vorschlug, das Asylgesetz zu ändern und die Familienzusammenführung einzuschränken. Zimmermann wollte die »Homogenität« der deutschen Gesellschaft bewahren und verhindern, dass sie zu einem »multinationalen und multikulturellen Gemeinwesen« wurde, »das auf Dauer mit den entsprechenden Minderheitenproblemen belastet wäre«. Aber diese Ansicht war nicht mehr die Mehrheitsmeinung der Christdemokraten, und Zimmermann trat 1988 seinerseits zurück. Gleichwohl wollten die Christdemokraten sich auch nicht tiefer auf den Multikulturalismus einlassen, wie ihr Generalsekretär Heiner Geißler es verlangte, der ein Jahr nach Zimmermann ebenfalls zurücktreten musste.[211]

Die Bundesrepublik ließ sich kaum mit Begeisterung auf den Multikulturalismus ein. Selbst das kommunale Wahlrecht für Nichtdeutsche wurde weithin abgelehnt. Die Einbürgerungsrate ausländischer Einwohner blieb niedrig: Ende der 1980er-Jahre wurden jedes Jahr nur 14 000 Ausländer eingebürgert, von denen ein Drittel Ehepartner von Deutschen waren. In Frankreich war die Rate viermal so hoch, in den Vereinigten Staaten zehnmal und in Kanada zwanzigmal.[212] Doch zur selben Zeit gab es Anzeichen für einen Wandel, die beim Stopp der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte noch nicht vorhanden waren. Frühe Anstrengungen in den Schulen waren darauf ausgerichtet, türkische Kinder bildungsmäßig nicht sowohl in Türkisch als auch in Deutsch zurückzulassen. Türkische Lehrer brachten den Kindern türkische Geschichte und Geografie bei, um sie auf eine spätere Rückkehr in die »Heimat« vorzubereiten. Anderswo wurde – für türkische Schüler – die bilinguale Erziehung forciert, um ihre Assimilation zu fördern. Aber im Lauf der Zeit wurden andere Methoden entwickelt und ein echtes interkulturelles Verständnis in die Lehrpläne eingebaut. Deutsche Lehrer lernten Türkisch, zunächst einfach um die Namen ihrer Schüler richtig auszusprechen, doch bald auch darüber hinaus. In manchen Schulen wurde nicht nur für »ausländische« Schüler, sondern für alle ein bilingualer Unterricht eingeführt. Dank eines Oral-History-Projekts im Berliner Stadtteil Wedding verfügen wir über anekdotische Belege dafür, dass deutsche Lehrer und türkische Eltern sich gegenseitig zu sich einluden, ein deutscher Schüler einem türkischen Freund das Schwimmen beibrachte, andere Mitschüler bei den Hausarbeiten halfen und dabei etwas über die türkische Kultur lernten und Lehrlinge zusammen Fußball spielten oder tranken. Der Arbeitsplatz und die Eckkneipe, der Fußballplatz und der Lebensmittelladen waren wie die Schule Orte, an denen man sich begegnete und miteinander austauschte.[213]

Man darf dies allerdings nicht idealisieren. Begegnungen konnten auch spannungsgeladen sein, wie es Kämpfe um gemeinsame Räume häufig sind. Es gab auch andere Probleme. Als sich eine deutsch-türkische Literatur herausbildete, tauchte das Paradox auf, dass ein in Deutschland lebender preisgekrönter Schriftsteller wie Aras Ören wegen eines immer noch geltenden Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1913 kein deutscher Staatsbürger werden konnte.[214] Der Wandel des kulturellen Kanons war nicht von einem umfassenden rechtlichen und politischen Wandel begleitet. Außerdem fanden sich Minderheitenautoren in derselben Situation wieder wie afroamerikanische Autoren in den Vereinigten Staaten: Wie kreativ und gemischt ihr Werk auch war, sie wurden, wenn auch in gut gemeinter Absicht, häufig aufgefordert, »für ihre Gemeinde zu sprechen«. Manche Spannungen wegen kultureller Gegensätze waren nicht einfach zu lösen. War es falsch, dass westdeutsche Feministinnen die Emanzipation türkischer Frauen von patriarchaler Autorität forderten, wenn dies bedeutete, dass sie die Brücken zu ihrem Unterstützungssystem in Deutschland abbrechen mussten? War die Wiedereinführung von Körperstrafen ein Teil des Preises, den man für eine offene Reise zum Multikulturalismus zu zahlen hatte? In den 1980er-Jahren wurden diese Fragen sowohl auf der Linken als auch auf der Rechten gestellt, und zwar nicht als populistische Gesten, sondern als echte, schwierige Fragen, die nach einer Lösung verlangten. Salman Rushdies Roman Die satanischen Verse (1988) und die gegen ihn erlassene Fatwa wurden in der Bundesrepublik weithin diskutiert, wobei diese Fragen in verschärfter und gelegentlich unangenehmer Form zur Sprache kamen.[215] Dennoch sind dies Debatten, wie gesunde Gesellschaften sie führen: Sie sind ein Zeichen von Stärke, nicht von Schwäche. In der Deutschen Demokratischen Republik gab es keine öffentliche Debatte über all diese Themen, weder über das Asylrecht und die Staatsangehörigkeit noch über die Rechte von Nichtstaatsangehörigen oder Multikulturalismus an Schulen.

Der Grund, aus dem die Anwerbung von Gastarbeitern 1973 eingestellt wurde, waren der erste Ölschock und seine ökonomischen Folgen. Derjenige für den Anstieg der Ausländerfeindlichkeit nach 1979 waren der zweite Ölschock und dessen ökonomische Folgen. Die 1970er-Jahre waren vom Schock des Globalen eingerahmt.[216] Die OPEC vertiefte ihn durch ein letztes Element, eine drängende, unerwartete Krise, die zu der jüngsten Umwälzung der Weltfinanzmärkte und dem schmerzlichen, langfristigen Übergang von der industriellen zur postindustriellen Wirtschaft in den entwickelten Ländern hinzukam. Westdeutschland überstand diesen Sturm, auch wenn es nicht immer angenehm war. Ostdeutschland konnte ihn, wenigstens auf kurze Sicht, umschiffen. Dank des Zugangs zu westlichen Krediten, den ihr die Neue Ostpolitik geöffnet hatte, lebte sie in den 1970er-Jahren in einem Narrenparadies, bis dessen Preis in den 1980er-Jahren immer offensichtlicher wurde. Aus ökonomischer Sicht kann man die Jahre zwischen dem ersten Ölschock und den Ereignissen von 1989 als Geschichte zweier deutscher Staaten in einer sich immer stärker globalisierenden Welt sehen: Der eine unterzog sich schmerzlichen strukturellen Veränderungen, während der andere dies unterließ und dafür letzten Endes mit seiner Existenz bezahlte.

Die Jahre nach 1973 gehörten zur Ära »nach dem Boom«.[217] Das deutlichste Symbol für das Vorher-Nachher war die Entwicklung des Erdölpreises. Als Ägypten und Syrien im Oktober 1973 an der Spitze eines Bündnisses den Jom-Kippur-Krieg gegen Israel begannen, verhängten die arabischen OPEC-Mitglieder ein Embargo gegen die Unterstützer Israels und verkündeten eine Verringerung der Fördermenge. Die Folge war ein steiler Preisanstieg. Nach dem schnellen Sieg Israels sorgten die enttäuschten arabischen Staaten für weitere Preissprünge. Kostete ein Barrel Rohöl 1971 knapp über 2 und im September 1973 3 Dollar, lag der Preis am Jahresende bei 12 Dollar. In Westdeutschland deckte Erdöl 60 Prozent des Energiebedarfs – in Frankreich war der Anteil sogar noch größer –, so dass der Preisanstieg sich in der gesamten Wirtschaft bemerkbar machte. An vier aufeinanderfolgenden Sonntagen wurde das Autofahren verboten, und auf Autobahnen wurde vorübergehend eine Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h eingeführt. In einem Land, in dem das Auto derart heilig war, dass es niemand über sich gebracht hatte, Ralph Naders Buch Unsafe at Any Speed (1965) über die »eingebauten« Gefahren des Autos auf Deutsch zu veröffentlichen, war dies ein deutliches Krisenzeichen.[218] Der liberale Publizist Sebastian Haffner, der besonders für seine Gedanken über Hitler bekannt ist, kam beim Nachdenken über die Energiesicherheit zu dem Schluss, dass die Bundesrepublik sich vom Erdöl abkoppeln sollte.[219] Er schlug vor, zur Kohle zurückzukehren, aber die Politiker wandten sich stattdessen der Atomkraft zu. Dies führte zu großen Auseinandersetzungen. Der erste Ölschock bewirkte vor allem eines: Er machte den Westdeutschen bewusst, wie verletzlich sie gegenüber den globalen Wirtschaftskräften waren.

Die Vervierfachung des Ölpreises war nur ein Anzeichen dieser Verletzlichkeit. Ihr vorangegangen waren globale Finanzturbulenzen, nachdem US-Präsident Nixon im August 1971 bekannt gegeben hatte, dass die Vereinigten Staaten die Konvertierbarkeit des Dollars in Gold aufheben würden. Dies untergrub das 1944 installierte Bretton-Woods-System fester Wechselkurse. Hintergrund der Entscheidung war die wirtschaftliche Schwäche der USA, die unter anderem in einem großen Handelsbilanzdefizit gegenüber anderen Ländern, einschließlich der Bundesrepublik, zutage trat. Der Wechselkurs von Dollar und D-Mark spiegelte nicht die grundlegende ökonomische Realität wider, so dass der Dollar unter Druck geraten und Spekulationskapital in der Hoffnung auf eine Neubewertung nach Westdeutschland geflossen war. Die amerikanische Entscheidung zwang die EWG zu reagieren, was sie auf einem Treffen im März des auch in dieser Hinsicht entscheidenden Jahres 1973 tat, indem sie ein System frei »floatender« Wechselkurse einführte. Aufgrund der Stärke der westdeutschen Wirtschaft war zu erwarten, dass die D-Mark nach oben »floatete«, und genau dies trat ein, wodurch die deutschen Exporte teurer wurden, was der Handelsnation schlechthin, deren Außenhandel ein Drittel ihres Bruttonationalprodukts ausmachte, einen schweren Schlag versetzte.[220]

Überlagert wurden der Ölschock und die finanzielle Unsicherheit von einem dritten, längerfristigen Problem: dem Niedergang der alten Schlüsselindustrien Bergbau, Eisen und Stahl sowie des Schiffbaus. Dies war ebenfalls eine Folge der Globalisierung, da diese Industrien sich in weniger entwickelte Länder, wo die Kosten geringer waren, verlagerten. Was der amerikanische Soziologe Daniel Bell 1973 als Entstehung der »nachindustriellen Gesellschaft« beschrieb, war in Wirklichkeit eine Umstellung der internationalen Arbeitsteilung, in deren Rahmen westliche Kernländer gezwungen waren, ihre Wirtschaft auf High-End-Produkte und den Dienstleistungssektor auszurichten.[221] Helmut Schmidt, der im Mai 1974 Bundeskanzler wurde, war sich der globalen ökonomischen – und nichtökonomischen – Probleme, vor denen die Bundesrepublik stand, bewusst. In seiner ersten Rede als Bundeskanzler sprach er von einer »Zeit weltweit wachsender Probleme«, ein Jahr später im Gespräch mit US-Präsident Gerald Ford und Henry Kissinger vom »ersten globalen Wirtschaftszyklus«.[222] Im Bundestagswahlkampf von 1976 benutzte Schmidt den Slogan vom »Modell Deutschland«, das vorgemacht habe, wie man auf die globalen Wirtschaftsschocks der 1970er-Jahre reagieren müsse. Natürlich war diese kühne Behauptung auch ein Eigenlob, mit dem er seine Fähigkeiten als »Krisenmanager« herausstreichen wollte.

Die Bundesrepublik überstand die Krise nach 1973 und die nächste Krise nach dem zweiten Ölschock von 1979 besser als die meisten ihrer Konkurrenten. Der Bergbau und die Schwerindustrie der ersten industriellen Revolution wurden allerdings weiter nach und nach abgebaut. Durch Effektivitätssteigerungen erreichten die bekannten Exportindustrien – pharmazeutische Industrie, Feinmechanik, Automobilbau – trotz der starken D-Mark gute Ergebnisse. Der Preis dafür war eine höhere Arbeitslosigkeit. Aber Westdeutschland erlebte keine »Stagflation« – niedriges Wachstum bei hoher Inflation –, wie sie anderswo, etwa in den Vereinigten Staaten und Großbritannien, stattfand. Die Inflation blieb niedriger als in anderen kapitalistischen Wirtschaften. Außerdem positionierte Helmut Schmidt die Bundesrepublik im Zentrum der westlichen Antwort auf die Krisen der 1970er-Jahre. Sie spielte, wie erwähnt, eine führende Rolle bei der Schaffung der G7 und des Europäischen Währungssystems und war wesentlich an der Gründung der Internationalen Energieagentur (IEA) beteiligt, die 1974 als Reaktion auf den ersten Ölschock geschaffen worden war. Aufgrund ihres überragenden Interesses als Exportnation, ein Abgleiten in den Protektionismus zu verhindern, beteiligte sie sich auch aktiv an der Tokio-Runde der Wirtschaftsverhandlungen im Rahmen des Internationalen Zoll- und Handelsabkommens GATT (1973 – 1979). Wenn es eine Schattenseite dieses bekannten und jetzt in einer Krisenzeit bekräftigten Musters multilateralen Engagements gab, dann war es die Besessenheit von fiskalischer Strenge und niedriger Inflation als Kennzeichen wirtschaftspolitischer Tugendhaftigkeit. Das westdeutsche Beharren auf diesen Prinzipien beeinflusste die Konditionalitätspolitik des IWF, das heißt dessen Kreditnehmern gestellte Bedingung, ihre Kosten zu dämpfen und ihre Staatsausgaben zu kürzen, also das zu beachten, was später »Austerität« genannt wurde.

Auch Ostdeutschland war in internationale Wirtschaftsnetzwerke eingebunden, aber weit weniger in der Lage, sein Schicksal selbst zu bestimmen. Es war gefangen zwischen Ost und West. Zwei Vignetten von 1973 illustrieren sein Problem. In diesem Jahr besuchte Kremlchef Leonid Breschnew die Bundesrepublik. Ein Höhepunkt seines Besuchs war ein Hubschrauberflug über das Ruhrgebiet, dessen Bergwerke und Schwerindustrie seit dem 19. Jahrhundert den deutschen Wirtschaftserfolg angetrieben hatten. Aber schon als Breschnew sie bewunderte, war man dabei, frühere Industrieanlagen an der Ruhr in Kunstzentren und Museen umzuwandeln. Auch im Ostblock, einschließlich der DDR, gab es viele museumsreife Industrieanlagen, die jedoch weiterhin in Betrieb waren. Von der DDR mit ihrer vergleichsweise fortgeschrittenen Ökonomie erwartete man allerdings, eine führende Rolle beim Aufholen zum Westen zu spielen – in der Informationstechnologie zum Beispiel. Dies führt zur zweiten Vignette: 1973 brachte Ostdeutschland den Großrechner ES-1040 auf den Markt – ES stand für russisch Edinaja Sistema, einheitliches System. Die CIA war beeindruckt. In einem einige Jahre später verfassten Bericht hieß es: »Was die osteuropäischen Hersteller betrifft, liefert Ostdeutschland die einzige Erfolgsgeschichte. Ostdeutschland entwickelte und produzierte mit dem ES-1040 eine gut gemachte und offenbar zuverlässige Maschine.«[223] Hier lag die CIA, nicht zum ersten Mal, falsch. Die ostdeutschen Computer hinkten der Entwicklung im Westen zehn Jahre hinterher und waren eine gigantische Geldverschwendung.

Geld – woher man es bekommen konnte und wie man es ausgeben sollte – definierte das ostdeutsche Dilemma der 1970er- und 1980er-Jahre. Während Westdeutschland mit der Überbewertung der D-Mark zu kämpfen hatte, litt die DDR unter Devisenknappheit. Seit der Neuen Ostpolitik konnte sie von einer entgegenkommenden Bundesrepublik jederzeit Geld borgen. Aber was tun mit dem Geld: es auf die Zukunft setzen (Computer), in die Modernisierung von Fabriken und Infrastruktur investieren oder in den Versuch stecken, den Bürgern die Konsumgüter zu bieten, die sie wollten, weil sie sie jeden Tag im westlichen Fernsehen sahen? Am Ende verschlangen Letztere immer mehr des geborgten Geldes, und die Rechnung wurde immer länger.

1973, als die westlichen Industrienationen vom Ölpreissprung der OPEC geschockt wurden, genoss die DDR anfangs den Vorteil, aufgrund des Zugangs zu billigem sowjetischem Erdöl vom Weltmarkt abgeschottet zu sein. Tatsächlich verdiente sie eine Zeit lang durch die Erdölverarbeitung und den Verkauf der Produkte in den Westen sogar Devisen. Aber als die Sowjetunion Mitte der 1970er-Jahre selbst Geld brauchte, erhöhte sie den Ölpreis für die Ostblockländer. Damit begann ein Streit, der sich bis zum Ende der DDR hinzog, da der Preis, den sie in Form von Industrieprodukten für das sowjetische Erdöl zahlen musste, stetig stieg. Außerdem kürzte die Sowjetunion 1981 ihre Öllieferungen. Ostberlin beklagte sich bitter darüber, dass sie auf der einen Seite mit Westdeutschland und auf der anderen mit dem »konterrevolutionären« Polen konfrontiert sei. Moskau könne sicherlich nachvollziehen, warum man das Erdöl brauche. Der Kreml erwiderte darauf: Sollen wir also stattdessen die Lieferungen an Polen, Vietnam und den Jemen kürzen?[224] Der ostdeutsche Ausweg war die vermehrte Verbrennung von Braunkohle, was zur verheerenden ökologischen Bilanz der DDR in ihren letzten Jahren beitrug.

Für die Umweltverschmutzung waren daneben auch veraltete Fabriken und Maschinen verantwortlich. In die Jahre gekommene chemische Fabriken, Bergwerke und Kraftwerke waren nicht ersetzt oder modernisiert worden. Brände, Unfälle, Lecks: All dies verlangsamte die Produktion, bedrohte Leben und zerstörte die Umwelt. In der Baubranche sah es ähnlich aus. Ihr Fuhrpark war zu jedem Zeitpunkt nur zu 30 Prozent einsatzbereit, und drei Viertel der Fahrzeuge waren veraltet. Fast die Hälfte der Lagerhäuser des Landes hatten löchrige Dächer. Ältere Wohnhäuser zerfielen. Auch die Landwirtschaft war von dieser Vernachlässigung nicht verschont. Aufgrund einer Verschlechterung von Futter, Hygiene und tierärztlicher Versorgung trat eine Krise der Viehzucht ein, die 1982, als in drei Monaten eine Dreiviertelmillion Schweine starben, katastrophale Ausmaße annahm.[225] Das Wort, das Kritiker in den letzten Tagen des Regimes dafür benutzten, lautete »verkommen«.[226] Dies war die ostdeutsche Version der Breschnew-Ära: Stillstand und langsamer Verfall. Eine Marktbereinigung wie im Westen fand im Osten nicht statt. Im Gegenteil, das Neue Ökonomische System der 1960er-Jahre mit seiner Lockerung der hierarchischen Planungsstrukturen wurde, wie erwähnt, aufgehoben und eine neuerliche Zentralisierung in Gang gesetzt. Ostdeutschland entging zwar einer Arbeitslosigkeit wie im Westen, nicht aber Unterbeschäftigung und Kurzarbeit infolge der ständigen Produktionsunterbrechungen. Die Mängel eines nicht reformierten Staatssozialismus wurden immer offensichtlicher: Die Ineffektivität nahm zu und die Produktivität ab. Vorbei waren die Tage, in denen die DDR Güter wie optische Geräte außerhalb des RGW für harte Währung verkaufen konnte. Südeuropäische und asiatische Hersteller hatten ihr in Bezug auf Qualität und Preis den Rang abgelaufen.[227]

Ein Element des Raumfahrtutopismus der Ulbricht-Ära, als Kybernetik und Systemanalyse die Überlegenheit des Sozialismus beweisen sollten, war übrig geblieben: der Glaube an Computer. 1964 hatte Ulbricht im SED-Politbüro angekündigt, die ostdeutsche Informationstechnologie werde bis 1970 »Weltstandard« erreichen, Der ostdeutsche Computerpionier Nikolaus Joachim Lehmann, der als Gast an der Sitzung teilnahm, widersprach ihm. Doch die Hoffnung blieb.[228] In der Honecker-Ära war es der Tagtraum, dass die Entwicklung des High-Tech-Sektors große Produktivitätssteigerungen mit sich bringen und Deviseneinkünfte aus dem Außenhandel generieren würde. Wissenschaftler und Ingenieure wurden an die Arbeit gesetzt, doch das Projekt wurde durch Produktionsstörungen und Lieferengpässe behindert. Man ging Verträge mit westlichen Unternehmen wie Toshiba ein; bei IBM, Texas Instruments, Siemens und dem westdeutschen Luftfahrtunternehmen MBB wurden Spione platziert. Doch es half alles nichts. Die »Spy-Tech« der Stasi führte nur dazu, dass die ostdeutschen Computer viel westliche Technologie enthielten, aber ihre Auslieferung dauerte lange, und sie waren klobig und teuer. Das Vorhaben war überaus kostspielig, brachte aber keinen Erfolg.[229]

Die Konsumgüterindustrie verschlang sogar noch mehr geborgtes Geld. Das Regime war sich bewusst, dass die Unzufriedenheit der Bevölkerung im benachbarten Polen zu Unruhen geführt hatte, und bemühte sich, mit der in den frühen 1970er-Jahren verkündeten »Einheit von Sozial- und Wirtschaftspolitik« die Forderungen der Menschen zu erfüllen. Im Mittelpunkt stand der Wohnungsbau, denn hier war die Klage der Bevölkerung am größten. Entwurf und Bautechnik der Plattenbauten, Hochhäusern aus vorgefertigten Betonplatten, unterschieden sich kaum von dem, was Städteplaner anderswo verwirklichten, ob nun im Osten oder Westen. In vieler Hinsicht folgte der neue ostdeutsche Wohnungsbau Le Corbusiers modernistischen Entwürfen für die »Stadt von morgen«, die einst als »kosmopolitisch« und unannehmbar verdammt worden waren, jetzt aber in den Kanon sozialistischer Modernität Eingang fanden. Die riesigen Neubauviertel, wie Marzahn im Osten Berlins, waren insgesamt auffallend international: Der Chefarchitekt, Roland Kern, hatte in Chile für die Regierung Allende gearbeitet, die großen Betonplatten kamen aus einer finnischen Fabrik, und die Bauweise, die »Slobin-Technik«, stammte aus der Sowjetunion. Die neuen Wohnviertel waren ehrgeizige Projekte. Sie umfassten Schulen, Geschäfte, Parks, Cafés, Biergärten und Tanzlokale, Bibliotheken, Buchhandlungen, Gesundheitszentren, Schwimmbäder – und natürlich Parteibüros.[230] Viele DDR-Bürger waren sicherlich froh, nach Jahren in beengten Verhältnissen in eine moderne Wohnung in einem Viertel mit vielen öffentlichen Einrichtungen zu ziehen. Nur wenige westliche Neubaugebiete waren so gut ausgestattet. Aber einer der Gründe für die Fremdheit, die Hochhausbewohner überall spürten, war in Ostdeutschland ein großes Problem: mangelnde Instandhaltung. Dies war in der DDR ein nur allzu bekanntes Phänomen. Die Ressourcen gingen in den Bau, nicht in die Instandhaltung. Da die subventionierten Mieten niedrig waren, fiel es umso schwerer, das Geld für sie aufzubringen. Hinausgeschobene Instandhaltung war ein Grundübel der ostdeutschen Wirtschaft.

In den 1970er- und 1980er-Jahren reichten DDR-Bürger beim Ministerrat und bei Parteistellen immer mehr Eingaben ein. Ihre Zahl stieg in diesen Jahrzehnten auf mehr als das Doppelte. In den späten 1980er-Jahren beklagten sich die Ostdeutschen weniger über ihre Wohnsituation und mehr über andere Dinge.[231] Ein ständiger Grund für Ärger waren Knappheit und Mangelhaftigkeit von Konsumgütern. Die Warteliste beim Autokauf blieb erstaunlich lang. Minderwertige Waren dagegen gab es reichlich: Schuhe und Kleidung, die auseinanderfielen, Fernsehgeräte, die kurz nach dem Kauf schon repariert werden mussten. Auch Basisgüter wurden ebenso regelmäßig wie unerwartet knapp. 1976 gab es zeitweise keinen Kaffee, 1979 weder Bananen noch Orangen. Die Viehkatastrophe von 1982 hatte einen chronischen Mangel an Schweinefleisch zur Folge. Im selben Jahr gab es zu unterschiedlichen Zeiten in Erfurt keinen Kaffee und im ländlichen Mecklenburg kein Toilettenpapier. In Dresden fehlten Kartoffeln. Ein Zeichen für das Scheitern der Konsumentenwirtschaft war, dass DDR-Bürger mit Zugang zu westlichen Währungen in sogenannten Intershops alles kaufen konnten, was sonst nicht zu bekommen war. Diese kapitalistischen Inseln im sozialistischen Meer gingen stärker auf die Wünsche der Konsumenten ein, wurden aber auch kritisiert, weil sie keine Ersatzteile oder Reparaturmöglichkeiten anboten, so dass sich bei den Käufern teure, aber nutzlos gewordene westliche Güter ansammelten.[232] 1988/89 verschlechterten sich die Konsumaussichten weiter. Die Geschäfte der staatlichen Einzelhandelskette HO blieben häufig geschlossen oder ihre Regale leer. Das ständige Schlangestehen forderte seinen Preis und war ein Grund für das hohe Niveau des Arbeitsabsentismus. 1987 war die Zahl der durch Absentismus verlorenen Arbeitsstunden in Ostdeutschland doppelt so hoch wie in der Bundesrepublik und viermal so hoch wie in den Vereinigten Staaten.

Unterdessen borgte sich die DDR, um die Unzufriedenheit ihrer Bevölkerung durch Investitionen in Wohnungsbau und Konsumgüterproduktion zu dämpfen, ein ums andere Mal Geld vom Westen. Nachdem die Neue Ostpolitik die Kreditlinien angehoben hatte, war dies viel einfacher möglich. Die DDR war nicht das einzige Land, das diesen Kurs eingeschlagen hatte, auch Polen und Ungarn nahmen im Westen, insbesondere bei westdeutschen Banken, hohe Kredite auf. Das Geld ging zum größten Teil nicht in Investitionen oder Instandhaltung, sondern in den Konsum, und dort, wo man Anstrengungen unternahm, Geld für die Rückzahlung zu verdienen – ob nun mit Computern oder durch einen Handel mit Pepsi-Cola –, erfüllten sich die Erwartungen nicht. 1971, ein Jahr vor Abschluss des Grundlagenvertrags mit der Bundesrepublik, lagen die ostdeutschen Auslandsschulden bei 2 Milliarden Valutamark.** Günter Ehrensperger, der führende Finanzexperte der SED, wies später auf das Jahr 1973 zurück, in dem er vorausgesagt hatte, dass die Auslandsschulden der DDR bis 1980 von 2 auf 20 Milliarden steigen würden. Er wurde zu Honecker gerufen, der ihm weitere derartige Hochrechnungen untersagte. »Das war der Anfang«, stellte Ehrensperger fest.[233] Tatsächlich wuchsen die Schulden bis 1980 auf 25 und bis 1989 auf 45 Milliarden. Dies war der »Schuldenkuss«.[234] Als sich die Situation verschlechterte, griff die SED-Führung nach allem, was sich zu Geld machen ließ: Kunst und Antiquitäten im Wert von 50 Millionen D-Mark wurden ebenso in den Westen verkauft wie Goldreserven, Waffenreserven und sogar Blutkonserven von DDR-Bürgern. Außerdem nahm sie einen schwunghaften Ost-West-Handel mit politischen Häftlingen auf, der ihr für den »Verkauf« von insgesamt rund 34 000 Menschen 3,5 Milliarden D-Mark einbrachte.[235] Aber diese Summen waren nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Schulden erreichten schließlich einen Anteil von 60 Prozent der Exporterlöse der DDR. Aber anders als einige lateinamerikanische Länder blieb die DDR die Ratenzahlungen nie schuldig, und sie schlug auch nicht wie Rumänien einen rigiden Sparkurs ein, um die Schulden unter Kontrolle zu bringen – was in Rumänien zu Stromabschaltungen, Rationierung und verbreitetem Elend führte. In der DDR hätte ein Sparprogramm zur Schuldenstabilisierung wahrscheinlich einen 30-prozentigen Einschnitt in den Lebensstandard bewirkt, was Honecker und seine Genossen nicht einmal in Erwägung ziehen wollten.

1989 war die DDR nicht mehr in der Lage, ihre Industrieproduktion aufrechtzuerhalten, den Absturz der Produktivität aufzuhalten, die Ressourcen effektiv zu verteilen und sich in eine postindustrielle Gesellschaft zu verwandeln. Sie konnte weder die Zunahme der Umweltschäden verhindern noch die Veröffentlichung von Schlüsselstatistiken verbieten, weil sie so vernichtend waren, noch die wachsenden Konsumbedürfnisse befriedigen, obwohl sie vom Westen Milliarden geborgt hatte, die sie nicht zurückzahlen konnte. All diese Unterlassungssünden gehörten zu den Gründen, warum die Legitimität der SED-Führung, während sie sich auf die Feierlichkeiten zum vierzigsten Jahrestag der DDR im Oktober vorbereitete, ernsthaft infrage gestellt wurde und sie bald ihre Macht verlieren sollte.

Vom Mauerfall zur Jahrtausendwende

Am Abend des 9. November 1989 hielt Günter Schabowski, der im ZK der SED für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig war, eine Pressekonferenz für ausländische Journalisten ab. Sie verlief routinemäßig, bis ein italienischer Journalist nach der Reisemöglichkeit von DDR-Bürgern fragte. Schabowskis Antwort war vage und gewunden, bis ihm die Papiere einfielen, die ihm kurz vor der Pressekonferenz ausgehändigt worden waren. In ihnen wurde eine liberalere Politik umrissen, die das ZK am Nachmittag beschlossen hatte. Schabowski hatte weder an der ZK-Sitzung teilgenommen – obwohl er dazu verpflichtet gewesen wäre – noch die Papiere gelesen. Deshalb übersah er, dass die Presseerklärung bis zum folgenden Vormittag zurückgehalten werden sollte. Außerdem gab er sie in verstümmelter Form wieder und pickte dabei einzelne Formulierungen aus ihr heraus. Die neue Politik erlaubte DDR-Bürgern, ins Ausland zu reisen, aber erst nach vorheriger Beantragung und mit offiziellem Stempel. Schabowski verkündete jedoch, die neue Regelung trete »unverzüglich« in Kraft, und vermittelte den Eindruck, die Grenze sei jetzt offen. Die zuvor eher verschlafene Atmosphäre der Pressekonferenz verflog, und die Atmosphäre im Raum wurde lebhaft. Als ein britischer Journalist fragte, was dies für die Mauer bedeute, wechselte Schabowski verlegen das Thema und ließ die Frage unbeantwortet im Raum stehen.[236]

Einige Ostberliner, die Schabowskis Äußerungen gehört hatten, begaben sich zu den Grenzübergängen nach Westberlin, und als sich die Neuigkeit über das westdeutsche Fernsehen verbreitete, nahm ihre Zahl rasch zu. Bis zum Abend hatten sich am Grenzübergang Bornholmer Straße Tausende versammelt. Die Grenzwachen waren darauf nicht vorbereitet, und der Stasi-Offizier Harald Jäger, der stellvertretende Leiter der Passkontrolleinheit des Grenzübergangs, versuchte im Lauf des Abends Dutzende Male, klare Anweisungen zu erhalten. Um 21 Uhr wurde ihm gesagt, er solle die lautesten Schreihälse beiseitenehmen und in den Westen durchlassen, vorher aber ihre Personalausweise stempeln, so dass man ihnen später die Rückkehr verwehren könne. Die übrige Menge solle aufgefordert werden, sich zu zerstreuen. Doch die Menschen waren durch die Grenzübertritte in ihrer Entschlossenheit bestärkt. Die Menge war auf Zehntausende angeschwollen, die immer wieder »Macht den Schlagbaum auf!« riefen, als Jäger um 23.30 Uhr die Entscheidung traf, der Forderung nachzugeben. Sein Handeln war der unmittelbare Auslöser der gewaltigen Flut von Menschen, die durch die Grenzübergänge gingen und über die Mauer kletterten. In den Vereinigten Staaten, an deren Ostküste es kurz vor 18 Uhr war, sahen die Menschen zur besten Fernsehzeit die aus Berlin übertragenen Bilder der glücklich feiernden Menschen mit dem Kommentar des Moderators Tom Brokaw.[237]

Der Mauerfall war ein globales Medienereignis, welches das Jahr 1989, den »besten Moment in der europäischen Geschichte«, krönte.[238] Die dramatischen Bilder zeigten, wie das deutsche Volk die Geschichte in die eigenen Hände nahm. Aber die deutsche Revolution von 1989 war wie diejenige von 1848, der sie in manchem ähnelte, Teil einer gesamteuropäischen Entwicklung. Die Ereignisse von 1989 und der vorangegangenen Jahre waren eng mit dem verknüpft, was jenseits der ostdeutschen Grenzen vor sich ging. Der rasche Wandel der politischen Situation im Ostblock war von ebenso entscheidender Bedeutung wie die Einflüsse von außen, von denen die ostdeutsche Opposition angespornt wurde.

Diese Einflüsse kamen aus Ost und West. Eine bedeutende Inspirationsquelle war die tschechoslowakische Opposition. »Denn alle sind froh«, schrieb Bärbel Bohley in ihr Tagebuch, »dass es in Prag einen Havel und die Charta 77 gibt.«[239] Die Charta 77 war auch ein Vorbild für die 1986 in Leipzig zur Beobachtung von Menschenrechtsverletzungen in der DDR gegründete Arbeitsgruppe Menschenrechte. Ostdeutsche Umweltschützer hatten Verbindungen sowohl nach Polen und Ungarn als auch in den Westen.[240] In den 1980er-Jahren vervielfachten sich die Auslandskontakte, insbesondere in Bezug auf die Themen von Frieden und Menschenrechten. Petra Kelly und Gert Bastian waren wichtige Vermittler. Ein führendes britisches END-Mitglied besuchte Ostberlin, ebenso wie Aktivisten aus den Vereinigten Staaten, Japan und Frankreich, die 1983 an einer Friedenskonferenz in Westberlin teilnahmen. »Seitdem waren wir ziemlich gut vernetzt«, erinnerte sich Ulrike Poppe, eine Mitgründerin der Frauen für Frieden und der Initiative für Frieden und Menschenrechte, 2014 in einem Interview.[241] Die Vernetzung sollte sich als wichtig erweisen, als sie und ihre Mitkämpferin Bärbel Bohley später verhaftet wurden und die DDR-Führung daraufhin mit Protestbriefen aus Westeuropa überschüttet wurde.

In den letzten Jahren vor 1989 begannen manche ostdeutsche Gruppen, aus dem Schutzraum der protestantischen Kirche herauszutreten. Das Gewicht der westdeutschen öffentlichen Meinung bot ebenfalls einen gewissen Schutz. Aber die Unterstützung aus dem Westen ersetzte nicht, was die Kirche bot, sondern ergänzte es. Tatsächlich ging beides oft Hand in Hand. Als die Stasi 1988 einen neuen Kurs einschlug und Dissidenten wie Bärbel Bohley vorübergehend »ausbürgerte«, trat für gewöhnlich die Kirche als Vermittler auf. In Bohleys Fall traf ein ostdeutscher Bischof, der die Bewegung Schwerter zu Pflugscharen unterstützt hatte, eine Vereinbarung mit dem Dekan der Kathedrale von Coventry, Paul Oestreicher, einem deutschen Emigranten, der zugleich den Vorsitz des britischen Zweiges von Amnesty International innehatte. Das halbe Jahr, das Bohley 1988 außerhalb der DDR zunächst in Westdeutschland und dann in England verbrachte, war für sie eine Offenbarung. Von Petra Kellys Bonner Büro aus telefonierte sie »mit der halben Welt«. Sie saß mit einem führenden französischen Grünen in einer Gesprächsrunde, traf einen Berater von Jesse Jackson und besuchte die Frauen, die vor dem Militärflugplatz Greenham Common der Royal Air Force kampierten, um gegen die Stationierung von NATO-Mittelstreckenraketen zu protestierten. Der Aufenthalt im Westen machte sie nur noch radikaler, wie sie ihrer Freundin Katja Havemann anvertraute, Witwe Robert Havemanns und wie sie eine Mitgründerin der Frauen für Frieden.[242]

Kurz vor ihrer Verhaftung im Jahr 1988 hatte sie einen ihrer politischen Besuche in der Ostberliner Gethsemanekirche mit den Worten kommentiert: »Mein Gott, wie oft man so in die Kirche geht!«[243] Mit diesem Stoßseufzer drückte sie aus, wie befremdlich die Situation war. Ein noch merkwürdigeres Bündnis entstand dadurch, dass die evangelische Kirche ostdeutschen Punks Zuflucht bot. Die Punkbewegung war ein schrilles Beispiel dafür, wie transnationale Einflüsse die Opposition stärkten. Die 1976/77 in den Vereinigten Staaten und England aufgekommene Punkmusik erreichte nur wenig später auch ostdeutsche Jugendliche. Sie hörten sie in Radio Luxemburg, im RIAS oder in DJ John Peeles Sendung im British Forces Broadcasting Service (BFBS) und nahmen sie auf Tonband auf. In westdeutschen Jugendzeitschriften wie Bravo und Blickpunkt, die auch im Osten zirkulierten, erschienen Fotos von Punks und Artikel über sie. Sowohl die Musik als auch die Ausstattung von Punks – Fanartikel, Anstecker, Kleidung – waren im Ostblock zu bekommen, allerdings in Budapest, Warschau und Prag leichter als in Ostberlin. Natürlich waren sie auch im Westen erhältlich, und ein Kanal, über den sie nach Ostdeutschland gelangten, waren die Rentner, die in den Westen reisen durften, die Großmütter, die in Westberliner Plattenläden anstanden, um Punkalben zu kaufen, die ihre Enkel ihnen aufgeschrieben hatten. In einem dieser Läden war man derart an diese Käuferschicht gewöhnt, dass man die Platten in Frank-Sinatra-Hüllen steckte, die den ostdeutschen Grenzwachen egal waren. Ostdeutschland hatte auch eigene Punkbands, deren Namen – wie Sex Pistols und Clash in Großbritannien – provozieren sollten: Wutanfall in Leipzig, Schleimkeim in Erfurt. Ihre Musik war wie die westliche laut und aggressiv, mit Texten voller »Wortschrapnells«, Ausdruck der trotzigen Ablehnung von Normen und Reglementierung.[244] Die breitere Punkszene – in Kellern und besetzten Häusern, auf der Straße und in bestimmten Parks – legte dieselbe aufsässig-finstere Haltung an den Tag. Punks kleideten sich auf eine Art, welche die vom Punk beeinflusste britische Modemacherin Vivienne Westwood »confrontation dressing« genannt hat, allerdings häufiger als im Westen mit selbst genähten und daher trendsetzenden Kleidungsstücken.[245] Deshalb waren westliche Punks und ihre Anhänger, umgekehrt zur gewohnten Rollenverteilung zwischen Ost und West, neidisch auf die gefährliche, ungetrübte »Authentizität« ihrer östlichen Kameraden.[246]

Die mediale Aufmerksamkeit, die die ostdeutsche Punkszene im Westen erregte, ob nun in der westdeutschen oder britischen Presse, veranlasste das SED-Regime zu einem Gegenangriff. In dessen Augen war der Punk ein Produkt der kapitalistischen Dekadenz und existierte daher in der DDR nur infolge westlicher Infiltration. Im Zuge einer massiven Kampagne unter dem Motto »Härte gegen Punk« wurden 1983 Punks verhaftet, verprügelt, zur Volksarmee eingezogen oder ausgebürgert. Dies reduzierte die Größe der Bewegung, politisierte sie aber auch.[247] Viele Punks fanden in der Kirche Zuflucht, die ihnen einen sicheren Ort bot, an dem sie selbst und zu Besuch kommende Gruppen wie die Toten Hosen aus Westdeutschland und Karcer aus Polen auftreten konnten. Durch den Aufenthalt in Kirchen kamen Punks mit offen oppositionellen politischen Anliegen wie den Menschenrechten und dem Umweltschutz in Berührung, während Verweise auf den Punk Eingang in Oppositionsliteratur fanden.[248] Unterdessen schleuste die Stasi, wie in jede andere Oppositionsbewegung, Informanten in die Punkszene ein. Außerdem versuchte das Regime verspätet, den Punk zu vereinnahmen, indem es eine gemäßigte, ideologisch vertretbare Version lancierte, wie es das in den 1970er-Jahren – mit mehr Erfolg – mit der Rockmusik getan hatte.[249]

Im Ostblock hatte die Rockmusik dennoch das Potenzial zu politischer Opposition. Immerhin hatte die Verhaftung von Mitgliedern der tschechoslowakischen Band Plastic People of the Universe Václav Havel und seine Mitstreiter veranlasst, die Charta 77 zu verfassen. Die Band, eine feste Größe der tschechoslowakischen Untergrundkultur mit einer treuen Anhängerschaft in der Jugend, war stark von Frank Zappa und seiner Band The Mothers of Invention beeinflusst, deren Song »Plastic People« sie zu ihrem Namen angeregt hatte. Im Juni 1987 stieß ein anderer westlicher Rockstar bei der unzufriedenen ostdeutschen Jugend auf Widerhall. Bei einem dreitägigen Konzert vor dem Reichstagsgebäude in Westberlin nahe der Mauer vor 70 000 Zuschauern war David Bowie am zweiten Abend der Headliner. Er war 1976 nach Westberlin gezogen, um vom Kokain loszukommen. Dort las er Brecht, malte und besuchte Kunstmuseen. Außerdem komponierte er. Sein zweijähriger Aufenthalt in der Stadt markierte einen künstlerischen Neuanfang, der in drei Alben, der sogenannten Berlintrilogie, seinen Ausdruck fand. Auf einem von ihnen, Heroes, sang Bowie im Titelsong über durch die Mauer getrennte Liebende. Als er den Song zehn Jahre später auf dem Konzert an ebendieser Mauer sang, fiel eine Menschenmenge, die sich auf der Ostseite versammelt hatte, begeistert in den Song über eine Liebe, die künstliche Trennungen überwindet, ein. Der Ruf »Nieder mit der Mauer« ertönte. Die Menge wurde gewaltsam zerstreut, kehrte aber am nächsten Abend zurück. Wieder reagierte die Polizei mit Gewalt und Massenverhaftungen. Wie die Razzien gegen Punks war auch diese Gewalt gegen Menschen, die Popmusik hören wollten, kontraproduktiv. Selbst Erich Honecker scheint den Fehler erkannt zu haben.[250]

Einer der Rufe der Zuhörermenge, die im Juni 1987 an der Mauer zusammengekommen war, lautete: »Gorbi, lass uns raus!« Die Person Michail Gorbatschows hatte ab 1985, dem Jahr, in dem er in der Sowjetunion an die Macht kam, eine enorme Wirkung auf die wachsende Protestbewegung in Ostdeutschland. Er veränderte in zweierlei Hinsicht Spiel und Spielfeld. Erstens stellte er klar, dass er zu einem Vorgehen wie 1953, 1956 und 1968 nicht bereit war. Sowjetische Truppen würden nicht mehr dazu eingesetzt, Oppositionsbewegungen zu unterdrücken. Dieser Kurswechsel war zum Teil eine Folge der katastrophalen Besetzung Afghanistans, die die Dominanz der Sowjetunion über die Warschauer-Pakt-Staaten schwächte und ihre Wirtschaft weiter schädigte. Dem russischen Vorkämpfer der Demokratie Andrei Piontkowski zufolge waren »die wahren Befreier Osteuropas […] die Mudschaheddin in den afghanischen Bergen«.[251] 1988 widerrief Gorbatschow in einer Rede vor den Vereinten Nationen praktisch die Breschnew-Doktrin, die der Sowjetunion ein Interventionsrecht zur Verteidigung des Sozialismus zusprach. Der außenpolitische Sprecher der sowjetischen Regierung, Gennadi Gerassimow, drückte es plastischer aus, als er im US-Fernsehen das Ende der Breschnew-Doktrin bestätigte: »Jetzt haben wir die Sinatra-Doktrin. Von ihm stammt das Lied ›I had it my way‹. Also entscheidet jedes Land selbst, welchen Weg es wählen möchte.«[252] Als Gorbatschow im Oktober 1989 aus Anlass des vierzigsten Jahrestages der Gründung der DDR Ostberlin besuchte, schloss er den Einsatz sowjetischer Truppen zur Niederschlagung der Opposition ausdrücklich aus und stellte klar, dass er die vom SED-Regime gegen Dissidenten angewandte Gewalt missbilligte.

Das Ende der Breschnew-Doktrin ging mit Gorbatschows Politik von Perestroika (Umbau) und Glasnost (Transparenz und Offenheit) einher. Dies war die zweite grundlegende Veränderung des Spiels, die wie die Beseitigung der Gefahr einer Militärintervention Reformer überall in Osteuropa ermutigte. Ostdeutschland war bemerkenswerterweise eine Ausnahme. In der DDR blieben die Hardliner an der Macht, und Möchtegernreformer wie der Dresdner Parteichef Hans Modrow hielten sich bedeckt. Aber die DDR war der Strahlwirkung der Entwicklungen in anderen Ostblockländern, insbesondere in Polen und Ungarn, ausgesetzt, deren politische Landschaft sich seit Gorbatschows Machtantritt tiefgreifend veränderte. Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung 1989. Im Februar begannen in Polen Gespräche am Runden Tisch zwischen der herrschenden Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei und der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność, die zu freien Wahlen und der Zulassung nichtkommunistischer Gewerkschaften führten. In der Wahl im folgenden Juni erzielte Solidarność einen überwältigenden Sieg. Gorbatschow machte klar, dass das Wahlergebnis zu akzeptieren war, und im September wurde Tadeusz Mazowiecki der erste nichtkommunistische Ministerpräsident in der Geschichte der Volksrepubliken. In Ungarn trat 1988 Károly Grósz, ein Reformer wie Gorbatschow, anstelle des 76-jährigen János Kádár an die Spitze der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei. Danach wurden die bereits in Gang befindlichen Reformen ausgeweitet. Andere Parteien wurden zugelassen und die Versammlungsfreiheit garantiert. Im April 1989 nahm eine Untersuchungskommission zu den Ereignissen von 1956, die jetzt als »Volksaufstand gegen eine die Nation erniedrigende oligarchische Herrschaft« bezeichnet wurden, die Arbeit auf. Am 16. Juni, dem Todestag des Aufstandsführers Imre Nagy, wurden seine Gebeine und diejenigen vier anderer Aufständischer in Budapest in Anwesenheit von 200 000 Menschen feierlich umgebettet. Im selben Monat begannen nach polnischem Vorbild Gespräche am Runden Tisch, und Pläne für den Abzug der sowjetischen Truppen im Land wurden ausgearbeitet.[253]

Ein weiteres ungarisches Ereignis im Juni hatte die größte Auswirkung auf Ostdeutschland; tatsächlich war es eine der Hauptepisoden der Entwicklung, die zum Fall der Mauer viereinhalb Monate später führte: Am 27. Juni posierten der ungarische Außenminister Gyula Horn und sein österreichischer Amtskollege Alois Mock mit Drahtscheren vor der versammelten Presse und öffneten einen großen Abschnitt des Eisernen Vorhangs, indem sie in einem symbolischen Akt den Grenzzaun zwischen ihren Ländern durchschnitten. Bald darauf versammelten sich immer mehr Ostdeutsche in Ungarn, die hofften, nach Österreich durchgelassen zu werden und von dort nach Westdeutschland zu gelangen. Bis Anfang Juli kampierten 25 000 Ostdeutsche in Ungarn. Die ungarischen Behörden weigerten sich, wie von Ostberlin erwartet, sie ohne Ausreisevisum die Grenze passieren zu lassen. Aber sie schritten nicht ein, wenn jemand die Grenze zu überwinden versuchte, und schickten sie auch nicht in die DDR zurück oder meldeten sie den dortigen Behörden. Die Zahl der in Ungarn gestrandeten Ostdeutschen war im Sommer so groß, dass eine Krisensituation eintrat. Mitte August schätzten die ungarischen Behörden sie auf 200 000. Im Niemandsland gefangen, ohne ausreisen zu können und nicht willens zurückzukehren, suchten Tausende in der westdeutschen Botschaft in Budapest Zuflucht und verwandelten einen ganzen Stadtteil in einen surrealen Friedhof aufgegebener Trabants.

Gemäß einer von Bundeskanzler Kohl Ende August erzielten Vereinbarung wurde den in Budapest Asylsuchenden gestattet, am 10. September in den Westen auszureisen. Am nächsten Tag öffnete Ungarn seine Westgrenze völlig. Damit löste die ungarische Regierung ein immer lästiger werdendes Flüchtlingsproblem. Außerdem hatte Bonn ihr Wirtschaftshilfe zugesagt. Die Öffnung der Grenze löste einen Massenexodus aus. Als Ostberlin die Ausreise nach Ungarn blockierte, gingen Ausreisewillige in die Tschechoslowakei und suchten in der westdeutschen Botschaft in Prag Zuflucht, bevor auch diese Grenze geschlossen wurde. Andere pilgerten zur westdeutschen Botschaft in Warschau. Anfang Oktober schließlich wurden sie in versiegelten Eisenbahnzügen – wie einst Lenin, nur in umgekehrter Richtung – in den Westen gebracht, wonach die Straßen weiterer Ostblockhauptstädte mit aufgegebenen Trabants verstopft waren.[254] Bei der Durchfahrt der Züge durch ostdeutsches Territorium kam es zu Gewaltszenen, als Fluchtwillige aufzuspringen versuchten. Einer von ihnen kam ums Leben, und ein Polizeiauto wurde in Brand gesteckt. All dies war weltweit in den Fernsehnachrichten zu sehen.

In politischen Krisen beschleunigt sich die Zeit. Bereits zwischen 1987 und 1989 war ein erstaunlicher Abstand festzustellen. Im Juli 1987 hatte Gorbatschow gegenüber Bundespräsident Richard von Weizsäcker erklärt, die deutsche Wiedervereinigung sei noch hundert Jahre entfernt, reduzierte die Frist auf Weizsäckers Vorschlag dann aber auf fünfzig Jahre. Während seines Besuchs in der Bundesrepublik im Juni 1989, bei dem er mit donnernden »Gorbi, Gorbi!«-Rufen begrüßt wurde, sagte er in einem unbedachten Augenblick, die Mauer sei in einer »besonderen Situation« errichtet worden und könne »verschwinden, wenn die Umstände, die sie nötig gemacht haben, verschwunden« seien.[255] Im September und Oktober beschleunigte sich die Entwicklung aufgrund des Massenexodus erneut. 1989 verließen rund 340 000 Menschen Ostdeutschland, 2 Prozent der Bevölkerung. Im Gegensatz zu dem, was oft gesagt wird – und damals von einigen ostdeutschen Dissidenten behauptet wurde –, begründeten die meisten von ihnen ihre Emigration weniger mit der materiellen Lage, sondern in erster Linie mit der politischen Situation und dem Mangel an Bürgerrechten in der DDR – obwohl beides natürlich nicht sauber voneinander getrennt werden kann.[256] Ihr Weggang löste eine veritable innere Krise aus. Was früher, als es in kleinem Rahmen durch Ausbürgerung geschah, ein Sicherheitsventil gewesen war, war als Massenphänomen zu einer existenziellen Bedrohung geworden. Die Auswanderer waren Facharbeiter und Akademiker aus Industrie, Gesundheits- und Bildungswesen. Über 80 Prozent von ihnen waren unter vierzig Jahre alt. Ihr Weggang war schlimmer als der Exodus vor dem Mauerbau, weil das Ausmaß größer war und er plötzlicher kam. Durch seine ungeschickte Reaktion untergrub sich das Regime selbst, und diejenigen, die gingen, hatten eine enorme Wirkung auf diejenigen, die blieben.

Kurz vor seiner Ausbürgerung im Jahr 1976 hatte Wolf Biermann ein Lied mit dem Titel »Und als wir ans Flussufer kamen« geschrieben, in dessen zweiter Strophe er die Frage stellt, was man tun soll:

»Und was wird aus unseren Freunden,

und was noch aus Dir, aus mir?

Ich möchte am liebsten weg sein

und bleibe am liebsten hier.«

Gehen oder bleiben? Oder wie die zwanzig Jahre zuvor aufgestellte berühmte Alternative des Volkswirts Albert O. Hirschman lautet: »Abwanderung« oder »Widerspruch«?[257] Bärbel Bohley sah im Februar 1989 genau darin die beiden Optionen, und für sie stand fest, dass sie bleiben würde. Immerhin wäre das SED-Regime im Jahr zuvor froh gewesen, wenn sie im Westen geblieben wäre. Aber sie hatte sich für die Rückkehr entschieden, ebenso wie andere Dissidenten, die 1988 vorübergehend exiliert worden waren. In der Krise von Sommer und Herbst 1989 hielten sie, ebenso wie zahlreiche andere, den richtigen Augenblick für gekommen. Bei den Demonstrationen Ende September ertönte der trotzige Ruf: »Wir bleiben hier!«[258] Dass sich die Krise derart verschärfte, ist ohne den Massenexodus kaum denkbar. Hirschman erklärte 1993, sein Modell auf Ostdeutschland anwendend, »Abwanderung« und »Widerspruch« seien keine Gegner mehr gewesen, sondern »Verbündete« beim »gemeinsamen Grabschaufeln« geworden.[259]

In den Monaten vor dem Mauerfall am 9. November 1989 hatten zwei Ereignisse eine besondere symbolische Bedeutung. Sie geschahen mit erfreulicher Symmetrie am 9. September und 9. Oktober. Am ersten Datum gründeten Bärbel Bohley, Katja Havemann und andere das Neue Forum, zu dessen Mitgliedern sowohl prominente Aktivisten der Friedens- und Menschenrechtsbewegung als auch sogenannte »Korridor-Dissidenten« wie Jens Reich zählten, die sich seit Jahren in Diskussionsrunden getroffen und auf Reformen von oben gewartet hatten. Rolf Henrich war Anfang 1989 aus der SED ausgeschlossen worden, weil er im Westen eine linke Kritik des »real existierenden Sozialismus« veröffentlicht hatte. Bohley bemühte sich, im Neuen Forum einen breiten Dissidentenquerschnitt zu vereinen, aber fast alle Mitglieder gehörten der gebildeten Mittelschicht an: Sie waren Naturwissenschaftler, Geistliche, Ärzte oder andere Akademiker. Der von dreißig Personen unterzeichnete Gründungsaufruf forderte zu Reform und Dialog auf und drückte den Wunsch »nach Gerechtigkeit, Demokratie und Frieden sowie Schutz und Bewahrung der Natur« aus.[260] Die Gründer des Neuen Forums erwarteten, gemäß der Verfassung der DDR als Vereinigung zugelassen zu werden. Bis dies geschah, vergingen fast sieben Wochen. Bis dahin existierte das Neue Forum in einer Grauzone der Semilegalität. Seine Bedeutung bestand darin, dass seine Gründer bereit gewesen waren, den Kopf über die Brüstung zu stecken. Andere folgten ihrem Beispiel. In den folgenden Wochen wurden mehrere offen politische Gruppen gegründet: Demokratie Jetzt, Demokratischer Aufbruch, eine ostdeutsche Sozialdemokratische Partei sowie weitere, dem Umweltschutz oder dem Feminismus gewidmete Organisationen. Kleine Zirkel fühlten sich ermutigt, weil sie feststellten, dass es anderswo ebensolche Kreise gab. Bis Ende 1989 unterzeichneten 200 000 Menschen den Gründungsaufruf des Neuen Forums.[261]

Was am 9. Oktober in Leipzig geschah, war eine dramatischere Version der Wahrheit, dass Erfolg Selbstvertrauen schafft. Die Demonstration an diesem Montag kann mit Recht als entscheidender Wendepunkt in der deutschen Revolution bezeichnet werden – einer »Oktoberrevolution« eigener Art.[262] Leipzig war eine von Missständen geprägte Stadt. Ihre Infrastruktur zerfiel, und die Umweltverschmutzung war selbst nach ostdeutschen Maßstäben äußerst hoch. Die sächsischen Städte Leipzig und Dresden bildeten die Epizentren des Massenexodus aus der DDR, und örtliche Dissidentengruppen hatten eng mit Ausreisewilligen zusammengearbeitet. Das wirkmächtigste Protestsymbol in Leipzig waren die Montagsdemonstrationen nach dem abendlichen Friedensgebet in der Nikolaikirche. Diese Gebete fanden seit 1982 statt, aber die im Herbst 1988 getroffene Entscheidung der Kirchenführung, Christoph Wonneberger, dem damaligen Pfarrer der Lukasgemeinde, die Durchführung der Gebete aus der Hand zu nehmen, hatte die unbeabsichtigte Folge, dass sich der Hauptfokus der Montagsereignisse vom Innenraum nach draußen verlagerte.

Die Demonstrationen wuchsen 1980 im Gleichschritt mit der Krise an. Am 2. Oktober kamen 2000 Menschen zur bis dahin größten nicht staatlich organisierten Demonstration in der DDR zusammen. Die Polizei setzte Wasserwerfer, Schlagstöcke und Hunde gegen sie ein. In der folgenden Woche herrschte eine angespannte Atmosphäre. Die Durchfahrt der versiegelten Eisenbahnzüge, die am 4. Oktober Ostdeutsche aus der Tschechoslowakei in den Westen brachten, war in Sachsen von Gewaltszenen begleitet. Dann, am 7. Oktober, ging die Polizei brutal gegen Demonstranten vor, die die Feierlichkeiten zum vierzigsten Jahrestag der Gründung der DDR störten. Vor dem 9. Oktober spürte man überall Angst und Anspannung. Honecker hatte angekündigt, dass dies der Tag der Abrechnung sein werde. Stasi-Chef Erich Mielke ordnete für alle Mitarbeiter »volle Dienstbereitschaft« an. Einheiten von Volksarmee, Polizei und paramilitärische Kampfgruppen wurden zusammengezogen. Der Staat verfügte über Panzer, Maschinengewehre und andere Waffen, einschließlich Wasserwerfer und Tränengas. Die offizielle Sprache war kompromisslos, und die Lage ließ ein Massaker wie auf dem Tiananmen-Platz in Peking einige Monate zuvor befürchten.

Am 9. Oktober um 18 Uhr versammelten sich die Teilnehmer von Gebeten in der Nikolaikirche und drei anderen Gotteshäusern, die dort, wie abgesprochen, zur selben Zeit stattgefunden hatten, auf der Straße. Die Menge wuchs auf 70 000 Menschen an. Doch es gab kein Blutvergießen. Ein Grund dafür war die Disziplin der Demonstranten. Pfarrer Wonneberger, der ursprüngliche Initiator der Montagsgebete, bewunderte Martin Luther King und die Macht gewaltlosen Protests. Zusammen mit anderen hatte er vierzig Stunden an altmodischen Mimeografen gestanden und 30 000 Flugblätter gedruckt, die zu friedlichem Verhalten aufriefen. Die Demonstranten, die in den Kirchen gewesen waren, hatten dieselbe Botschaft gehört. Pfarrer Hans-Jürgen Sievers von der Reformierten Kirche, der dem Chor angehört hatte, der bei Kings Besuch in beiden Teilen Berlins gesungen hatte, zitierte dessen »Ich habe einen Traum«-Rede von 1963 vor dem Lincoln Memorial in Washington und rief die 1500 Menschen in der Kirche auf, Gewalt zu vermeiden. Auch in der Nikolaikirche wurde ein Aufruf zur Gewaltlosigkeit verlesen, der später auch über Lautsprecher verbreitet wurde. Unterzeichnet war er von Gewandhauschefdirigent Kurt Masur, dem Kabarettisten Bernd-Lutz Lange, dem Theologen Peter Zimmermann – der später als Stasi-Informant enttarnt wurde – und drei Sekretären der SED-Bezirksleitung, von denen zwei Reformer waren, während der dritte bisher als Hardliner bekannt gewesen war. Später am Abend, als sich die riesige Menschenmenge in Bewegung setzte, versuchte der Zweite Sekretär der SED-Bezirksleitung (der Erste Sekretär war erkrankt) von Berlin eine Bestätigung der Anweisung zu erhalten, gegen die Demonstranten vorzugehen. Als er schließlich eine Antwort erhielt, hatte er den Sicherheitskräften jedoch schon auf eigene Verantwortung befohlen, sich zurückzuhalten. Der Abend endete mit einem Sieg des gewaltlosen Protests einer Menschenmenge, die ein ums andere Mal rief: »Wir sind das Volk!« Die Demonstration wurde von zwei Ostdeutschen vom Turm der Reformierten Kirche aus gefilmt und die in den Westen geschmuggelten Aufnahmen am nächsten Tag im Fernsehen gezeigt, wo Ostdeutsche sie sehen kennten. In der folgenden Woche kamen über 100 000 Menschen zur Montagsdemonstration in Leipzig, eine weitere Woche darauf eine Viertelmillion.

Zu diesem Zeitpunkt hatte die Spaltung innerhalb der SED, die am 9. Oktober in Leipzig offenbar geworden war, ihre Führungsebene erreicht. Eine Spaltung in der herrschenden Klasse ist, wie schon Lenin wusste, eine notwendige Voraussetzung für eine Revolution. Die Meinungsverschiedenheiten in der DDR-Führung waren ein untrügliches Krisenzeichen. Am 17./18. Oktober wurde Honecker durch einen Palastputsch zum Rücktritt gezwungen, und Egon Krenz, der anerkannte Kronprinz, übernahm das Ruder. Bei einem anschließenden Moskaubesuch erhielt er Gorbatschows Segen. Aber es war zu spät. Nachdem er selbst abgesetzt worden war, erklärte er jedem, der ihm zuhörte, dass er früher hätte handeln sollen. »Ich hätte es eher machen sollen« wurde zu seinem Mantra.[263] Sein Zögern war jedoch nicht einfach eine persönliche Schwäche, sondern ein Problem, das die gesamte Führung teilte. Aber es war kein psychologisches Defizit, kein kollektiver Hamlet-Komplex, sondern ein tief sitzender Widerwille gegen Reformen. Die Partei, die ihre Bürger stets aufgefordert hatte, »von der Sowjetunion zu lernen«, war selbst nicht bereit, diesem Rat zu folgen. Als Gorbatschow zum vierzigsten Jahrestag der DDR Berlin besuchte, warnte er Honecker eindringlich: »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.«[264] Aber die Warnung wurde ignoriert, bis es zu spät war. Krenz wurde von kritischen Zeitgenossen zu Recht als Pseudoreformer wahrgenommen, der verzweifelt versuchte, die Autorität der Partei aufrechtzuerhalten, anstatt in einen Dialog einzutreten. Doch die Stimmung in seiner Partei verschlechterte sich im selben Maß, wie das Selbstvertrauen des Volks wuchs. Auf einer Massendemonstration auf dem Alexanderplatz in Berlin am 4. November mit Hunderttausenden Teilnehmern traten auf einem improvisierten Podium nicht nur Mitglieder des kürzlich offiziell zugelassenen Neuen Forums ans Mikrofon, sondern auch Intellektuelle wie Christa Wolf und ihr Schriftstellerkollege Stefan Heym, der bisher offenen Dissens vermieden hatte, und – was besonders überraschte – prominente Parteifunktionäre wie Günter Schabowski und der frühere Spionagechef Markus Wolf. Zu diesem Zeitpunkt hinkten die von Panik erfassten ostdeutschen Herrscher der Entwicklung nur noch hinterher und erreichten mit Zugeständnissen lediglich, dass die Unzufriedenheit, die sie besänftigen sollten, weiter zunahm. Die am 6. November bekannt gegebenen neuen Reiseregeln blieben weit hinter dem zurück, was auf Transparenten gefordert wurde: »Visafrei nach Hawaii«. Am nächsten Tag trat der Ministerrat geschlossen zurück, das SED-Politbüro folgte einen Tag später. Doch dies schuf kein Vertrauen darin, dass die Nachfolger besser sein würden. Dann kamen Schabowskis Pressekonferenz und der Fall der Mauer.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November erreichten die historischen Ereignisse ihren Höhepunkt, der als »die Wende« bekannt wurde. Ihr folgte die »Wende in der Wende« oder auch »umgeleitete Revolution«, die »Hast zur deutschen Einheit«.[265] Im Herbst 1989 hatte eine Reihe äußerer Ereignisse – in der Sowjetunion, in Polen und vor allem in Ungarn – eine Situation geschaffen, in der die Menschen in der DDR ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen konnten. In den neun oder zehn Monaten zwischen Mauerfall und der Unterzeichnung des Einigungsvertrages am 31. August 1990 stellten sie erneut klar, was sie wollten: keine Reform des sozialistischen Staats, sondern die Vereinigung mit dem prosperierenden Westen. Dies war jedoch nur mit Beteiligung zahlreicher anderer Parteien möglich, allen voran der vier Alliierten, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg besetzt hatten. Das Drama des 9. November kam für alle überraschend, und es war zunächst nicht klar, wohin es führen würde. Gorbatschows außenpolitischer Berater Anatoli Tschernjajew sah das Ereignis jedoch von Anfang an in welthistorischer Perspektive und notierte in seinem Tagebuch, dass mit dem Mauerfall »eine ganze Ära des sozialistischen Systems endete«; der UdSSR seien »jetzt nur noch unsere ›besten Freunde‹ Castro, Ceauşescu, Kim Il-sung geblieben. Sie hassen uns leidenschaftlich.«[266]

»Ich verstehe die Welt nicht mehr«, seufzte ein verärgerter Grenzsoldat, dem die chaotischen Ereignisse vom 9. November gegen den Strich gingen.[267] Er stand damit nicht allein da. Die SED war zutiefst demoralisiert. Ihr liefen die Mitglieder davon. Parteigliederungen berichteten von überall über Enttäuschung, Verzweiflung und sogar »Selbstmordgedanken«.[268] Die Führung trat zu Eilsitzungen zusammen und fügte dem Namen der Partei die Erläuterung »Partei des Demokratischen Sozialismus« hinzu. Das Politbüro trat zum zweiten Mal innerhalb eines Monats geschlossen zurück. Honecker und Krenz wurden aus der Partei ausgeschlossen. Hans Modrow, der am ehesten als ostdeutscher Gorbatschow bezeichnet werden konnte und mit dem Sowjetführer persönlich befreundet war, wurde Ministerpräsident. Die Volkskammer beschloss einstimmig – alte Gewohnheiten sterben langsam –, die führende Rolle der »marxistisch-leninistischen Partei« aus der Verfassung zu streichen. Aber es wurde rasch offensichtlich, dass nicht nur die Partei, sondern der Staat, den sie beherrscht hatte, seine Legitimität verloren hatte. Fast unvermittelt ähnelte, was wenige Wochen zuvor noch mächtig und furchterregend gewirkt hatte, einem gestürzten Ancien Régime. Gerüchte über das vermeintliche Wohlleben in der Waldsiedlung Wandlitz, der Wohnanlage der Parteiführer – wegen ihrer schwedischen Chauffeurwagen abschätzig Volvograd genannt –, machten die Runde.[269] Margot Honecker wurde in der Rolle der Marie-Antoinette gezeichnet, denn jede moderne Revolution braucht einen weiblichen Sündenbock als Symbol der Korruption. Auf den Straßen riefen die Menschen inzwischen nicht mehr: »Wir sind das Volk!«, sondern: »Wir sind ein Volk!« All dies machte die Hoffnung derjenigen, die wie Bärbel Bohley und Christa Wolf ihren Staat erhalten und reformieren wollten, zunichte.

Der Zusammenbruch der Autorität in der DDR vollzog sich schneller, als die Politiker, auch die westlichen, auf ihn reagieren konnten. Am 26. Oktober hatte Helmut Kohl Egon Krenz telefonisch Erfolg bei seiner schwierigen Aufgabe gewünscht und die Hoffnung auf eine »ruhige, vernünftige Entwicklung« ausgedrückt.[270] Einen Monat darauf, drei Wochen nach dem Mauerfall, präsentierte Kohl im Bundestag ein Zehn-Punkte-Programm für eine stufenweise engere Zusammenarbeit der beiden deutschen Staaten, das die Schaffung »konföderativer Strukturen« mit gemeinsamen Institutionen und ein »Zusammenwachsen« in einer »organischen Entwicklung« im größeren Rahmen der Ost-West-Beziehungen vorsah. Viele hielten dies für »zu schnell« und »verfrüht«, aber bald wurde klar, dass es eher zu vorsichtig war. Kohl selbst reiste kurz vor Weihnachten nach Dresden, wo ihn eine riesige Menschenmenge mit dem Ruf »Helmut, Helmut!« begrüßte, so wie einst Willy Brandt auf dem Höhepunkt der Neuen Ostpolitik mit »Willy, Willy«-Rufen empfangen worden war. Der amerikanische Kunstkritiker Peter Schjeldahl besuchte kurz nach Weihnachten Berlin, um Stücke aus der Mauer herauszuschlagen (was schwerer war, als er erwartet hatte). In einem Artikel in der New Yorker Zeitschrift 7 Days schrieb er über die »unkrautbewachsene Fläche des Potsdamer Platzes, diese von Bomben verwüstete und von der Mauer zerrissene ehemalige Kreuzung Europas«, sie würde »zu unglaublich teurem Baugrund werden, wenn die Deutschlands sich vereinen, was sie tun werden«. Wie kam er zu dieser Aussage? Intuitiv: »In Berlin spürt man die Unvermeidlichkeit, nicht in dem, was die Menschen sagen – für gewöhnlich irgendeinen ausweichenden, konfusen deutschen Mist –, sondern in der Luft, mit einem Momentum, wie es Held und Heldin haben, die auf einem Bahnsteig aufeinander zulaufen, um sich zu umarmen, damit der Film zu Ende gehen kann.«[271]

Das Momentum kam nur aus einer Richtung: Die Menschen im Osten liefen in die Umarmung des Westens. Sie hinterließen einen ernsten Arbeitskräftemangel in Fabriken, Büros und Krankenhäusern. Das tägliche Leben wurde schwieriger und die Loyalität zum ostdeutschen Staat noch angespannter. Auf der anderen Seite drohte die Massenzuwanderung Westdeutschland zu überlasten. Dies geschah zuerst in Grenzstädten wie dem 5000-Seelen-Ort Mellrichstadt in Franken, der zeitweise Hunderttausende von Ostdeutschen beherbergte.[272] Die Zuwanderung schuf längerfristige Wohnungs- und Fürsorgeprobleme. Westdeutsche Politiker fürchteten, der ständige Zustrom und die Schwierigkeiten, die er mit sich brachte, würden die extreme Rechte stärken. Im Januar 1990 vereinbarte man, dass die für Mai geplante Wahl in Ostdeutschland auf März vorgezogen werden sollte. Aber die Abwanderung in den Westen hielt an. Journalisten enthüllten immer deutlicher die zugrunde liegende wirtschaftliche Lage und bestärkten die Ostdeutschen in ihrem mangelnden Vertrauen in die Zukunft. Ein Symbol dafür war die DDR-Mark. Die Menschen begannen für private Geschäfte die D-Mark zu verwenden, sofern sie welche hatten, und auf Demonstrationen war der Ruf zu hören: »Kommt die D-Mark, bleiben wir. Kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr.«[273] Im Februar schwenkte Kohl ein: Es sei besser, die D-Mark zu den Menschen zu bringen, als die Menschen zur D-Mark kommen zu lassen. Dies war mit Blick auf die ostdeutsche Wahl im März ein geschickter politischer Schachzug. Die Aussicht auf die Währungsunion wurde zum Versprechen der Vereinigung. Die Christdemokraten und ihre Verbündeten erzielten in der Wahl einen deutlichen Sieg. Am 1. Juli folgte die Währungsunion, mit der eine weitere historische Symmetrie geschaffen wurde: So wie die Währungsreform von 1990 den Weg zur Vereinigung ebnete, hatte die Währungsreform von 41 Jahren zuvor den Weg zur Teilung geebnet. Am 31. August unterzeichneten die beiden deutschen Staaten schließlich den Einigungsvertrag.

Viele Beobachter waren über die Aussicht auf ein vereinigtes Deutschland beunruhigt, unter ihnen Autoren der New York Times und der Zeitschrift The New Republic.[274] Dies galt auch für viele Nachbarn Deutschlands in Ost und West, einschließlich Regierungschefs aus Kohls eigenem christdemokratischem politischen Lager wie Ruud Lubbers in den Niederlanden und Giulio Andreotti in Italien. Potenziell schwerwiegender waren die Vorbehalte zweier westlicher Politiker, deren Zustimmung zum Vereinigungsprozess gebraucht wurde: der britischen Premierministerin Margaret Thatcher und des französischen Präsidenten François Mitterrand. Beide versuchten schon früh Gorbatschow für sich handeln zu lassen. Dessen Berater beklagten sich darüber, dass die beiden westlichen Führer Gorbatschow »den Bösen spielen« lassen wollten, der die Vereinigung blockierte, ohne ihn dabei offen zu unterstützen.[275] Mitterrand war allerdings flexibler als Thatcher. Ihm gefiel Kohls Zehn-Punkte-Plan nicht, und er war sich des verbreiteten Misstrauens gegenüber einem zu neuer Macht gelangten Deutschland in seinem Land bewusst, war aber bald davon überzeugt, dass die Vereinigung unvermeidlich war, und blieb nur deshalb auf Thatchers Seite, um sich den Deutschen später als Vermittler anbieten zu können. Sein Hauptinteresse war es, die deutsche Vereinigung in eine stärker integrierte Europäische Gemeinschaft einzubetten, was voll und ganz Kohls Vorstellungen entsprach.[276] Was Thatcher betraf, so schloss sie sich erst im Februar 1990, nachdem klar geworden war, dass weder Mitterrand noch Gorbatschow sie unterstützen würde, widerstrebend der Auffassung ihres eigenen Außenministeriums an, dass Großbritannien das deutsche Recht auf Selbstbestimmung bedingungslos anerkennen sollte. Gorbatschow war Ende Januar 1990 zu dem Schluss gelangt, dass die deutsche Vereinigung unvermeidlich war. Die Forderung militärischer Hardliner in Moskau, die Berliner Mauer wieder zu errichten, wenn nötig, unter Einsatz einer Million sowjetischer Soldaten, wies er zurück. Je deutlicher zutage trat, dass es Modrow nicht gelungen war, die Autorität in Ostdeutschland zu festigen oder den Staat auch nur zusammenzuhalten, desto klüger erschien es, zu einer Vereinbarung zu kommen, bevor Ostdeutschland in noch größerem Chaos versank. Gorbatschow hatte bereits Fühler zu Kohl ausgestreckt, um herauszufinden, ob dieser eventuell bereit wäre, im Gegenzug für die sowjetische Zustimmung zur deutschen Vereinigung die Neutralität Deutschlands zuzusagen. Diese Möglichkeit bereitete Washington Sorge, war aber nie eine Verhandlungsgrundlage. Am Ende blieben Gorbatschow nur wenige Karten, die er ausspielen konnte.

Bei einem Treffen am 13. Februar 1990 in Ottawa einigten sich die Außenminister der NATO- und der Warschauer-Pakt-Staaten auf ein Schema für die Verhandlungen über die deutsche Vereinigung: 2 + 4. Die beiden deutschen Staaten würden zuerst miteinander verhandeln, und dann würden die vier Alliierten ihre Zustimmung geben, wobei die »2« in Wirklichkeit einer waren, nämlich ein dominantes Westdeutschland, und die »4« zwei, die Vereinigten Staaten und die UdSSR, während Großbritannien und Frankreich gewissermaßen beteiligte Zuschauer waren. Die anderen Länder hatten keinen Platz am Verhandlungstisch, obwohl die erzielte Vereinbarung letztlich von der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa gebilligt wurde. Wie ein Beobachter bissig anmerkte, wurden »alle anderen rundherum umworben, beruhigt, manchmal informiert und hin und wieder sogar konsultiert«, aber nur die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten hätten die Macht gehabt, die Entwicklung aufzuhalten.[277] Als Giulio Andreotti den westdeutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher bat, ihn über den Stand der Verhandlungen zu informieren, erhielt er zur Antwort: »Sie sind kein Mitspieler.«[278] Von Genscher stammt auch die Einschätzung, »2 + 4« sei »vielleicht zweieinhalb«.[279] Die beiden entscheidenden Partner waren Westdeutschland und die Sowjetunion, während die Vereinigten Staaten als Vermittler agierten.

Seit seinem Machtantritt hatte Gorbatschow die Sowjetunion an Westeuropa und dort insbesondere dessen wirtschaftliche Führungsmacht, die Bundesrepublik, annähern wollen. Dies war einer der Gründe, weshalb er über Honeckers halsstarrige Unbeweglichkeit enttäuscht war. 1990 überzeugte Kohl Gorbatschow davon, dass vom vereinigten Deutschland als NATO-Mitglied keine Bedrohung ausgehen werde. Außerdem versprach er großzügige Wirtschaftshilfe. Bei dem Treffen der beiden Staatsmänner im Juli 1990 im Kaukasus wurde der Handel besiegelt. Aber auch die Vereinigten Staaten waren wichtig. Präsident George H. W. Bush war entschieden für die Vereinigung. Schon vor dem Mauerfall hatte er sowohl während eines Besuchs in der Bundesrepublik im Mai als auch in einem Interview mit der New York Times im Oktober 1989 erklärt: »Ich teile die Sorge einiger europäischer Länder über ein wiedervereinigtes Deutschland nicht.«[280] Bush und sein Außenminister, James Baker, ebneten der Entwicklung in jedem Stadium den Weg. Die diplomatische Phase war im September abgeschlossen, und der von beiden deutschen Parlamenten ratifizierte Vereinigungsvertrag trat am 3. Oktober 1990 in Kraft.

Den Ereignissen von 1989/90 folgten 1991 der Zusammenbruch der Sowjetunion und das Ende des Kalten Krieges. Zusammen markierten diese Ereignisse einen harten historischen Bruch.[281] Manche Historiker sprechen vom »kurzen 20. Jahrhundert«, das 1914 begann und 1990 endete. Dies betont, vielleicht zu sehr, die Idee eines »deutschen Jahrhunderts«. Für Deutschland selbst war das Jahr 1990 eine Art »Reset-Taste«.[282] Bedeutete das Verschwinden des ostdeutschen Staats Deutschlands endgültige »Ankunft im Westen«?[283] In gewisser Hinsicht trifft dies zu. Aber es gibt auch Gründe, die beruhigende Auffassung von »dem Westen« und dem umfassenderen Narrativ einer gutartigen Globalisierung, in das sie für gewöhnlich eingebunden ist, infrage zu stellen.

Als die Mauer fiel, sprach Willy Brandt davon, dass jetzt zusammenwachse, was zusammengehöre. Helmut Kohls Christdemokraten verdankten ihren deutlichen Wahlsieg im Osten dem Versprechen »blühender Landschaften«. Aber die nachfolgende deutsch-deutsche Geschichte war schwierig. Der Westen dominierte sowohl den formalen Einigungsprozess als auch die reale Vereinigung. Die größere Wirtschaft schluckte die kleinere, privatisierte durch eine eigens dafür geschaffene Institution, die Treuhandanstalt, deren Vermögenswerte und schuf dabei verbreitete Arbeitslosigkeit und soziale Unsicherheit. Arbeit, Fürsorge, Kinderbetreuung: Alles veränderte sich im Eiltempo im ehemaligen Ostdeutschland. Der Übergangsschock führte zu Verbitterung, und es wurde viel von einer westlichen »Übernahme« geredet. Das verständliche Gefühl, dass vierzig Jahre Lebenserfahrung kühl ausgelöscht wurden, verschaffte sich in einer Welle der »Ostalgie« Ausdruck. Dreißig Jahre später gibt es klare Anzeichen für eine wirtschaftliche Konvergenz; das Haushaltseinkommen im Osten hat 80 bis 85 Prozent des Westniveaus erreicht. Doch die Feindseligkeit ist nicht verschwunden. Westdeutsche drückten ihrerseits häufig Erbitterung darüber aus, dass ihnen durch den »Solidaritätszuschlag« die Last der Umweltreinigung und Investitionen im Osten aufgebürdet wurde. 1989 hatte Bärbel Bohley im Rückblick auf ihren Aufenthalt im Westen geschrieben, man müsse »den Unterschied zwischen den beiden Arten, zu sehen, zu denken, zu arbeiten, zu essen«, anerkennen.[284] Gegenseitige Ressentiments blieben bestehen. Und doch, wenn man an die Geschichte Russlands nach dem Kalten Krieg denkt oder an das Blutvergießen im früheren Jugoslawien, wo in den 1990er Jahren 300 000 Menschen den Tod fanden, oder die vielen Orte im globalen Süden, die seit dem Ende des Kalten Krieges weit weniger beachtet werden, fällt es schwer, den Wiederaufbau der deutschen Nation im vereinigten Deutschland nicht als eines der erfolgreichsten Projekte der Epoche zu sehen.[285]

Welchen Platz nahm das vereinigte Deutschland in der Welt ein? Es war natürlich ein größeres Land, aber am globalen Maßstab gemessen immer noch klein. Es passte fast zweimal in Texas hinein, und selbst im Vergleich mit vielen europäischen Ländern war es von bescheidener Größe; es war kleiner als Frankreich, Spanien oder Russland. Demografisch indes war es ein europäisches Schwergewicht, das nur Russland nachstand. Zum Zeitpunkt der Vereinigung war es mit 82 Millionen Einwohnern das zwölftgrößte Land der Welt; bis 2020 rutschte es aufgrund des langsamen Bevölkerungswachstums allerdings um sieben Plätze ab. Die Alterung der Bevölkerung bildete zum Teil den Hintergrund der deutschen Einwanderungsdebatte. In Bezug auf die Sprache wurde das vereinigte Deutschland zum bei Weitem größten Land mit Deutsch als Hauptsprache; 82 von 100 Millionen Deutschsprachigen in Europa und vielleicht 120 Millionen weltweit lebten in Deutschland. Die bedeutendere Entwicklung war jedoch, dass die Zahl derjenigen, die Deutsch als Zweit- oder Drittsprache sprachen, kontinuierlich abnahm. Am Ende des 20. Jahrhunderts war Deutsch sowohl in den Naturwissenschaften als auch in den Geisteswissenschaften keine wichtige wissenschaftliche Verkehrssprache mehr, und weder in Skandinavien noch in Mitteleuropa wurde Deutsch noch als Lingua franca benutzt. Es gab jetzt eine andere gemeinsame Sprache. So wie Deutsche ihre Kinder nicht mehr Friedrich oder Jürgen nannten, sondern Patrick oder Robin, sprachen auch die übrigen Europäer – und Nichteuropäer – Englisch. In der Wirtschaft dagegen besaß die neue Bundesrepublik wie die alte mehr Gewicht, als ihr eigentlich zukam. Das vereinigte Deutschland rangierte, was das Bruttonationalprodukt betraf, an vierter Stelle auf der Welt, und diesen Platz hat es trotz Wirtschaftsumbau durch neoliberale Gesetze und Globalisierung behalten.

Hat die Vereinigung die politische Rolle Deutschlands in der Welt verändert? Die alte Bundesrepublik hat sich vierzig Jahre lang als großes Land politisch wie ein kleines verhalten. Sie hat sich bemüht, nicht herauszustechen, und war geradezu die Verkörperung des engagierten multilateralen Akteurs, ein »Teamplayer«. Diese Zurückhaltung war eine Reaktion auf die NS-Vergangenheit und das Mittel, mit dem die Bundesrepublik potenziell nervöse Nachbarn beruhigte. Die neue, vereinigte Bundesrepublik knüpfte daran an und widmete sich der bekannten angenehmen Aufgabe der multilateralen Zusammenarbeit mit ihren Nachbarn, ob nun in regionalen Organisationen wie dem Rat der Ostseestaaten oder der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Das gewichtigste europäische Projekt war das 1992 von den Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft durch den Vertrag von Maastricht in Angriff genommene Vorhaben, eine Europäische Union mit einer gemeinsamen Währung zu schaffen. In den folgenden Jahren spielte Deutschland eine zentrale Rolle bei der Gestaltung dieser Union mit schließlich 28 beziehungsweise, nach dem Brexit, 27 Mitgliedsstaaten und 450 Millionen Einwohnern. Deutschland war die »europäischste« der großen europäischen Nationen, und seine Bevölkerung identifizierte sich mehr als diejenigen von Frankreich oder Spanien, von der britischen ganz zu schweigen, mit der Union. Europa stand für Stabilität. Die Deutschen akzeptierten sogar gleichmütig die Abschaffung der D-Mark und ihre Ersetzung durch den Euro.

Aber es fiel dem vereinigten Deutschland in der neuen Weltordnung schwerer, sich zu verstecken. Der erste Golfkrieg zur Befreiung Kuwaits in den Jahren 1990/91 war eine Herausforderung. Deutschland weigerte sich, der von US-Präsident Bush mobilisierten Koalition gegen Saddam Husseins Irak beizutreten, und stellte zwar finanzielle und logistische Mittel bereit, beteiligte sich aber nicht militärisch. Diese Entscheidung wurde von drei Viertel der deutschen Öffentlichkeit gebilligt, von einigen westlichen Verbündeten indes kritisiert. Es gab allerdings auch – rechte wie linke – deutsche Kritiker, nach deren Ansicht Deutschland eine aktivere Rolle spielen sollte. Konservative fanden, dass man weniger »Angst vor der Macht« haben sollte, und Linke wünschten sich eine größere Offenheit für die Idee der humanitären Intervention. Das Wiederaufleben von Krieg und ethnischer Säuberung in Europa im ehemaligen Jugoslawien bewirkte schließlich einen politischen Kurswechsel. 1994 entschied das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, dass deutsche Truppen »Out of area«-Einsätze durchführen dürften, wenn sie dafür ein UN-Mandat besaßen. Damit war das Argument, dass jeder deutsche Militäreinsatz im Ausland gegen das Grundgesetz verstoße, aus der Welt geschafft.

Die Kosovokrise führte dann zum entscheidenden Bruch mit der Vergangenheit. Anfang 1999 nahmen deutsche Truppen an der NATO-Operation gegen Serbien teil. Bodentruppen wurden nach Mazedonien entsandt, um Flüchtlinge aus dem Kosovo zu schützen, und dienten als Friedenswächter im Kosovo und in Bosnien. Aber das wirklich Neue war die Teilnahme der deutschen Luftwaffe, die zum ersten Mal seit 1945 in Aktion trat und sich an der Bombardierung Serbiens beteiligte. Sie flog zwar nur wenige Einsätze, aber ein Präzedenzfall war geschaffen. Helmut Kohl hatte die Bundestagswahl im vorangegangenen Jahr verloren, und so war es die neue Koalition aus Sozialdemokraten und Grünen unter Gerhard Schröder, die die Luftangriffe genehmigt hatte. Dass es eine linke Regierung war, die das Nachkriegstabu brach, machte die Sache leichter. Es war ein Spiegelbild zu Charles de Gaulle, der als Konservativer den Algerienkrieg beendet hatte, oder zu Richard Nixon, der als konservativer Republikaner nach China gereist war. Der spezifisch deutsche Aspekt des Kurswechsels von 1999 war die von Außenminister Joschka Fischer und Verteidigungsminister Rudolf Scharping vorgebrachte Rechtfertigung, die Militärintervention sei notwendig, um einen weiteren Völkermord, ein neues »Auschwitz« zu verhindern. Die deutsche Vergangenheit war stets gegenwärtig.

Im selben Jahr zog die deutsche Regierung von Bonn in die neue alte Hauptstadt Berlin um. Vielen Westdeutschen missfiel der Umzug, und die Bundestagsentscheidung war knapp ausgefallen, aber er löste weltweit keine Beunruhigung aus. Das Deutschlandbild war weicher geworden, so wie Christos Reichstagsverhüllung die Konturen des einstigen und künftigen deutschen Parlaments weichzeichnete. Die deutsche Frage, wie sie sich während des größten Teils des 20. Jahrhunderts gestellt hatte, war erledigt. Wenn man in der Welt an Deutschland dachte, kamen ganz andere Assoziationen in den Sinn, die in mancher Hinsicht denen früherer Jahre glichen. Wie früher die deutsche Wissenschaft rief jetzt die deutsche Technologie Bewunderung hervor. Eine clevere Werbekampagne von Audi mit dem Slogan »Vorsprung durch Technik« spielte darauf an. Ähnlich hohes Ansehen genoss die deutsche Kultur, die im Zuge des beginnenden Aufstiegs der Kulturerbe-Industrie sorgfältiger gepflegt wurde. Zudem galt Deutschland am Ende des 20. Jahrhunderts zu Recht als führend auf dem Gebiet von Umweltschutz und grüner Energie, ein Image, das durch den Eintritt dreier grüner Minister in die rot-grüne Regierung im Jahr 1998 zusätzlich bestärkt wurde. Was den neuen Regierungssitz Berlin betraf, so war es noch nicht das Hipsterparadies, das es in den folgenden zwanzig Jahren werden sollte, aber Technoklubs, die später globale Touristenattraktionen werden sollten, öffneten bereits in den 1990er-Jahren ihre Tore, und die wiedervereinigte Stadt begann den Ruf als aufregende, dynamische Kulturmetropole, in dem sie um 1900 und noch mehr in den 1920er-Jahren gestanden hatte, zurückzugewinnen.

Was die Geopolitik anbelangt, sah die Welt Deutschlands übermäßige Zurückhaltung und Vorliebe für »Scheckbuchdiplomatie« anstelle von Aggressivität jetzt kritischer. Deutsche Touristen mit prall gefüllten Brieftaschen, dem globalen Symbol für den Reichtum ihres Landes, riefen häufiger antideutsche Gefühle wach. Aber dahinter verbarg sich etwas Ernsteres und potenziell Beunruhigenderes, nämlich der Unmut darüber, wie Deutschland seine wachsende Wirtschaftsmacht nutzte, um anderen seine nationalen Präferenzen aufzunötigen. In der europäischen Schuldenkrise von 2008 sollte dies zu einem explosiven Thema werden. Am Ende des 20. Jahrhunderts warf Deutschlands Rolle in der Weltwirtschaft eine zweite beunruhigende Frage auf: Wurde das Engagement der Bundesrepublik für Demokratie und Menschenrechte nicht durch die ungezügelte Verfolgung des kommerziellen Vorteils, wo immer er sich anbot, getrübt? Der Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen zu China und Russland sollte dieser Frage im 21. Jahrhunderts zunehmende Dringlichkeit verleihen. Was die Energieabhängigkeit Deutschlands von Russland und deren politische Konsequenzen betrifft, markierten die späten 1990er-Jahre einen Wendepunkt, und zwar als Bundeskanzler Schröder und der russische Präsident Wladimir Putin zu Freunden wurden und der sinistre russische Gazprom-Konzern mithilfe bei ihm beschäftigter früherer Stasi-Mitarbeiter auf den deutschen Energiemarkt vordrang.[286] Im neuen Jahrtausend wurden diese Fragen potenziell zu Aspekten einer neuen »deutschen Frage«.


  1. * Diese Zahlen sind interne Schätzungen der französischen Polizei; öffentlich gab sie weit höhere Zahlen an.

  2. ** Valuta-Mark war die in der Außenhandelsbuchhaltung der DDR verwendete Verrechnungseinheit. Ihr Wert entsprach dem der D-Mark.